2010

 

Obwohl die Bar nachts zuvor pünktlich hatte geschlossen werden können und Leonie sich entsprechend zu einer beinahe vernünftigen Zeit in ihr Bett kuscheln konnte, hatte sie lange nicht einschlafen können. Zu lange hatten sie ihre rotierenden Gedanken wach gehalten. Aber immerhin kam ihr in diesem Dämmerzustand eine Idee, der sie, wie sie beschloss, eine Chance geben wollte. Dies war auch der Grund, weshalb sie nun auf einem schwarzen gepolsterten Stuhl im Empfangsbereich des Tourismusbüros von Grächen sass und ungefähr zum fünften Mal ausgiebig gähnte.

Der Mann, der wild gestikulierend auf die Angestellte einredete, hatte offenbar irgendein Problem mit der Kurtaxe und verfiel in seiner Aufregung immer wieder ins Holländische, weshalb die immerzu lächelnde und äusserst geduldige junge Dame hinter der Theke reichlich Mühe hatte, ihm zu folgen. Ein Umstand, der die Lösungsfindung noch zusätzlich erschwerte. Es war auch nicht hilfreich, dass die, wie Leonie annahm, Ehefrau alle zwei Minuten durch die Tür stürmte, auf den Mann einsprach, wieder hinausstürmte, sich in das bis unters Dach mit Kindern und Gepäck vollbepackte Auto quetschte und die Tür lautstark zuknallte, nur um sie sogleich wieder aufzureissen und die Prozedur zu wiederholen. Dass sie zum Zeichen ihres Drangs abzureisen nicht dauernd noch den Motor des Skoda startete, grenzte an ein Wunder.

Da sich der nervöser werdende Mann nach zwanzig Minuten zum x-ten Mal die feuchten Hände an seiner Hose abwischte, kam nicht nur Leonie zum Schluss, dass die Lösung des Problems noch nicht in greifbare Nähe gerückt war. Dadurch fühlte sich die Angestellte dann schliesslich veranlasst, in die hinteren Räume zu verschwinden und eine weitere Frau hervorzuzaubern, welche sich offensichtlich ihrer bestimmt wohlverdienten Pause beraubt sah, denn sie hatte es versäumt, die Serviette aus ihrem Hemdausschnitt zu entfernen und ihren wütenden Gesichtsausdruck verschwinden zu lassen.

So trat Leonie etwas scheu mit einem möglichst gewinnenden Lächeln an den Tresen, beugte sich so nah wie möglich zu der Serviettenfrau dahinter und begann die Unterhaltung mit vertraulich gedämpfter Stimme. „Entschuldigen Sie, ich möchte Ihnen nicht zu nahe treten, aber…“ Leonie deutete auf die Serviette. Die Frau sah an sich hinunter und sofort schoss ihr die Schamesröte ins Gesicht. Ruckartig zog sie das Stofftuch aus ihrem Ausschnitt und liess es unter dem Thekenblatt verschwinden. Dann räusperte sie sich, zeigte ein Lächeln wie aus einer Zahnpastawerbung und fragte nach Leonies Wünschen.

„Ich hätte eigentlich nur gerne gewusst, wer in den Jahren 1986 bis ungefähr 88 Gemeindepräsident von Grächen war?“

„Oh, da muss ich nachsehen. Haben Sie es bereits in der Gemeindeverwaltung versucht?“

„Allerdings. Da habe ich aber leider niemanden angetroffen.“

„Mhm.“ Der undurchdringliche Gesichtsausdruck und das vage Nicken liessen keine Rückschlüsse darüber zu, was im Kopf der Dame vorging. „Nun gut, dann werde ich doch gleich mal sehen, wie ich Ihnen helfen kann.“ Sie senkte den Blick und gleich darauf war das Klicken und Klacken einer Tastatur zu hören. Schliesslich mischte sich auch noch eine PC-Maus ein, bevor dann die Bedienerin selbst sich wieder zu Wort meldete. „Also, der Gemeindepräsident im Jahr 1986 hiess Hans Zumbrunn. Er wurde nach seiner offiziellen Amtsperiode wiedergewählt und zog sich schliesslich im Jahr 1990 vollständig von den Amtsgeschäften zurück.

„Hans Zumbrunn. Okay. Könnten Sie mir eventuell sagen, ob er noch hier im Dorf lebt?

