♦ FÜNFUNDFÜNFZIG

Alexis Calhoon war schon den ganzen Tag über ungewöhnlich nervös, sodass sie es als Erleichterung empfand, endlich ihren großen Augenblick absolvieren zu dürfen, vor allem, weil sie es dann endlich hinter sich hatte. Eine junge männliche Hilfskraft schob einen Handwagen mit zwanzig Kanistern Mistralyt neben ihr auf die Bühne, was Calhoon das Signal gab, jetzt eine kurze Ansprache zu halten. Alle Anwesenden wussten, worum es bei dem Mistralyt ging. Es war schließlich der Grund für ihr aller Hiersein. Sie waren Investoren, Stifter, Käufer oder einfach nur reich und neugierig. Jedenfalls war Calhoons Ansprache im Grunde völlig überflüssig. Sie fühlte sich ein bisschen wie die Assistentin eines Bühnenzauberers. Damit lag sie gar nicht so weit daneben, wenn man die Wunderheilung bedachte.

Nachdem sie sich vorgestellt und den Handwagen mit dem Heilmittel gegen Hautkrebs stolz präsentiert hatte, lud Calhoon den Papst mit einem Wink auf die Bühne ein, damit er dem Publikum erläutern konnte, wie das Zeug ihm das Leben gerettet hatte. Welch bessere Bestätigung konnte sie schon vorweisen, als die Empfehlung eines Papstes, der bei seinem letzten öffentlichen Auftritt nur noch Wochen zu leben gehabt hatte?

Allerdings war für Calhoon schon nach kürzester Zeit nicht zu übersehen, dass der Papst nicht bereit für eine öffentliche Ansprache war. Sein Sekretär Rufus half ihm, auf die Bühne zu wanken. Die Medikamente, die man ihm gegen die von der lebensrettenden Operation herrührenden Schmerzen verschrieben hatte, machten ihn offensichtlich weiterhin schläfrig und wacklig.

Ehe sie dem Papst das Mikrofon übergab, wandte sich Calhoon mit einem abschließenden Ersuchen ans Publikum.

»Meine Damen und Herren«, sagte sie. »Wir haben eine Auswahl der besten Champagner der Welt auf Ihren Tischen bereitgestellt. Damit haben wir die perfekte Gelegenheit, einen Trinkspruch auf den ersten Empfänger der Wunderheilung für Hautkrebs auszubringen.« Sie fasste den Papst an der Hand und half ihm zum Mikrofon. »Geehrte Gäste, heißen Sie mit mir den Papst willkommen!«

Viele ausgelassene Prosit-Rufe erklangen, während Gäste dem Papst mit Champagner zutranken.

Calhoon ging zur Seite, damit das Oberhaupt der katholischen Kirche sich ans Publikum wenden konnte. Wenn schon der unstete Gang einen Hinweis gegeben hatte, dass er unter Medikamenteneinfluss stand, bestätigte die undeutliche Aussprache den Eindruck zweifelsfrei. Peinlicherweise schien er auch betrunken, oder schlimmer noch, high!

»Hallo allerseits«, sagte er und formte mit den Fingern das Friedenszeichen. »Ich habe eine Menge Tabletten geschluckt, also verzeihen Sie mir, wenn ich ein bisschen albern klinge. Mein Sekretär Rufus meint, dass ich mich ständig betrunken anhöre. Ich bin nicht betrunken, aber hey, Wodka rockt!«

Calhoon fühlte sich versucht, die Hände vors Gesicht zu schlagen. Der Papst machte auf komisch, was wirklich nicht seine starke Seite war. Verschlimmert wurde das noch durch den dicken osteuropäischen Akzent beim Aussprechen falscher Hipsterworte. Zum Glück fanden die Gäste seine Nummer hochgradig amüsant, weil sie so unerwartet kam. Calhoon konnte sich jedoch nicht daran ergötzen, denn sie machte sich Sorgen, seine Heiligkeit könnte jeden Moment umfallen.

