♦ EPILOG
Dr. Jekylls Flucht aus Landingham Manor war rundum glatt verlaufen, aber der Tod Solomon Bennetts bedeutete für ihn ein unglückliches Dilemma. Er war zwar ganz begeistert, weil er das Massaker überlebt hatte, und noch glücklicher darüber, dass er mit einem Handwagen voll kostbarem Mistralyt entwischt war. Doch ohne Solomon Bennett musste er das Zeug jetzt selbst verkaufen. Der Deal war seit Monaten arrangiert und sollte als ganz simple Transaktion in aller Öffentlichkeit über die Bühne gehen. Jekyll hatte nur nie erwartet, dass er sie würde vornehmen müssen.
Nach einem nervtötenden Telefongespräch mit dem Mann, mit dem Bennett das Geschäft ausgehandelt hatte, willigte Jekyll ein, für fünf Millionen Dollar einen Probebehälter Mistralyt herauszurücken. Wenn der Austausch glattlief, sollte sich ein weiteres Geschäft über den Großteil des verbliebenen Stoffes anschließen.
Als er in Rae’s Diner eintraf, war er ganz schön nervös. Bahnbrechende Mixturen zu erfinden und zusammenzumixen, das war seine Stärke, nicht Geschäfte in engen kleinen Diners über Frühstück und Kaffee auszuhandeln. Er hatte sich Mühe gegeben, nicht aufzufallen, und sich dementsprechend mit einem langen grauen Regenmantel, einer dunklen Sonnenbrille und einem Filzhut ausstaffiert. Er trug eine schmale schwarze Aktentasche mit dem Probenbehälter darin. Er hoffte, auf diese Weise wie ein typischer Büromensch zu wirken. Tatsächlich sah er mehr nach einem zwielichtigen russischen Spion mit einer Aktentasche voller internationaler Geheimnisse aus. Es hatte nie zu seinen Stärken gehört, sich angemessen zu kleiden. Selbsterhaltung andererseits hatte von jeher hohe Priorität für ihn, sodass er zwei bewaffnete Leibwächter namens Frank und Kevin angestellt hatte, die ihm während der Transaktion den Rücken freihalten sollten. Er hatte versprochen, allein zu erscheinen, sodass Frank und Kevin auf der anderen Straßenseite herumlungerten und die Anweisung hatten hereinzustürmen, wenn es den Anschein hatte, dass etwas schiefging.
Jekyll stellte bei seinem Eintreffen erleichtert fest, dass sich nur ein Gast im Diner aufhielt. Es war ein stämmiger schwarzer Gentleman mit ergrauendem Haar, vermutlich in den Fünfzigern. Er saß an einem Tisch im Hinterzimmer, wo man keinerlei Fenster vorfand. Der Mann entsprach perfekt der Beschreibung, die Jekyll vom Käufer erhalten hatte. Man hatte ihm gesagt, er solle nach einem großen Schwarzen in rotem Anzug und passendem Filzhut Ausschau halten, und genau so sah dieser Typ aus. Er hatte ein Glas Tomatensaft vor sich stehen und eine Aktentasche zu seinen Füßen, die hoffentlich fünf Millionen Dollar enthielt. Jekyll holte tief Luft und ging zu dem Tisch hinüber. Der Mann in Rot stand auf und empfing ihn mit warmherzigem Lächeln.
»Guten Morgen«, sagte Jekyll und reichte ihm die Hand, »sind Sie Mr. Legba?«
Der Mann in Rot schüttelte ihm freundschaftlich die Hand. »Der bin ich, aber Sie können mich Scratch nennen«, sagte er grinsend. »Es ist wirklich schön, Ihnen zu begegnen, Mr. Jekyll. Ich bin ein großer Fan Ihrer Arbeit.«
»Es heißt im Grunde Doktor Jekyll.«
»Verzeihen Sie«, sagte Scratch und setzte sich wieder. »Was für ein Doktor sind Sie?«
»Ein kreativer.«
»Verzeihung?«
Jekyll behielt seinen Aktenkoffer fest im Griff und nahm ihn auf den Schoß, nachdem er sich gesetzt hatte. »Ich möchte damit sagen: Derzeit existiert kein genauer Begriff für meine Fähigkeiten. Ich bin einzigartig.«
»Ja, das kann ich sehen«, sagte Scratch und musterte die Aktentasche. »Darf ich Ihnen einen Drink bestellen?«
»Ein Glas Wasser wäre gut.«
»Natürlich.« Scratch rief durch den Raum: »Bedienung! Bitte ein Glas Wasser für meinen Freund!«
Jekyll spürte, wie seine Handflächen am Griff des Aktenkoffers feucht wurden. Je länger Scratch auf die Tasche starrte, desto heißer wurde ihm.
»Ist da drin die Ware?«, erkundigte sich Scratch.
»Das ist sie.« Jekyll deutete mit dem Kopf auf den Aktenkoffer zu Füßen des anderen. »Und ist das für mich?«
»Ganz genau.«
»Wie geht es jetzt weiter? Zählen wir bis drei und tauschen die Koffer?«
Scratch grinste und zeigte dabei makellos weiße Zähne. Statt auf Jekylls Frage zu antworten, schob er seinen Aktenkoffer auf dem Fußboden zu ihm hinüber.
