♦ ZWANZIG
Baby hockte auf der Bettkante und zog sich in panischer Hast an. Mitternacht war vorbei, und sie hatte ihrem Vater versprochen, sie wäre bis elf Uhr zu Hause.
»Ich bin so spät dran! Mein Dad wird ausflippen!«, sagte sie und versuchte, Joey die Dringlichkeit der Lage zu verdeutlichen, die er weit lässiger betrachtete. Er hatte sich die Jeans wieder angezogen, sichtete derzeit aber eine Auswahl ärmelloser Shirts in einem Wandschrank, der bislang innerhalb der Höhlenwand getarnt gewesen war.
»Mach dir keine Sorgen«, sagte er. »Ich bringe dich in null Komma nichts nach Hause.«
»Können wir diesmal das Auto nehmen?«, fragte Baby, die lieber nicht erneut als Sozia auf einem Motorrad fahren wollte; besonders nicht mitten in der Nacht ohne Helm.
»Ja, okay.«
Joey zog sich ein schwarzes Shirt über den Kopf. Es brachte seine starken Bizepse zur Geltung. Sein Oberkörper war durch und durch muskulös, und wie Baby gerade eben herausgefunden hatte, war er auch hart wie Granit. Sie hatte in ihrer Zeit schon etliche Oberkörper gesehen, aber nichts so Massives wie den von Joey.
Während sie die Schuhe anzog, sah sie zu, wie er sich mit der Hand durch die Haare fuhr, die nach ihrer Nummer ein bisschen zerzaust waren. Ohne die Irokesenmaske und die typische rote Lederjacke sah er so normal aus. Er hatte eine sympathische Art an sich und besaß gute Manieren, was alles nicht zu der Rolle passte, die er im Outfit des Roten Irokesen spielte.
»Wenn mein Dad noch auf ist und auf mich wartet, was soll ich ihm erzählen?«, fragte Baby beunruhigt.
Joey hob die rote Jacke neben dem Bett vom Boden auf. »Sag ihm, du wärst zu Fuß von der Totmannsklippe nach Hause gelaufen. Du weißt schon, erzähl einfach, du hättest dieses Arschloch dort zurückgelassen. Verrate nicht, dass du irgendwas über sein Ableben weißt. Und vergiss nicht: Er ist selbst über die Klippe gesprungen.«
»Mein Dad ist kein Dummkopf. Wenn er erfährt, dass Jason Moxy tot ist, weiß er auch, dass du etwas damit zu tun hattest.«
»Er wird es allerdings nicht beweisen können, und das Gleiche gilt für die Cops. Bleib du nur bei deiner Story.«
Baby wünschte sich, sie hätte saubere Klamotten anziehen können. Ihre Sachen waren verschwitzt und zerknittert, nachdem sie sie auf dem Fußboden verstreut hatte. Am liebsten wäre ihr jedoch gewesen, sie bräuchte sich gar nicht wieder anzuziehen. Gern hätte sie die ganze Nacht mit Joey im Bett verbracht und herumgetollt. Andererseits war ihr klar, dass sich künftig noch mehr Gelegenheiten dazu ergeben würden, solange sie keinen Mist baute und wegen des Mordes an Jason Moxy verhaftet wurde.
»Hier, fang auf«, sagte Joey und riss sie damit aus ihren rührseligen Gedanken. Er warf ihr ein Handy zu. Sie schnappte es aus der Luft und sah ihn verdutzt an. »Speichere meine Nummer in deinem Telefon und deine in meinem.«
Mit dem Austausch von Telefonnummern ging man nicht die größte Verpflichtung der Welt ein, besonders nicht, wenn man schon mit der betroffenen Person geschlafen hatte. Trotzdem war Baby aufgeregt. Hier hatte sie einen Hinweis darauf, dass sie sich wiedersehen würden.
Sie stieg in den Beifahrersitz des Wagens, legte den Sicherheitsgurt an und machte sich daran, Nummern in Telefone zu tippen. Joey setzte sich ans Lenkrad. Er drehte den Zündschlüssel und warf den Motor an. Das Tosen, das unter der Motorhaube des Stockcar ertönte, erinnerte Baby an das erste Mal, dass sie mit Joey gefahren war. Es war das erste Mal in ihrem Leben gewesen, dass sie sich sicher gefühlt hatte.
»Hast du immer noch diese Dirty-Dancing-CD?«, fragte sie.
