♦ ZWÖLF
Die Brauerei T & T war seit drei Jahren in Betrieb. Nur dass es im Grunde keine Brauerei war; sie gab nur vor eine zu sein. Hätten Cops oder Feds das Gebäude betreten, dann hätten sie eine hochgradig illegale Drogenfabrikation in vollem Gang vorgefunden. An einem durchschnittlichen Tag arbeiteten hier zwanzig Personen im Erdgeschoss und erzeugten, verpackten und vertrieben gewaltige Mengen an erstklassigen Drogen.
Im Obergeschoss befand sich in einem Winkel ein kleines Büro, in dem LeBron arbeitete, ein einundzwanzig Jahre alter Afroamerikaner, der innerhalb von vier Jahren eine Karriere vom Straßendealer zum größten Drogenbaron des Staates durchlaufen hatte. LeBron beschäftigte sich gewöhnlich damit, zusammen mit seiner Freundin Tina Geld zu zählen, einem punkigen weißen Mädchen mit blonden Rastalocken und einem Hintern, der Walnüsse knacken konnte.
Es war ein kalter Freitagmorgen, als sie unerwünschten Besuch bekamen. LeBron saß gerade an seinem Schreibtisch und sah sich die Sesamstraße an, während er einen Haufen Geld zählte, den man ihm auf den Tisch geschüttet hatte. Tina saß auf der anderen Seite des Büros auf einem cremig-weißen Sofa und zählte ebenfalls Bares. Beide trugen einen Partnerlook aus goldfarbenen Trainingsanzügen. Es waren die wohl kitschigsten und prolligsten Trainingsanzüge, die man finden konnte; aber da sie teuer und goldfarben waren, hatte Tina sie einfach kaufen müssen. Und dann musste sie einfach darauf bestehen, dass LeBron seinen anzog, wenn sie ihren trug – was praktisch jeden Scheißtag der Fall war.
Um zehn Uhr geschah es, dass Tinas Telefon summte. Sie nahm es zur Hand und stellte fest, dass der Anruf von Boney Pete kam. Boney rief normalerweise nur an, wenn Besucher kamen. Er war der inoffizielle Sekretär der falschen Brauerei.
Sie meldete sich mit einem »Yeah«.
»Ist LeBron da? Ich muss mit LeBron reden!« Boney klang verzweifelt. Und im Hintergrund ging es verdammt laut zu; es klang, als liefe am anderen Ende der Leitung eine Party.
»Wo bist du?«, fragte Tina.
Boney schrie: »Ich bin im Erdgeschoss!«
Ein lautes Krachen folgte, und Tina musste das Telefon vom Ohr weghalten. Sie schaltete das Gespräch auf Lautsprecher, damit LeBron mithören konnte. Er stellte die Sesamstraße auf stumm.
»Was ist denn los?«, fragte er.
»Boney Pete«, erklärte Tina. »Er sagt, dass er mit dir reden will.«
»Hey, Boney, mach schnell, Mann. Ich gucke mir gerade die Sesamstraße an.«
Boney Pete antwortete nicht. Stattdessen gab es donnernde Schüsse. Sie kamen von unten, und jetzt, wo Ernie und Bert nicht mehr das Alphabetlied sangen, konnten Tina und LeBron in ihrem Büro im Obergeschoss den Lärm deutlich hören.
LeBron sprang auf und stürmte zur Tür. Sobald er sie geöffnet hatte, strömte das Chaos vom Stockwerk darunter ins Büro. Auch Tina wurde nun munter, rannte zum Schrank in der Ecke und riss die Türen auf. Darin fand sie zwei Handfeuerwaffen, die für genau so einen Fall dort gelagert wurden. Sie schnappte sich die erste und warf sie LeBron zu. Er fing sie auf und überzeugte sich davon, dass sie auch geladen war. Tina behielt die zweite Waffe für sich. Der Schusswechsel im Stockwerk unter ihnen war erbarmungslos, durchsetzt von den Geräuschen schreiender Menschen und umstürzender Gegenstände.
LeBron blickte forschend zur Tür hinaus, die Waffe angelegt und schussbereit.
