♦ EINUNDZWANZIG
Als Devon zu sich kam, fand er sich an einen Stuhl gefesselt wieder. Seine Augenlider fühlten sich schwer an und sein Gehirn wie eine schwappende Suppe. Er bemerkte, dass Leute in der Nähe herumliefen und redeten. Endlich sagte einer von ihnen etwas, dem er einen Sinn abgewinnen konnte.
»Er wacht auf. Seht nur, ich hatte ja gesagt, dass er wieder zu sich kommen würde.«
Devon kniff die Augen zu, öffnete sie wieder und hoffte, dass er danach klarer sehen würde. Alles erwies sich nach wie vor als unscharf, aber er bemerkte, dass die Sicht stets ein bisschen schärfer wurde, wenn er damit fortfuhr, die Augen zuzukneifen und wieder zu öffnen.
»Wie fühlst du dich, Devon?« Er erkannte die Stimme. Es war Solomon Bennett.
Devon hatte sich bisher vor allem auf die Füße der übrigen Personen im Raum konzentriert. Bennetts Stimme kam aus der Richtung eines Mannes in schwarzen Stiefeln und schwarzer Cargohose. Devon blickte auf.
Seine Augen wanderten am Körper des Mannes aufwärts. Die schwarze Cargohose führte zu einem schwarzen T-Shirt, den dicken, von Venen überzogenen Muskeln eines älteren Mannes und dann zu den ausgeprägten Zügen des ergrauenden Solomon Bennett mit seiner beknackten Augenklappe und dem bescheuerten Bürstenhaarschnitt.
»Was zum Teufel machst du eigentlich?«, fragte Devon, wobei ihm die Worte betonungslos aus dem Mund stolperten. Er war schon hochzufrieden damit, dass er den ganzen Satz ohne Ausrutscher hervorbekommen hatte, denn er fühlte sich wie jemand, der fünf Liter Bier getrunken hatte und seit drei Tagen auf den Beinen war.
»Lasst ihm noch eine Minute. Er ist ein bisschen groggy«, warf ein anderer ein.
Dr. Henry Jekyll lehnte an einem Arbeitstisch und feixte Devon an. Er trug einen langen weißen Laborkittel über einer grauen Hose und einem blauen Hemd. Das rote Lockenhaar war außer Rand und Band und ließ den Kopf riesig erscheinen. Devon hatte seine sieben Sinne noch nicht ganz zusammen, und demzufolge stolperte ihm ein weiterer Satz aus dem Mund.
»Du siehst wie eine Orange auf einem Bleistift aus.«
»Ich kenne die ganzen Beleidigungen schon«, entgegnete Jekyll.
Devon spürte, wie ihm jemand eine runterhaute. Das tat weh und half ganz gewiss dabei, ihn ein bisschen wacher werden zu lassen. Die Ohrfeige hatte ihm Solomon Bennett versetzt.
»Devon, ich habe nicht genug Zeit, um hier groß rumzutrödeln. Mit wie vielen Leuten hast du gesprochen?«
Devon runzelte die Stirn. »Gesprochen? Worüber?«
»Komm mir nicht blöd!«, sagte Bennett ärgerlich. Er hob die Hand, als wollte er Devon erneut eine pfeffern.
»Warte«, sagte Jekyll, »ich mache ihn munter.«
Dr. Jekyll stieß sich von dem Schreibtisch ab und schlenderte auf Devon zu. Er hielt ihm eine Hand unter die Nase und drückte auf etwas, das daraufhin eine Gaswolke in Devons Nase pustete. Sie erzeugte ein seltsames eiskaltes Brennen, wenn auch nur für eine Sekunde. Der Kopf flog ihm in den Nacken, und er war auf einmal wacher als seit Jahren.
»Was zum Teufel war das?«, fragte er.
Jekyll antwortete nicht, kehrte stattdessen zum Schreibtisch im Zentrum des Raums zurück und lehnte sich wie zuvor an.
Devon sah sich gründlich um. Er fand sich in einer Art Büro wieder. In der Mitte stand ein Schreibtisch, an einer Wand ein cremefarbenes Sofa. Sein Mantel lag auf dem Sofa, die Taschen nach außen gewendet.
