Über Goethes »Harzreise im Winter«

Einladungsschrift von Dr. Kannegießer,
Rektor des Gymnasiums zu Prenzlau.
Dezember 1820

Dieses kleine Heft, vom Verfasser freundlich zugesandt, gab mir die angenehme Veranlassung, die sonderbaren Bilder früherer Jahre aus den letheischen Fluten wieder hervorzurufen; wobei ich zu bewundern hatte, daß mein sinniger Ausleger, dem die wunderlichen Besonderheiten jenes Winterzuges keineswegs bekannt sein konnten, dennoch, durch wenige Andeutungen geleitet, die Eigenheiten des Verhältnisses, die Wesenheit des Zustandes und den Sinn des obwaltenden Gefühls durchdringlich erkannt und ausgesprochen.

Nachdem ich mir nun jene für mich sehr bedeutenden Tage wieder zurückgerufen, so kann ich nicht unterlassen, einiges zu erwidern und wie es bei mir aufgeregt worden niederzuschreiben.

Schon früher hatte ich die Ehre erlebt, daß geistreich nachspürende Männer meine Gedichte zu entwickeln sich bestrebten; ich nenne Moritz und Delbrück, welche beide in das Angedeutete, Verschwiegene, Geheimnisvolle dergestalt eindrangen, daß sie mich selbst in Verwunderung setzten; wie ich denn von Letztgenanntem nur anführen will, daß er in den Gedichten an Lida größere Zartheit als in allen übrigen ausgespürt.

Gleiches Wohlwollen erzeigt mir nun Herr Dr. Kannegießer, wofür ich ihm einen öffentlich ausgesprochenen Dank vertraulich erwidere und nach seinem Wunsch über das genannte Gedicht auch meinerseits einige Aufklärung versuche.

Was von meinen Arbeiten durchaus und so auch von den kleineren Gedichten gilt, ist, daß sie alle, durch mehr oder minder bedeutende Gelegenheit aufgeregt, im unmittelbaren Anschauen irgendeines Gegenstandes verfaßt worden, deshalb sie sich nicht gleichen, darin jedoch übereinkommen, daß bei besondern äußeren, oft gewöhnlichen Umständen ein Allgemeines, Inneres, Höheres dem Dichter vorschwebte.

Weil nun aber demjenigen, der eine Erklärung meiner Gedichte unternimmt, jene eigentlichen, im Gedicht nur angedeuteten Anlässe nicht bekannt sein können, so wird er den innern, höhern, faßlichern Sinn vorwalten lassen; ich habe auch hiezu, um die Poesie nicht zur Prose herabzuziehen, wenn mir dergleichen zur Kenntnis gekommen, gewöhnlich geschwiegen.

Das Gedicht aber, welches der gegenwärtige Erklärer gewählt, die »Harzreise«, ist sehr schwer zu entwickeln, weil es sich auf die allerbesondersten Umstände bezieht; und doch hat er sehr viel geleistet, indem er das Angedeutete genugsam herausahndete, wodurch ich mich stellenweise in Verwunderung gesetzt und bewogen fühle, folgendes zu näherer Aufklärung zu eröffnen.

In meinen biographischen Versuchen würde jene Epoche eine bedeutende Stelle einnehmen. Die Reise ward Ende Novembers 1776 gewagt. Ganz allein zu Pferde, im drohenden Schnee, unternahm der Dichter ein Abenteuer, das man bizarr nennen könnte, von welchem jedoch die Motive im Gedicht selbst leise angedeutet sind.

Dem Geier gleich,

Der auf schweren Morgenwolken

Mit sanftem Fittich ruhend

Nach Beute schaut,

Schwebe mein Lied.

Der Reisende verläßt am frühsten Wintermorgen seinen im Augenblick behaglich-gastfreundlichen thüringischen Wohnsitz, wo ihn später eine zweite Vaterstadt beglückte, er reitet nordwärts bergauf; ein schwerer, schneedrohender Himmel wälzt sich ihm entgegen.