»Siehst du irgendwas?«, fragte Tina.
»Scheiße, ja. Die stürmen gerade die Treppe rauf! Jesus, Tina, sieh dir nur mal den Typen an!«
Tina kam und blickte ihm über die Schulter, um selbst einen Eindruck von dem zu erhalten, was er sah. Drei ihrer Leute standen auf dem oberen Treppenabsatz am anderen Ende des Flurs. Alle drei waren bewaffnet und feuerten auf jemanden, der die Treppe zu ihnen heraufdonnerte.
Alle drei wurden in rascher Folge niedergeschossen, und einen Augenblick später kam auch der Killer auf dem Treppenabsatz ins Blickfeld. Er hatte kurze schwarze Haare und trug eine Cargohose sowie ein hautenges schwarzes T-Shirt. Er blieb stehen und lud seine Waffe nach. Als er wieder aufblickte, sah Tina, dass zwei Metallbolzen aus seinem Hals hervorstanden und eine schwarze Schutzbrille seine Augen verdeckte.
»Der sieht wie der beschissene Frankenstein aus!«, fluchte LeBron.
Tina wich zurück. »Schließ die Tür ab!«, rief sie. Und das brauchte sie nicht zweimal zu sagen. LeBron knallte die Tür zu und drehte den Schlüssel um.
»Hast du das gesehen?«, fragte er. »Die Kugeln sind von ihm abgeprallt!«
Tina duckte sich unter LeBrons Schreibtisch – und einen Augenblick später folgte er ihrem Beispiel. Dort hockten sie dann, aneinandergedrängt wie zwei Kinder, die sich vor Donner und Blitz verstecken.
»Ich denke, wir sind am Arsch«, flüsterte LeBron ihr ins Ohr.
Draußen war der Lärm der Schießerei inzwischen abgebrochen. Beide lauschten angestrengt und warteten auf den schrecklichen Augenblick, in dem Frankenstein die Tür erreichte.
Klompf.
Klompf.
Klompf.
Schon das Geräusch seiner Schritte war furchterregend. Das Stampfen verstummte direkt vor der Tür, der Türgriff klapperte, aber sie blieb verschlossen.
»Was sollen wir jetzt tun?«, flüsterte Tina.
»Schieß einfach auf jeden, der reinkommt.«
Einen Augenblick später flog die Tür aus den Angeln. Mit einem Donnerschlag krachte sie auf den Boden, und Frankenstein betrat das Büro. Er stellte sich mitten auf die kaputte Tür und blickte sich im Zimmer um.
LeBron zögerte nicht. Er wälzte sich unterm Schreibtisch hervor und eröffnete das Feuer auf ihn. Tina legte sich unter dem Tisch auf den Bauch und schoss auf Frankensteins Beine. In den folgenden zehn Sekunden verpfefferten die beiden alles, was sie hatten. Doch die Projektile prallten einfach von Frankenstein ab. Hin und wieder traf ihn ein Geschoss im Gesicht. Dann flog sein Kopf ein kleines Stück weit zurück, aber das schien ihm keine großen Kopfschmerzen zu bereiten. Er war groß, hässlich und schmerzunempfindlich.
Frankenstein hielt selbst eine Schusswaffe in der Hand, unternahm allerdings keinen Versuch, sie einzusetzen. Er stand einfach da und wartete vermutlich darauf, dass der Dauerbeschuss endete.
Als den beiden schließlich die Munition ausging, überkam sie wie eine Woge Eiswasser die Erkenntnis, dass sie auf etwas geschossen hatten, das vermutlich kein Mensch war. Frankenstein legte seine Waffe auf LeBron an.
»LeBron Raven?«, fragte er.
»Ja«, antwortete LeBron mit zitternder Stimme.
»Komm mit.« Frankenstein packte ihn am Arm und zerrte ihn aus dem Büro.
»Baby, warte auf mich!«, schrie Tina. Sie rannte durch die Öffnung hindurch, wo zuvor die Tür gewesen war.