Er selbst war auf einem Holzstuhl nahe der Wand festgebunden worden. Die Hände hatte man ihm eng hinter dem Rücken verschnürt, der dadurch in eine unbequeme Haltung gezwungen wurde.
»Wo zum Teufel bin ich?«, fragte er.
»Das ist mein neues Büro«, antwortete Bennett. »Es gehörte einem Haufen Drogendealer. Dank meines kugelsicheren Freundes Frankenstein sind sie jetzt aber alle tot.«
Frank Grealish stand in einer Ecke des Büros neben der Tür. Devon fragte sich, warum er ihn bislang nicht bemerkt hatte, aber dort stand er, die ganzen Einsfündundneunzig mitsamt den Bolzen im Hals. Genauso hatte Frank damals ausgesehen, als er ihn als tot meldete.
»Frank? Wie kommt es, dass du am Leben bist?«, fragte er.
Bennett ohrfeigte ihn erneut. »Stell Frankenstein keine Fragen. Das irritiert ihn.«
Devons Wange brannte. Er schnitt ein paar Grimassen im Bestreben, die Schmerzen loszuwerden. »Ist es wirklich nötig, mich weiter zu ohrfeigen?«
»Wo steckt Jack Munson?«
»Jack? Woher zum Teufel soll ich das wissen?«
KLATSCH!
Bennett hockte sich vor Devon, um auf Augenhöhe zu ihm zu sprechen. »Devon, ich weiß, dass du Jack geschickt hast, um uns in Rumänien auszuspionieren. Spiel mir gegenüber nicht den Unschuldigen. Wir wissen schon, dass du über alles informiert bist, was wir planen. Wenn du darauf bestehst, dich weiterhin dumm zu stellen, dann weißt du ganz genau, wie das endet. Und seien wir uns doch über eines im Klaren: Du und ich, wir sind alte Freunde, sodass ich wirklich nicht damit anfangen möchte, dir die Finger abzuschneiden.«
»Das brauchst du nicht«, sagte Devon. »Ich habe nichts zu verbergen. Was willst du von mir?«
»Ich möchte deinen Ausweichplan wissen.«
»Meinen Ausweichplan? Für was?«
KLATSCH!
Devon verzog das Gesicht. Die Ohrfeigen wurden heftiger. »Weißt du«, sagte er, während er sich wand, »das war eine absolut vernünftige Frage. Ich habe eine Menge Ausweichpläne. Von welchem sprichst du?«
Bennett richtete sich auf, als schmerzten ihn die alten Knie vom langen Hocken. »Du weißt ganz genau, dass ich von den Sicherheitsvorkehrungen für General Calhoons großes ›Weihnachtswunder‹ spreche.« Er zeichnete zu dem Wort Weihnachtswunder Anführungszeichen in die Luft, um seine Verachtung für die ganze Sache auszudrücken. »Du weißt schon, diese Veranstaltung, wo der Papst auftaucht, von der aber angeblich niemand etwas weiß.«
»Oh, das«, sagte Devon. »Nicht mal ich weiß, wo das über die Bühne gehen soll. Für den Fall, dass du es noch nicht gehört hast: Ich wurde suspendiert.«
»Ja, ich hab’s gehört. Du wurdest aufgrund deiner Verbindungen zu Joey Conrad suspendiert. Guck nicht so blöd, ich weiß, wer der Rote Irokese ist.«
»Woher?«
»Ich habe meine Quellen, Devon. Genau wie du.«
Devon blickte sich im Raum um. Dr. Jekyll und Frankenstein verrieten nichts. Von denen war keiner in der Lage, die Identität des Roten Irokesen aufzudecken. Frankenstein war zu dämlich und Dr. Jekyll viel zu schrullig. Also wie zum Teufel hatte Solomon Bennett es herausgefunden? Devon hoffte, dass er einfach spekulierte, aber dafür schien Bennett seiner Sache viel zu sicher.