Während die Gäste seinem dürftigen »Wodka rockt«-Gag applaudierten, wahrte der Papst das Gleichgewicht, indem er sich mit einer Hand auf den Handwagen mit dem Mistralyt stützte. So, wie er das machte, fürchtete Calhoon, dass er den Wagen von der Bühne schob. Sie stellte sich schon die Schlagzeile vor: »Besoffener Papst zerstört Kanister mit Krebswundermittel.«

Der Papst räusperte sich und begann damit, das Publikum mit einem Histörchen zu ergötzen. Während die Gäste nun ruhiger wurden, drangen andere Geräusche an Calhoons Ohr. Der Speisesaal hätte eigentlich schalldicht sein müssen, aber irgendjemand schlug dort draußen richtig Krach. Und für Calhoons gut geschulte Ohren klang das verdächtig nach Schusswaffen. Der Papst hörte es offenkundig nicht, denn er fuhr damit fort, dem Publikum zu erzählen, wie er mal mit Nelson Mandela im selben Flugzeug gesessen hatte.

Calhoon war hingegen nicht die Einzige, die auf die Schüsse aufmerksam geworden war. Einige der Gäste fingen an, zu murmeln und sich zu den Türen an der Rückwand des Saals umzudrehen.

Dann jedoch ergab sich ein noch größeres Problem. Ein älterer Herr an einem der Tische weiter vorn bekam eine Art Anfall. Er griff sich an den Hals, und sein Gesicht wurde hellrot. Ehe ihm einer der übrigen Gäste helfen konnte, keuchte er laut und kippte nach vorn. Er krachte mit dem Gesicht in den Essteller und stieß das Champagnerglas um. Die Frau neben ihm schrie auf. Mehrere Gäste sprangen von den Stühlen hoch und eilten dem Mann zu Hilfe.

Ein weiteres lautes Scheppern von einem der Tische im hinteren Winkel des Saals kündete vom Hinscheiden eines zweiten Gastes. Diesmal war es eine junge Dame. Sie fiel vom Stuhl und zerrte das Tischtuch mit, beförderte damit Gläser und Besteck auf den Fußboden und erzeugte ein fürchterliches Chaos.

Eine dritte Person brach zusammen. Dann eine vierte.

Inmitten der aufbrandenden Panik gelangte der Papst ans Ende seiner Flugzeugstory und stolperte vom Mikrofon zurück, wobei er die Pointe lachend vor sich hinnuschelte. Er schien zu denken, dass das Geschrei und die Rufe des Publikums eine Reaktion auf seine amüsante Anekdote waren. Falls jemand im Saal nichts von der Gefahr ahnte, in der alle schwebten, so war das der Papst. Calhoon war klar, dass sie ihn in Sicherheit bringen musste.

Mit jeder Sekunde brachen weitere Gäste zusammen und landeten entweder mit dem Gesicht auf dem Tisch oder kippten von den Stühlen auf den Fußboden. Die Gäste, die noch bei Bewusstsein waren, brüllten und schrien in irrer Panik. Sie fürchteten um das Leben ihrer gestürzten Lieben und hatten panische Angst davor, die nächsten zu sein. Das geheimnisvolle Virus hatte keinen der Caterer befallen. Die meisten von ihnen standen nur herum und verfolgten untätig, wie die Gäste wie die Fliegen umfielen.

Calhoon lief auf den Papst zu. Er lachte noch immer über den eigenen Scherz und klatschte sich dabei auf den Schenkel. Der Heilige Vater war gänzlich ausgelassener Stimmung.

»Der Witz funktioniert immer«, sagte er und lächelte Calhoon an.

»Nein, es liegt am Champagner«, entgegnete sie und hoffte, dass er den Aufruhr in ihrer Stimme bemerkte. »Es liegt am Champagner!«

»Hm?«

»Diese Menschen sterben. Sie sind mit dem Champagner vergiftet worden!«

Der Papst schien nüchtern zu werden. Er starrte auf die wachsende Zahl bewusstloser Gäste hinab.

