♦ SIEBZEHN

Die letzten Tage der Operation Blackwash

(Fünf Jahre zuvor)

Teil 4 von 4

Den größten Teil des Vormittags hatte sich Devon Pincent darüber den Kopf zerbrochen, dass er sein kostbares Projekt Blackwash zu verlieren drohte. Er zermarterte sich das Hirn nach einem vernünftigen Argument, mit dem er General Calhoon dazu bewegen konnte, noch mal zu überdenken, ob sie die ganze Operation wirklich einstellen wollte. Seine Gedanken schienen jedoch immer wieder zu den Ereignissen des vergangenen Tages zurückzukehren, an dem Calhoon unbarmherzig befohlen hatte, Solomon Bennett und seinen Freund, den irren Doktor, vom Gelände zu bringen und zu exekutieren.

Inzwischen hatte sich herumgesprochen, dass Bennett und Jekyll verschwunden waren, zusammen mit zwei Militärpolizisten, die sie vom Stützpunkt entfernt hatten. Devon ging davon aus, dass sie tot waren und die beiden Black-Ops-Agenten, die sich bloß als Militärpolizisten getarnt hatten, längst neuen Aufträgen nachgingen.

Er traf pünktlich, praktisch auf die Sekunde genau, in Calhoons Büro ein. Sie hatte tags zuvor ihr wahres Gesicht gezeigt, sodass Devon keinerlei Zweifel daran hegte, wie wichtig es war, sie nicht zu verärgern. Und wenn das bedeutete, pünktlich sein zu müssen, dann war er eben pünktlich. Jederzeit. Er brachte sogar zwei Becher Kaffee mit. Einen für sich und einen für Calhoon, schwarz, ohne Zucker, wie sie ihn mochte.

Calhoon saß am Schreibtisch, als er eintrat. Sie trug ihre khakifarbene Militäruniform. Zu Devons Überraschung begrüßte sie ihn mit einem freundlichen Lächeln.

»Setzen Sie sich, Devon«, sagte sie und deutete auf die beiden Stühle ihr gegenüber am Schreibtisch. Sie saß mit dem Rücken zu einem großen Fenster. Es stand offen, aber niemand würde das Gespräch mithören, da sie hier drei Stockwerke hoch waren.

»Ich habe Ihnen einen Kaffee mitgebracht«, sagte Devon.

»Danke.«

Devon stellte die beiden Becher auf dem Schreibtisch ab, der komplett leer war, abgesehen von einem braunen Ordner, den sie vor sich liegen hatte. Er zog einen Stuhl heran und setzte sich, wobei er sorgsam darauf achtete, die Beine nicht zu lang zu machen, damit es zu keinem unangemessenen »Füßeln« mit dem General kam. Calhoon entfernte den Deckel von ihrem Plastikbecher und fasste den Inhalt ins Auge.

»Sie haben meinen Kaffee richtig hinbekommen«, sagte sie. »Sie wären erstaunt, wie viele Leute das verpfuschen. Ich meine, es heißt schwarz, ohne Zucker. Wie schwer kann es schon sein, das richtig zu machen?«

Devon lächelte höflich, wechselte aber sofort das Thema. »Jack sagte, die beiden Typen, die Solomon verhaftet haben, wären Spezialeinsatzagenten gewesen.«

Calhoon nahm einen Schluck Kaffee. »Ah. Sie denken, ich hätte gestern überreagiert, nicht wahr?«

»Es schien mir ein bisschen überzogen, Solomon gleich umbringen zu lassen. Er hat Mist gebaut, keine Frage, aber er hätte meiner Meinung nach einen fairen Prozess verdient.«

»Devon, er ist entkommen!«

»Natürlich.«

Devon vermutete, dass Calhoon einfach die Fassade aufrechterhalten musste. Also würde sie wohl bei der Story »sie sind entkommen, und wir werden sie nie wiederfinden« bleiben, auch wenn er davon überzeugt war, dass die Wahrheit anders aussah.

»Hören Sie«, sagte Calhoon, »obwohl ich mich Ihnen gegenüber niemals rechtfertigen muss, tue ich es dieses Mal. Die derzeitige Lage hat mehr Haken, als man auf den ersten Blick sieht. Sie und ich, wir arbeiten erst seit wenigen Monaten zusammen, aber wie Sie sich – davon bin ich überzeugt – inzwischen ausgerechnet haben, bin ich hier, um in dieser Dienststelle aufzuräumen. Mein Vorgänger hat Ihnen viel zu viele Zugeständnisse gemacht, sodass Sie und die anderen tun und lassen konnten, was Sie wollten. Und er hat nie etwas in Frage gestellt. Das wird sich alles ändern.«