Denn ein Gott hat

Jedem seine Bahn

Vorgezeichnet,

Die der Glückliche

Rasch zum freudigen

Ziele rennt.

Begonnene Ausführung eines bedenklichen und beschwerlichen Unternehmens stählt den Mut und erheitert den Geist. Der Dichter gedenkt seines bisherigen Lebensganges, den er glücklich nennen, dem er den schönsten Erfolg versprechen darf.

Wem aber Unglück

Das Herz zusammenzog,

Er sträubt vergebens

Sich gegen die Schranken

Des ehernen Fadens,

Den die doch bittre Schere

Nur einmal löst.

Aber sogleich gedenkt er eines Unglücklichen, Mißmutigen, um dessentwillen er eigentlich die Fahrt unternommen.

Als der Dichter den »Werther« geschrieben, um sich wenigstens persönlich von der damals herrschenden Empfindsamkeitskrankheit zu befreien, mußte er die große Unbequemlichkeit erleben, daß man ihn gerade diesen Gesinnungen günstig hielt. Er mußte manchen schriftlichen Andrang erdulden, worunter ihm besonders ein junger Mann auffiel, welcher schreibselig-beredt und dabei so ernstlich durchdrungen von Mißbehagen und selbstischer Qual sich zeigte, daß es unmöglich war, nur irgendeine Persönlichkeit zu denken, wozu diese Seel-Enthüllungen passen möchten. Alle seine wiederholten zudringlichen Äußerungen waren anziehend und abstoßend zugleich, daß endlich, bei einer immer aufgeforderten und wieder gedämpften Teilnahme, die Neugier rege ward, welchen Körper sich ein so wunderlicher Geist gebildet habe? Ich wollte den Jüngling sehen, aber unerkannt, und deshalb hatte ich mich eigentlich auf den Weg begeben.

In Dickichtsschauer

Drängt sich das rauhe Wild.

Der Reisende gelangt auf die nächsten Bergeshöhen; immer winterhafter zeigt sich die Landschaft, einsam und öde starrt alles umher, nur flüchtiges Wild deutet auf kümmerlichen Zustand. Nun blickt er über gefrorne Teiche, Seen, auch eine Stadt kommt ihm zu Gesicht.

Und mit den Sperlingen

Haben längst die Reichen

In ihre Sümpfe sich gesenkt.

Wer seine Bequemlichkeiten aufopfert, verachtet gern diejenigen, die sich darin behagen. Jäger, Soldaten, mühsam Reisende bedürfen gutes Mutes, der sich leicht zu Übermut steigert. Unser Reisender hat alle Bequemlichkeiten zurückgelassen und verachtet die Städter, deren Zustand er gleichnisweise schmählich herabsetzt.

Wahrscheinlich ist ein wundersamer Druckfehler daher entstanden, daß Setzer oder Korrektor die »Reichen«, die ihm keinen Sinn zu geben schienen, in »Reiher« verwandelte, welche doch auf einiges Verhältnis zu den Rohrsperlingen hindeuten möchten. In der vorletzten Ausgabe stehen jene, diese in der letzten.

Leicht ist’s, folgen dem Wagen,

Den Fortuna führt,

Wie der gemächliche Troß

Auf gebesserten Wegen

Hinter des Fürsten Einzug.

Der Dichter kehrt wieder zu seiner eigenen günstigen Lebensepoche zurück, ohne sich irgendein Verdienst anzumaßen, ja er spricht von den augenblicklichen Glücksvorteilen beinahe mit Geringschätzung.

Aber abseits wer ist’s?

Ins Gebüsch verliert sich sein Pfad,

Hinter ihm schlagen

Die Sträuche zusammen,

Das Gras steht wieder auf,

Die Öde verschlingt ihn.