»Heiliger Jesus!«

Calhoons Verstand verarbeitete die Ereignisse mit rasender Geschwindigkeit. Die naheliegendste Möglichkeit war ein Terroranschlag. Sie packte den Papst am Ärmel seiner Soutane und schrie ihm ins Ohr: »Ich muss Sie hier rausschaffen!«

Seine Heiligkeit holte ein Handy aus einer Tasche seiner Kutte hervor. Er richtete es auf das Chaos vor der Bühne. Inzwischen lagen neunzig Prozent der Gäste entweder mit dem Gesicht in ihren Tellern oder auf dem Boden. Eine Handvoll Menschen, die noch bei Besinnung waren, wirkte zutiefst entsetzt und verwirrt.

»Was machen Sie da?«, fragte Calhoon.

»Ich filme das, um es auf meiner YouTube-Seite einzustellen.«

Calhoon bemühte sich, die bizarre Offenbarung zu ignorieren, dass der Papst Videos auf YouTube lud, oder auch nur, dass er überhaupt einen YouTube-Account besaß. Man hatte ihn offenkundig mit viel zu vielen Mitteln vollgepumpt, denn er blieb von den Ereignissen hier gänzlich unerschüttert. Durfte Calhoon ihn jedoch anschreien? Oder ihm eine runterhauen und ihm sagen, er solle sich zusammenreißen? Wie schimpfte man am besten mit dem Führer der katholischen Welt?

Sie versuchte, ihn hinter die Kulissen zu zerren. Da tauchte ein weiteres Problem am anderen Ende des Saals auf. Ein distinguierter Herr in den Vierzigern, der nicht vom vergifteten Champagner gekostet hatte, öffnete die Türen an der Rückwand des Saals und rannte auf den Flur hinaus. Er versuchte offensichtlich, dem Chaos zu entfliehen und wollte Hilfe holen.

PENG!

Der Schuss stoppte alles. Der Mann, der auf den Flur hinausgerannt war, stürzte. Blut strömte ihm aus einer Schusswunde in der Stirn. Alles Gebrüll und Geschrei endete in dem Augenblick, in dem deutlich wurde, dass ein Schütze im Haus herumlief.

Calhoon zerrte den Papst weg vom Chaos und zur Treppe seitlich der Bühne. »Kommen Sie, ich muss Sie hier rausschaffen!«, schrie sie.

Er schaute verdutzt drein. »Wieso?«

»Weil Leute herkommen, um Sie umzubringen!«

»Mich umbringen? Wieso?«

Vom Fuß der Treppe rief jemand herauf: »Niemand bringt den Papst um!«

Calhoon erkannte die Stimme. Doch sie hatte sie seit Jahren nicht gehört. Es war die Stimme Solomon Bennetts. Er kam die Treppe herauf und zielte mit einer Pistole auf Calhoon. Und er war nicht allein. Hinter ihm trieb kein anderer als sein idiotischer Freund, der Wissenschaftler Dr. Henry Jekyll, Devon Pincent und dessen Tochter Baby vor sich her.

Calhoons Mund klappte auf. »Solomon?«

Er lächelte sie an und trabte die abschließenden Stufen hoch, bis er sich auf der Bühne zu ihr gesellt hatte. »Erinnern Sie sich an das letzte Mal, dass Sie mich gesehen haben?«, fragte er und wurde mit jeder Silbe lauter. »Sie wollten mich umbringen lassen!«

Calhoon wich zurück, denn sie wusste, dass Bennett sie jeden Augenblick erschießen konnte. Seine Waffe zielte auf ihren Bauch. Sie ging rückwärts und stieß versehentlich mit dem Papst zusammen. Der war schon unsicher genug auf den Beinen, auch ohne, dass sie ihn anrempelte, und wie es schien, brachte ihr Stupser das Fass zum Überlaufen. Er verlor das Gleichgewicht und stolperte rückwärts. Ehe Calhoon ihn festhalten konnte, stürzte er von der Bühne in den Bereich mit den Tischen, prallte mit dem Kopf gegen eine Tischkante und brach neben einigen herumliegenden Dinnergästen bewusstlos zusammen.