»Aber meine Operation Blackwash …«

»Ihre Operation Blackwash ist beendet.«

Devon seufzte, ein tiefes schweres Seufzen. Er wusste, dass er in dieser Auseinandersetzung nicht siegen würde, aber er hatte das Bedürfnis, sich zu rechtfertigen. »Wir haben so große Fortschritte gemacht«, sagte er. »Ich sollte nicht für Solomons Pfusch bestraft werden. Ich wollte nicht, dass sich irgendeiner meiner Soldaten an dem Experiment beteiligt, und das wissen Sie.«

»Das weiß ich. Aber, Devon, da ist noch eine ganz andere Geschichte im Spiel, von der Sie nichts wissen. Sie reicht weit zurück. Bis zu einem Fall vor vierzehn Jahren, an dem Sie beteiligt waren.«

»Was?«

»Erinnern Sie sich noch an Ihren alten Freund Lionel Conrad und dessen Frau Mary?«

»Ja.« Devon konnte nicht verhehlen, wie verwirrt er war. Seit gestern hatte er dieses Gespräch mit Calhoon oft in Gedanken geprobt, und zu keinem Zeitpunkt hatte er erwartet, die Namen von Joey Conrads Eltern zu hören. »Was hat das alles mit denen zu tun?«

»Sie haben damals ihren Sohn im Wandschrank gefunden, richtig?«

»Ich erinnere mich daran, als wäre es gestern gewesen.«

»Nun, diese Morde weisen mehr bemerkenswerte Aspekte auf, als Ihnen klar ist.«

»Wissen Sie, wer sie verübt hat?«

»Inzwischen ja. In den zurückliegenden vierundzwanzig Stunden haben wir Ermittlungen über Solomon Bennett angestellt, haben seine E-Mails und Telefonanrufe gesichtet und so viel Dreck über ihn ausgegraben wie möglich. Er und sein Kumpel Dr. Jekyll kennen sich schon richtig lange. Schon seit dem Mord an den Conrads.«

»Wie bitte?«

Calhoon klappte den Ordner auf und holte einen fünf Zentimeter dicken Stapel Papiere und Fotos hervor. »Wie Sie wissen, haben Lionel Conrad und seine Frau für ein medizinisches Forschungsunternehmen namens Cybertech gearbeitet. Nun, vor etwa zwanzig Jahren bekam Cybertech einen Meteoriten in die Finger, der fünf Meilen von ihrem Werk entfernt in der Wüste eingeschlagen war.«

»Ja, ich erinnere mich. Lionel hatte davon gesprochen. Er sagte, etwas Ähnliches hätte er noch nie gesehen.«

»Und er hatte recht«, fuhr Calhoon fort. »Lionel und seine Frau extrahierten eine Substanz aus dem Kern des Meteoriten. Nach zwei Jahren Forschung fanden sie heraus, dass diese Substanz möglicherweise Hautkrebs heilen könnte. Es schien so, als würde das Zeug bei der richtigen Temperatur mit der Haut eines Menschen verschmelzen und alle Krebszellen zerstören. Und es sah danach aus, dass die Wirkung dauerhaft war. Es sollte sich als einer der großen Durchbrüche in der Geschichte der Menschheit entpuppen.«

»Lionel hat mir nie etwas davon gesagt.«

»Das will ich auch hoffen. Seine Arbeit war von äußerst heikler Natur. Einer seiner jungen Studenten, ein Arzt namens Henry Percival, sah eine Gelegenheit, sich einen Namen zu machen.«

»Henry Percival. Ist das Henry Jekyll?«

»Richtig. Er wollte die Meteoritensubstanz für eigene Zwecke nutzen. Er heuerte jemanden an, der Mary Conrad entführte und sie zwang, ihm die komplette Substanz aus dem Meteor zu übergeben. Wir reden hier von weniger als zwanzig Litern, sodass es Jekylls Leuten nicht schwerfiel, das Zeug aus dem Cybertech-Werk zu schmuggeln. Sie standen jedoch vor einem Problem: Lionel Conrad hatte die Forschungsergebnisse ständig bei sich. Ohne seine Unterlagen war die Substanz für jeden anderen nutzlos. So kam es dazu, dass Lionel und Mary ermordet wurden und Sie Joey Conrad in diesem Wandschrank fanden.«

»Wollen Sie damit sagen, dass Henry Jekyll Lionel und Mary ermordet hat?«

Calhoon schnaubte. »Nein. Dafür ist Jekyll ein zu großer Schlappschwanz. Er hat jemanden beauftragt, die Drecksarbeit für ihn zu erledigen.«

»Solomon Bennett!«

»Nein, der war es auch nicht.«

»Oh.«

»Bennett war allerdings daran beteiligt. Jekyll hatte sich mit seinen Plänen an ihn gewandt. Ich vermute mal, er erzählte Solomon, er würde ihn zum reichsten Mann der Welt machen, bla, bla, bla. Und Solomon hat dann jemanden angeheuert, um die Morde auszuführen.«