Das Bild des einsamen, menschen- und lebensfeindlichen Jünglings kommt ihm wieder in den Sinn, er malt sich’s aus.

Ach, wer heilet die Schmerzen

Des, dem Balsam zu Gift ward?

Der sich Menschenhaß

Aus der Fülle der Liebe trank?

Erst verachtet, nun ein Verächter,

Zehrt er heimlich auf

Seinen eignen Wert

In ungnügender Selbstsucht.

Er fährt fort, ihn zu beklagen.

Ist auf deinem Psalter,

Vater der Liebe, ein Ton

Seinem Ohre vernehmlich,

So erquicke sein Herz!

Öffne den umwölkten Blick

Über die tausend Quellen

Neben dem Durstenden

In der Wüste!

Seine herzliche Teilnahme ergießt sich im Gebet. Die Auslegung dieser Strophen ist meinem freundlichen Kommentator besonders gelungen; er hat das Herzliche derselben innigst gefühlt und entwickelt.

Der du der Freuden viel schaffst,

Jedem ein überfließend Maß,

Segne die Brüder der Jagd

Auf der Fährte des Wilds

Mit jugendlichem Übermut

Fröhlicher Mordsucht,

Späte Rächer des Unbills,

Dem schon Jahre vergeblich

Wehrt mit Knütteln der Bauer.

Der Dichter wendet seine Gedanken zu Leben und Tat hin, erinnert sich seiner engverbundenen Freunde, welche gerade in dieser Jahrszeit und Witterung eine bedeutende Jagd unternehmen, um das in gewisser Gegend sich mehrende Schwarzwildbret zu bekämpfen. Eben diese Lustpartie war es, welche jene vertraute Gesellschaft aus der Stadt zog, dem Dichter Raum und Gelegenheit zu seiner Wanderung darbietend. Er trennte sich mit dem Versprechen, bald wie der unter ihnen zu sein.

Aber den Einsamen hüll

In deine Goldwolken!

Umgib mit Wintergrün,

Bis die Rose wieder heranreift,

Die feuchten Haare,

O Liebe, deines Dichters!

Nun aber kehrt er zu sich selbst zurück, betrachtet seinen bedenklichen Zustand und ruft der Liebe, ihm zur Seite zu bleiben.

Hier ist der Ort, zu bemerken, daß man sich bei Auslegung von Dichtern immer zwischen dem Wirklichen und Ideellen zu halten habe. In der siebenten Strophe heißt »Liebe« das unbefriedigte, dem Menschen zwar in wohnende, aber von außen zurückgewiesene Bedürfnis; in der achten Strophe ist unter »Vater der Liebe« das Wesen gemeint, welchem alle übrigen die wechselseitige Neigung zu danken haben; hier in der zehnten ist unter »Liebe« das edelste Bedürfnis geistiger, vielleicht auch körperlicher Vereinigung gedacht, welches die Einzelnen in Bewegung setzt und auf die schönste Weise in Freundschaft, Gattentreue, Kinderpietät und außerdem noch auf hundert zarte Weisen befriedigt und lebendig erhält.

Mit der dämmernden Fackel

Leuchtest du ihm

Durch die Furten bei Nacht,

Über grundlose Wege

Auf öden Gefilden;

Mit dem tausendfarbigen Morgen

Lachst du ins Herz ihm;

Mit dem beizenden Sturm

Trägst du ihn hoch empor;

Winterströme stürzen vom Felsen

In seine Psalmen.

Er schildert einzelne Beschwerlichkeiten des Augenblicks, die ihn peinlich anfechten, aber in Gedanken an die entfernten Geliebten frohmütig überstanden werden.

Und Altar des lieblichsten Danks

Wird ihm des gefürchteten Gipfels

Schneebehangner Scheitel,

Den mit Geisterreihen

Kränzten ahnende Völker.

