FÜNFUNDDREISSIG

Joey kreuzte fünfzehn Minuten lang mit seiner Maschine durch die Stadt und kontrollierte dabei regelmäßig, ob ihm jemand folgte. Ihm fiel nichts Verdächtiges auf, trotzdem hatte ihn der Peilsender am Motorrad paranoid werden lassen. Er fuhr letztlich in ein mehrstöckiges Parkhaus und dort in die dritte Etage hinauf, wo alles relativ ruhig wirkte. Er stoppte in einer Parkbucht und sprang von der Maschine.

Der Peilsender war mit doppelseitigem Klebeband unter dem Sitz befestigt. Eine übereilte und amateurhafte Vorgehensweise. Er blickte sich im Parkhaus um. Die Etage war nur halb voll. Wichtiger noch: Hier spazierten keinerlei Leute herum. Er riss den Peilsender vom Motorrad und schlenderte zu einem Pickup in der Nähe. Er warf das Gerät auf die Ladefläche und blickte sich erneut um. Niemand hatte gesehen, was er tat. Und niemand schien ihm hierher gefolgt zu sein. Er lief zum Motorrad zurück und rief Baby auf dem Handy an. Ärgerlicherweise war ihr Telefon abgeschaltet, und so versuchte er es stattdessen bei Jack Munson. Es klingelte sechs oder sieben Mal, und er wollte schon aufgeben, als sich endlich jemand meldete.

Jemand, der nicht Jack war.

»Hallo«, sagte eine Männerstimme.

»Wer ist da?«, fragte Joey.

»Rodeo Rex. Wer ist dort?«

»Was machst du mit Jacks Handy?«

»Bist du Joey?«

»Ich habe dich gefragt, was du mit Jacks Handy machst.«

»Sieh mal, Kumpel, wenn du der bist, für den ich dich halte, musst du deinen Arsch wieder dorthin schwingen, wo du deine Freundin abgesetzt hast.«

Joey überlegte, ob vielleicht Rodeo Rex ihm den Peilsender ans Motorrad geheftet hatte. Rex war in der Akademie für Darstellende Kunst gewesen und damit einer der Hauptverdächtigen, und außerdem drückte er sich nicht deutlich aus. Aber woher wusste er überhaupt, dass Joey Baby abgesetzt hatte?

»Was hast du mit Baby angestellt?«

»Ich? Gar nichts«, antwortete Rex.

»Wie bist du dann an Jacks Telefon gekommen?«

»Jack ist tot.«

»Was?«

»Dieser Frankenstein war vor mir hier. Er hat Baby mitgenommen. Warum kommst du also nicht hierher zurück, sodass wir darüber reden können, wie ich dir helfen kann, sie zurückzuholen?«

Joey war erschüttert von der Behauptung, dass Jack tot sei. Er kannte Jack, seit er ein kleiner Junge gewesen war, und hielt den Kerl von jeher für unzerstörbar. Er war außerdem ein guter Freund. Joey hoffte bei Gott, dass Rex log.

»Was ist mit Jack passiert?«, fragte er scharf.

»Komm einfach her und sieh es dir selbst an. Ich gebe dir fünf Minuten, aber danach verschwinde ich. Hier wird es bald von Cops wimmeln.«

Rodeo Rex trennte die Verbindung. Joey holte ein paarmal tief Luft. War das eine Falle? War Baby wirklich entführt worden? Er dachte kurz über die Fakten nach. Baby hatte nicht auf ihr Handy reagiert, und das von Jack befand sich im Besitz von Rodeo Rex. Wenn Joey herausfinden wollte, was stimmte und was nicht, dann stellte die Rückkehr zum County Motel seine einzige Möglichkeit dar.

Rex hatte gesagt, dass er fünf Minuten lang warten würde. Joey musste also ausgesprochen kräftig Gas geben, wenn er rechtzeitig eintreffen wollte. Er sprang wieder aufs Motorrad und flog mit gefährlich hoher Geschwindigkeit durch den Stadtverkehr. Jeder zweite Fahrer schien auf einmal die Fahrspur wechseln zu wollen, ohne zu blinken, oder wollte sich auf dicht befahrenen Kreuzungen direkt vor ihn setzen. Außerdem sprang jede einzelne Ampel auf Rot, sobald er sich ihr näherte. Nichts davon würde ihn jedoch aufhalten. Er umfuhr halsbrecherisch alle Autos und zischte an jeder Abzweigung über Rot, bis er am Motel eintraf.

Als er auf den Parkplatz fuhr, parkte eine große Harley Davidson vor Apartment 17. Auf ihr saß rittlings in Jeans und einer ärmellosen blauen Jeansjacke Rodeo Rex. Rex gehörte zu den Leuten, die man nie mehr vergaß, wenn man sie einmal gesehen hatte.

Während Joey auf ihn zufuhr, hob Rex die behandschuhte Hand und winkte ansatzweise. Joey bremste ab und fasste die Umgebung ins Auge. Rex ließ seine beiden Hände sehen, und sonst entdeckte er niemanden. Sofern kein Heckenschütze im Gebäude auf der anderen Straßenseite steckte, musste Joey davon ausgehen, dass der große Biker in Frieden gekommen war.

Er stoppte seitlich von Rex’ Harley und stieg ab. Ihm fiel sofort auf, dass die Tür zu Apartment 17 beschädigt war. Jemand hatte das Schloss zertrümmert. Rex packte Joey mit der behandschuhten Hand am Arm. Sein Griff fiel sehr kräftig aus.

»An deiner Stelle würde ich dort nicht hineingehen«, sagte er.