»Nun denn, dann weißt du auch, dass der Rote Irokese von der Fahne gegangen ist. Ich habe keine Verbindung mehr zu ihm. Er arbeitet auf eigene Faust.«
Bennett lächelte. »Sprichst du dabei von diesem Tankstellenmassaker?«
»Ja. Du hast davon gelesen?«
»Darüber weiß ich alles, Devon, danke. Ich weiß auch, was die Zeitungen und die Cops bislang nicht herausgefunden haben, dass nämlich die Familie, der die Tankstelle gehörte, schon lange im Verdacht stand, spätabends auftauchende Kunden unter Drogen zu setzen und sie als Mahlzeit zu servieren.« Er grinste Devon höhnisch an, die Augen voller Verachtung. »Dass du dahintersteckst, dass Joey Conrad dort auftauchte und sie ermordete, ist unübersehbar.«
Einen Augenblick lang war Devon sprachlos. Wie konnte Bennett diese ganzen Erkenntnisse gewonnen haben? Devon hatte jahrelang am Tankstellenfall gearbeitet, aber bis vor wenigen Wochen nie genug Beweise sammeln können, um jemanden festzunehmen. Statt dann jedoch den Haftbefehl für eine Kannibalenfamilie ausstellen zu lassen, hatte er den Roten Irokesen geschickt, um dessen übliche brutale Form der Gerechtigkeit walten zu lassen.
»Ich weiß nicht, wovon du redest«, bluffte er.
Bennett lachte. »Normalerweise hätte niemand je erfahren, dass der Rote Irokese etwas mit der Sache zu tun hatte, nicht wahr? Er tauchte jedoch auf, kurz nachdem die Kannibalen ihrem jüngsten Opfer den vergifteten Kaffee verabreicht hatten. Obwohl er die Frau davor rettete, bei lebendigem Leib verzehrt zu werden, erwies sie sich als die Zeugin, die ihn gegenüber den Cops identifizierte. Wie viele Aufträge hast du dem Roten Irokesen noch gegeben, bei denen niemand lebend zurückblieb, um ihn zu identifizieren, hm? Jede Menge, da wette ich!«
Devon tat sein Bestes, eine Miene aufzusetzen, als wüsste er nicht, wovon Bennett redete. Er versuchte, die Achseln zu zucken, was durch den Umstand, dass man ihn an den Stuhl gefesselt hatte, ziemlich erschwert wurde.
»Du hast eine lebhafte Vorstellungskraft, Solomon, wirklich.«
»Ja, die habe ich«, pflichtete ihm Bennett bei. »Deshalb möchte ich von dir erfahren, wo Joey Conrad steckt. Ich vermute mal, dass du ihn über meinen Plan in Kenntnis gesetzt hast, Calhoons große Spendenaktion zu sabotieren.«
»Wie ich schon sagte, ich weiß nicht, wo er steckt. Er gehört nicht mehr zu uns. Ich kann dir nichts verraten.«
Dr. Jekyll trat vor und flüsterte etwas in Bennetts Ohr, laut genug, dass Devon es mithörte. »Lass mich ihn foltern. Ich bringe ihn zum Reden.«
Bennett verscheuchte ihn, indem er mit der Hand wedelte. »Wir foltern Devon nicht«, sagte er feixend. »Er begleitet uns zu Calhoons Veranstaltung. Ja, Devon, sobald sich der Staub gelegt hat und alle tot sind, einschließlich des Papstes, wird von Calhoons ›Weihnachtswunder‹-Veranstaltung nichts weiter zurückbleiben als eine Videoaufnahme davon, wie du sie kaltblütig ermordest.«
»Ich werde nichts dergleichen tun!«
»Oh doch, das wirst du, Devon. Du bist das perfekte Bauernopfer. Calhoon hat dich gerade auf unbestimmte Zeit vom Dienst suspendiert. Und alle Welt weiß, dass du es Leuten gern heimzahlst, die dir krumm gekommen sind. Nun, das gilt auch für mich. Tatsächlich hoffe ich sogar, dass dein Freund, der Rote Irokese, auftaucht und versucht, seine Morddrohung gegen den Papst in die Tat umzusetzen, denn wir werden ihn dort erwarten. Dann können du und er als Sündenböcke für den ganzen Vorfall dienen. Denk nicht, ich hätte vergessen, dass Joey Conrad meinen Bruder umgebracht hat. Ich wette, dass er diesen Auftrag auch von dir erhalten hat, nicht wahr?«