„Nun, da sie es aus dem nächsten Telefonbuch und dank Google maps sowieso erfahren würden: Er wohnt im Chalet ‚Abendsonne’. Weiter oben im Dorf. Noch einen kurzen Augenblick Geduld bitte.“ Leonie hörte wie sich ein Gerät ratternd in Bewegung setzte, welches sie am Geräusch des Papiereinzuges als Drucker identifizierte. Im nächsten Moment legte ihr die Dame eine Karte vor. „Also, wir sind hier“, sie umkreiste den Standort des Tourismusbüros mit einem roten Stift, „und Herr Zumbrunn wohnt hier.“ Den zweiten Punkt auf der Karte markierte sie mit einem Kreuz. „Darf ich fragen, weshalb Sie sich für ihn interessieren?“

Plötzlich beschlich Leonie ein ungutes Gefühl. „Nun, ich bin Lehrerin im Unterland und möchte mit meiner Klasse ein Sommerlager in Ihrem bezaubernden Dorf machen. Ein Teil des geplanten Programms behandelt die Vergangenheit des Dorfes. Dabei gibt es verschiedene Posten, wie zum Beispiel Grächen und seine Sagen, Grächen und seine Politik, Grächen und der Sport und so weiter. Hierzu möchte ich nicht nur die Fachliteratur beiziehen, sondern auch mit Menschen sprechen, die direkt in irgendeiner Art mit den Themen zu tun haben oder hatten. Mit dem ehemaligen Gemeindepräsidenten möchte ich nun anfangen.“ Leonie hoffte, die Frau würde ihr ihre Geschichte abkaufen.

Wieder dieses vage Nicken. Leonie entschloss, zu verschwinden, bevor die Frau noch mehr Fragen stellte. „Also dann. Vielen Dank. Sie haben mir sehr geholfen. Vielleicht brauche ich Sie nochmals wegen der Sagen. Bis dahin wünsche Ihnen noch einen schönen Tag. Auf Wiedersehen.“ Sie krallte sich den Ausdruck und wandte sich zum Gehen. Dabei ging sie ohne es richtig wahrzunehmen, an einer alten, gebeugt gehenden Frau mit grauem, zu einem Knoten geschlungenen Haar, die eine Pralinenschachtel in der Hand hielt, vorbei. Erst recht bemerkte Leonie nicht, wie die Frau ihr mit wachen blauen Augen nachsah.

 

Als die Tür hinter Leonie ins Schloss fiel, eilte die Frau, die sie bedient hatte, wieder in den Nebenraum zurück. Doch anstatt dass sie sich wieder über das angefangene Sandwich hermachte, griff sie nach dem danebenstehenden Telefon. Sie klemmte sich den Hörer zwischen Ohr und Schulter und tippte eine Nummer ein. Bald schon wurde das Freizeichen durch eine raue Stimme ersetzt. „Hans?“

„Ja?“

„Es war gerade eine Frau hier, die nach dem Gemeindepräsidenten der Jahre 1986 bis etwa 88 gesucht hat. Möglicherweise steht sie schon bald vor deiner Tür. Ich wollte nur, dass du das weisst.“

„Hat sie gesagt, weshalb sie mich sucht?“

„Ich habe zwar gefragt, sie hat mir aber eine definitiv erfundene Geschichte vorgesetzt, was mich stutzig gemacht hat.

„Ich werde tun, was ich tun muss. Danke für deinen Anruf.“ Dann war wieder nur das Freizeichen zu hören.

Die Frau wollte auflegen und stellte leise fluchend fest, dass ihr Hemdärmel bedrohlich nahe über der Mayonnaise ihres Sandwichs schwebte, weshalb sie den Teller wegzog. Dieser gab so den Blick auf ein silbernes Schild frei, auf dem mit schwarzen Lettern der Name der Frau eingeprägt war: Marie-Louise Schlatter-Zumbrunn.

 

In Gedanken daran, was Sören ihr über diese Petra erzählt hatte, die nicht bestellen musste, trat Leonie als nächstes durch die Tür der Bäckerei unterhalb des Postplatzes, die mit dem Klingeln einer kleinen am Türrahmen befestigten Glocke die Ankunft des neuen Kunden ankündigte. Sogleich erschien hinter dem Verkaufstresen eine Dame mittleren Alters, um die Hüfte eine blendend weisse, frisch gestärkte Schürze gebunden. In freudiger Erwartung lächelte die Dame Leonie an. Diese zögerte noch einen Augenblick in ebenso freudiger Erwartung, doch obwohl Leonie schon mehrfach bei dieser Dame eingekauft hatte, machte jene keine Anstalten ihr das übliche Walliser Nussbrot aus dem Regal zu reichen. Seufzend gab Leonie also nach und brach das erwartungsvolle Schweigen als erste.

