Der Wandschrank
Der Junge würde nie wieder das Geräusch des Autos vergessen, das quietschend in der Einfahrt vor ihrem Haus zum Stehen kam. Er und sein Vater waren gerade dabei gewesen, ein Lego-Haus zu bauen, und beim Geräusch der über das Pflaster rutschenden Reifen sprang sein Vater auf, stürmte ans Fenster und blickte durch die Jalousie. In diesem Augenblick änderte sich die ganze Welt.
Der Vater des Jungen trat vom Fenster zurück. Jede Farbe war aus seinem Gesicht gewichen. Obwohl der Junge erst sieben Jahre alt war, wusste er, dass etwas nicht stimmte. Sein Vater lief zu ihm und hob ihn vom Boden auf. Er drückte ihn fest an seine Brust und trug ihn durch den Flur ins Hauptschlafzimmer, setzte den Jungen vor dem Wandschrank ab. Er öffnete das Möbel und wies seinen Sohn an hineinzusteigen.
»Was ist denn los, Daddy?«
»Nichts. Wir spielen verstecken. Du bleibst da drin, bis deine Mutter dich findet, verstanden?«
»Okay.«
Der Vater wirkte hektisch, war durch irgendwas nervös geworden, aber der Junge verstand den Grund nicht. Neben ihm lag ein alter tragbarer CD-Spieler mit einem Kopfhörer. Sein Vater bückte sich und hob ihn auf.
»Ich möchte, dass du im Wandschrank bleibst und dir die Musik anhörst. Kein Mucks, okay?«
»Okay, Dad.«
Dem Vater fielen die Haare ins Gesicht, aber er strich sie nicht zurück. Er legte dem Jungen die Hände auf die Schultern und blickte ihm in die Augen. »Egal, was passiert«, sagte er, »egal, was du siehst oder hörst, du bleibst bei der Musik, konzentrierst dich auf die Musik. Auf nichts anderes. Und steig erst wieder aus dem Wandschrank, wenn ich es sage, okay?«
»Was ist denn los, Dad?«
Der Vater setzte ihm den Kopfhörer auf. »Hör einfach der Musik zu, Junge. Konzentrier dich auf sie. Der Herr wird dich beschützen.« Er küsste den Jungen auf die Stirn und flüsterte: »Ich liebe dich, Sohn, und deine Mutter tut es auch. Immer.«
Der Vater des Jungen drückte eine Taste am Walkman und schloss die Schranktür. Es war dunkel hier drinnen. Das einzige Licht fiel in dünnen Streifen zwischen den Holzlatten der Tür herein.
Konzentrier dich auf die Musik.
Der Junge folgte den Anweisungen des Vaters, auch wenn ihm die Wendung »Der Herr wird dich beschützen« Kopfzerbrechen bereitete. Vor was beschützen? Er stellte sich diese Frage nur ein Mal, ehe ihn die Musik ablenkte. Seine Mutter spielte diese Stücke fortwährend ab. Es handelte sich um eine Zusammenstellung ihrer liebsten katholischen Kirchenlieder, aufgeführt vom örtlichen Kirchenchor. Das Lied, das ihm durch die Kopfhörer bis in die Seele drang, war Stille Nacht. Dem Jungen gefiel dieses Lied, denn es war das Lieblingslied seiner Mutter. Sie sang es ihm immer vor dem Schlafengehen vor, wenn Weihnachten näher rückte. Er war allerdings inzwischen sieben Jahre alt, und die Zeiten, in der er auf dem Schoß seiner Mutter gesessen und ihrer schönen Stimme zugehört hatte, gehörten der Vergangenheit an. Lego und Spielzeugwaffen waren jetzt seine Welt.
Nach der ersten Hälfte von Stille Nacht hörte er einen lauten Knall und fuhr zusammen. Ein Knall bedeutete gewöhnlich das Ende von irgendwas, das Platzen eines Ballons oder eines Reifens. Der Junge hatte beides schon mal gehört, aber beides war nicht so laut gewesen wie der Knall, aufgrund dessen er jetzt im Wandschrank zitterte.
