♦ DREIUNDSECHZIG
Schon seit die Schießerei begonnen hatte, versuchte Baby angestrengt, sich aus Frankensteins Griff zu befreien, auch wenn der so stark war, dass er ihre Bemühungen kaum spürte. Er hatte das Magazin seiner Waffe mehrfach entleert und durch ein neues aus einer seiner Taschen ersetzt. Nach seinem zweiten Versuch, Jasmine in der Tonkabine zu treffen, war ihm jedoch die Munition ausgegangen. Er warf die Maschinenpistole weg und machte sich unter den zig Leichen, die auf dem Boden des Speisesaals herumlagen, auf der Suche nach Ersatz.
Er entdeckte eine weitere Uzi, die neben einem der vielen umgestürzten Tische in der Nähe unter dem Bein einer toten Kellnerin hervorragte. Er zerrte Baby dort hinüber und bückte sich, um die Waffe aufzuheben. Baby wusste, dass sich ihr hier die beste und möglicherweise letzte Chance bot, sich aus seinem Griff zu befreien. Sie schlängelte und wand sich, bewirkte damit aber gar nichts. Selbst als sich Frankenstein vorbeugte und damit aus dem Gleichgewicht geriet, konnte sie ihn nicht abschütteln. In einem letzten Augenblick der Verzweiflung überlegte sie, ob es nun an der Zeit war, ihre »große Nummer« zu probieren. Joey dachte offenkundig das Gleiche, denn aus seinem Versteck hinter dem Cadillac rief er ihr zu: »Baby, verpass ihm den Pinguin!«
Jedem anderen wäre das in der gegenwärtigen Zwangslage als sehr merkwürdige Aufforderung erschienen, aber Baby wusste genau, was er meinte. Und es war beruhigend zu wissen, dass Joey die gleiche Idee wie sie gehabt hatte.
Sie griff hinter sich nach Frankensteins Gürtelschnalle. Mit einem gekonnten Schnipsen von Daumen und Zeigefinger öffnete sie sie. Der erste Teil des Manövers war abgeschlossen. Frankenstein hatte es noch nicht mal bemerkt, da er gerade den Tragriemen der Uzi von der Schulter der Kellnerin zu ziehen versuchte. Baby packte eine Faust voll von seiner Hose und riss sie ihm herunter.
Wie es für jeden Kerl gilt, dem unerwartet die Hose heruntergezogen wird und der keinerlei Unterwäsche trägt, war es Frankensteins erster Impuls, alles andere zu vergessen und die Hose wieder hochzuziehen. Er ließ Baby los, was sie in die Lage versetzte, sich von ihm wegzudrehen und dabei die Hose mitzureißen. Frankenstein verlor das Gleichgewicht, als sich ihm die Hose um die Knöchel wickelte. Diese Nummer hatte Baby schon viele Male gute Dienste geleistet. Und die goldene Regel lautete: Je größer sie sind, desto leichter fallen sie. Sie wälzte sich weg und duckte sich hinter einen Tisch.
Frankensteins rechter Fuß kreuzte sich mit dem linken, und er musste sich mit einer Hand am Boden abstützen, um nicht ganz hinzuplumpsen. Da er bemerkte hatte, dass Baby aus seinem Griff entwichen war, versuchte er törichterweise zur gleichen Zeit, nach ihr zu greifen. Er legte ein paar unbeholfene Schritte wie ein Kleinkind zurück, ehe er umkippte und auf dem Kinn landete, sodass sein großer, glatter, nackter Arsch zur Decke wies.
Der Bourbon Kid stürmte hinter dem Cadillac hervor und ging auf Frankenstein los. Er ballte eine Faust und sprang in die Luft. Es schien, als wollte er sie Frankenstein auf den Arsch hämmern, aber im letzten Augenblick war zu sehen, dass er ein Überraschungsei in der Hand hielt. Mit der geballten Faust rammte er Frankenstein das Teil in den Dickdarm. Und es glitt vollständig hinein, die glatte ovale Form perfekt geeignet für diese Infiltration.