„Das Nussbrot, bitte.“

Das Lächeln der Verkäuferin wurde noch etwas breiter und die Lippen schienen schliesslich fast ihre Ohren zu erreichen, als sie fragte: „Darf es sonst noch etwas sein?“

„Nein, danke, das ist alles.“ Leonie bezahlte, nahm ihr Brot entgegen und trat den Rückzug an, als eine weitere Dame die Bäckerei betrat. Sie schien sehr alt, das Gesicht von Falten zerfurcht, das Haar war silbergrau und zu einem Knoten geschlungen. Ihre Haltung war gebeugt und das linke Bein schien steif, denn sie zog es bei jedem Schritt nach.

Leonie hielt ihr höflich die Tür auf. Um für die Freundlichkeit zu danken, hielt die Dame kurz inne. Doch als sie den Kopf hob und Leonies Gesicht erblickte, kam kein Laut über ihre Lippen. Entgegen der scheinbaren Zerbrechlichkeit der Frau waren ihre blauen Augen hellwach und aufmerksam. Dann huschte ihr ein Ausdruck über das Gesicht, der Leonie frösteln liess. Und schliesslich sprach sie doch: Sei gewarnt, Mädchen, du bewegst dich auf dünnem Eis. Sieh zu, dass du nicht einbrichst.“

Sie hatte es nur geflüstert, aber mit einem Nachdruck, der Leonie frösteln liess. Da sie nicht wusste, wie sie darauf reagieren sollte und das dringende Bedürfnis verspürte, schnell zu verschwinden, nickte sie nur kurz und huschte dann an der Alten vorbei durch die Tür ins Freie.

Die ersten Meter erlaubte sie sich keinen anderen Gedanken als Laufen, Laufen, Laufen. Erst, als sie um die nächste Ecke gebogen war, blieb sie stehen und dachte nach. Was war hier eigentlich los? Entweder spinnen in diesem Dorf alle, oder sie hatte irgendwie irgendetwas in Gang gebracht, das vielleicht lieber bis in alle Ewigkeit geruht hätte. Möglicherweise hatte die alte Frau aber einfach auch etwas gegen Menschen, die keine alteingesessenen Einwohner des Dorfes waren.

Während sie noch darüber nachgrübelte, machte sie sich auf den Weg zum Chalet ‚Abendsonne’. Bei dem stattlichen, beinahe schwarzen Holzbau angekommen, suchte sie vergebens nach einer Klingel und fand sich schliesslich mit dem schweren Türklopfer ab.

Drei Mal betätigte sie ihn, dennoch öffnete niemand die Tür. Unentschlossen blieb sie stehen und überlegte, was als Nächstes zu tun war. Bis sie plötzlich im Augenwinkel eine Bewegung wahrzunehmen glaubte.

Ihr Kopf fuhr hoch und ihr Blick blieb an einem der Fenster haften, hinter dem ein weisser Vorhang mit darauf gestickten Kühen hing. Sie hätte schwören können, dass sich der Vorhang bewegt hatte, doch als sie nun hinsah, zeigte sich alles regungslos. Kopfschüttelnd stieg Leonie die steinerne Treppe vor der Haustür hinunter und trat zurück auf die Strasse. Obwohl sie sich selbst Anzeichen für eine Paranoia attestierte, beschloss sie, tags darauf erneut ihr Glück zu versuchen.

Durch den Glockenschlag der Kirchenuhr aus ihren Grübeleien gerissen, schaute sie auf die grosse Uhr und zuckte zusammen. „So ein Mist!“ In aller Eile zog sie ihr Mobiltelefon aus der Jackentasche und beschleunigte ihren Schritt. „Geh ran, geh ran, geh ran!“

Doch Sebastian war zurzeit nicht erreichbar, wie ihm die nette Stimme der Voicemail mitteilte. Bei ihrem Auto angekommen wühlte sie derart ungeduldig in ihrer Tasche nach dem Schlüssel, dass er ihr immer wieder entschlüpfte, bevor sie ihn ganz zu fassen bekam. Eilends öffnete sie die Tür, setzte sich hinters Steuer, und als sie es dann nicht einmal mehr fertig brachte, den Schlüssel auf Anhieb ins Zündschloss zu stecken, liess sie den Kopf aufs Lenkrad sinken und begann in tiefen Zügen zu atmen.

