2010

 

„Ihr Wechselgeld. Gute Fahrt!“ Die Kassiererin streckte Leonie fünf Franken entgegen, die sie umgehend in ihrer Brieftasche verschwinden liess. Den Prospekt des BLS Autoverlads liess sie im Fach der Fahrertür verschwinden, bevor sie den Gang wieder einlegte und das Gaspedal ihres Cinquecento durchdrückte. Wie sie gehofft hatte, konnte sie sogleich auf den Zug fahren, womit sie im Handumdrehen durch die Alpen hindurch und ihrem Ziel ein ganzes Stück näher war. Um sicherzugehen, dass das Proviantpäckchen noch an Ort und Stelle lag, tastete sie auf dem Beifahrersitz nach der Plastiktasche. Ein seliges Lächeln breitete sich auf ihrem Gesicht aus, als sie das glatte Plastik unter ihren Händen rascheln hörte. Sofort war der Wagen erfüllt vom Knoblauchgeruch, der Leonie das Wasser im Mund zusammenlaufen liess. Diese Knoblauchwurst war eine der wenigen Vorteile, die der kurze Abstecher zu ihrer Mutter brachte. Denn wäre Verena in ihrer ewigen Rastlosigkeit nicht in einem Hotel in Spiez eingekehrt, hätte Leonie nicht den Weg über Kandersteg genommen, um von der Lenzerheide ins Wallis zu gelangen. Also hätte sie auf die umwerfend gute Knoblauchwurst von der auf dem Weg liegenden Raststätte verzichten müssen. Für manche wäre dies ein tragbarer Verlust gewesen, nicht so für Leonie. Sie liebte eine gute Wurstplatte mit Nussbrot, da durfte die Knoblauchwurst nicht fehlen.

Inzwischen hatte sie das Tal verlassen und hetzte ihr Ovalium, wie sie ihren Cinquecento liebevoll zu nennen pflegte, Kilometer für Kilometer die kurvige Strasse hinauf, ihrem Ziel entgegen.

Gemäss der Beschreibung, die sie von ihrem neuen Arbeitgeber erhalten hatte, musste sie bereits in Niedergrächen kurz nach einer Bushaltestelle links in eine kleine Strasse abbiegen. Man hatte sie vorgewarnt, dass sich dieser Weg je nach Schneeverhältnissen etwas abenteuerlich gestalten würde, doch damit, was dann kam, hatte sie nicht gerechnet. Bereits beim Einbiegen verlor ihr Auto den Halt und rutschte unkontrolliert nach links weg. Doch der Fluch war gleichzeitig auch ihr Glück. Denn das Wechselspiel zwischen abendlichem Schneefall und Tauwetter tagsüber hatte die Strasse nicht nur in eine Eisfläche verwandelt, sondern es hatte auch genug Schnee in der perfekten Konsistenz gebracht, so dass das Ovalium so weich in einer Mauer aus dem weissen Pulver landete, dass es nicht den geringsten Schaden nahm. Allerdings bereitete es Leonie nach diesem kleinen Zusammenstoss einige Mühe, ihr Auto auf den Weg zurückzubringen, nur um dann im nächsten Moment in eine der tiefen Fahrrinnen zu geraten, denen die Strasse durch die Belastung von Motorfahrzeugen, Wind und Wetter zum Opfer gefallen war. Dies hatte den Vorteil, dass sie den Rest des Weges, der nach wie vor eine einzige Schlittschuhfahrt war, zumindest besser in der Spur bleiben konnte. In der Tiefgarage angekommen, stellte Leonie das Auto schliesslich auf dem ihr zugewiesenen Parkplatz ab. „Das hast du toll gemacht. Für diese eiskunstläuferische Meisterleistung hast du mindestens eine Zehn verdient. Katharina Witt wäre erblasst vor Neid.“ Liebevoll tätschelte sie das weisse Leder des Lenkrads, stieg aus und wandte sich dem Kofferraum zu. Einmal mehr beglückwünschte sie sich, dass sie ihr ganzes Hab und Gut in einer grossen Sporttasche verstauen konnte. Denn mehr hätte ohnehin nicht in den kleinen Stauraum ihres Cinquecento gepasst. Die Tasche geschultert, spazierte sie zur Rezeption des Hotels, welches für die nächste Zeit ihr Zuhause sein würde.

 

 

Wenn die Wahrheit nicht ruht
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