SIEBENUNDZWANZIG

Baby traf dreißig Minuten zu spät zu ihrer Grease-Probe ein. Tatsächlich wäre sie lieber gar nicht erschienen. Ihr ging viel zu viel durch den Kopf, zum Beispiel, was sie allen über ihr unseliges Date mit Jason Moxy erzählen sollte. Mehr noch belasteten sie aber die Sorgen wegen des plötzlichen Verschwindens ihres Vaters.

In der Haupthalle war die Probe bereits im Gang. Der Choreograph Camberwick Bender stand in der Mitte des Saals, bekleidet mit einem grellgrünen Pullover und einer cremefarbenen Hose, und schwenkte einen Stock in der Luft, womit er die Schauspieler lenkte wie ein Dirigent sein Orchester. Alle Hauptdarsteller waren anwesend (ausgenommen Jason Moxy) und gaben sich größte Mühe, Camberwicks Anweisungen zu folgen. Ein Team von Background-Tänzern unterstützte sie in dieser Szene, bei der es sich um die große High-School-Tanzsequenz handelte.

Sobald Baby den Saal betrat, warf Camberwick seinen Stock auf den Boden und schrie »CUT

Alle stoppten und starrten Baby an.

»Baby, du bist zu spät!«, brüllte Camberwick. »Und wo steckt Jason?«

»Es tut mir leid«, sagte Baby. »Mir war heute Morgen schlecht. Und ich habe keine Ahnung, wo Jason ist.«

»Keine Ahnung, wo Jason ist«, äffte Camberwick sie unglaubhaft nach. »Pah, ich versuche hier, Grease auf die Bühne zu bringen, nur hält keiner meiner Hauptdarsteller das für wichtig genug, um rechtzeitig zu erscheinen. Das hier ist nicht Sunset Boulevard, weißt du?«

Camberwick stemmte die Hände zu einer Zwei-Henkel-Teekanne in die Hüften und stampfte mit dem Fuß auf. Baby wusste nicht recht, ob von ihr erwartet wurde, noch etwas zu sagen. Außerdem hatte sie keinen Schimmer, was der Hinweis auf Sunset Boulevard zu bedeuten hatte.

»Nun, steh nicht einfach da rum!«, schrie Camberwick sie an. »Nimm deine Position ein. Wir haben nicht den ganzen Tag Zeit.« Er wandte sich zu den anderen um und klatschte in die Hände. »Kommt schon, Leute. Neuer Versuch. Wir haben keine Zeit zu vergeuden.«

Baby lief zu den übrigen Darstellern hinüber und nahm ihre Position in der Aufstellung ein. Einer der männlichen Background-Tänzer wurde ausgesucht, um Jason Moxy zu vertreten. Es war ein starker, gut aussehender Kerl, dessen Blick Baby verriet, dass es ihn nervös machte, den männlichen Hauptdarsteller zu vertreten. Er war voll darauf konzentriert, sich die ganzen Tanzschritte zu merken, und zeigte kein Interesse daran, irgendeine Chemie mit ihr aufzubauen. Sie packte ihn an beiden Händen und verschränkte die Finger mit seinen, bereit für den Start der Musik. Sobald alle in Position waren, schaltete Camberwick einen schäbigen alten silbernen Ghetto-Blaster ein, an dem er für die Proben hartnäckig festhielt. Einen Augenblick später plärrte der Song Born To Hand Jive von den Na Na Nas los.

Baby kannte den Bewegungsablauf recht gut. Sich darauf zu konzentrieren, dass sie das hier nicht vermurkste, war die perfekte Methode, um ihre Gedanken von allem anderen abzulenken, was in ihrem Leben vor sich ging.

Leider brüllte Camberwick auf halbem Weg durch die Szene lauthals »CUT!«. Und die Musik erstarb aufs Neue.

Wie zuvor warf Camberwick den Stock zu Boden und stemmte die Hände in die Hüften, damit auch alle wussten, dass er verärgert war. Er blickte jemanden hinter Baby an. Sie drehte sich um, wollte nachsehen, wer diesmal verspätet erschienen war. Sie wurde vom Anblick eines riesigen Mannes begrüßt, der ganz in Schwarz gekleidet war und eine Schutzbrille trug. Er sah wie Frankensteins Monster aus. Ganz schön beunruhigend war außerdem, dass er ein Holster an der Hüfte trug, aus dem ein Pistolengriff ragte.

»Wer sind Sie?«, schrie Camberwick ihn an.

Frankenstein beachtete ihn nicht. Er blickte sich im Saal um, drehte langsam den Kopf von einer Seite zur anderen. Endlich hielt er inne und starrte direkt Baby an, die inmitten der Tänzer stand. Die Schutzbrille fasste sie fest ins Auge, und das Monster ging zielstrebigen Schrittes auf sie zu. Baby sah sich danach um, ob jemand anderes in der Nähe war, den er vielleicht angeblickt hatte. Als er vor ihr stehen blieb und sie am Arm packte, wurde jedoch deutlich, dass sie sein Ziel war.

