♦ ZWEIUNDFÜNFZIG
Rex und Elvis brauchten etwas länger als eigentlich nötig, um das Lesezimmer zu finden. Mehrere falsche Abzweigungen führten zu Auseinandersetzungen über die Frage: links von mir aus oder von dir aus? Letztlich wurde daraus eine ziemlich überflüssige Besichtigung des Erdgeschosses von Landingham Manor.
Endlich öffnete Rex eine Tür und blickte ins richtige Zimmer.
»Das ist es!«, stellte er triumphierend fest. Er trat ein und winkte Elvis, ihm zu folgen.
Elvis ging hinein und sah sich um.
»Hier sieht es aus wie überall sonst!«, ächzte er. »Was ist an diesem Zimmer so besonders?«
»Die Büste von Adam West auf dem Tisch da vorne.«
Ein großer alter Holztisch dominierte das Zentrum des Raums. Darauf stand besagte Büste. Rex ging auf sie zu und klappte ihren Kopf nach hinten, wie Joey ihn angewiesen hatte. Mitten im Hals ragte ein kleiner Schalter auf. Rex drückte drauf, sah sich um und wartete, dass etwas Cooles geschah. Nach kurzer Wartezeit glitt das Bücherregal an der Rückwand zur Seite und gab den Blick in den Fahrstuhlschacht frei, aber nicht auf die Kabine.
Elvis blickte kurz auf den Flur hinaus, um sicherzugehen, dass niemand sie hatte eintreten sehen, und schloss dann sachte die Tür zum Lesezimmer, damit nicht Leute im Vorbeigehen bemerkten, was hier ablief.
»Okay, was jetzt?«, fragte er.
Rex ging zum Fahrstuhlschacht hinüber und blickte in die Tiefe. »Scheiße«, sagte er. »Das ist tief.«
Elvis tänzelte durchs Zimmer, schnippte mit den Fingern und summte in Begleitung der unsichtbaren Jukebox, die ständig in seinem Kopf den Rock’n’Roll spielte. Er setzte die Sonnenbrille ab und nahm in Augenschein, was sich Rex schon angesehen hatte. Am Grund des Schachts, in etwa zehn Metern Tiefe, wartete die Kabine, die sie aus Joeys Versteck im Untergeschoss kannten.
»Das ist ein verdammt tiefer Sturz«, bestätigte er das Offensichtliche.
»Ungelogen«, sagte Rex. »Denkst du, du kannst dort hinunterklettern?«
»Scheiße, auf keinen Fall, Mann! Du solltest das tun.«
»Warum zum Teufel sollte ich es sein, der hinabsteigt?«
»Du hast eine Magnethand. Damit kannst du dich unterwegs an Metallsachen festhalten.«
»Ich schwöre bei Gott, diese Hand ist manchmal ein verdammter Fluch«, knurrte Rex.
»Ich halte Wache.«
»Ja, du solltest lieber irgendwas tun.«
Rex setzte sich und ließ die Füße in den Schacht baumeln. Er drehte sich und senkte sich ab, wobei er mit der normalen Hand die Kante gepackt hielt. Metallene Träger zogen sich an den Seiten des Schachts hinab. Er streckte die Metallhand aus und packte einen davon. Der magnetische Halt reichte, dass er nicht abstürzte, während er mit der anderen Hand nach irgendetwas tastete, an das er sich klammern konnte. Langsam stieg er so Stück für Stück in die Tiefe.
»Scheiße, das ist gar nicht so einfach, wie es aussieht!«, rief er zu Elvis hinauf.
»Es wirkt einfacher als der Mist, den Tom Cruise in Mission Impossible 4 durchgezogen hat.«
»Was?«
»Du weißt schon, wie er mit einem Magnethandschuh um das Gebäude herumgeklettert ist. Wenigstens hast du nur zehn Meter unter dir.«
»Elvis.«
»Ja?«
»Halt verdammt noch mal die Klappe!«
Rex brauchte nur etwas mehr als eine Minute, um so weit hinabzusteigen, dass er sich aufs Dach der Fahrstuhlkabine fallen lassen konnte. Das Echo seiner Landung hallte den ganzen Schacht hinauf.
»Sachte, Mann!«, rief Elvis hinunter. »Weck möglichst nicht die Toten, solange du da unten bist.«
Rex beachtete ihn nicht und öffnete die Luke im Kabinendach. Mit seiner Größe musste er sich regelrecht hindurchquetschen und -winden, aber es gelang ihm. Er sprang auf den Boden der Kabine.