»Wen?«

»Wagen Sie eine Vermutung.«

Devon hatte keinen Schimmer, aber Calhoon sah ihn mit einer Miene an, als müsste die Antwort auf der Hand liegen. Er kratzte sich am Kopf und versuchte daraus schlau zu werden. Wen könnte Solomon vor vierzehn Jahren als Meuchelmörder engagiert haben? Endlich fiel ihm ein Name ein. »Doch nicht sein Bruder?«

Calhoon nickte. »Terry Bennett.«

»Ich dachte, der wäre tot.«

»Das dachten alle. Solomon stand aber die ganze Zeit lang mit ihm in Verbindung. Ich habe hier in dieser Akte das ganze Brimborium: E-Mails, Telefongespräche. Und das ist nur das, was wir in den vergangenen vierundzwanzig Stunden gefunden haben.«

»Dieser Mistkerl! Ich habe jahrelang an dem Fall gearbeitet und auf der Suche nach dem Killer nie Land gesehen.«

»Machen Sie sich keinen Vorwurf. Ich wette, dass Solomon Bennett Sie die ganze Zeit lang überwacht hat. Sobald Sie in die Nähe einer Spur kamen, hat er es Ihnen versaut.«

»Was wollte Solomon denn mit einem Heilmittel für Krebs?«

»Nichts. Er und Jekyll hielten die Krebsheilung für Zeitverschwendung, weil nicht genug von der Substanz vorhanden war, um wirklich etwas auszurichten. Sie befassten sich lieber mit der Idee eines kugelsicheren Anzugs. Sie überlegten sich, die Methode patentieren zu lassen, sie ans Militär zu verkaufen und Milliardäre zu werden.«

»Blöde Arschlöcher!«

Devon nahm den Kaffee zur Hand und trank einen Schluck. Der Kaffee wurde schnell kalt.

»Also, wo wird dieses Zeug aufbewahrt, dieses, wie heißt es noch, Mistralyt

»Das ist das Seltsamste überhaupt«, sagte Calhoon. »Es befindet sich hier. Nur in unseren eigenen Labors konnten Jekyll und Bennett die Formel der Substanz ausarbeiten. Jedes einzelne Fass davon lagert hier.«

»Weiß das sonst noch jemand?«

»Nur Bennett und Jekyll.«

»Aber sie sind tot, richtig?«

»Nein, das sind sie nicht, Devon. Sie sind entkommen. Ich weiß nicht, wie, aber sie haben meine beiden Black-Ops-Agenten umgebracht und sich verdrückt.«

»Wirklich?«

»Ich scherze nicht. Sie dürfen es aber nicht weitererzählen.«

»Denken Sie, dass Bennett zurückkommen wird, um das Zeug aus dem Labor zu holen?«

»Ich sähe gern, wie er das versucht.«

»Ich auch.«

Calhoon lehnte sich zurück und blickte zur Decke hinauf. »Devon, was haben Sie mit diesen Informationen vor, die ich Ihnen gegeben habe?«

Devon hatte viel zu verdauen und im Grunde noch nicht genug Zeit gehabt, um das Gehörte zu verarbeiten. »Was meinen Sie?«, fragte er.

»Wie ich schon erklärt habe, ist Ihre Operation Blackwash erledigt. Die verbliebenen Soldaten werden nach Hause geschickt. Sie erhalten ihre volle militärische Pension als Ausgleich für ihr Stillschweigen. Sollte irgendeiner von ihnen jemals über Operation Blackwash reden, sorge ich dafür, dass er verschwindet.« Sie schob Devon ein paar Bogen Papier über den Tisch zu. »Das sind die Entlassungsbedingungen. Ich möchte, dass Sie den Leuten heute Nachmittag ihre Abfindungen auszahlen. Ich möchte jedoch auch wissen, was Sie Joey Conrad sagen wollen, wenn Sie ihm die seine übergeben.«

Devon runzelte die Stirn. Er brauchte ein paar Sekunden, um sich darüber klar zu werden, was Calhoon meinte. »Sie möchten, dass ich ihm verrate, wer seine Eltern umgebracht hat?«

Calhoon tippte mit dem Finger auf einen Bogen, den sie zu Devon herübergeschoben hatte. »Terry Bennett, der Mann, der Joeys Eltern umgebracht hat, versteckt sich in Boston. Er geht selten in die Öffentlichkeit, aber Solomon schickt ihm hin und wieder Geld, Umschläge mit Barem. Wenn Terry rausgeht, um das Geld abzuholen, verkleidet er sich als Schwester Claudia, eine Nonne. Vielleicht möchten Sie das Joey Conrad verraten, wenn Sie ihm Bescheid sagen, dass Operation Blackwash abgewickelt wurde.«

Devon gestattete sich ein leises Lächeln. »Danke, General, das könnte ich ihm doch glatt erzählen.«

Drei Killer für ein Halleluja
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