Joey war inzwischen auch hinter dem Cadillac hervorgerannt. Er brüllte Baby zu: »Halt dich von den Zombies fern!«
Baby hatte schon gesehen, dass sich überall im Saal mutierte Essensgäste aufrappelten, aber das hatte keine Priorität für sie gehabt, solange sie in Frankensteins Griff steckte. Jetzt war sie frei und realisierte allmählich, wie viele von denen hier herumlagen. Sie sprang auf und rannte im Slalom zwischen den ausgestreckten Armen rotäugiger Mutanten mit äderigen Gesichtern zur Bühne.
Zum Glück hielten ihr Rodeo Rex und Elvis den Rücken frei. Jedes Mal, wenn ein Mutant ihr nahe kam, schoss ihm einer von beiden mit einer ihrer leistungsstarken Schusswaffen den Kopf oder ein Arm oder Bein weg. Baby stürmte den seitlichen Aufgang zur Bühne hinauf und sah nach, was inzwischen aus Frankenstein geworden war.
Der riesige hirntote Monstermann versuchte nicht mehr, sich die Hose hochzuziehen. Er konzentrierte all seine Wut auf den Bourbon Kid, was verständlich war, hatte ihm dieser doch gerade ein unanständig großes Schokoladenei in den Arsch gerammt. Der Kid war auf den Beinen und ärgerte Frankenstein, wollte ihn dazu verlocken, aufzustehen und zu kämpfen.
Und Frankenstein tat ihm den Gefallen. Er kam wankend auf die Beine und störte sich scheinbar nicht mehr daran, dass ihm die Hose um die Fußknöchel schlackerte. Sobald er stand, ging der Bourbon Kid zu Phase zwei seines Angriffsplans über. Er sprang hoch und verpasste Frankenstein einen Kinnhaken. Dieser riss den Riesenkerl herum und brachte ihn damit direkt ins Visier des Roten Irokesen.
Joey hatte sich diskret in Frankensteins Rücken geschlichen, während der Kid diesen mit der Ei-in-den-Arsch-Nummer ablenkte. Kaum stoppte Frankensteins Rotation vom Hieb des Kids, hämmerte ihm Joey einen kurzen, aber kräftigen Schlag in den Bauch.
Baby erwartete eigentlich, dass Joey und der Bourbon Kid sich jetzt mit Angriffen auf Frankenstein abwechselten, aber beide wichen zurück.
Frankenstein schüttelte den Schlag in den Bauch ab und hielt Ausschau nach einer Waffe, die er aufheben konnte. Er entdeckte die Uzi wieder, die er beinahe schon in der Hand gehabt hatte, als Baby ihm die Hose herunterzog. Er tat einen Schritt in Richtung dieser Waffe, aber weiter kam er nicht.
Ein Geräusch wie Donner übertönte auf einmal die Schüsse und die Musik. Es klang danach, als bebte der Saal. Der Donner kam jedoch aus Frankensteins Bauch. Die Nachwirkungen von Joeys »Kackhieb« in die Eingeweide stellten sich ein.
Frankensteins ganzer Körper dehnte sich rapide aus. Die Arme streckten sich zu einer Kreuzigungspose, und die Brust hob sich. Aus der Magengegend knurrte es immer lauter, und sein Oberbauch dehnte sich. Frankenstein explodierte von innen heraus. Als Erstes fiel die schwarze Schutzbrille. Sie flog ihm geradezu vom Kopf, direkt gefolgt von den Augen, die aus den Höhlen traten und in gegensätzliche Richtungen davondüsten.
Und dann kam das Blut.
So viel Blut.
Es spritzte nicht nur aus seinen Augenhöhlen. Es schoss ihm aus Ohren und Mund und aus dem Arschloch wie der schlimmste Fall von Dünnschiss. Frankensteins Ableben ging jetzt schnell. Das Leben rann mit dem Blut und den Körperflüssigkeiten aus ihm heraus. Er knickte nicht mal mehr in den Knien ein, als er nach vorn kippte und krachend am Boden aufschlug, wobei zertrümmert wurde, was von seinem Gesicht noch vorhanden gewesen war. Frankenstein war nicht mehr. Getötet zur Titelmusik der Benny-Hill-Show.