»Zählen Sie ruhig nach«, sagte er. »Es ist sonst niemand hier.«
Jekyll hob den Aktenkoffer auf und legte ihn vor sich auf den Tisch. Er blickte kurz über die Schulter, um sich davon zu überzeugen, dass niemand hinter ihm stand. Das Diner erwies sich als nach wie vor leer, abgesehen von der Bedienung, die hinter dem Tresen stand und ihm gerade ein Glas Wasser einschenkte. Aus dem Augenwinkel erhaschte er einen kurzen Blick durchs vordere Fenster auf Frank und Kevin. Erleichtert stellte er fest, dass sich beide noch immer auf der anderen Straßenseite aufhielten, wenn sie auch nicht sonderlich diskret waren. Sie starrten in das Diner wie zwei Schwachköpfe, die ein leeres Aquarium anglotzen.
»Wir sind hier vollkommen sicher«, sagte Scratch. »Niemand wird reinkommen.«
Jekyll nickte und seufzte innerlich vor Erleichterung. Bislang lief alles glatt, und die Atmosphäre war sehr entspannt. Er öffnete die Schlösser des Aktenkoffers, hob den Deckel und erblickte mehr Geld, als er je im Leben gesehen hatte. Er nahm ein dickes Bündel Hundert-Dollar-Noten zur Hand und blätterte es durch. Es sah ganz danach aus, dass alle Scheine echt waren. Er nahm ein paar Bündel mehr zur Hand, nur um sicherzustellen, dass es sich bei den Scheinen unter dem obersten nicht um Ein-Dollar-Noten handelte. Alles schien in Ordnung zu sein, und nachdem er sich einige Bündel angesehen hatte, fühlte er sich etwas unwohl. Vielleicht galt es ja als schlechte Etikette, wenn man mehr als ein paar Sekunden auf die Prüfung des Geldes verwandte. Und außerdem – selbst wenn der Aktenkoffer keine kompletten fünf Millionen enthielt, was machte das schon? Es reichte allemal für ein ganzes Leben.
»Darf ich nun sehen, was Sie in Ihrem Aktenkoffer mitgebracht haben?«, fragte Scratch.
»Natürlich.«
Jekyll hob den eigenen Koffer über den Tisch und reichte ihn hinüber. Scratch stellte ihn auf seinem Schoß ab und öffnete ihn. Seine Miene hellte sich auf, als er den Behälter Mistralyt sah.
»Das ist also das Zeug?«, fragte er breit lächelnd. »Und es gibt noch mehr davon, ja?«
»Wenn Sie noch mehr Aktenkoffer wie diesen haben«, sagte Jekyll und tätschelte den Geldkoffer, »dann habe ich eine Menge mehr davon.«
»Gut.«
Die Bedienung tauchte neben Jekyll auf und brachte sein Glas Wasser auf einem Tablett. Sie war eine schlanke junge Frau, die eine kurze rote Bobfrisur und eine Katzenaugenbrille mit blauen Rändern trug. Jekyll achtete kaum auf ihr Gesicht, denn ihr Körper war schier unwiderstehlich. Das war genau die Sorte Frau, die er mit seinem neu errungenen Reichtum anzulocken hoffte. Er brauchte sich künftig nicht mehr die Mühe zu machen, Frauen damit zu beeindrucken, dass er komisch oder interessant war. Und das erleichterte ihn sehr, denn er war nämlich weder komisch noch interessant, nicht einmal wenn er angetrunken war.
Die Bedienung stellte das Glas Wasser auf dem Tisch ab. Als sie nicht hinsah, spähte er verstohlen in ihren Ausschnitt. Die rosa Uniform wies vorn einen Reißverschluss auf, den sie neckischerweise nicht ganz zugezogen hatte.
»Sonst noch etwas?«, fragte sie.
Jekyll fuhr aus seiner Trance hoch und antwortete: »Nein, das ist alles, danke.«
Sie griff in eine Tasche vorn an ihrem Kleid und holte einen kleinen weißen Umschlag hervor. »Ich denke, der ist für Sie«, sagte sie und legte ihn neben das Glas Wasser auf den Tisch.
Jekyll nahm den Umschlag zur Hand. Jemand hatte mit schwarzer Tinte darauf seinen Namen notiert. Er drehte ihn um und zeigte ihn Scratch. »Ist der von Ihnen?«, fragte er.
»Nein«, antwortete Scratch stirnrunzelnd. »Was ist das?«
»Ich weiß es nicht.«
Jekyll riss den Umschlag auf. Ein kleiner Zettel, einmal gefaltet, steckte darin. Er zog ihn heraus und klappte ihn auf. Er las eine in schwarzer Tinte verfasste handschriftliche Nachricht:
Eine der Personen in diesem Diner wird dich gleich umbringen.
Rate mal, wer?