Wenn du bereits zu spät bist, brauchst du dich auch nicht mehr zu beeilen.“ Es war, als stünde ihr Grossvater direkt hinter ihr, um sicherzustellen, dass seine Weisheit auch ja in ihr Gedächtnis zurückkehrte. „Du hast ja Recht. Ich weiss ja nicht einmal, weshalb ich mich so hetze. Es geht hier schliesslich nicht um Leben und Tod. Es geht nur um ein Gespräch, von dem ich sowieso nicht sehr viel brauchbare Resultate erwarte.“

Wie sehr sie sich in dieser Annahme irrte, sollte sie schon bald erfahren.

 

Selbstsicher trieb sie Ovalium aus dem Dorf hinaus, durch einige Kurven, immer nach dem rechts abgehenden, unbefestigten Weg Ausschau haltend. Tatsächlich fand sie einen Weg, der, wie von Sebastian beschrieben, neben einer verwitterten Holzbank in einen dichten Wald führte. Angesichts des Zustands des Weges und der Breite war sich Leonie allerdings nicht mehr so sicher, ob es sich um den gesuchten Pfad oder einen schlechten Scherz handelte. Obwohl sie sich wünschte, daran vorbeigefahren zu sein, was auch beinahe geschehen wäre, bog sie vorsichtig in den Weg ein.

Der Schnee zeigte sich hier in einem schmutzigen Braun, durchzogen von Reifenspuren, die ins weissgraue Nirgendwo führten. An den Hügel geschmiegt schlängelte sich die Strasse schmal zwischen dichten Baumreihen hindurch. Sollte sie vom Weg abkommen, war mit dieser Menge an Stämmen zumindest eine unkontrollierte Fahrt den Hügel hinunter beinahe ausgeschlossen. Ovalium würde sein hübsches Chassis nämlich vorher um einen Baum wickeln. Also rollte Leonie Meter für Meter weiter.

Immer wieder geriet sie aus der Spur oder die Räder verloren den Halt, während sie ab und an wiederum beinahe stecken blieb, weil der Cinquecento aufgrund der kleinen Räder so nahe am Boden war, dass er den zwischen den Fahrspuren aufgehäuften Schnee kaum zu bewältigen vermochte. Die Erfindung des ABS heiligsprechend wagte sich Leonie dennoch weiter vor.

Sie hatte das Gefühl schon ewig unterwegs zu sein - was nicht zuletzt mit ihrer Geschwindigkeit zusammenhing -, als der Weg auf eine Art Platz mündete. Anhand der Reifenspuren, die kreuz und quer über den Platz verteilt waren, vermutete Leonie, dass dieser Ort für Wende- und Ausweichmanöver bestimmt war und augenscheinlich rege genutzt wurde.

Sie dachte kurz nach, wie lange es wohl noch bis zum Haus dauern würde und ob es Sinn machen würde, das Auto hier stehen zu lassen und den Rest zu Fuss zu gehen. Nach kurzem Abwägen entschied sie sich aber doch, die verbleibende Strecke auch noch zu fahren, weshalb sie den Wendeplatz überquerte und mit wachsender Unruhe feststellte, dass sich der Weg nicht nur wieder schmälerte, sondern dass sie ihn auch immer schlechter sah. Angesichts der einsetzenden Dämmerung schaltete sie die Scheinwerfer ein und tastete nach ihrem Mobiltelefon.

Als sie etwas unter ihren Fingern spürte, wagte sie einen kurzen Blick auf den Beifahrersitz, was sie sogleich bereute. Denn als sie wieder aufsah, stand jemand auf dem Weg, direkt vor ihr. Regungslos. Und er starrte sie an. Sie konnte zwar nur schemenhaft dunkle Umrisse erkennen, aber sie fühlte deutlich, wie seine Augen auf ihr ruhten. Es waren nur Sekundenbruchteile, aber der Moment schien ewig anzudauern. Erschrocken trat Leonie mit aller Kraft die Bremse durch. Der Wagen verlor den Halt und geriet ins Schleudern. Trotz Gegenlenkens rutschte er auf den Abhang zu. Aber noch bevor er in die Bäume krachen konnte, grub er sich tief in den umliegenden Schnee und kam so zum Stillstand.

