♦ ZWEIUNDZWANZIG
Baby wusste nicht recht, ob sie den Abzug drücken würde, aber ihr war klar, dass sie den Mann mit dem »Schweinsgesicht« davon überzeugen musste: Falls es drauf ankam, würde sie den nötigen Mumm aufbringen und schießen. Tausend Gedanken gingen ihr gleichzeitig durch den Kopf. Wer war dieser Kerl? Für wen arbeitete er? Und konnte er sich keine Operation leisten, um diese grauenhafte Schnauze zu korrigieren?
Sollte Baby schießen und ihn verfehlen, würde das fast mit Sicherheit zu ernstlichen Unannehmlichkeiten führen. Was auch verständlich war, denn Menschen schätzten es generell nicht übermäßig, wenn man auf sie schoss. Und Schweinsgesicht führte ein Messer und ein Betäubungsgewehr mit sich. Jetzt, da Joey jedoch außer Gefecht am Boden lag, entschied Baby, dass sie an der Reihe war, die Sache in die Hand zu nehmen. Sie zielte mit der Waffe auf Schweinsgesicht und versuchte, ein paar coole Worte zu formulieren.
Schweinsgesicht war schneller. »Runter mit der Scheißknarre, Süße«, sagte er gelassen. »Du tust dir nur selbst weh. Du hältst sie nicht mal richtig.«
»Wer bist du?«, fragte Baby mit gespieltem Selbstvertrauen. Ihr war danach, vor Angst zu zittern, aber sie konnte sich gerade so zusammenreißen.
»Wie heißt du, Süße?«, fragte Schweinsgesicht und sah sie dabei böse an.
»Baby.«
»Dein echter Name!«
Baby fiel ein Plan ein, ein entschlossener Plan. Nicht unbedingt ein guter Plan, aber sie hatte sich entschieden und wollte es nun damit probieren.
»Ich gebe dir die Knarre«, sagte sie, »wenn du mir verrätst, wer du bist.«
Baby suchte sich den Augenblick sorgfältig aus. Es war das, was Joey getan hätte. Glaubte sie. Schieß auf deinen Feind, wenn er am wenigsten damit rechnet, wenn er gerade dabei ist, eine Frage zu beantworten, die du ihm gestellt hast. Sie zielte auf die Spitze der Stupsnase. Sie schloss die Augen und drückte den Abzug.
Nichts geschah. Sie öffnete die Augen.
Schweinsgesicht sah stinksauer aus. »Du hast die Knarre nicht entsichert, du dummes Miststück!«
Baby blickte auf die Waffe hinab. Sie kannte dieses Klischee aus Filmen, wo ab und zu ein Blödmann zu schießen versuchte, ohne dass er die Waffe vorher entsichert hatte. Jetzt war sie der Blödian. Anders als die Schwachköpfe in den Filmen hatte Baby aber nicht vor rumzutrödeln. Sie entdeckte den Sicherungshebel und legte ihn mit dem Daumen um, und sie war dabei von ihrer Schnelligkeit unter diesen Umständen beeindruckt. Sie blickte wieder zu Schweinsgesicht auf, der immer noch wütend aussah, jetzt aber auch überrascht schien, dass Baby sofort einen weiteren Schuss probieren wollte. Er traf Anstalten, sich zu ducken, und Baby drückte erneut den Abzug.
Klick.
Schweinsgesicht streckte den Kopf wieder hinter der Kante der Wagentür hervor. »Keine Kugeln!«, höhnte er. »Das ist wirklich zu schade.«
Schweinsgesicht öffnete die Wagentür und stützte sich mit einem Knie auf den Fahrersitz. Er griff nach der Waffe, entriss sie Baby und schleuderte sie in den Wald hinter sich. Dann hob er das Messer. Die Spitze der Klinge war schartig und sah sehr unangenehm aus, darin ähnelte sie Schweinsgesicht selbst.
Er packte Baby am Arm und zerrte sie auf den Fahrersitz herüber. »Du kommst mit!«, knurrte er.
Er zog sich aus dem Auto zurück und blickte auf Joey hinab, um sich davon zu überzeugen, dass der nach wie vor außer Gefecht war. Dann zog er Baby ganz aus dem Wagen, und sie plumpste zu Boden. Mit Händen und Kinn landete sie auf rauem, erdbedecktem Waldboden. Schweinsgesicht packte sie an den Haaren und zerrte sie auf die Beine. Er rammte sie gegen das Auto und zog sie in eine aufrechte Haltung, sodass er auf sehr persönliche Nähe an sie heranrücken konnte. Baby roch seinen Atem. Er stank nach Knoblauch. Im Augenwinkel sah sie, wie er langsam das Messer zu ihrem Hals hob.