»Nun, du bist nicht an meiner Stelle«, erwiderte Joey. »Also nimm deine Scheißhand weg.«

»Sie haben Jack das Gesicht weggeschnitten.«

»Was?«

»Wenn du es dir wirklich ansehen möchtest: Er liegt im vorderen Zimmer auf dem Fußboden. Beeil dich aber, denn wir müssen verschwinden. Mein Kumpel Elvis ist rechtzeitig eingetroffen, um Jasmine zu retten, und er hat einen der Typen erwischt, die das getan haben. Komm mit, und wir können dem Schwein Fragen stellen und herausfinden, wohin sie deine Freundin gebracht haben.«

Rex ließ Joeys Arm los. Joey stürmte sofort ins Apartment. Sobald er durch die Tür war, sah er die Schweinerei dort. Die Leiche vor dem Sofa war grauenhaft zugerichtet. Er erkannte Jack an dem rosa Shirt wieder, das er getragen hatte, als sie sich früher am Tag im Olé au Lait getroffen hatten. Es war von dicken blutigen Brocken total verklebt. Rex hatte Joey ja gewarnt, dass man Jack das Gesicht heruntergeschnitten hatte. Joey hatte gehofft, das wäre eine Übertreibung oder Metapher gewesen, aber der Anblick war sehr real und hundertmal schlimmer, als er es sich hätte vorstellen können. Jack war verstümmelt und auf eine Art und Weise dahingeschlachtet worden, die so völlig unpassend für einen Mann seiner Statur war. Jack war ein guter, anständiger Kerl gewesen und hatte sein Leben dem Schutz derer gewidmet, die sich nicht selbst wehren konnten. Das hier war ein schmähliches Ende für jemanden, der so viel mehr verdient hatte, der so viel mehr ertragen hatte.

Joey schauderte es einen Augenblick lang, aber dann verbannte er den entsetzlichen Anblick aus seinen Gedanken und lief ins hintere Zimmer. Dort klebte noch mehr Blut am Boden, und das Bett sah schlimm aus. In diesem Apartment war wirklich sehr viel Gewalt ausgeübt worden. Joey öffnete die Badezimmertür und sah, dass das Bad leer war. Das Waschbecken und der Spiegel zeigten Blutspuren. Er hatte insgeheim gehofft, Baby gesund und sicher hier vorzufinden, doch er hätte es besser wissen müssen. Er konnte nur herausfinden, was aus Baby geworden war, indem er Rex begleitete.

Er ging wieder hinaus und vermied es dabei, Jack erneut anzusehen. Rex wartete auf seiner Harley. Er blickte Joey mitfühlend an.

»Tut mir leid, Mann.«

»Wer hat ihn umgebracht?«, fragte Joey. »War es Frankenstein?«

Rex schüttelte den Kopf. »So ein Typ namens Mozart hat das getan. Er hat Jacks Gesicht als Maske getragen, während er versuchte, Jasmine zu vergewaltigen. Elvis hat beide in ein Geheimversteck unserer Gruppe gebracht. Jasmine hat alles genau gesehen, was hier passiert ist, und sie ist total aufgelöst. Aber dieser Mozart … Er kann uns verraten, wo Frankenstein steckt und was sie mit deinem Mädchen vorhaben.«

»Er ist nicht wirklich Frankenstein, weißt du?«

»Darauf bin ich schon selbst gekommen, danke.«

»Ich kenne ihn aus früheren Jahren. Er heißt Frank Grealish. Wir gehörten zur selben staatlichen Operation, die dazu gedacht war, uns zu unbesiegbaren Attentätern zu machen.«

»Hat gut funktioniert«, sagte Rex.

»Nein, hat es nicht. Frank ist gestorben.«

»Er ist was

»Er ist gestorben. Zumindest dachten das alle. Ein durchgeknallter Sonderling von Wissenschaftler, der sich Dr. Jekyll nennt, hatte versucht, Frank kugelfest zu machen. Dabei ist was schiefgegangen, aber wie du und ich kürzlich gesehen haben, scheint zumindest die kugelsichere Haut verdammt gut zu funktionieren.«

Rex verarbeitete Joeys Erklärung bemerkenswert gut. »Frankenstein und Dr. Jekyll«, sagte er und nickte. »Aus dem Grund hat Gott mich auf die Erde geschickt.«

Joey wusste nicht recht, was er mit Rex anfangen sollte. Der Typ schien okay, irgendwie cool, aber wer zum Teufel war er?

»Wie passt du in all das hier rein?«, fragte ihn Joey. »Jack hat mir erzählt, du würdest mich suchen. Kriegen wir ein Problem?«

»Ich denke, nicht, Mann. Hab allerdings gehört, du wolltest versuchen, den Papst zu ermorden. Willst du?«

Joey schüttelte den Kopf. »Nein. Alle Welt scheint das aber zu denken.«

»Es kam in den Nachrichten.«

»Ich weiß, aber ich kann nur vermuten, dass jemand mich reinlegen will. Ich geb’ einen Scheiß auf den Papst. Er hat sicherlich nichts getan, wofür ich ihn umbringen wollte.«

»Gut«, sagte Rex. »Würd’ mich nicht überraschen, wenn Frankenstein irgendwie in alles verwickelt ist. Fragen wir also mal seinen Freund Mozart danach. Vielleicht kriegen wir dein Mädchen zurück und retten auch den Papst.« Er tippte auf seine Armbanduhr. »Sind noch zweiundzwanzig Stunden und sechzehn Minuten.«

»Bis was?«

»Bis jemand den Papst killt.«

Drei Killer für ein Halleluja
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