Die Scheinwerfer des Cinquecento tauchten die weissen Massen in ein bläuliches Licht. Einen Moment lang blieb Leonie einfach sitzen und starrte auf den Schnee. Sie fürchtete sich davor, sich zu bewegen, denn sie wusste nicht, was sie erwarten würde. War er noch da? Stand er jetzt neben ihrem Seitenfenster? Sie nahm ihren ganzen Mut zusammen und drehte den Kopf- aber da war nichts. Aussteigen wollte sie dennoch nicht. Mit zitternden Händen legte Leonie den Rückwärtsgang ein und gab vorsichtig Gas. Es ruckelte kurz, aber dann rührte sich nichts mehr. Mit etwas mehr Gas versuchte sie es noch einmal - vergeblich. Ovalium bewegte sich nicht vom Fleck. Hilflos schlug sie auf das Lenkrad ein, bevor sie den Kopf darauf sinken liess und tief durchatmete. Schliesslich drehte sie den Zündschlüssel und versuchte, vorsichtig die Tür zu öffnen. Der Druck des Schnees lastete schwer auf der Tür, so dass sie nur einen Spaltbreit nachgab. Leonie versuchte es ein zweites Mal. Diesmal nahm sie ihre Schulter zu Hilfe und drückte mit ganzer Kraft. Und tatsächlich liess sich die Tür soweit aufschieben, dass sie aussteigen konnte. Sie hievte sich aus dem Auto und sank sofort knöcheltief in den umliegenden Schnee. Mit einem mulmigen Gefühl im Magen sah sie sich vorsichtig um. Doch da schien nichts zu sein, ausser sie und ihr Auto. Sie zwang sich, über ihre Möglichkeiten nachzudenken.

Man musste kein Genie sein, um zu sehen, dass sie ihr Auto ohne Hilfe nicht mehr aus diesem weissen Haufen herausbrachte. Also wählte sie erneut Sebastians Nummer, ahnte beim Blick auf die Empfangsanzeige aber bereits, dass sie niemanden erreichen würde. Indes schwand das Tageslicht immer mehr und die Dunkelheit legte sich nach und nach wie ein schweres Tuch über den Wald.

Leonie litt derweil unter nasskalten Füssen, weil der Schnee ihr oben in die Schuhe rutschte. Als wäre das nicht genug, kroch ihr die Eiseskälte nach und nach in die Knochen. Die Beine fühlten sich bereits steif an. Dagegen musste sie etwas unternehmen. Sie zog ihre Tasche aus dem Auto und verriegelte es sicherheitshalber. Das Haus konnte ja soweit nicht mehr sein.

Leonie wandte sich zum Gehen, hatte aber reichlich Mühe sich aus dem Tiefschnee, in dem sie steckte, zu befreien. Wie sie feststellen musste, war sie doch ein Stück über die Böschung gerutscht, die es nun zu erklimmen galt, um auf den Weg zurückzukommen. Sie hatte das Gefühl an Ort und Stelle zu treten. Wenigstens fror sie unter der Anstrengung nicht mehr. Stattdessen begann sie sich allerlei Horrorgeschichten um wilde Tiere und Gespenster zusammenzureimen. Auch der Gedanke, dass sich Sebastian bestimmt fragte, wo sie abgeblieben war, nagte an ihr. Unter diese ganzen Wirrungen mischte sich dann bald ein Anflug leichter Panik, mit der auch die Kälte zurückkam, die ekelhaft unter den dünnen Schweissfilm kroch.

Rund herum war nur das Leuchten des weissen Schnees zu sehen, aus dem geisterhaft die dunklen Baumstämme in den Himmel ragten.

Um sich abzulenken begann Leonie eine Unterhaltung mit sich selbst, verstummte dann aber abrupt. Irgendwo hatte ein Ast geknackt. Oder bildete sie sich das nur ein? Sie hielt inne und lauschte. Nichts. Erneut setzte sie sich in Bewegung. Und plötzlich meinte sie ein Licht durch das Unterholz schimmern zu sehen. Aber egal, wie angestrengt sie in die Dunkelheit spähte, es war nichts zu erkennen.

„Herrgott, wo ist das verfluchte Haus! Ich werde hier noch ganz irre! Wahrscheinlich holt mich noch ein Waldgespenst!“ Kaum hatte sie den Satz beendet, geschah es. Noch einmal ertönte ein Knacken. Leonie sah auf und konnte gerade noch eine schwarze Gestalt erkennen, die von oben auf sie herabstürzte. Der Körper traf sie hart und riss sie in den Schnee. Sie wollte schreien, doch ihre Kehle war wie zugeschnürt. Es dauerte einen Moment, bis sie merkte, dass dieses Gefühl keine Einbildung, sondern echt war. Ihr Angreifer sass rittlings auf ihr, hielt mit den Händen ihren Hals umschlossen und drückte gnadenlos zu. Ihre Arme waren jeweils unter einem seiner Knie begraben, was sie annähernd bewegungsunfähig machte.