Jekyll fühlte sich, als hätte jemand einen Kübel Eiswasser über ihm ausgeschüttet. Seine Adern gefroren, und ein Schauer lief ihm über den Rücken. Er hatte keine Ahnung, wer diese Nachricht verfasst hatte. Es musste entweder Scratch oder die Bedienung gewesen sein. Es sei denn, jemand anderes versteckte sich in der Nähe.
»Ist alles okay?«, fragte Scratch.
Jekyll fürchtete, was er sehen würde, wenn er über die Schulter blickte. Vielleicht wetzte die Bedienung ja bereits ein Küchenmesser. Oder es hatte sich jemand anderes ins Diner geschlichen? Er packte den Griff seines Geldkoffers und wirbelte auf dem Sitz herum, bereit aufzuspringen und zur Tür zu rennen, falls es nötig war.
Leider bestand keine Möglichkeit, dass er es bis zur Tür schaffte. Drei Leute waren hinter dem Tresen zum Vorschein gekommen und versperrten ihm den Fluchtweg. Er kannte sie alle. Rodeo Rex trug ein Denim-Outfit und einen großen braunen Stetson. Elvis steckte in einem weißen Overall mit einem goldenen Cape, das ihm bis zur Taille hing. Und er trug wie üblich eine Goldrandbrille. Die dritte Person war Jasmine. In einem Augenblick der Schwäche vergaß Jekyll die eigene Zwangslage und begaffte ihr geiles Äußeres. Sie trug einen hautengen violetten Catsuit und die gleiche schwarze Maske, mit der sie sich als Britney Spears ausgegeben hatte.
Er dachte einen Augenblick lang über seine Lage nach und entschied, ruhig zu bleiben. Er hatte sich auf eine solche Entwicklung vorbereitet. Jede Minute würden Kevin und Frank ins Diner gestürmt kommen und ihn vor diesen Arschlöchern retten. Dafür bezahlte er sie schließlich. In Gedanken zählte er bis drei und hoffte, bald die Türglocke läuten zu hören, wenn seine Schläger eintraten und zu seiner Rettung eilten.
Eins.
Zwei.
Drei.
Die Türglocke läutete wie aufs Stichwort. Perfekt!
Rex, Elvis und Jasmine schienen vom Geräusch der sich öffnenden Tür jedoch nicht überrascht. Sie gaben einfach nur jemandem den Weg frei, und Jekyll konnte sehen, wer das Diner betreten hatte. Frank und Kevin steckten die Köpfe herein. Na ja, im Grunde war es der Bourbon Kid, der ihre Köpfe hereinsteckte. Er trug einen langen schwarzen Mantel und hatte die Kapuze hochgeklappt, und er hielt Kevins Kopf in der rechten und Franks in der linken Hand. Die beiden Gesichter glotzten Jekyll wie nachgemachte Scream-Masken an. Der Kid ließ die Köpfe zu Boden fallen und beförderte sie mit Tritten durch den Raum. Sie rollten Jekyll bis vor die Füße.
Er erbrach sich beim Anblick der beiden abgetrennten Köpfe auf den Keramikfußboden, hustete und prustete, bis nichts mehr kam. Dann richtete er sich auf und wischte sich den Mund ab. Ein weiterer Mann hatte hinter dem Bourbon Kid das Diner betreten – ein Mann mit einer Maske.
Der Rote Irokese.
Dieser hielt eine Machete in der Hand. Dunkelrotes Blut tropfte von der Klinge, höchstwahrscheinlich das Blut Kevins und Franks. Würde sein Blut nun auch auf dieser Klinge enden? Hatte der Rote Irokese den Brief geschrieben? Oder war es einer der anderen gewesen?
Tatsächlich hatte es keiner von ihnen getan. Die größte Gefahr ging von der Bedienung aus. Sie sprang hinter der Theke hervor, schwang sich hinüber und gesellte sich zu den anderen. Jekyll hatte sich ihr Gesicht nicht genau angesehen, als sie ihm das Wasser gebracht hatte. Sie hatte eine hellrote Perücke und eine Brille getragen. Doch nun, ohne Perücke und Brille, erkannte er sie sofort: Es war Devon Pincents Tochter Baby.
Sie ignorierte Jekyll einen Augenblick lang und näherte sich stattdessen dem Roten Irokesen. Ohne ihm die Maske abzunehmen, küsste sie ihn auf den Mund und streckte dabei die Hand nach dem Griff der Machete aus. Sie nahm dem Irokesen die Waffe ab und drehte sich zu Dr. Jekyll um.
»Du hast das Monster erschaffen, das meinen Vater umgebracht hat«, sagte sie und hob die blutige Klinge. Sie schien ziemlich angepisst zu sein.
Jekyll wirbelte herum und hoffte, dass Scratch ihm vielleicht helfen würde. Scratch war jedoch nicht der Typ, der Menschen in Not half. Vielmehr genoss er es, sich hämisch zu freuen, wenn jemand Probleme hatte.
»Dr. Jekyll«, sagte er mit einem ergötzlichen Maß an Selbstgefälligkeit. »Darf ich Ihnen die Dead Hunters vorstellen …«