»Okay, ich bin drin!«, brüllte er zu Elvis hinauf.
»Cool. Dann mach jetzt aber schnell!«
Rex stieg aus dem Fahrstuhl und blickte sich in Joeys Höhle um. Es sah noch genauso aus wie heute Morgen, als sie sie verlassen hatten. Es war eine Erleichterung, dieses Mal nicht von bewaffneten Soldaten empfangen zu werden, die hier auf der Lauer lagen.
Er ging schnurstracks zum Tisch in der Mitte, um auf den Monitoren nachzusehen, was im Gebäude und in der Umgebung geschah. Er nahm sich eine Minute für jeden Monitor Zeit, wollte sehen, ob er Joey irgendwo entdeckte, und noch wichtiger, ob er herausfand, wo der Papst steckte und was er gerade tat. Er fand reichlich Aufnahmen von Sicherheitsleuten, die durch die Flure des Hauptgebäudes gingen, aber nirgendwo eine Spur von Joey.
Auf den meisten Monitoren wechselte die Perspektive alle paar Sekunden, und sprang von einer Kamera zur nächsten. Einer der zentralen Bildschirme sendete beständig Live-Bilder aus dem Speisesaal, wo es von Dinner-Gästen wimmelte. Der Raum war riesig. Ungefähr vierzig runde Tische standen dort, und auf einer Seite ragte die Bühne auf. Das erinnerte Rex an die Verleihung der MTV-Awards. Er war dort einmal als Sicherheitsmann eingesetzt gewesen und damit beauftragt zu verhindern, dass die Gäste eine junge kanadische Sängerin anspuckten. Das war einer der schlimmsten Aufträge seiner Karriere gewesen. Die halbe Nacht lang musste er sich anhören, wie dusselige Sänger über Politik schwafelten und den Massen predigten, sie sollten für diverse wohltätige Zwecke Geld spenden. Ihn schauderte, wenn er daran zurückdachte.
Zum Glück war Bono nicht unter den zweihundert Gästen im Speisesaal von Landingham Manor zu sehen. Den Papst entdeckte Rex leicht, denn er saß an einem Tisch vor der Bühne und trug eine große weiße Soutane, oder ein »Kleid«, wie es Rex lieber nannte. Alle übrigen Männer hatten schwarze Abendanzüge und weiße Hemden angelegt. Die Frauen steckten zumeist in schwarzen oder silbernen Cocktailkleidern. Derzeit sah man nirgendwo einen Hinweis auf Ärger oder, wichtiger noch, auf Frankenstein. Ein jeder saß auf seinem Platz, und alles wirkte ruhig.
Rex wandte sich von den Monitoren ab und ging zu der Sporttasche hinüber, die sie am Abend zuvor mit Waffen vollgestopft hatten. Ein dickes Seil lag daneben, das er zu Elvis würde hinaufwerfen müssen, damit dieser die Tasche durch den Fahrstuhlschacht hochziehen konnte. Als sie gestern Abend den Plan ausheckten, war er ihnen einfach und logisch erschienen, aber Rex fand jetzt, dass es ein Scheißplan war, und zwar nicht der erste Scheißplan, den sie in jüngerer Vergangenheit ausgetüftelt hatten.
Rex hatte kaum zwei Schritte Richtung Sporttasche zurückgelegt, als in seinem Kopf etwas ankam, was er gerade eben auf einem der Bildschirme gesehen hatte. Spielte ihm sein Gehirn einen Streich? Hatte er wirklich gerade dieses Bild gesehen? Er warf sich herum und starrte erneut auf den Monitor mit den Live-Bildern aus dem Speisesaal. Der Papst gestikulierte für die übrigen Gäste am Prominententisch. Es sah aus, als deutete er auf etwas und lachte dabei. Vielleicht erzählt er einen Witz? Rex fürchtete, dass dem nicht so war. Das Bild auf dem Monitor wechselte vom Papst zu einer anderen Stelle des Saals. Es dauerte drei weitere Kamerawechsel, ehe der Bildschirm wieder das zeigte, was Rex beunruhigte.
Seine schlimmste Befürchtung war bestätigt. Jasmine sang und tanzte auf der Bühne für das Publikum.