Irgendwo in ihrem Kopf bildete sich das Wort Beine. Also begann sie so heftig mit ihren Beinen zu strampeln, dass ihr Unterleib ebenfalls in Bewegung geriet. Doch der Druck auf Hals und Arme liess nicht nach, er nahm nur noch mehr zu.

„Du kleines Miststück glaubst wohl mir entkommen zu können, was? Das kannst du gleich vergessen!“

Er drückte noch fester zu, aber Leonie war mit ihren Gedanken ganz woanders. Die Stimme war rau und tief und sie hatte das Gefühl, sie schon einmal gehört zu haben. Nur wo?

Doch dann sagte er etwas, das sie schlagartig zurückholte. „Dein Vater hat seine Nase schon in Dinge gesteckt, die ihn nichts angingen. Dafür musste er büssen und du jetzt auch.“ Leonie wollte schreien, um sich schlagen, aber ihr Körper bemühte sich umsonst. Keine Luft drang mehr in ihre Lunge. Sie konnte nur noch kurz ein Licht erkennen, dann waren die unerträglichen Qualen vorbei.

Der Angreifer liess von dem regungslosen Körper ab und eilte so schnell es ging in den Schutz der Dunkelheit. Er verschwand gerade noch rechtzeitig zwischen den Bäumen, bevor der Lichtkegel einer Taschenlampe auf Leonies Gesicht traf.

Es blendete. Ausmachen, es ist zu hell. Was war das nur? Sollte es nicht herrlich warm und schön sein? Ein Schlag, Schmerzen. Was soll das? Weit entfernt leise Stimmen. Riefen sie nach ihr? Papa? Nein, zu eindringlich. Nicht liebevolle Erwartung. Lippen. Waren das Lippen? Was war hier los?

„Leonie! Hör mal, du kleine Nervensäge, wage es ja nicht, dich einfach so aus dem Staub zu machen!“ Sebastian beugte sich erneut über Leonie, hielt ihr die Nase zu und blies Luft in ihren Mund, bis sich ihre Brust zum Zeichen der gefüllten Lungen anhob.

Dann spürte er auf einmal eine Bewegung unter seinen Händen. Er liess von Leonie ab und setzte sich erwartungsvoll auf seine Fersen. Und tatsächlich, Leonie öffnete die Augen und als wäre sie kurz vor dem Ertrinken gewesen, sog sie gierig die kalte, frische Luft ein, was in einem rauen, heftigen Hustenanfall endete.

Gequält fasste sie sich an ihren wunden Hals, der höllisch schmerzte. Erleichtert griff Sebastian nach ihren Schultern, zog sie weit genug hoch, um sein Bein unter ihren Rücken zu schieben, bettete sie an seine Brust und umarmte sie fest. Immer noch hustend, aber weitaus besser atmend, legte sie ihren Kopf in seine Halsbeuge, was ihn zum Schmunzeln brachte.

„Und ich dachte, du stehst nicht darauf, dich in den Schutz zweier starker Arme zu begeben?“

Ein seltsam gurgelnder Laut kroch aus Leonies Kehle, den Sebastian nicht hätte deuten können, wären nicht heisere Worte gefolgt. „Ist so. In deinen Armen verstosse ich aber auch nicht gegen dieses Prinzip.“

„Ja, ich seh schon, du bist wieder in Ordnung. Dann komm, das Haus ist nicht mehr weit.“

Er half ihr auf die Beine, doch sie sackte sofort wieder weg. „Na toll, jetzt muss der Schwächling sich doch noch Muskeln zulegen und gegen deine Grundsätze verstossen, tut mir leid.“

Zwar erwies sich die dicke Winterkleidung als reichlich unpraktisch, um den Ritter zu spielen, der seine Maid nach Hause trug, aber das geschah schliesslich auch nur im Märchen. Deshalb legte sich Sebastian Leonies Arm soweit um den Nacken, dass sie zwar noch selbst laufen musste, er aber weitestgehend ihr Gewicht trug. Auf diese Weise stolperten sie zusammen den Weg entlang, bis ein dunkles Holzhaus sichtbar wurde, das ein wenig an ein Hexenhaus erinnerte.

