2010

 

„Ich habe mit ihr geschlafen.“ Schwungvoll war Sebastian in die Bar eingetreten, hatte sich wie ein Revolverheld aus dem wilden Westen, mit gespreizten Beinen und in die Seiten gestützten Händen, vor dem Tresen aufgebaut, um loszuwerden, was loszuwerden war, bevor ihn der Mut verlassen konnte.

Die Reaktion darauf waren zwei erstaunte Gesichter, vier weit aufgerissene Augen, eine hustende Angela, die sich dank Sebastians Offenbarung an ihrer Karotte verschluckt hatte und ein jaulender Sascha, der sich vor Schreck erneut eine Cola-Flasche auf den bereits durch Cola-Flaschen geschändeten Fuss fallen liess.

Wenn auch etwas abgehackt und mit hochrotem Kopf war es doch Angela, die als erste wieder die Sprache fand. „Gratuliere?“

„Was?“ Verwirrt starrte Sebastian sie an. „Nein! Das ist eine Katastrophe!“

„Warum?“ Im Versuch seinen schmerzenden Fuss festzuhalten, hüpfte Sascha hinter der Theke auf und ab.

„Na, weil ihr nun gewonnen habt!“ Als gäbe es keine logischere Antwort, starrte Sebastian vom einen zum anderen.

Verblüfft stoppte Sascha seine Känguruh-Einlage. Obwohl er den Verdacht hatte, die Antwort zu kennen, fragte er so unschuldig wie möglich nach. „Was denn gewonnen?“

„Himmel, seid ihr schwer von Begriff. Denkt ihr etwa, ich hätte nicht gewusst, warum ihr mir die ganze Zeit sexy Barfrauen vor die Nase gesetzt habt?

„Hey, lass mich da raus!“ Abwehrend hob Angela die Hände. Und kassierte prompt einen vorwurfsvollen Blick von Sascha.

„Na, vielen Dank auch, du kleine Verräterin. Solltest du mal ein bisschen Unterstützung brauchen, werde ich dir wohl auch in den Rücken fallen müssen. Aber zurück zu dir.“ Er wandte sich wieder an Sebastian. „Da mein Plan nun endlich Früchte getragen hat: Wie geht es dir? Hat es genützt?“

Sebastian senkte den Blick und nuschelte etwas in Richtung Fussboden.

„Wie bitte? Ich konnte dich leider nicht verstehen. Könntest du das Gesagte noch einmal wiederholen?“

Wie ein kleiner Junge, der einen Streich gestand, stand Sebastian schmollend da. „Na gut. Es war toll, sie war toll und es schmeckt nach mehr. Aber dieser Fatzke von Blondschopf ist hereingeplatzt, bevor ich herausfinden konnte, ob noch ein Nachschlag drin liegt. Jetzt ist bestimmt er wieder der Bettwärmer und irgendwie finde ich es eklig zu wissen, dass sie möglicherweise aus seinem Nest direkt in meines und wieder zurück hüpfen könnte. Ist es ungefähr das, was ihr hören wolltet?“ Er wartete die Antwort gar nicht erst ab. „Und übrigens, ‚genützt klingt in diesem Zusammenhang schrecklich. So, als ob ich ein verstopftes Ventil gehabt hätte, das geöffnet werden musste, weil der Druck zu gross wurde.“

„Ja, so könnte man es auch sagen.“ Sebastian funkelte Angela böse an, woraufhin sie betroffen nach der nächsten Karotte suchte.

„Ihr seid echt unmöglich.“

„Moment, darf ich dich daran erinnern, dass du soeben hier hereingestürmt bist und uns diese Neuigkeit förmlich ins Gesicht geschleudert hast?“

„Welche Neuigkeit?“ Erneut flog die Tür auf und Leonie trat ein. Heute mit einer unten ausgestellten, um den Hintern super engen Bluejeans, einem weissen Tanktop, riesigen silbernen Kreolen und einem breiten Armband bekleidet, wie Sebastian augenblicklich feststellte. Aufmerksam beobachtet Angela seinen Blick und stiess Sascha dabei aufgeregt ihren Ellbogen in die Rippen.