»So«, sagte er, das Gesicht keine fünfzehn Zentimeter von ihrem entfernt. Die wütend vortretenden Augen starrten streng in ihre. »Du wirst mir jetzt deinen richtigen Namen verraten, oder ich …«
Was als Nächstes geschah, war sehr seltsam. Sein rechtes Auge, das ohnehin etwas größer als das linke wirkte, wurde jetzt noch größer. Und größer! Vielmehr, wie Baby rasch bemerkte, kam es ihr in Wirklichkeit näher. Sein linkes Auge blieb jedoch, wo es war.
Innerhalb einer halben Sekunde sprang Schweinsgesicht das rechte Auge glatt aus dem Gesicht. Es stoppte einen halben Zoll vor Babys Gesicht und starrte sie an.
Was zum Geier?
Das Auge ragte auf der Spitze eines schmalen Stücks Metall aus seiner Höhle. Einen flüchtigen Augenblick lang dachte Baby über die Möglichkeit nach, dass er so was wie Halb-Mensch, Halb-Roboter war, aber dann kippte er seitlich weg und landete schlaff am Boden.
Jetzt erst erkannte sie, dass sein Augapfel auf der Spitze eines Pfeils steckte. Das hintere Ende des Geschosses ragte aus seinem Hinterkopf.
Baby sah sich im Wald um und versuchte herauszukriegen, woher der Pfeil gekommen war. Es war dunkel, und sie konnte kaum etwas erkennen, wenn sie nicht ganz angestrengt hinsah. Und sie hatte nicht die Zeit, um angestrengt auf jeden Zweig oder Busch im Wald zu starren.
Sie hörte Joey etwas nuscheln, was nach »Steig ins Auto« klang. Sie ignorierte ihn jedoch, weil sie jemanden entdeckt hatte, der sich in den dunklen Schatten des Waldes bewegte. Eine ganz in Schwarz gekleidete geisterhafte Gestalt war dort lautlos zwischen den Bäumen zu sehen. Als der Mann näher kam, stellte Baby fest, dass er einen langen schwarzen Mantel trug und eine Kapuze über den Kopf gezogen hatte. Und er hatte eine Armbrust an einem Riemen auf dem Rücken hängen. Es war der Kerl, den sie aus dem Wald an der Totmannsklippe hatte hervortreten sehen, als sie auf dem Rücksitz von Joeys Motorrad saß.
»Hat mein Dad dich geschickt?«, fragte sie nervös.
Doch er kümmerte sich nicht um sie, sondern ging auf Joey zu. Er beugte sich vor und drehte Joeys Gesicht mit der Hand herum.
»Wer bist du?«, wollte Baby wissen.
Der Mann richtete sich auf, ging zu Schweinsgesicht hinüber und packte den Pfeil, der aus dessen Hinterkopf ragte. Er riss ihn heraus, was ein eklig schmatzendes Geräusch erzeugte, bei dem sich Baby beinahe übergeben hätte. Dann drehte er Schweinsgesicht auf den Rücken und durchsuchte seine Taschen. Er holte ein Handy und eine Brieftasche hervor.
»Wer war dieser Typ?«, erkundigte sich Baby.
Wiederum erzielte sie keinerlei Reaktion. Der Kapuzenmann steckte sich Schweinsgesichts Telefon und Brieftasche in eine Innentasche seines Mantels.
Baby unternahm einen weiteren Versuch, ein Gespräch in Gang zu bringen, denn der Umstand, dass dieser Typ sie überhaupt nicht zur Kenntnis nahm, machte ihr richtig Angst. »Er hat einige Pfeile auf meinen Freund geschossen. Ich denke, dass sie vielleicht vergiftet sind. Kannst du uns helfen?«
Der Mann klappte die Kapuze nach hinten und blickte zu ihr auf. Sie konnte im Dunkeln soeben sein Gesicht erkennen. Er war unrasiert, hatte schulterlange dunkle Haare und sah, na ja, einfach nur richtig fies aus.
Auf dem Erdboden rührte sich Joey wieder. »Lass Baby in Ruhe«, nuschelte er.