»Handschuhfach.«
Sie gab ihm sein Handy zurück und öffnete das Handschuhfach. Es war voller Müll. Die ersten Artikel, die ihr ins Auge stachen, waren eine Pistole und ein großes Messer in einer Lederscheide. Sie schob sie zur Seite und holte zwei CDs von ganz hinten hervor. Eine enthielt den Soundtrack des Films Road House, aber die andere war das, was Baby suchte, die Dirty-Dancing-CD, die sie Joey geschenkt hatte, als sie sich damals zuletzt sahen. Sie freute sich darüber, dass er sie behalten hatte. Diese CD war der Soundtrack ihres Lebens. Er erinnerte sie an so viele Erlebnisse aus ihrer Zeit im Beaver Palace. Manche waren schön, manche schlecht gewesen, aber alle hatten dazu beigetragen, dass sie die Person wurde, die sie heute war.
Sie zog die Disc hervor und schob sie in die Stereoanlage. Während sie darauf warteten, dass die Musik einsetzte, verfolgten sie, wie das Rolltor in die Decke hinauffuhr. Dahinter erstreckte sich ein langer dunkler Tunnel, spärlich beleuchtet von ein paar Strahlern.
»Wow!«, sagte Baby. »Das ist ja so cool.«
»Es ist eine unterirdische Straße. Sie erreicht die Oberfläche an der Grundstücksgrenze im Wald.«
Joey löste die Handbremse und lenkte den Wagen in den Tunnel. Die ersten Takte des Songs Be My Baby von The Ronettes ertönten, während Baby hinter sich blickte und das Rolltor wieder zugehen sah. Alles an Joeys Versteck war so cool! Sie blickte ihn an und lächelte strahlend. Sie konnte sich nicht entsinnen, jemals so glücklich gewesen zu sein.
Der Tunnel verlief etwa eine Viertelmeile weit, ehe er sich vor einem kreisrunden Wandabschluss als Sackgasse erwies. Joey wurde langsamer und stoppte schließlich den Wagen.
»Was ist los?«, wollte Baby wissen.
»Warte ab und sieh selbst.«
Der Wagen setzte sich seitwärts in Bewegung. Er rotierte um neunzig Grad, und als er stoppte, stieg der Boden unter ihnen wie ein Fahrstuhl an. Nach etwa zehn Sekunden stoppte ihre Bewegung, und sie fanden sich in völliger Dunkelheit wieder, denn Joey hatte die Scheinwerfer des Wagens noch nicht eingeschaltet.
»Wo sind wir?«, fragte Baby.
»In einem Nebengebäude an der Grenze des Besitzes.«
Ein blasser Lichtsplitter tauchte vor ihnen am Boden auf, und Baby wurde klar, dass sie hier ein weiteres Rolltor vor sich sah, das langsam nach oben fuhr. Der Lichtbalken stammte von dem Mondlicht draußen. Sobald das Tor hoch genug war, gab Joey Gas und fuhr darunter hindurch. Sie waren zurück im Wald und von Bäumen umgeben.
»Solltest du nicht die Scheinwerfer einschalten?«, deutete Baby an, die fürchtete, dass sie im Dunkeln in irgendwas reinrasten.
»Noch nicht«, entgegnete Joey. »Wir müssen erst den Wald verlassen. Sonst fragen sich noch Leute, woher wir auf einmal aufgetaucht sind.«
Der Wagen holperte über eine Baumwurzel, und Baby knallte fast mit dem Kopf gegen das Dach. Sie war dankbar für den Sicherheitsgurt.
»Hier geht es noch etwas holprig zu«, sagte Joey. »Ich kenne aber den Weg zur Hauptstraße. Ich könnte ihn mit geschlossenen Augen finden.«
Er schien wirklich zu wissen, wohin es ging. Baby war froh, dass er ein geringes Tempo wahrte, denn die Sicht war extrem schlecht. Er fuhr um einige Büsche herum und erreichte eine dicht mit Bäumen bestandene Zone. Er navigierte gerade hindurch und zeigte dabei großes Geschick, bis …
WAMM!
Baby blickte sich um. »Scheiße, was war das?«
Joey rang mit dem Lenkrad, aber das Auto neigte sich auf die Seite und fuhr auf einen großen Baum zu. Er trat gerade noch rechtzeitig auf die Bremse, und sie kamen kurz vor dem Stamm zum Stehen. Joey hämmerte frustriert aufs Lenkrad.
»Was ist gerade passiert?«, fragte Baby und fasste ihn sachte am Arm, wollte ihn damit beruhigen.
»Die Leute laden hier draußen jeden Scheiß ab. Ich denke, wir sind über irgendwas hinweggefahren und haben jetzt einen Platten.«
Er öffnete die Tür und stieg aus. Er sah sich nach einer Spur dessen um, was er überfahren hatte. Er entdeckte etwas, machte »tss, tss« und fluchte über den geplatzten Reifen. Er stellte sich vor das Auto, um den Schaden genauer anzusehen.
»Kann ich helfen?«, rief Baby und hoffte insgeheim, dass die Antwort Nein lautete. Sie öffnete den Sicherheitsgurt und rutschte zur Fahrerseite hinüber, um zu sehen, was Joey da trieb.