Sebastian atmete schwer aus. „Ach, nichts von Bedeutung. Ich habe Sascha nur gerade erzählt, dass der Preis für die neuen Lautsprecherboxen gestiegen ist, weshalb er sich diese unnötige Neuanschaffung nun endlich aus dem Kopf schlägt. Stimmt’s?“ Nach Saschas Blick zu schliessen, hätte Sebastian auf der Stelle tot umfallen sollen. Tat er aber nicht. Stattdessen grinste er siegessicher zurück. Angela musste unwillkürlich schnauben. Nur Leonie begriff nichts. Woher auch. Es war noch vor ihrer Zeit gewesen, als Sascha mit dem Versuch begonnen hatte, Sebastian vom Kauf neuer Lautsprecher zu überzeugen.

„Ja, ja, ja. Du und deine blöden Lautsprecher. Wie dem auch sei, Mädels“, er warf Sebastian ein bezauberndes Lächeln zu, „auf jetzt. Es ist Samstagabend, wir müssen die Bar öffnen und die Kasse klingeln lassen! Schliesslich müssen wir den Preisaufschlag der Boxen finanzieren!

 

Wie jeden Samstag brummte der Laden. Die aus den Boxen dröhnende Musik benebelte die Ohren der Anwesenden. Die meisten liessen sich von den Vibrationen des wummernden Basses mitreissen und tanzten oder wippten mit den Füssen, zuckten mit den Köpfen oder klopften mit den Händen. So auch die Besatzung hinter der Bar. Die gute Stimmung war derart mitreissend, dass sich alle vier zur allgemeinen Belustigung je nach Lied auch zum Mitsingen und Mittanzen, oder besser Mitzappeln, hinreissen liessen.

Selbst Sebastian schien seine ganze Zurückhaltung vergessen zu haben. Übermütig schnappte er sich Leonies Hand, als Roxette Must have been Love zum Besten gab. Leonie liess ihn lachend gewähren, denn schliesslich war es so etwas wie ihr gemeinsames Lied.

So merkte sie auch nicht, wie eine etwas in die Jahre gekommene, perfekt frisierte Dame mit langen, blonden, in Wellen gelegten Haaren, rot lackierten Fingernägeln, einem engen, die blauen Augen betonenden, dunkelvioletten Top mit Schiffchenausschnitt und knackig engen Jeans, in denen eine top Figur steckte, sich zwischen den Leuten hindurch schob und an die Theke trat. Sie musterte Sebastian wenig begeistert und Leonies Reaktion auf ihn vermochte sie nicht aufzuheitern.

Er liess Leonie eben noch in einer Drehung unter seinem Arm hindurchsausen, bevor sich ihr Blick mit dem der Frau an der Theke traf. Die Stimmung schien sofort unter den Gefrierpunkt zu sinken, denn Leonie erstarrte zu Eis. Sebastian bemerkte die Veränderung, folgte ihrem Blick, verstand aber nicht. Also trat er näher an sie heran. „Alles okay?“ Doch anstelle einer Antwort hob sie beschwichtigend die Hand und machte sich von ihm los. Dann trat sie auf die Frau zu.

„Du scheinst dich ja bestens zu amüsieren. Da frage ich mich natürlich, weshalb ich mir Sorgen gemacht habe.“ Schnippischer hätte es kaum mehr klingen können.

„Hallo Mama.“

„Hallo Kind. Seit wann habe ich eigentlich die Ehre, von meiner Tochter nicht mehr nur beim Vornamen genannt zu werden?“

Leonie wusste, dass sie sich nicht auf diese Diskussion einlassen sollte, denn sie führte zu nichts. Also ignorierte sie die Frage. „Was tust du hier?“

„Liebes, ich bin deine Mutter und wie es sich gehört, habe ich mich sofort nach deinen besorgniserregenden Anrufen auf den Weg gemacht, um dir beizustehen.“

„Ach. Seltsam, ich hätte eher Oma und Opa erwartet.“

„Sei nicht so gemein!“ Entrüstet wich Verena ein Stück zurück. „Lass sie doch bitte in ihrem wohlverdienten Frieden ruhen.“

Wohlverdient, ja, so ist es wohl korrekt ausgedrückt. Denn immerhin haben sie mich aufgezogen, dachte Leonie spöttisch. Aber sie wollte sich nicht streiten, also versuchte sie, ihren Ton etwas anzupassen. „Entschuldige. Du hast Recht. Also, ich muss noch eine Weile arbeiten. Möchtest du etwas zu Trinken?“ Die Frage war derart überflüssig, dass Leonie, noch während sie sie aussprach, ein Glas und den Gin holte. Das Tonic liess sie weg.