Konzentrier dich auf die Musik.
Die Worte des Vaters fielen ihm wieder ein. Der Junge bemühte sich sehr, den Text zu verstehen und alle anderen Gedanken auszusperren. Manche der Worte schienen für ihn keinen Sinn zu ergeben und hatten dies auch noch nie getan. Es waren die wohltuenden Stimmen der Sänger, die dem Lied seine Schönheit verliehen, nicht der Text. Während ruhigerer Liedpassagen hörte er Schreie aus dem Wohnzimmer – die Schreie einer Frau. War seine Mutter früher von der Arbeit gekommen?
Konzentrier dich auf die Musik, Junge.
Eine Träne lief ihm über die Wange. Ihm war nicht klar, was genau ihn zum Weinen brachte, aber er wusste, dass er Angst hatte. Er fand dieses Spiel mit seinem Vater jetzt nicht mehr so schön wie den Unfug, den sie sonst trieben. Die Luft im Wandschrank war dick und muffig. Die Lichtbalken, die durch die Schlitze in der Tür hereinfielen, hoben die Staubflocken hervor, die rings um den Jungen tanzten. Er war allein, und nur die Stimmen des Kirchenchors leisteten ihm Gesellschaft.
Als Stille Nacht zu Ende war, blieb es zwei Sekunden lang still, ehe das nächste Lied einsetzte. In diesen beiden Sekunden hörte der Junge einen Mann im angrenzenden Zimmer schreien. Er hätte nicht sagen können, ob es die Stimme seines Vaters war.
Das nächste Lied auf der CD war Amazing Grace. Es war ein Lied, das er für mehrere Jahre nicht mehr hören würde. Denn es würde ihn stets an den Tag erinnern, an dem seine Eltern ermordet wurden. Und an den Augenblick, in dem er ihrem Mörder in die Augen blickte.
Ein kleiner untersetzter Mann in blauem Trainingsanzug und mit einer schwarzen Skimütze über dem Gesicht betrat das Schlafzimmer. In der Hand hielt er ein langes scharfes Messer, ganz von rotem Blut befleckt. Dem Blut der Eltern des Jungen.
Die stechenden grünen Augen des Mannes mit der Skimütze streiften durch das Zimmer und blieben schließlich auf der Tür des Wandschranks ruhen. Diese Augen starrten den Jungen durch die Ritzen direkt an. Der Mann tat einen Schritt auf den Schrank zu, ehe ihn etwas ablenkte. Dem Jungen würde erst später klar werden, dass es der Klang einer Polizeisirene war, nur einige Häuserblocks entfernt. Der Mann mit der Skimütze warf noch einen letzten Blick auf den Wandschrank, drehte sich dann um und verschwand aus dem Zimmer. Wie ein Schatten, der sich in der Dunkelheit auflöste.
Der Junge blieb im Schrank sitzen und konzentrierte sich noch zehn weitere Minuten auf die Musik, bis erneut ein Mann das Schlafzimmer betrat. Es war Devon Pincent, ein Freund seines Vaters. Er hielt eine Pistole in der Hand und bewegte sich ganz vorsichtig, für den Fall, dass der Eindringling noch im Haus war. Das traf jedoch nicht zu. Er hatte sich längst verzogen.
Devon sah sich im Schlafzimmer um und zielte mit der Pistole auf alles, was er ins Auge fasste. Schließlich blieb sein Blick wie zuvor der des Mannes mit der Skimütze auf dem Wandschrank ruhen. Er näherte sich zögernd mit angelegter und schussbereiter Waffe. Er streckte die freie Hand aus und öffnete die Schranktür. Als er den Jungen erblickte, steckte er die Pistole ins Holster unter der Jacke. Er nahm dem Jungen die Kopfhörer ab.
»Hallo, Joey«, sagte er. »Du musst jetzt mit mir kommen. Du musst dabei aber die Augen geschlossen halten, okay?«
Devon hob ihn auf und trug ihn aus dem Haus zu einer bereitstehenden Ambulanz. Aber Joey hielt die Augen nicht geschlossen. Er sah alles.