1986

 

Wie frisch gewaschen erstrahlte die Natur im Glanz des neuen Morgens. Die Luft war kühl und frisch, am Himmel trübte kein Wölkchen das Strahlen der Sonne.

Strotzend vor Energie und Vorfreude trat Ambros auf den Balkon des kleinen Zimmers, das er sich angemietet hatte, reckte die Arme weit in die Höhe und atmete tief den Geruch des Winters ein. Dann kehrte er in das Zimmer zurück und sammelte sein weniges Hab und Gut, das ihm nach seiner Verhaftung noch geblieben war, zusammen. Nach drei Monaten Abwesenheit, war es an der Zeit, dem Versteckspiel ein Ende zu setzen. Daher machte er sich nun, mit geläuterter Seele auf, das Vertrauen des Dorfes zurückzuerobern, welches er so fahrlässig aufs Spiel gesetzt hatte. Oder so ähnlich.

 

Das Postauto stand bereits an der Haltestelle und Ambros musste sich beeilen, um es noch zu erwischen. Als es sich dann in Bewegung setzte und die sperrige Masse sich Kurve für Kurve den Berg hinauf schob, stellte sich bei Ambros ein aufgeregtes Kribbeln ein, das ihm das ruhige Sitzen beinahe verunmöglichte. Ein wenig kam er sich vor wie der kleine Junge vorne im Postauto, der mit leuchtenden Augen auf seinen Grossvater, wie Ambros annahm, ohne Punkt und Komma einredete. Als der Chauffeur dann auch noch das Horn betätigte und so die alte Postautomelodie über das Tal klingen liess, stiess der Kleine einen Freudenschrei aus, der die wenigen anderen Passagiere des Busses zum Grinsen brachte.

Obwohl Ambros eigentlich im Dorfzentrum hatte aussteigen wollen, entschied er sich dann doch für eine Station in Niedergrächen. Zu Fuss nahm er den restlichen Weg in Angriff und mit jedem Schritt wurde es ihm unbehaglicher zu Mute.

Er erreichte den Postplatz, konnte aber kein bekanntes Gesicht ausmachen. Also ging er weiter in Richtung seiner alten Wohnung. Doch auf halbem Weg hielt er inne. Er besann sich kurz und entschied sich schliesslich für einen Umweg. Nur kurz nachschauen, wie es einem ‚alten Freund’ so geht, das war alles, rechtfertigte Ambros seine Idee vor sich selbst.

Dann stellte er erfreut fest, dass es immer lauter wurde, je näher er seinem Ziel kam. Gut so, dachte er. Er wollte sich unter so viele Menschen wie möglich mischen und in freudiger Erregung abwarten, wie lange er unbemerkt bleiben konnte.

Eine ganze Traube Menschen stand vor dem Eingang des altehrwürdigen Chalets, glotzte und tuschelte entweder hinter vorgehaltener Hand oder ganz offen, ohne sich um die Lautstärke zu scheren. Je mehr es hörten, desto besser. Das Volk wurde von Absperrband und einigen Uniformierten dahinter davon abgehalten, noch weiter vorzurücken.

Niemand schien bemerkt zu haben, dass sich ein Ex-Häftling unter die Menge mischte, also wagte Ambros mit klopfendem Herzen, den ihm am nächsten Stehenden anzusprechen.

„Was ist hier los?“

Der riesige Mann mit dem beachtlichen Bauchumfang fixierte weiter den Eingang des Hauses ohne Ambros auch nur eines Blickes zu würdigen. „Heute Morgen ist die Frau dort drüben“, der Mann zeigte auf ein Häufchen Elend, das in sich zusammengesunken auf einem Stein sass, „schreiend aus dem Haus gelaufen, man habe eine Sau in ihrem Wohnzimmer getötet. Überall sei Blut.“ Dann senkte der Hüne verschwörerisch seine Stimme. „Doch als man ihren Mann zu Hilfe rufen wollte, war der nirgends auffindbar.“

„Tatsächlich?“ Ambros vermochte den Hauch von Schadenfreude nicht ganz zu unterdrücken. „Und was glaubt die Polizei, was geschehen ist?“

„Die sind nicht gerade auskunftsfreudig. Aber wenn Sie mich fragen, wurde da drin keine Sau abgeschlachtet, sondern der Ehemann. Und mal ehrlich, ich fress einen Besen, wenn’s nicht die Frau war.“

„Sie denken, die Frau hat ihren Ehemann getötet?“ Ambros war entsetzt.

