♦ FÜNFUNDSECHZIG
Zu hören, wie Baby über den Tod ihres Vaters weinte, war schmerzlicher als alles, was Alexis Calhoon an diesem Tag ertragen hatte. Sie hatte Devon lange gekannt, und ungeachtet ihrer Differenzen hatte sie seinen Wunsch, das Richtige zu tun, immer bewundert, selbst wenn es dazu führte, dass er das Falsche tat. Calhoon hatte den eigenen Vater selbst in jungen Jahren verloren, aber nicht auf eine so grauenhafte Art und Weise. Ein Teil von ihr hätte Baby am liebsten umarmt und ihr versichert, dass alles okay werden würde, aber manchmal findet man einfach nicht die richtigen Worte, um jemandem Trost zu spenden, der trauert. Joey Conrad, der zweifellos selbst am Verlust seines Mentors litt, legte die Arme um Baby und tat sein Bestes, um sie zu beruhigen.
Calhoon entfernte sich ein paar Schritte, damit die beiden Privatsphäre hatten. Sie ging auf Rodeo Rex zu, der abseits stand und sich im Speisesaal nach möglicherweise noch lebenden Mutanten umsah.
»Ich bin Alexis Calhoon«, stellte sie sich vor und reichte ihm die Hand. »Chefin von Phantom Ops.«
Rex unterbrach seine Suche nach Lebenszeichen unter den Toten und nahm den Stetson ab. Er hielt ihn sich vor die Brust, ehe er ihr die Hand schüttelte. »Rodeo Rex zu Diensten«, sagte er.
»Ich weiß, wer du bist«, sagte Calhoon, ehe sie hinzusetzte: »Wer ihr alle seid.«
»Ich weiß nicht, was du über uns gehört hast«, sagte Rex. »Wir sind jedoch gekommen, um die Ermordung des Papstes zu verhindern.«
»Und ihr hattet Erfolg.«
Rex blickte zum gefühlt tausendsten Mal am heutigen Tag auf die Stoppuhr an seinem Handgelenk. »Scheint, dass wir es eine Minute davor geschafft haben.«
»Du kanntest den genauen Zeitpunkt, an dem es geschehen sollte?«
»Sozusagen. Eine verrückte Wahrsagerin hatte eine Vision, dass der Papst um genau 12 Uhr 14 an Heiligabend umgebracht werden würde.«
Calhoon wusste nicht recht, ob er das ernst meinte, aber er sah nicht so aus, als ob er Witze riss. »Eine Wahrsagerin?«, wiederholte sie.
Rex verdrehte die Augen. »Ich weiß. Ich hatte es auch nicht ganz geglaubt. Mir wurde jedoch gesagt, dass die Stoppuhr anhalten würde, sobald der Killer des Papstes ausgeschaltet ist.«
»Nun, sowohl in meinem Namen als auch dem des Papstes möchte ich euch danken«, sagte Calhoon. »Tatsächlich möchte ich euch alle anwerben.«
Elvis tauchte neben Rex auf. »Uns anwerben?«, fragte er. »Wofür?«
»Meine Dienststelle kann Leute wie euch gebrauchen.«
»Jeder von uns ist ein gesuchter Mörder«, sagte Rex. »Ich glaube nicht, dass du uns anwerben kannst!«
Calhoon wandte sich in gedämpftem Ton an ihn. »Ich kann eure sämtlichen Strafakten verschwinden lassen.«
Rex zog eine Braue hoch. »Wie?«
»Ich habe die Macht dazu. Solange ihr keinen Präsidenten oder König oder irgendeine Art von globaler Führungspersönlichkeit ermordet habt, kann ich euch von allem reinwaschen.«
Rex überlegte einen Augenblick lang. »Du kannst also unsere ganzen Strafregister löschen?«, fragte er argwöhnisch.
»Sogar seines«, sagte Calhoon und deutete auf den Bourbon Kid, der in dem Moment seine Zigarette an Elvis’ Wagen ausdrückte. Zum Glück sah Elvis gerade nicht hin. Sein Blick ruhte auf etwas anderem.
Ehe Rex auf Calhoons sehr großzügiges Angebot reagieren konnte, versetzte ihm Elvis einen Ellbogenstoß gegen den Arm. »Ich dachte, deine Stoppuhr würde anhalten, sobald der Papst in Sicherheit ist«, sagte er und deutete auf Rex’ Uhr.
Die Uhr hatte weiter runtergezählt, obwohl Frankenstein tot war. Rex blickte aufs Display – das noch sieben Sekunden anzeigte.
