1986
Den neu angebrochenen Morgen ausnutzend, war Marc bereits seit einigen Stunden auf und hatte es nicht lassen können einige Unterlagen, die er aus dem Büro mitgenommen hatte, durchzugehen, während seine Frau und sein Kind noch schliefen. Ein Blick auf die Uhr verriet ihm, dass es Zeit war, die Dokumente schleunigst verschwinden zu lassen, ansonsten Verena ihn auf frischer Tat ertappen würde. Darauf würde so sicher wie das Amen in der Kirche ein Wutausbruch folgen, der dann in ganztätiges Schmollen überginge, womit der erste richtige Urlaubstag bereits ruiniert wäre. Noch einmal warf er einen nachdenklichen Blick auf die Notiz, die er seit geraumer Zeit in Händen hielt. Er hatte die Nachricht bestimmt schon tausende Male gelesen. Trotzdem überflog er in Gedanken das unordentliche Gekritzel noch einmal. ‚Anrufer unbekannt, Bücher Hannigalpbahn, umhören!’ Dann schob er das Papier unter das Sofa. Keine Sekunde zu spät, wie sich herausstellte.
Verschlafen öffneten Verena und Leonie beinahe zeitgleich die Tür. Nur, dass Leonie als erstes freudestrahlend auf ihren Papa losrannte, während Verena wortlos auf direktem Weg das Badezimmer ansteuerte.
„Guten Morgen, mein Schätzchen! Na, hast du gut geschlafen?“ Marc nahm seine Leonie fest in die Arme und gab ihr einen Kuss auf den Scheitel.
„Und wie! Das Bett ist hier so weich und die Decke so dick und flauschig, dass ich das Gefühl hatte, in einer Wolke zu liegen!“
„Das ist toll! Was meinst du, machen wir Frühstück? Mama wird so schnell nicht mehr aus dem Badezimmer kommen, da hätten wir genügend Zeit für Rührei und Toast. Was meinst du dazu?“
Er deutete den Jubelschrei direkt neben seinem Ohr als positive Antwort und hoffte, dass die einsetzende Taubheit nur vorübergehender Natur war. Leonie half ihrem Vater fleissig bei der Zubereitung des Frühstücks und als Verena dann endlich perfekt gestylt das Badezimmer verliess, war die Küche ein Saustall, aber der Tisch ordentlich eingedeckt und mit vielen Leckereien verziert. Verena registrierte, dass sie nach dem Skifahren einiges sauberzumachen hätte, wollte die gute Absicht dahinter aber nicht mit ihrem aufkeimenden Ärger schmälern. Also buddelte sie in den Untiefen ihres Bewusstseins, fand ein Lächeln, setzte es auf und spielte helle Begeisterung.
Nachdem dann schliesslich die gesamten Nahrungsmittel in den Mägen der Köche ihren Platz gefunden hatten, die Skianzüge montiert und die Skier geschultert waren, verliess die kleine Familie mehr oder weniger gut gelaunt die Ferienwohnung, um die reizvolle Natur zu geniessen. Marc war mit Leonie schon einige Meter weit gegangen, als er Verenas wütenden Ruf vernahm. „Bleib verdammt noch mal stehen!“
Etwas verwundert hielt Marc nichtsahnend an und drehte sich um. Bei Verenas Anblick erlosch das Lächeln auf seinem Gesicht. Sie war in etwa in der Farbe ihrer Fingernägel angelaufen und schnaubte förmlich. Er wusste nicht genau, ob vor Wut oder vor Anstrengung. Langsam dämmerte ihm, was ihr Problem war. Doch bevor er etwas sagen konnte, polterte sie bereits los. „Sag mal spinnst du? Soll ich die ganzen Sachen hier alleine tragen? Das ist viel zu schwer! Du hast dieses Zeug zu nehmen, ich brauche freie Hände, damit ich mich um Leonie kümmern kann! Oder hast du etwa schon vergessen, was auf der Autobahn geschehen ist?“ Wutentbrannt funkelte Verena ihren Mann an. Dieser blickte zuerst zu seiner Frau, wie sie in ihrem weissen Skianzug, mit dem braunen Pelzbesatz am Kragen, den weissen Skischuhen, den weissen Handschuhen und der ebenso weissen Sonnenbrille mit den leicht lang gezogenen oberen Ecken und den dort platzierten glitzernden Strasssteinen, mit ihrem Paar Ski und Skistöcke vor der Haustür stand und dann zu Leonie, die mit grossen fragenden Augen zu ihm hochblickte, während er ihre Hand weich in der seinen liegen spürte. Unnützerweise schoss Marc lediglich die Frage durch den Kopf, weshalb er Verena nicht auch noch weisse Ski und Stöcke gekauft hatte, bevor er mit seinen eigenen Skiern, den Kleinen von Leonie, dem jeweiligen Paar Stöcke sowie Leonie selbst zurück zu seiner Ehefrau stapfte, um deren Utensilien auch noch zu schultern und ihr die Kleine zu übergeben. Verständnis für die Szene, die ihm seine Frau seiner Meinung nach grundlos machte, hatte er keines, aber das hatte er eigentlich noch nie gehabt. Deshalb reagierte er wie immer. Er fügte sich. Denn solange sie das Gefühl hatte Recht zu behalten, hatte er seine Ruhe.