Frankenstein hatte LeBron davor zu Boden gestoßen. Ein weiterer Mann kam die Treppe herauf, und als er oben eintraf, stellte Tina fest, dass sie ihn kannte. Er war vor einiger Zeit in den Nachrichten erwähnt worden: Er hieß Mozart und gehörte zu den berüchtigtsten Psychopathen der Welt. Der Typ war berühmt für seine besonders kranke Methode, Paare zu ermorden. Der letzte Mut verließ sie. Während Mozart auf LeBron zuging, sank Tina verzweifelt auf die Knie. Doch Mozart blickte sie an und lächelte.
»Frankenstein«, sagte er. »Bring das Miststück ins Büro zurück und halte sie dort fest, während ich mit ihrem Freund rede.«
Frankenstein packte Tina am Arm und schubste sie wieder durch das Türloch. Sobald er sie im Büro losließ, rannte sie zum Sofa und kauerte sich darauf zusammen. Von draußen im Flur des Lagerhauses hörte sie, wie Mozart sich LeBron vorstellte.
»Ich heiße Mozart«, sagte er. »Und ich übernehme dein Büro. Du hast dieses Lagerhaus die längste Zeit geleitet.«
LeBron antwortete: »Okay, okay! Lasst mich und Tina einfach laufen. Nehmt alles, was ihr braucht. Wir haben hier Geld, hunderttausende Dollar. Ihr könnt alles haben.«
Frankenstein versperrte Tina den Fluchtweg aus dem Büro und erschwerte es ihr damit auch, das Gespräch weiter mitzuhören.
Das Letzte, was sie LeBron sagen hörte, war: »Was machst du damit?«
In den folgenden circa fünfzehn Minuten musste Tina mit anhören, wie LeBron, die Liebe ihres Lebens, in unerträglicher Qual schrie. Das reichte, um sie zu brechen. Sie schluchzte und jammerte und weinte, bis ihr die Kehle wehtat. Als ihr Geliebter LeBron schließlich schwieg, wusste sie tief in ihrem Herzen, dass er tot war. Sie schluchzte und kotzte und wünschte sich, selbst tot zu sein. Sie wünschte sich, dass sie sie schnell umbrachten, damit sie sich zu ihrem Mann im Jenseits gesellen konnte.
Aber dann kam das echte Grauen.
Frankenstein gab den Weg frei, sodass Mozart das Büro betreten konnte. Er hielt eine blutbefleckte Machete in der Hand. LeBrons Blut tropfte von der Klinge auf den Fußboden.
Tina spürte, wie ihr angesichts des widerlichen Anblicks Galle in den Mund schoss. Mozart hatte LeBron das Gesicht heruntergeschnitten.
Und er trug dieses Gesicht jetzt wie eine Maske.
Mit zwei Gummibändern hatte er es sich am Kopf festgebunden; eines hatte er um die Stirn geschlungen, das andere um Kinn und Nacken.
LeBrons Blut tropfte unter dem Kinn hervor und sickerte aus den klaffenden Augenlöchern, die jetzt von den grausam lachenden Augen Mozarts ausgefüllt wurden, des Mannes der vielen Gesichter. Tina hatte alles über seine grauenhaften Verbrechen gelesen, hatte sogar gedacht, dass sie gutes Material für einen Film wären. Jetzt sollte sie eines der Opfer werden. Jetzt kam es ihr nicht mehr so cool vor.
Sie schrie lauter als je zuvor im Leben. Die wunde Kehle war keine Last mehr für sie. Der Schmerz, von jemandem durch das Gesicht des niedergemetzelten Geliebten angesehen zu werden, war unerträglich.
In den nächsten dreißig Minuten schrie und weinte Tina und flehte Mozart an, sie zu töten. Mozart liebte es jedoch, seine Opfer schreien zu hören. Und nichts war ihm zu niederträchtig, um das zu erreichen. Tina litt mehr, als es irgendeinem Menschen widerfahren sollte, egal wer er war oder was er getan hatte.
Als sie schließlich nicht mehr schreien konnte und keinen Kampfgeist mehr in sich hatte, zog Mozart auch ihr das Gesicht ab, um seine Sammlung damit zu erweitern.