Er wollte gerade etwas sagen, als Jasmine unvermittelt schrie: »Da ist noch ein Zombie!«
Rex und Elvis griffen beide nach ihren Waffen. Sie wirbelten herum und suchten den Saal mit Blicken nach dem Mutanten ab, vor dem Jasmine gewarnt hatte. Sie hatte einem toten Schergen in ihrer Nähe eine Schusswaffe entrissen und zielte damit zur Bühne. Sie hoffte, den Mutanten selbst zu erledigen.
Rex und Elvis schrien gleichzeitig: »Jasmine, neiiin!«
Ihre Warnung stieß auf taube Ohren. Jasmine feuerte in rascher Folge sechs Schüsse ab. Und wer hätte gedacht, dass sie eine Meisterschützin war? Alle sechs Kugeln trafen das anvisierte Ziel.
Den ohrenbetäubenden Schüssen folgte das Geräusch von Rex, Elvis und Calhoon, die allesamt die Hände vor die Münder schlugen, als ihnen klar wurde, was Jasmine getan hatte.
Sie hatte auf den Papst geschossen! Sechsmal.
Er war unter Solomon Bennetts Leiche hervorgekrochen und hatte gerade Anstalten gemacht, sich aufzurappeln, als Jasmine ihn entdeckte. Da eine Hälfte seines Gesichts mit Blut und Hirn Bennetts bekleckert war, hatte sie ihn mit einem mutierten Dinnergast verwechselt. Sechs Kugeln später war der Papst tot.
Falls es irgendeinen Trost spendete (und seien wir ehrlich, das tat es nicht), dann bestand der darin, dass seine Heiligkeit sofort tot war. Sein Leiden verlief extrem kurz und wurde wahrscheinlich stark von den Unmengen Schmerzmitteln gedämpft, die er eingenommen hatte.
Calhoon spürte, wie ihr die Knie weich wurden. Sie streckte die Hand aus, um sich an Rodeo Rex’ Schulter abzustützen, und zum ersten Mal bemerkte sie, dass auch er angeschossen worden war. Er hatte ein Einschussloch im Bizeps. Man musste ihm zugutehalten, dass er sich nichts von dem Schmerz anmerken ließ, aber sein Gesicht spiegelte Calhoons Miene völliger Verzweiflung angesichts dessen wider, was gerade passiert war.
Jasmine senkte die Pistole. Ein breites Lächeln lief über ihr Gesicht. »Habt ihr das gesehen?«, rief sie. »Ich hab einen erwischt!«
Calhoon konnte es nicht glauben. Nach all den Mühen, den Papst zu retten, war er in letzter Minute von einer bewaffneten, maskierten, braunhäutigen Britney-Spears-Darstellerin exekutiert worden.
Rex äußerte eine Entschuldigung für Jasmine. »Sie hat es nicht böse gemeint.«
Calhoon seufzte. »Ich weiß. Wie ich zuvor gesagt habe, kann ich alle eure Strafregister löschen, solange ihr keinen Präsidenten, König oder irgendeine Art von globalem Führer gekillt habt. Aber eure Freundin Jasmine da drüben hat gerade den Papst umgebracht, sodass ich für sie wirklich nichts tun kann.«
Rex blickte erneut auf die Uhr. Sie hatte auf 0:00 angehalten. Er schloss die Augen und schlug sich mit der Metallhand gegen die Stirn. Er wirkte verzweifelt. Jasmine andererseits war sehr mit sich zufrieden. Sie kam mit strahlendem Lächeln herangehüpft und zupfte Elvis am Ärmel.
»Hast du das gesehen?«, fragte sie. »Ich hab einen erwischt. Ich habe einen Zombie umgenietet! Kann ich jetzt Mitglied bei den Dead Hunters werden?«
Elvis strich ihr über die Haare. Er blickte zu Rex hinüber, der sich gerade den Stetson wieder aufsetzte. Es war Calhoon, die Jasmine Antwort gab.
»Süße, du hast gerade den Papst umgebracht! Das bedeutet, dass dir für den Rest deines Lebens staatliche Agenten, Kopfgeldjäger, Meuchelmörder und alle Arten von ruhmsüchtigen Irren auf den Fersen sein werden und versuchen werden, dich zu killen.«
Rodeo Rex holte tief Luft. »Nun, du solltest lieber zu all diesen Leuten durchsickern lassen, dass jeder, der Jasmine umbringen möchte, erst an mir, Elvis und dem Bourbon Kid vorbei muss. Denn sie ist gerade das jüngste Mitglied der Dead Hunters geworden.«
Jasmine klatschte entzückt in die Hände. »Das ist so cool!«, jubelte sie. »Und ich musste nur einen Papst killen!«
Elvis legte einen Arm um sie und küsste sie auf die Stirn. »Yeah, gut gemacht, Süße. Nicht ganz, was ich gehofft hatte, aber trotzdem gut gemacht.«
Calhoon versetzte Rex einen Klaps auf den Bauch. »Ihr Typen solltet euch lieber vom Acker machen, denn ich habe vor fünf Minuten Verstärkung angefordert, als ihr gerade dabei wart, diese Dinnergäste umzunieten.«
»Was wirst du den Leuten von den Vorgängen hier erzählen?«, fragte Rex.