Da er alles selber machen musste, gestaltete sich der Einstieg in die Gondel als ziemlich schwierig. Aber nachdem sich Marc bei allen entschuldigt hatte, denen er einen Ski oder einen Stock um die Beine geschlagen hatte, konnte auch er den Ausblick in luftiger Höhe geniessen. Oben angekommen stieg er ähnlich umständlich wieder aus der Kabine aus. Ein gutaussehender kräftiger Mann, mit breiter Brust und gutmütigen braunen mit grünen Sprenkeln versetzten Augen, bestaunte das Schauspiel erst amüsiert, bevor er Gnade walten liess. „Fred, stell mal ein bisschen langsamer.“
„Heinz, du hast einfach ein zu weiches Herz.“ Bedauernd reduzierte Fred das Tempo der Gondeln, während Heinz an Marcs Seite trat und ihm half, die Ski aus der Halterung zu ziehen. Und weil er schon dabei war, trug er sie auch gleich nach draussen, wo er sie in den Skiständer stellte. Direkt daneben wartete bereits Verena, ungeduldig mit dem Fuss wippend, während Leonie sich staunend um sich selbst drehte.
„Ist das ihre Tochter?“ Heinz hatte noch nie ein Mädchen mit so grünen Augen gesehen.
„Ganz recht.“
„Ein bezauberndes Mädchen. Kann sie schon Skifahren?“
„Noch nicht. Aber das wollen wir heute ändern.“
„Paps! Ich habe im Skirennen gewonnen! Sieh mal!“ Ein aufgeregter Junge mit honigbraunen Augen rannte auf Heinz zu, als trüge er Turnschuhe und nicht Skischuhe. Dabei schien er kaum älter als Leonie.
Marc sah ihm verblüfft zu. „Na, ihr Junge scheint schon etwas länger zu fahren! Jedenfalls, vielen Dank für die Hilfe.“ Freundschaftlich klopfte er dem vor Stolz fast platzenden Heinz auf die Schulter und wandte sich zum Gehen. Dabei rempelte er eine zierlich Blondine an, die ihn giftig anfuhr. „Haben Sie keine Augen im Kopf?“
„Alina!“ Streng und autoritär donnerte die Stimme zu ihnen herüber. Als Marc aufsah, erkannte er den Gemeindepräsidenten Hans Zumbrunn persönlich. Bedrohlich baute er sich vor Alina auf. Er knurrte seine Anweisung mehr, als dass er sie sagte. „Geh zu Jan.“
Herausfordernd erwiderte Alina seinen Blick. „Ohne dein Schosshündchen gehst du wohl gar nicht mehr aus dem Haus. Oder?“ Dann stapfte sie trotzig davon.