Er kniete sich hin und fasste einen Vorderreifen ins Auge. Dessen Anblick war offenkundig eine schlechte Nachricht, denn er schüttelte den Kopf und stand auf. Er kam zurück und steckte den Kopf zur offenen Tür hinein. »Wie ich schon sagte, wir haben einen Platten«, bestätigte er. »Ich muss einfach den …«
Ehe er den Satz zu Ende brachte, ruckte sein Kopf plötzlich zur Seite, und er verzog vor Schmerzen das Gesicht. Baby sah etwas aus seinem Hals ragen. Es sah wie eine kleine Feder aus. Joey hob die Hand, um sie zu berühren. Es war ein kleiner Pfeil. Ehe er ihn jedoch herausziehen konnte, fiel er mit dem ganzen Körper nach vorn. Ein zweiter Dart hatte ihn gleich unterhalb der Schulter am Arm getroffen.
»Was ist los?«, japste Baby und versuchte zu erkennen, woher die Pfeile kamen.
Joey antwortete nicht. Er sank auf die Knie und griff erneut nach dem Pfeil in seinem Hals. Etwas fegte an der Wagentür vorbei, und ein dritter Pfeil rammte sich durch die Jeans in die Rückseite seines Schenkels. Dieser schien endlich zu reichen. Vielleicht setzte sich auch die Wirkung der ersten beiden Pfeile durch, jedenfalls kippte Joey auf den Rücken, starrte zum Himmel hinauf und blinzelte langsam in dem Bemühen wach zu bleiben. Er steckte in ernsten Schwierigkeiten. Er drehte den Kopf und sah Baby an.
Sie steckte zögernd den Kopf zur Tür hinaus, hoffte, dass sie jetzt nicht selbst von verirrten Pfeilen getroffen wurde. »Bist du okay?«, fragte sie.
Joey öffnete den Mund, bekam aber keinen Ton heraus. Er hörte auf zu blinzeln, und die Lider schlossen sich, als wäre er in tiefen Schlaf gesunken. Baby hörte Schritte aus dem Wald näher kommen.
Sie duckte sich ins Auto zurück und kroch auf den Beifahrersitz. Es fiel ihr schwer zu überlegen, was sie machen sollte. Sie wollte Joey nicht im Stich lassen, und sie hatte ohnehin kein Versteck. Sie kniete sich auf den Sitz und kniff die Augen zusammen, während sie zum Rückfenster hinausblickte. Schon sah sie, wer die Pfeile abgeschossen hatte. Ein Mann, der von Kopf bis Fuß waldtaugliche Tarnkleidung trug, schlich sich an den Wagen und Joey heran.
Baby erinnerte sich auf einmal an die Schusswaffe im Handschuhfach. Hier bot sich vielleicht eine Chance, Joey zu beweisen, dass sie sich selbst helfen konnte. Aber hatte sie auch den Mumm, die Waffe zu benutzen? Es gab nur eine Möglichkeit das zu überprüfen. Sie öffnete das Handschuhfach und holte die Pistole zaghaft heraus. Kurz dachte sie an das Messer, verwarf die Idee aber, als ihr klar wurde, dass sie mit einer Schusswaffe furchteinflößender aussehen würde. Außerdem muss man ein Messer aus unmittelbarer Nähe benutzen, und der Fremde konnte es ihr leicht wegnehmen, ehe sie Gelegenheit fand, damit Schaden anzurichten.
Sie packte die Schusswaffe mit beiden Händen, senkte sie aber in die Lücke zwischen den beiden Vordersitzen, außer Sicht des Fremden. Der Mann in Tarnkleidung schenkte ihr keine Beachtung und ging einfach an der Autotür vorbei. Er bückte sich, um sich von Joeys Zustand zu überzeugen. Er war untersetzt und trug einen schwarzen Pferdeschwanz, der unter einer Mütze in Tarnfarben hervorragte. Im Dunkeln war es schwierig, Gesichtszüge zu erkennen, aber es sah aus, als hätte er sich schwarze Farbe auf Wangen und Nase geschmiert, um sich im Dunkeln besser verstecken zu können. Über den Rücken zogen sich der Trageriemen eines leichten Gewehrs und ein Munitionsgürtel voller Pfeile. Wer war der Mann, was wollte er?
Sobald er sich davon überzeugt hatte, dass Joey keine Gefahr darstellte, kehrte er zu der offenen Wagentür zurück und blickte hinein. Er hatte eine grauenhafte, nach oben gekrümmte Schweinsnase. Sein Blick wanderte kurz zu Babys Händen, die zwischen den beiden Sitzen versteckt waren.
»Denk nicht mal dran, diese Waffe auf mich zu richten«, sagte er und griff nach einem Jagdmesser an seinem Gürtel.
Baby musste eine schwierige Entscheidung treffen.