»Du kommst mit mir«, sagte er mit monotoner Stimme.

Sein Griff war unnötig fest. Baby versetzte ihm einen Klaps auf die Hand und hoffte, dass er sie daraufhin losließ, aber das tat er nicht. Camberwick meldete sich stattdessen wieder zu Wort.

»Würde jemand bitte diesem Clown erklären, dass Young Frankenstein erst in einem Monat auf dem Programm steht?«

Frankenstein drehte langsam den Kopf und starrte Camberwick auf eine Art und Weise an, die verriet, dass er über die Bezeichnung Clown nicht begeistert war. Dieser Eindruck verstärkte sich, als er an seine Seite griff und die Schusswaffe aus dem Hüftholster zog. Er bewegte sich langsam und roboterhaft. Er zielte mit der Waffe auf Camberwick.

Camberwick hob beide Hände über den Kopf. »Nicht schießen! Es war nur ein Scherz, als ich Sie einen Clown nannte. Ich bin sicher, dass Sie ein sehr guter Schauspieler sind.«

Frankenstein hörte die Entschuldigung entweder nicht oder war nicht davon beeindruckt, denn er drückte ab und schoss Camberwick in die Brust. Ein Fleck dicken dunkelroten Blutes bildete sich in der Mitte von Camberwicks grünem Pullover. Dem Regisseur klappte der Unterkiefer runter; er schien wie benommen, als ihn die Erkenntnis, angeschossen worden zu sein, so heftig traf wie zuvor die Kugel. Er stolperte einen Schritt rückwärts, kippte um, landete flach auf dem Rücken und starrte an die Decke. Er atmete keuchend, während das Leben aus ihm wich.

Das war das Stichwort für alle anderen im Saal in Panik auszubrechen. Einer der männlichen Tänzer quiekte wie ein sterbendes Schwein, und das gab allen den Rest. Sie stürmten zu den Ausgängen und schrien dabei wie wilde Tiere. Alle außer Baby. Sie konnte sich nicht rühren, denn Frankenstein hielt ihren Arm fest wie in einem Schraubstock. Er steckte die Waffe ins Holster zurück und zog Baby näher zu sich heran.

»Du kommst mit mir, oder du stirbst als Nächste«, sagte er mit dumpfer Stimme.

Baby versuchte sich zu wehren. »Was wollen Sie von mir?«

Frankenstein ignorierte ihre Frage. Er beugte sich vor, drückte seine Schulter in Babys Taille und hob sie hoch. Ehe sie wusste, was geschah, hatte er sie sich übergeworfen, und sie starrte den Boden unter sich an. Einen der riesigen Arme hielt er um ihre Schenkel geschlungen und trug sie so zum Ausgang an der Rückwand des Saals. Baby ballte die Fäuste und versuchte, ihm so kräftig in den Rücken zu boxen, wie sie konnte. Aber jemanden zu hauen, wenn man kopfunter über seiner Schulter baumelt, ist erstaunlich schwierig. Sie brachte einfach keine Kraft auf, aber selbst wenn das möglich gewesen wäre, hätte sie bei Frankenstein wohl nichts ausgerichtet.

»Setzen Sie mich ab!«, schrie sie.

Frankenstein ignorierte ihr Schreien und trug sie Richtung Ausgang. Baby konnte nicht mehr tun, als den Holzfußboden und Frankensteins Beine anzusehen, die wie Baumstämme auf sie wirkten. Auf einmal waren all die übrigen Schauspieler und Tänzer verschwunden. Ihre Stimmen bildeten nur noch ein fernes Echo, während sie aus der Schule stürmten.

Dann jedoch durchdrang das Gebrüll eines Mannes alles andere. Baby wusste nicht recht, woher es kam, aber es war laut und klang befehlsgewohnt.

»Setz das Mädchen ab und lass die Waffe fallen, Arschloch!«

Frankenstein blieb stehen, und Baby wappnete sich dafür, dass er sie vielleicht einfach zu Boden fallen ließ. In ihrer Kopfunter-Position gelang es ihr, den Hals zu recken und nach dem Inhaber der Stimme Ausschau zu halten.

Sie entdeckte ihn am Ende des Saals vor einer zweiflügeligen Tür. Er war von Kopf bis Fuß in blauen Jeansstoff gekleidet und trug braune Cowboystiefel; das wellige braune Haar wurde von einem Harley-Davidson-Stirnband gehalten. Die linke Hand schwebte neben einer Schusswaffe im Gürtelholster.

»Wer bist du?«, fragte Frankenstein in dumpfem Ton.

»Ich bin Rodeo Rex«, antwortete der andere. »Wer zum Teufel bist du?«

Frankensteins Reaktion fiel sehr nachdrücklich aus. Seine Kenntnisse im Umgang mit Schusswaffen entstammten offensichtlich der Schieß-zuerst-Schule. Ehe Rex Gelegenheit fand, nach seinem Six-Shooter zu greifen, riss Frankenstein die eigene Pistole aus dem Holster, zielte damit auf Rex’ Herz und feuerte drei Kugeln ab.

Drei Killer für ein Halleluja
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