„Ach, und übrigens: Bitte, gern geschehen. Ich hätte dich nicht suchen müssen, nachdem du so spät dran warst und ich dich auf dem Handy nicht mehr erreichen konnte, obwohl du mich zuerst kontaktiert hast. Nur, damit du’s weisst.“

Sebastian entkam Leonies bissigem Kommentar, denn kaum traten die beiden auf den Eingang des Hauses zu, wurde die Tür auch schon geöffnet.

„Himmel, was ist denn passiert?“ Der Mann an der Tür hatte weissgraues Haar, aus seinem von Falten zerfurchtem Gesicht strahlten zwei honigbraune Augen, die denen von Sebastian gleichkamen. In Sachen Körpergrösse wurde er aber von seinem Sohn überragt. Die Hand an der Tür war kräftig und breit und trotz des kleinen Bauchansatzes schien der Mann gut in Form zu sein. „Bring sie ins Wohnzimmer, sie kann sich dort auf das Sofa beim Kamin legen.“

Sebastian tat wie geheissen. Er setzte Leonie auf dem Sofa ab, half ihr Jacke und Schuhe auszuziehen und zwang sie mit sanftem Druck, sich hinzulegen. Bevor er sich zu ihr setzte, nahm er die Decke, die über der Couchlehne hing und breitete sie über ihr aus. Einem Impuls folgend strich er ihr übers Haar und sah sie einen Augenblick lang einfach nur an. Es entstand eine seltsame Stille, die nur vom Knacken des Holzes im Cheminée unterbrochen wurde. Und schliesslich von Sebastians Vater.

„Hier, das wird dir gut tun.“ Er machte sich gar nicht erst die Mühe, sich wie ein Störenfried vorzukommen. Während sich seine Besucher ihm verlegen, wie zwei ertappte Kinder beim Spiel mit dem Feuer, zuwandten. „Übrigens, ich bin Heinz.“

Ohne eine Antwort abzuwarten, stellte er ein Glas mit einer goldenen Flüssigkeit auf dem tiefen Salontisch ab. „Der Tee ist auch gleich fertig.“ Damit verschwand Heinz wieder und überliess die beiden erneut dem Feuer.

„Ich denke, du bist mir eine Erklärung schuldig.“

Leonie schnaubte und rappelte sich ein wenig auf, um nach dem Glas zu greifen. Sie nahm einen tiefen Zug und verzog gleich darauf das Gesicht. „Boah, was ist das denn?“

Sebastian musste trotz der Ernsthaftigkeit der Situation lächeln. „Vaters Selbstgebrannter.“

„Ach. Und was ist da drin?“

„Alkohol. Alles weitere weiss nur er selbst.“

Nachdenklich starrte Leonie auf den Inhalt ihres Glases. Ich habe nach meinem Telefon gegriffen und für einen kurzen Augenblick nicht auf die Strasse geschaut. Als ich dann wieder aufsah, stand jemand direkt vor mir reglos auf dem Weg. Ich habe mich erschrocken und wollte ausweichen. Da verlor ich die Kontrolle und landete im Strassengraben. Dann bin ich gelaufen und dann hat mich einer angesprungen.“ Sie sah direkt in Sebastians Gesicht. „Die Tat selbst ist bereits unfassbar und angsteinflössend genug. Aber was der Typ gesagt hat, erschreckt mich beinahe noch mehr.“

Der Angreifer hat gesprochen?“

Sinngemäss sagte er, ich würde dasselbe Schicksal wie mein Vater erleiden, denn auch ich wisse nicht, wann ich aufhören sollte, herumzuschnüffeln.“

Sebastian jagte ein kalter Schauer über den Rücken. „Das würde ja bedeuten…“

„…dass mein Vater absichtlich angefahren wurde, ja. Und wenn ich mir das weiter überlege, ist er im Krankenhaus womöglich auch nicht einfach so gestorben. Ich konnte mich auf einmal düster daran erinnern, dass damals jemand in das Krankenzimmer gekommen ist. Er hatte einen Kittel an und daraus hatte er eine Spritze gezogen. Ich dachte damals es wäre ein Arzt. Ich habe das alles gesehen, aber er hat mich nicht gesehen. Ich hatte solche Angst, dass man mich wegholen würde, dass ich mich verkrochen habe.

„Leonie, das wäre Mord.“

„Genau. Und die Fragen lauten nun noch: Wer und weshalb.

„Der Angreifer hat etwas von Herumschnüffeln gesagt?“

Leonie nickte.