Sascha, der nur unweit von den beiden weg stand, kam ins Grübeln. Irgendwoher kannte er die Stimme dieser Blondine. Nur woher? Doch bevor er sich genauer damit auseinandersetzen konnte, wurden seine Dienste von einer kleinen, eher rundlichen Braunhaarigen mit Pagenschnitt in Anspruch genommen.

 

Leonie hatte gehofft, dass ihre Mutter im Laufe des Abends müde würde, doch sie hielt durch, bis morgens um vier. Also kratzte Leonie, nachdem die meisten Gäste gegangen waren, ihre gesamte Geduld zusammen und marschierte auf sie zu. „Komm, setzen wir uns dort hin.“ Sie deutete auf einen Stehtisch mit zwei hohen Barhockern, ein wenig abseits, so dass sie einigermassen ungestört sprechen konnten. Einem Geistesblitz folgend, schnappte sich Leonie noch zwei Gläser und eine Flasche Whiskey. „Hier.“ Sie stellte ihrer Mutter eines der gefüllten Gläser hin.

„Talisker? Gute Wahl, danke. Genüsslich nahm Verena einen Schluck, verzog ein wenig das Gesicht als die Flüssigkeit rauchig ihren Hals hinunterrann und eine wohlige Wärme in ihrem Magen hinterliess.

„Also, ich habe dir etwas Wichtiges zu sagen. Möglicherweise hätte ich es dir schon längst sagen sollen, aber es schien mir nie der richtige Zeitpunkt, bis du mich gestern angerufen und mit diesen Dingen konfrontiert hast. Ich gebe zu, ich habe daran gedacht, dich einfach anzurufen, um es dir zu sagen und wenn mir die Richtung des Gesprächs nicht mehr gefallen hätte, hätte ich dich einfach aus der Leitung geschmissen. Aber ich glaube, ich habe mich schon genug um die Verantwortung gedrückt. Du hast ein Recht darauf es persönlich zu erfahren und alle Fragen beantwortet zu erhalten, soweit ich sie beantworten kann.“

Einsicht? War das ein Hauch von Einsicht? Jetzt war Leonie neugierig. „Worum geht’s?“

„Deinen Vater.“

Erst musste Leonie leer schlucken, dann nahm sie ihr Glas und leerte es in einem Zug, nur um es sogleich wieder zu füllen. Mit einem Kopfnicken bedeutete sie Verena fortzufahren.

„Du hattest Recht, du warst schon einmal hier. Du warst noch keine vier Jahre alt. Du, dein Vater und ich hatten hier einen Skiurlaub geplant, doch es ging von Anfang an alles schief.“ Verena begann ganz von vorne. Sie liess kaum ein Detail der Geschehnisse aus dem Winter des Jahres 1986 aus. All die aufgefrischten Erinnerungen trieben ihr die Tränen in die Augen, doch sie hielt durch, keine einzige erreichte ihre Wange. „Sie haben den Schweinehund, der deinen Vater angefahren hat, nie gefunden“, schloss sie mit bitterer Stimme ihre Geschichte.

Auf einmal fiel Leonie das Atmen schwer. Ihr schnürte sich die Brust zu, die Beine drohten nachzugeben, in ihrem Kopf begann sich alles zu drehen und sie musste sich konzentrieren, damit sie nicht einfach umkippte. „Und ich habe all die Jahre geglaubt, er wäre einfach abgehauen und hätte uns im Stich gelassen. Warum starb er am Ende trotzdem? Du hast gesagt, die OP wäre gut verlaufen?“

„Das, mein Kind, wussten die Ärzte leider auch nicht so genau. Die Vitalfunktionen waren gut, doch auf einmal ging’s bergab und ihm versagte das Herz.“