Bennett packte Calhoon am Hals und drückte ihr die Pistole in die Rippen. »Vergessen Sie den Papst«, knurrte er. »Wir sind nicht seinetwegen hier. Sie sind die einzige Person, die ich umbringen möchte.«

»Sie sind nur hier, um mich zu töten?«

»Nein!« Bennett schien gekränkt. »Sie haben wirklich eine hohe Meinung von sich, wie? Wir sind wegen des Mistralyts hier, das Sie uns gestohlen haben.«

Dr. Jekyll schubste Devon und Baby auf die Bühne. Beiden waren die Hände auf den Rücken gefesselt. Jekyll sollte sie eigentlich bewachen, aber sobald er den Handwagen voller Mistralyt entdeckte, stürmte er darauf zu und streichelte ihn, als wäre es eine Katze.

Calhoon hob die Hände zum Zeichen der Kapitulation, als Bennett ihr die Pistole noch fester in die Rippen drückte. »Das alles haben Sie wegen zwanzig Kanistern Mistralyt aufgezogen?«, fragte sie ungläubig.

»Verdammt richtig«, sagte Solomon. »Wir können nicht zulassen, dass Sie diesen Stoff darauf verschwenden, den Hautkrebs reicher Leute zu heilen. Dafür ist es viel zu wertvoll. Es sollte dem Zweck dienen, für den es entwickelt wurde, nämlich weitere unbesiegbare Soldaten wie Frank Grealish zu erzeugen.«

»Grealish?« Calhoon erinnerte sich an den Namen. Verdammt, sie erinnerte sich an den ganzen Zwischenfall, der zum Tod von Frank Grealish geführt hatte. »Was reden Sie da? Er ist tot! Ihr dummes Experiment hat ihn das Leben gekostet!«

»In diesem Punkt muss ich Ihnen widersprechen.« Bennett wies zum Eingang des Speisesaals. »Gestatten Sie mir, Ihnen Frank Grealish vorzustellen«, sagte er. »Oder wie wir ihn heute lieber nennen: Frankenstein!«

Frankenstein stand im Flur vor dem Speisesaal und starrte herein. Calhoon traute kaum ihren Augen. Sie hatte ihn vor fünf Jahren für tot erklärt. Doch hier stand er nun und sah genauso aus wie an seinem Todestag, nur dass er inzwischen kurze dunkle Haare hatte statt des Glatzkopfes. Er hielt eine Uzi-Maschinenpistole in der Hand und schaute sich suchend nach jemandem um, auf den er sie abfeuern konnte.

Bennett ließ Calhoons Kehle los, und sie stolperte rückwärts und rieb sich den roten wunden Hals.

»Was zum Teufel haben Sie getan?«, fragte sie und starrte dabei auf Frankenstein.

»Geben Sie gut acht«, sagte Bennett. Er wandte sich lautstark an das Catering-Personal, das ringsum verteilt stand: »Leute, das komplette Sicherheitspersonal ist tot. Lauft los und bedient euch an den Waffen!«

Die Kellner und Kellnerinnen stürmten umgehend aus dem Saal, um die Leichen der vielen Sicherheitsleute und Marines zu plündern, die Frankenstein seit seiner Ankunft niedergemetzelt hatte. Grealish selbst durchquerte den Caterer-Schwarm in Gegenrichtung und betrat den Speisesaal, während er unverwandt Ausschau nach jemandem hielt, den er umbringen konnte.

Vielleicht zwanzig Dinnergäste waren noch bei Bewusstsein, da sie keinen Champagner getrunken hatten. Als Frankenstein auftauchte, schrie eine von ihnen vor Entsetzen los – eine junge blonde Dame, die den Kopf ihres Gatten in den Armen barg.

Ein tödlicher Fehler.

Frankenstein richtete die Uzi auf sie und schoss sie kaltblütig nieder. Eine kurze tödliche Stille trat ein; dann rannten die restlichen Gäste in alle Richtungen um ihr Leben. Frankenstein erschoss einen nach dem anderen, ohne irgendeine Regung zu zeigen.

Drei Killer für ein Halleluja
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