1986

 

Den Tränenschleier angestrengt wegblinzelnd trat Alina auf die Strasse. Niemand sollte merken, dass in ihrem Innern ein wilder Orkan tobte, dessen einziges Ziel es war, ihr Herz und alle darin verschlossenen Hoffnungen in einem wilden Wirbel fortzureissen, um schliesslich nur noch blinde Verzweiflung und Chaos zu hinterlassen.

Möglichst unauffällig wollte sie sich in die Einsamkeit flüchten. Sie musste unbedingt ihre Fassung und ihre Selbstbeherrschung zurückgewinnen. Vorher konnte sie es nicht riskieren, anderen Menschen unter die Augen zu treten. Schon gar nicht ihrem Ehemann.

Sich immer wieder verstohlen umsehend huschte sie durch die schmalen Gassen. Sie wollte nach Hause. Dort sollte sie ungestört sein. Das wusste sie, weil sie am Abend zuvor ein Gespräch zwischen ihrem Vater und ihrem Ehemann belauscht hatte. Nur so hatte sie herausfinden können, wann der richtige Zeitpunkt kommen würde, um Ambros aufzusuchen.

Um das Risiko möglichst gering zu halten, Vater und Ehemann doch noch in die Arme zu laufen, hätte Alina die Talstation der Hannigalpbahn weitläufig umgehen sollen. Der Drang, nach Hause zu kommen, war dann aber doch so stark, dass sie entgegen aller Vernunft den direkten Weg ansteuerte. Als sie sich der Station näherte, verlangsamte sie ihren Schritt. Ihre Angst, entdeckt zu werden, liess den Adrenalinspiegel in die Höhe schnellen, womit der ganze innere Aufruhr wenigstens für diesen Augenblick vergessen war.

Im Schutz der Gasse drückte sie sich an die Mauer eines Chalets, streckte vorsichtig den Kopf aus dem Schutz des Schattens und versuchte zu erkennen, ob Jan und Hans auf dem Platz waren. Doch es war alles ruhig. Irgendwie zu ruhig. Keine rege Betriebsamkeit, kein Trubel von Abenteuerlustigen, kein Surren und Klacken beim Verlassen und Eintreffen der Kabinen.

Es dauerte eine Weile, bis Alina begriff, was der Grund dafür war. Die Bahn stand still. Das hatte es seit ihrer Eröffnung nicht gegeben. Neugierig geworden vergass Alina ihre Vorsicht und verliess den schützenden Schatten. Sie begab sich auf den Platz und bewegte sich zögerlich auf das erhabene Gebäude zu.

An den Türen prangte ein handgeschriebenes Stück Papier: ‚Liebe Fahrgäste, aufgrund eines technischen Defekts bleibt die Bahn bis auf Weiteres leider geschlossen. Wir bitten Sie um Verständnis.’

Alina rüttelte dennoch an der Tür. Doch diese blieb wie vermutet geschlossen. Also schlich sie die eine Seite des Gebäudes entlang, um an die dem Berg zugewandte Öffnung zu gelangen. Noch bevor sie allerdings ihr Ziel erreichte, hörte sie auf einmal sich nähernde Stimmen. Schnell stiess sie sich von der Wand ab und huschte zu einer grossen Tanne mit auslandendem Geäst, das bis zum Boden reichte. In letzter Sekunde drückte sie sich in das Geäst und duckte sich an den Baumstamm. Bequem war ihr Versteck nicht, aber nahe genug an den Menschen, die soeben um die Ecke bogen, um die ganze Unterhaltung mitanhören zu können.

Zuerst erkannte sie die dröhnende Stimme ihres Vaters.