„Warum hast du mir das nie erzählt? Warum hast du mich einfach im Glauben gelassen, wir hätten ihm nichts bedeutet?“

„Weil ich mir genau das eingeredet habe. So war es für mich einfacher, so konnte ich auf etwas wütend sein. Auf Gott wütend zu sein war mir zu wenig greifbar. Für mich lag es auf der Hand, dass auch du besser damit umgehen kannst, wenn ich dich glauben lasse, er hätte uns verlassen, ohne die Art und Weise genauer zu begründen. Ich bin nie auf die Idee gekommen, dass der Hintergrund seines Verschwindens für dich wichtig sein könnte. Nun, da dir aber deine eigenen Erinnerungen das Leben schwer zu machen beginnen, habe ich keinen Ausweg mehr gesehen, ausser der vollen Wahrheit. Und weisst du, auf wen ich noch wütend bin?“

Kopfschüttelnd sah Leonie auf.

Auf das Volk hier und diesen Skifahrer. Er hat einfach weitergelebt, als wäre nichts gewesen und was haben die Leute hier getan? Nichts! Es war ihnen egal! Für sie zählte nicht die Frage, wer meinen Ehemann auf dem Gewissen hat, sondern ob ein solcher Unfall für das im Tourismusgeschäft aufstrebende Grächen einen Imageschaden bedeuten könnte. Eigentlich habe ich nie wieder hierher zurückkehren wollen. Tja, so kann man sich irren.“

Verena erhob sich von ihrem Barhocker und klemmte sich die Handtasche unter den Arm. „Ich werde jetzt gehen und dich in Ruhe lassen. Sicherheitshalber habe ich mir ein Zimmer genommen. Du kannst mich also erreichen, wenn du möchtest. Jetzt allerdings, glaube ich, lasse ich dir etwas Zeit, damit sich alles setzen kann.“

Ohne sich noch einmal umzusehen verliess Verena die Bar. Niedergeschlagen blieb Leonie auf ihrem Stuhl sitzen. Erst, als sie plötzlich ein Wasserglas vor der Nase hatte, sah sie auf und blickte Sebastian direkt in die Augen. Dieser legte nur kurz seine Hand auf die Ihre und wandte sich wieder ab. Aber Leonie war schneller. „Warte. Könntest du…“ Sie suchte nach Worten. „Würdest du mit mir irgendwo hingehen? Einfach ein bisschen… raus?“

„Leonie, ich weiss nicht, ob das jetzt das Richtige ist.“

Verständnislos starrte sie ihn an. Dann begriff sie. „Nein! Ich, du, nein! Das meine ich nicht. Ach, ist schon gut. Vergiss es.“

Bitte entschuldige. Ich habe euch zufällig“, er wog zwischen der Wahrheit und einer dürftigen Lüge ab, „belauscht. Ich habe euch belauscht. Und ich dachte, du müsstest dich nach allem, was du gehört hast, abreagieren und irgendwie bin ich davon ausgegangen, dass du dazu weniger einen Boxsack, als, nun, sagen wir, Bettsport bevorzugst. Das klingt lächerlich, tut mir leid.“

Er fuhr sich mit der Hand durch sein dichtes Haar, sah zu Boden und sammelte sich neu. Dann schaute er sie wieder an. Sah, wie sie wie ein Häufchen Elend auf dem Barhocker sass, und kam sich selbst dumm vor, sie erneut als derart oberflächlich abgestempelt zu haben. Also wagte er einen neuen Anlauf. Möchtest du spazieren gehen?“

Dankbar rang sich Leonie ein Lächeln ab, das mehr in einer Grimasse endete. „Gerne.“

Ungeachtet dessen, dass die Bar noch lange nicht bereit war, geschlossen zu werden, holte Sebastian die Jacken und trat mit Leonie hinaus in die vom weissen Schnee erhellte Nacht.

 

Angela bearbeitete mit einem Geschirrtuch einige Gläser, während Sascha die Bar abwischte und sich so unauffällig zu Angela vorarbeitete. „Hast du das auch gesehen?“

„Oh ja. Sascha?“ Er blickte auf. „Du bist ein Genie.“

 

 

Wenn die Wahrheit nicht ruht
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