Marc, dem diese Szene äusserst unangenehm war, räusperte sich. „Tut mir leid, ich war es, der sie angerempelt hat.“
„Nein. Mir tut es leid. Mein Mädchen hat heute offensichtlich schlechte Laune.“
„Oh, da ist sie in guter Gesellschaft, bei meiner Frau herrscht derzeit ebenfalls Eiszeit.“ Die beiden Männer lachten sich verständnisvoll an, während Verena daneben vor Wut kochte. Aber Marc ignorierte den feindseligen Blick seiner Frau und konzentrierte sich schliesslich auf das, worauf er sich schon den ganzen Morgen freute. Er stellte seine Leonie das erste Mal auf die Ski. Verena schien damit tatsächlich nichts zu tun haben zu wollen. Sie war immer noch sauer, dass er nicht von selbst darauf gekommen war, das Material zu schleppen. Und jetzt hatte er sie gegenüber einem Fremden auch noch schlecht gemacht. Aber ihm war das egal. An der miesen Laune seiner Frau konnte er sowieso nichts mehr ändern. Also kümmerte Marc sich lieber um seine Tochter. Er wählte eine Stelle, an der es zwar bergab ging, aber gleich darauf folgte wieder eine Steigung, die dann Leonies Fahrt bremsen würde, wenn sie nicht sowieso vorher schon hinfiel. Vor Freude kichernd liess sich Leonie alles gefallen.
„So, mein Schatz, jetzt stellst du dich so hin“, Marc setzte seine eigenen Füsse so in den Schnee, dass die grossen Zehen gegeneinander zeigten, „und wenn es anfängt zu rutschen, dann versuchst du einfach geradeaus zu fahren und solange stehen zu bleiben, wie’s eben geht. Du musst dir keine Sorgen darum machen, wie du anhältst, denn du fährst hier hinunter und dort drüben wieder hinauf, dann hältst du sowieso ganz von alleine an. Okay?“ Während er Leonie in die Bindung der winzigen Skier steckte, ermahnte er sie noch, keine Angst zu haben, schliesslich wäre er in der Nähe und liesse sie nicht aus den Augen. Begeistert tat Leonie wie geheissen. Sie formte mit den Skispitzen ein V und jubelte, als sie zu rutschen begann. In ihrer Begeisterung vergass sie komplett, was ihr Vater über das Anhalten und den Hügel vor ihr gesagt hatte. Kichernd fuhr sie einfach dort hin, wohin die Ski sie leiteten. Als Marc langsam eine Ahnung davon bekam, dass sein guter Plan scheiterte, war es schon beinahe zu spät. Er schrie lauthals nach Leonie und mahnte sie, sich hinfallen zu lassen. Doch Leonie tat nichts dergleichen. Stattdessen fuhr sie einfach weiter - in einer sauberen Rechtskurve an der Anhöhe vorbei, direkt auf die offene Skipiste zu.
Marc bekam es mit der Angst zu tun. Ein Blick zu Verena reichte aus, um festzustellen, dass er auf sich alleine gestellt war. Er war sich nicht einmal sicher, ob sie bemerkt hatte, was geschah.
Während er kurz abwog, ob er besser seine Ski holen sollte, die neben der Terrasse des Bergrestaurants bei Verena lagen, oder ob er sein Glück mit Rennen versuchen sollte, hatten seine Füsse das Kommando bereits übernommen. So schnell es mit den Skischuhen eben ging, stolperte Marc los. Zwischen den Leuten hindurch die Piste hinunter, immer laut nach seiner Tochter rufend. Da Leonie die Kante des Sichtbaren bereits hinter sich gelassen hatte, musste Marc zuerst zwischen den anderen Wintersportlern nach ihr suchen. Die Piste war nicht überfüllt, so dass er Leonie zwar schnell fand, aber auch niemand in der Nähe war, um sie absichtlich oder auch unabsichtlich aufzuhalten. Immer weiter und immer schneller fuhr sie den Berg hinunter. Zu Marcs Erstaunen schien sie aber keine Angst zu haben. Er stufte diese Tatsache aber eher als negativ ein, denn hätte sie Angst gehabt, hätte sie sich wohl fallen lassen. Während sich seine Gedanken im Kreis drehten, rannte er immer weiter. Immer wieder stürzte er beinahe vornüber und konnte sich jeweils nur knapp auffangen, aber es war ihm egal. Beim nächsten Blick auf Leonie meinte er, seine Herz höre zu schlagen auf. Sie hatte eine Kurve verpasst und schlidderte direkt auf die Tannen am Rande der Piste zu. „Oh mein Gott, mach, dass ihr nichts passiert!“ Marc setzte noch einmal an, nach Leonie zu rufen, doch ihm versagte die Stimme. Er konnte nur noch mit ansehen, wie seine Kleine hinter der Kuppe im Wald verschwand.