„Warum nicht? Vielleicht ist sie einer Affäre auf die Schliche gekommen oder er hat sonst krumme Dinger gedreht, wer weiss?“

Wer weiss? Er wusste es! Ambros erinnerte sich an den Tag zurück, an dem dieser Schmierfink Moritz mit seinem selbstgefälligen Grinsen Ambros Verhaftung zugesehen hatte. Wichtig war er sich vorgekommen, selbstgerecht und unbesiegbar, und nun? Ja, nun behauptete Moritz’ Ehefrau, eine Sau wäre in ihrem Wohnzimmer abgeschlachtet worden. Und damit hatte sie gar nicht mal so Unrecht.

 

Weitere zwei Stunden vergingen, ohne dass jemand Ambros’ Anwesenheit wahrgenommen hätte. Also beschloss er, sich in die Höhle des Löwen zu begeben und Grächens Bewohner ein wenig zu reizen.

Um exakt 18.30 Uhr betrat er die Gaststube, setzte sich an die Bar und bestellte sich ein Glas Weisswein. Dort verharrte er, während die Tische sich nach und nach füllten. Den einen oder anderen Blick fühlte Ambros auf sich ruhen, im Allgemeinen fühlte man sich bei seinem Anblick aber eher vage an jemanden erinnert. Niemand kam auf die Idee, dass er es leibhaftig sein könnte. Oder es fehlte ihnen schlicht der Mut nachzufragen, weil sie die Antwort scheuten. Das ging so weiter, bis um 20.00 Uhr die Tür des Wirtshauses aufflog und der Besitzer persönlich eintrat. Ambros musste feststellen, dass Hans Auftreten, abgesehen davon, dass ihm das Amt als Gemeindepräsident einige Falten mehr ins Gesicht gezeichnet hatte, unvermindert beeindruckend war. Obwohl ihn alle kannten und schätzten, wichen doch einige spürbar zurück oder vermieden angestrengt jeden Blickkontakt.

Nur nicht Ambros. Er reckte den Kopf und starrte Hans direkt über sein Weinglas hinweg an. Er musste nicht lange auf eine Reaktion warten. Beinahe gleichzeitig wie die Tür hinter dem Gemeindepräsidenten mit einem Knall ins Schloss fiel, trafen sich die Blicke. Im Gegensatz zu allen andern zögerte Hans keine Sekunde.

„Na sieh mal einer an, da verliert das Dorf einen Einwohner und erhält per Express einen anderen zurück. Sieh zu, dass die Waage immer ausgeglichen bleibt, pflegte mein Grossvater zu sagen. Gott hab ihn selig.“

Offenbar hatte Hans nicht vergessen, wessen man Ambros damals beschuldigt hatte. Menschen, die Hans nicht kannten, hätten die Worte als Freude über das Wiedersehen eingestuft, doch Ambros entging die unterschwellige Feindseligkeit nicht. Und da die meisten der Anwesenden Hans mindestens so gut kannten wie Ambros es tat, war er überzeugt, auch sie hatten den negativen Unterton bemerkt. „Ganz genau. Keiner konnte mir eindeutig etwas nachweisen, also mussten sie das Verfahren einstellen und mich gehen lassen. Der Sündenbock ist reingewaschen und kehrt in seine Herde zurück.“

„Ist das so? Und weswegen bricht das Unglück exakt dann erneut über das Dorf herein, wenn du wieder auftauchst?“ Hans wartete keine Antwort ab. Das musste er auch nicht. Die Menschen hatten es gehört und man konnte förmlich zusehen, wie es sich in ihre Köpfe einbrannte.

Ambros hatte damit gerechnet, dass es schwierig werden würde, er hatte es sich sogar beinahe gewünscht. Also liess er sich nicht aus der Ruhe bringen, sondern nippte weiter an seinem Wein und dachte sich mit einem grimmigen Grinsen das Seine: Willkommen zu Hause, alter Junge.

Wenn die Wahrheit nicht ruht
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