Da Frankenstein nun nicht mehr im Spiel war, sprangen Elvis und Rex hinter dem Cadillac hervor. Sie zogen auf Patrouille durch den Speisesaal und pusteten alle mutierten Dinnergäste weg, die sie vorfanden. Wenn ein Gesicht auch nur ansatzweise blau aussah oder die Augen eine Spur blutunterlaufen wirkten, bekam der Gast den Kopf weggeballert. Und wenn ihnen ein Mutant zu nahe kam, um noch niedergeschossen zu werden, erwies sich der Kolben der Waffe als praktisches Hilfsmittel, ihm oder ihr den Schädel einzuschlagen.
Der Bourbon Kid saß derweil auf der Motorhaube des violetten Cadillac, rauchte eine Zigarette und schoss gelegentlich auf einen Dinnergast, der den Eindruck erweckte, sich zu rühren.
Joey stand inmitten des Saals und sah sich das Ganze an. Seine Jeans war mit dem Blut Frankensteins vollgesprüht. Er nahm die Maske ab und lächelte Baby an.
Es war toll, wieder sein Gesicht zu sehen. Sie hüpfte auf ihn zu, sprang an ihm hoch und schlang Arme und Beine um ihn. Er legte die Arme um sie, und sie küssten sich leidenschaftlicher als alles, was Baby je erlebt hatte. Ihr psychotischer, maskierter Serienkillerfreund hatte sich seiner Aufgabe wieder mal gewachsen gezeigt und die scheinbar unbesiegbare Gefahr beseitigt, die Frankenstein dargestellt hatte.
Sie blickte Joey in die Augen. »Wie hast du das gemacht?«, fragte sie. »Wie hast du erreicht, dass Frankenstein so explodiert?«
»Ich hab ihm einen ›Kackhieb‹ verpasst.«
»Aber warum ist er explodiert?«
»Er hatte eine Bombe im Bauch.«
»Eine Bombe?«
»Yeah, in dem Überraschungsei versteckt.«
»Warum sollte jemand eine Bombe in ein Schokoladenei stecken?«
Joey zuckte die Achseln. »Ich habe keinen Schimmer. Aber sobald ich ihm in die Eingeweide geschlagen hatte und sich der Bauch rings um das Ei verspannte, war er ein toter Mann.«
Baby kapierte gewissermaßen, dass Frankensteins Innereien nicht kugelfest wie die Haut waren, aber trotzdem blieb ihr unergründlich, warum jemand eine Bombe in einem Schokoladenei versteckte.
»Aber mal ernsthaft«, sagte sie. »Wieso steckt jemand eine Bombe in ein Überraschungsei?«
»Das möchte ich auch wissen!«, dröhnte Rodeo Rex durch den Saal. Er suchte derzeit nicht mehr nach Mutanten, die er killen konnte, sondern starrte den Bourbon Kid an und wackelte tadelnd mit dem Finger.
»Ist ein guter Platz, um eine Bombe zu verstecken«, fand der Kid und blies Rauch zur Nase heraus.
»War es dasselbe Scheißei, das du mir neulich andrehen wolltest?«
»Vielleicht.«
»Du verfluchter Mistkerl!«
Baby wusste nicht recht, was sie von Joeys neuen Freunden halten sollte. Sie waren, gelinde gesagt, sehr merkwürdig.
»Ich versuche lieber zu verhindern, dass sie sich gegenseitig umbringen«, sagte Joey und löste sich von Baby. »Du solltest deinen Dad suchen gehen. Sag ihm, was er für ein Star ist.«
Baby drehte sich um und erblickte ihren Vater und Alexis Calhoon. Die beiden hatten sich seitlich der Bühne vor der Schießerei versteckt. Nachdem der Kampf nun vorbei war, hatten sie sich wieder hervorgewagt. Devon wirkte müde, aber außerordentlich erleichtert, seine Tochter heil und ganz vorzufinden.
»Baby, du bist in Sicherheit!«, rief er, und Tränen stiegen ihm in die Augen.
Baby ließ Joey stehen und hüpfte auf ihren Vater zu. Sein Blick zeigte so viel Liebe. Niemand sah sie mit einem solchen Ausdruck an, wie ihr Vater es tat. Ein breites Lächeln erhellte ihre Miene. Devon strahlte seinerseits zurück. Dann auf einmal nicht mehr. Der Mund klappte ihm auf.
»Baby!«, brüllte er und starrte über ihre Schulter hinweg auf etwas: »Pass auf!«