Baby lief um den Kapuzenmann herum und hockte sich neben Joey. Sie streichelte ihm das Gesicht. »Bist du okay?«
Er blickte mit glasigen Augen zu ihr auf. »Wer ist dieser Typ?«, fragte er.
»Ich weiß nicht«, flüsterte Baby. Sie blickte den Kapuzenmann an. »Wer bist du?«, wandte sie sich erneut an ihn.
Der Mann gab ihr ein weiteres Mal keine Antwort. Er deutete auf Joey. »Wo ist seine Maske?«, fragte er mit einer tiefen und harschen Stimme.
»Ich weiß nicht, wovon du redest!«, stotterte Baby.
Der Mann schob sie aus dem Weg und zog die Armbrust aus dem Rückenholster. Er setzte Joey einen Fuß auf die Brust und zielte mit der Armbrust auf sein Gesicht. »Wo ist die Maske?«, fragte er wieder.
Baby warf sich über Joey und damit zwischen dessen Gesicht und die Armbrust. »Bring ihn nicht um!«, kreischte sie. »Bitte!«
Der Kapuzenmann hob die Armbrust, hängte sie sich wieder auf den Rücken und nahm den Fuß von Joeys Brust.
»Ohne die Maske bist du nichts«, sagte er.
Während diese Bemerkung noch in der Luft hing, wich der Kapuzenmann zurück und verschwand wieder im Wald.
Baby entdeckte einen Pfeil, der noch in Joeys Oberschenkel steckte. Sie sank auf die Knie und packte das Ding. Sie rupfte daran und riss es heraus. Joey zuckte zusammen.
»Waren das alle?«, fragte er.
»Ich denke, schon.«
Joeys Kräfte kehrten langsam zurück. Sein Immunsystem wehrte sich und spülte das Pfeilgift heraus. Baby half ihm in eine sitzende Position und untersuchte seinen Rücken. Sie strich einen Haufen Blätter und Zweige von der Weste und den Armen.
»Ich denke, das waren alle«, sagte sie, als sie auf ein paar weitere Pfeile am Erdboden aufmerksam wurde, die Joey selbst herausgezogen hatte.
Er schaute die Leiche von Schweinsgesicht an. »Und wir müssen diese Leiche hier wegschaffen.«
»Ich sollte wirklich meinem Dad von all dem erzählen«, sagte Baby.
»Das ist nicht möglich«, wandte Joey ein. »Ich meine, findest du es nicht merkwürdig, dass du fast zwei Stunden zu spät dran bist und dein Vater noch nicht angerufen hat?«
»Glaubst du, ihm ist etwas zugestoßen?«
»Möglich.« Er überlegte kurz und arbeitete rasch einen Plan aus. »Du brauchst nach wie vor ein Alibi«, sagte er. »Wohnt irgendeine Freundin hier in der Nähe, der du trauen kannst?«
»Nur Jasmine, aber sie ist mit Jack Munson in einem Motel abgestiegen.«
»Das ist perfekt!«
»Wirklich?«
»Ja, ist es. Erzähl Jack und Jasmine alles, was passiert ist, und sag Jack, er soll mich morgen am Vormittag um zehn Uhr im Olé au Lait treffen.«
»Kommst du nicht mit mir?«
Joey schüttelte den Kopf. »Ich werde diese Leiche beseitigen und dann bei euch zu Hause nachsehen, ob sich dein Dad dort aufhält oder nicht.«
Er packte Schweinsgesicht unter den Achselhöhlen und zerrte ihn zum Heck seines Autos. »Pack seine Füße, Baby. Wir schmeißen diesen Kerl in den Kofferraum und wechseln dann den platten Reifen.«
Baby schnappte Schweinsgesichts Füße und half, die Leiche in den Kofferraum zu hieven. Joey hob den Reservereifen heraus und machte sich daran, den Reifenwechsel vorzunehmen.
»Sehe ich dich morgen?«, fragte sie.
»Japp. Ich hole dich am Nachmittag von deiner Probe ab.«
»Ich weiß nicht recht, ob ich derzeit zu den Proben gehen möchte.«
»Baby, du musst hingehen! Der Hauptdarsteller ist tot, und alle wissen, dass du heute Abend mit ihm ausgegangen bist. Wenn du nicht auftauchst, wirst du verdammt schuldig wirken, sobald man erst mal seine Leiche findet.«