Der Bourbon Kid sprang von der Motorhaube des Cadillacs und spazierte in die Mitte des Speisesaals. Er hielt eine Flasche Champagner in der Hand, in deren Hals ein brennendes Stück Stoff steckte.
»Ihre Story ist ganz simpel«, sagte er. »Die Bude ist abgebrannt.«
Calhoon hatte nicht daran gedacht, die Bude niederzubrennen, und wusste nicht recht, ob ihr die Idee gefiel, aber da warf der Bourbon Kid die brennende Flasche schon in die Bühnenvorhänge. Sie fingen schnell Feuer.
Im Großen und Ganzen war es vermutlich das Richtige. Wenn die Bude abbrannte, brauchte Calhoon dem FBI nicht zu erklären, dass jemand namens Frankenstein (erzeugt durch ein von ihr genehmigtes Experiment) aufgetaucht war und die Hälfte der Gäste niedergemetzelt hatte. Dr. Jekyll (ein früherer Angestellter von ihr) hatte die restlichen Gäste vergiftet und war mit dem ganzen kostbaren Mistralyt entkommen. Und, na ja, dann war da noch die Story von den Dead Hunters und der versehentlichen Ermordung des Papstes durch jemanden, der ihn mit einem Zombie verwechselte. Wenn sie irgendjemandem diese Geschichte auftischte, landete sie für den Rest ihres Lebens in Grimwalds Klapsmühle.
Rex brüllte zu Joey hinüber: »Jo, Irokese, wir müssen los!«
Joey tat sein Bestes, um Baby zu trösten, die völlig aufgelöst war. »Ich sollte bei Baby bleiben!«, rief er zurück.
Calhoon ging zögernd auf ihn zu. Sie legte ihm eine Hand auf die Schulter. »Süßer«, sagte sie, »du musst verschwinden. Wenn du in zwei Minuten noch hier bist, kann ich dir nicht mehr helfen. Da der Papst jetzt tot ist, müsst ihr Typen euch verdrücken.«
Joey ergriff Babys Hand und strich ihr die Tränen von den Wangen. »Du solltest mitkommen«, sagte er.
»Nein, das sollte sie nicht«, entgegnete Calhoon. »Ihr Vater ist gerade umgekommen. Wenn sie jetzt mit euch geht, kann sie nicht bei seinem Begräbnis erscheinen.«
Jasmine mischte sich mit einem großzügigen, aber nutzlosen Angebot ein. »Sie kann in meiner Bude bleiben.«
Calhoon verzog das Gesicht und schüttelte ungläubig den Kopf, ehe sie sich an alle im Raum wandte. »Kann jemand bitte Jasmine erklären, was es bedeutet, wenn man den Papst umbringt?«, fragte sie. »Baby kann bei mir bleiben, bis sich die Lage beruhigt hat. Der Rest von euch muss jetzt aber wirklich von hier verschwinden, auf der Stelle!«
Joey kniete sich neben Baby und hielt ihre Hand. »Ich komme zurück und hole dich, wenn sich die Lage beruhigt hat, versprochen.«
Ein von den brennenden Vorhängen ausgehendes heftiges Rauschen erinnerte sie daran, dass sie sich jetzt wirklich verdrücken mussten, egal ob Calhoons Verstärkung in den nächsten fünf Minuten eintraf oder nicht.
Rex hob die Leiche Devon Pincents auf und warf sie sich über die Schulter.
»Was machst du da?«, fragte Baby.
»Wir können ihn nicht hier verbrennen lassen. Ich trage ihn für dich raus, aber dann müssen wir wirklich verschwinden.«
Calhoon rief ihm nach: »Danke für alles, was ihr hier getan habt.«
»Kein Problem!«, rief Rex zur Antwort. »Und tu dir selbst einen Gefallen. Wenn diese Bude bis auf die Grundmauern niederbrennt, schieb uns alles in die Schuhe. Wir werden damit fertig.«
In diesem Augenblick hätte Alexis Calhoon Rex umarmen können. Alles einer Bande Massenmörder in die Schuhe zu schieben, an deren Existenz die meisten Leute nicht so recht glaubten, war viel besser, als die Wahrheit zu erklären.