So ein verfluchter Mist! Da will man die Gegend für die weiteren Projekte genauer abklären und genau heute ist ein Seil defekt.“

„Wir können uns glücklich schätzen, dass wir die potentiellen Aktionäre noch nicht zur Ortsbegehung eingeladen haben. Das wäre ein Desaster gewesen.“

„Nicht nur das wäre eine Katastrophe gewesen. Stell dir vor, wir hätten das nicht entdeckt und den Betrieb der Bahn wie üblich aufgenommen.“

„Wir hätten einpacken können.“ Jan fuhr sich durch die zerzausten Haare. „Ich versteh einfach nicht, wie das passieren konnte. Die Anlage ist noch zu jung für solche Schäden.“

Bevor Hans zur Antwort ansetzen konnte, fuhr in elegantem Schwung ein drahtiger Kerl den Hang hinunter. Er kam so nahe an Alina vorbei, dass sie sich bereits entdeckt sah. Erschrocken drückte sie sich noch weiter in das Geäst. Aber er war zu schnell und schien sehr intensiv in seine eigenen Gedanken versunken zu sein, um sie bemerken zu können.

So wagte sie sich, von Neugierde getrieben, dann auch wieder ein wenig aus dem Schutz der Tanne hervor. Schliesslich war die Bahn geschlossen und bisher war niemand die Piste heruntergekommen. Was also hatte dieser Typ hier verloren? Die Antwort erhielt sie prompt, wenn sie sich auch anstrengen musste, um sie zu hören. Denn nachdem der Unbekannte eiligst angehalten und die Ski ausgezogen hatte, war er aufgeregt auf die beiden anderen zugesteuert und gab seinen Bericht nun im Flüsterton zum Besten. Alina schnappte die Worte „angesägt“ und „Sabotage“ auf, was unweigerlich dazu führte, dass ihr alles Blut aus dem Gesicht wich. Sie hatte Mühe, sich auf den Beinen zu halten und war zum ersten Mal froh, dass die Äste der Tanne so nah beieinander waren. Auf diese Weise konnte sie zumindest nicht hinfallen.

Nach dieser Botschaft wurden die Stimmen wieder lauter. Ihr Vater war offensichtlich stinkwütend und konnte kaum noch an sich halten.

„Bist du dir sicher?“

Der andere nickte nur.

„Das würde heissen, dass jemand über Nacht da rauf ist und die Seile angesägt hat?“

Wieder ein Nicken.

„Aber wer würde so was tun? Ich meine, es gibt einige, die dagegen sind, Grächen noch weiter als Skigebiet zu erschliessen und ihre Abneigung auch nicht verheimlichen. Aber eine solche Aktion traue ich keinem zu. Das hätte böse ins Auge gehen können und die Opfer wären viele Unschuldige und vollkommen Unbeteiligte gewesen. Das ist grausam!“

Jan brauchte wie immer etwas länger, bevor er begriff. Alina hatte schon längst verstanden. Genau das war das Ziel gewesen. Das grosse Finale, um alle Fürsprecher und Widersacher endgültig zum Schweigen zu bringen. Die Touristen wären ausgeblieben, der Ruf wahrscheinlich unwiderruflich ruiniert. Aber Jan hatte Recht, wer würde so etwas tun? Wer hasste das Dorf so sehr?

„Oh nein...“ Erschrocken darüber, auf einmal ihr eigenes Flüstern zu hören, schlug sich Alina die Hand vor den Mund und hoffte inständig, dass sie niemand sonst gehört hatte. Gerade als sie den Gedanken an ihren eigenen Verdacht beiseite schieben und als unmöglich abtun wollte, drang unheilvoll die raue Stimme ihres Vaters an ihr Ohr. Wie das Knurren eines wilden Tieres hörten sich seine Worte an, als er das laut aussprach, was sie nicht wahr haben wollte.

„Ambros. Dieser miese kleine Schweinehund. Aber wenn er glaubt, er kommt so einfach davon, hat er sich geschnitten.

Nicht die Drohung, die in den Worten lag, setzte ihr zu. Es war vielmehr das Durcheinander zwischen dem schlechten Gewissen und der Freude darüber, dass sie Ambros weggeschickt und ihm so zwar aus der Verantwortung geholfen hatte, aber ihn damit auch in Sicherheit wusste.

 

 

Wenn die Wahrheit nicht ruht
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