„Also war dein Vater etwas auf der Spur, das er aber nicht mehr aufdecken konnte und du scheinst nun auf derselben Fährte gelandet zu sein, was einige Leute nervös zu machen scheint. Ergo ist da noch genug, um auch dich als Bedrohung einzustufen, die es aus dem Weg zu räumen gilt.“

„Jetzt habe ich Kopfschmerzen.“

„Das glaub ich dir. Leonie, wir müssen die Polizei verständigen.“

„Nein! Noch nicht. Ich habe noch zuwenig Informationen.“

„Na, es geht. Du hast Würgemale am Hals.“

„Ja, aber wenn ich Anzeige gegen meinen Angreifer erstatte, wird die Polizei Nachforschungen anstellen und das ganze Dorf aufscheuchen. Sie werden sich ohne richtige Beweise kaum darum kümmern, was ich zu sagen habe und was wir ahnen. In der Zeit könnten die Verbrecher dann die letzten Beweise verschwinden lassen, die es ja noch geben muss, sonst hätte man mich kaum angegriffen, und damit wäre auch meine Chance darauf, zu erfahren, was geschehen ist, ruiniert.“

Sebastians Gesichtsausdruck liess keine Rückschlüsse auf seine Gedanken zu. „Wir reden morgen weiter. Schlaf jetzt erst einmal.“ Damit stand er auf und verliess das Wohnzimmer. Leonie meinte zu aufgewühlt zu sein, um schlafen zu können, sie wurde aber eines Besseren belehrt. Kaum war Sebastian aus dem Raum gegangen, wurden ihre Augenlider derart schwer, dass sie nicht mehr fähig war, sie offen zu halten. Innert kürzester Zeit war sie fest eingeschlafen.

 

Wie geht es ihr?“ Heinz stand an der Kochinsel der grosszügigen Küche und füllte getrocknete Kräuter in ein Teesieb, welches er dann in einen Krug legte und mit kochendem Wasser übergoss.

„Schwer zu sagen. Sie wirkt ziemlich abgeklärt, aber ich schätze, sie ist ganz schön aufgewühlt. Sie hält nichts davon, die Polizei einzuschalten.“ Seufzend steckte Sebastian das Mobiltelefon weg, das er nach dem Anruf in der Bar, um sich und Leonie für die heutige Schicht abzumelden, noch immer in der Hand hielt.

Und das hältst du für falsch?“

„Nicht direkt. Ihre Begründung klingt durchaus plausibel und ich kann dafür ein gewisses Mass an Verständnis aufbringen. Aber gleichzeitig denke ich, es ist unklug weiter im Alleingang in dieser Sache herumzuwühlen. Wer weiss, was noch geschehen wird.“

„Du sorgst dich ganz schön um sie, nicht wahr?“

„Natürlich. Es geschieht nicht jeden Tag, dass ich jemanden auffinde, der beinah erwürgt worden wäre.“

Heinz füllte zwei Tassen mit dem dampfenden Kräutermix und reichte Sebastian eine davon. Dann lehnte er sich an die Küchenkombination und während er vorsichtig einen Schluck trank, musterte er seinen Sohn nachdenklich. Er wollte behutsam vorgehen, aber es fiel ihm beim besten Willen keine taugliche Umschreibung ein für das, was er vorhin beobachtet hatte und dafür, was er seinem Sohn diesbezüglich mitgeben wollte. Also hoffte er, der direkte Weg würde ihn nicht geradewegs in eine meterhohe Gefühlsblockade manövrieren. „Sie ist nicht Julia.“

„Wie bitte?“ Die Frage war eher eine Floskel. Sebastian hatte sehr wohl verstanden. „Was willst du damit sagen?“

„Julia hatte ein Zuhause. Nach dem, was ich über Leonie gehört habe, hat sie keine festen Wurzeln. Sobald sie aber ein Heim gefunden hat, wird sie auch bleiben.“

Der innere Kampf, den Sebastian ausfocht, zeichnete sich deutlich dadurch ab, dass er auf der Innenseite seiner Wange herumzukauen begann. Schliesslich sagte er: „Sie gehört nicht hierher. Beide gehörten nicht hierher, also wird auch sie wieder gehen. Und ich werde sie nicht aufhalten.“ Um seinen Entschluss noch zu unterstreichen, nickte er bekräftigend und wünschte seinem Vater eine gute Nacht, bevor er dem Raum und damit auch dem darin Gesprochenen den Rücken kehrte.

 

 

Wenn die Wahrheit nicht ruht
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