Ein wichtiger, völlig ideell, ja phantastisch erscheinender Punkt, über dessen Realität der Dichter schon manchen Zweifel erleben mußte, wovon aber ein sehr erfreuliches Dokument noch in seinen Händen ist.

Ich stand wirklich am siebenten Dezember in der Mittagsstunde, grenzenlosen Schnee überschauend, auf dem Gipfel des Brockens zwischen jenen ahnungsvollen Granitklippen, über mir den vollkommen klarsten Himmel, von welchem herab die Sonne gewaltsam brannte, so daß in der Wolle des Überrocks der bekannte branstige Geruch erregt ward. Unter mir sah ich ein unbewegliches Wogenmeer nach allen Seiten die Gegend überdecken und nur durch höhere und tiefere Lage der Wolkenschichten die darunter befindlichen Berge und Täler andeuten.

Die herrliche Erscheinung farbiger Schatten bei untergehender Sonne ist in meinem Entwurf der »Farbenlehre« im 75. Paragraphen umständlich beschrieben.

Du stehst mit unerforschtem Busen

Geheimnisvoll offenbar

Über der erstaunten Welt

Und schaust aus Wolken

Auf ihre Reiche und Herrlichkeit,

Die du aus den Adern deiner Brüder

Neben dir wässerst.

Hier ist leise auf den Bergbau gedeutet. Der unerforschte Busen des Hauptgipfels wird den Adern seiner Brüder entgegengesetzt. Die Metalladern sind gemeint, aus welchen die Reiche der Welt und ihre Herrlichkeit gewässert werden.

Eine vorläufige Anschauung dieser wichtigen Geschäftstätigkeit sich zu verschaffen, welches ihm auch gelang, veranlaßte zum Teil das seltsame Unternehmen, wovon das gegenwärtige Gedicht allerdings mysteriose, schwer zu deutende Spuren enthält.

Das Thema desselben wäre also wohl folgendermaßen auszusprechen: Der Dichter, in doppelter Absicht, ein unmittelbares Anschauen des Bergbaues zu gewinnen und einen jungen, äußerst hypochondrischen Selbstquäler zu besuchen und aufzurichten, bedient sich der Gelegenheit, daß engverbundene Freunde zur Winterjagdlust ausziehen, um sich von ihnen auf kurze Zeit zu trennen.

So wie sie die rauhe Witterung nicht achten, unternimmt er nach seiner Seite hin jenen einsamen, wunderlichen Ritt. Es glückt ihm nicht nur, seine Wünsche erfüllt zu sehen, sondern auch durch eine ganz eigene Reihe von Anlässen, Wanderungen und Zufälligkeiten auf den beschneiten Brockengipfel zu gelangen. Von dem, was ihm während dieser Zeit durch den Sinn gezogen, schreibt er zuletzt kurz, fragmentarisch, geheimnisvoll, im Sinn und Ton des ganzen Unternehmens kaum geregelte rhythmische Zeilen.

Durch einen ziemlichen Umweg schließt er sich wieder an die Brüder der Jagd, teilt ihre tagtäglichen heroischen Freuden, um nachts in Gegenwart einer prasselnden Kaminflamme sie durch Erzählung seiner wunderlichen Abenteuer zu ergötzen und zu rühren.

Mein werter Kommentator wird hieraus mit eignem Vergnügen ersehen, wie er so vollkommen zum Verständnis des Gedichtes gelangt sei, als es ohne die Kenntnis der besonders vorwaltenden Umstände möglich gewesen; er findet mich an keiner Stelle mit ihm in Widerstreit, und wenn das Reelle hie und da das Ideelle einigermaßen zu beschränken scheint, so wird doch dieses wieder erfreulich gehoben und ins rechte Licht gestellt, weil es auf einer wirklichen, doch würdigen Base emporgehoben worden. Gibt man nun aber dem Erklärer zu, daß er nicht gerade beschränkt sein soll, alles, was er vorträgt, aus dem Gedicht zu entwickeln, sondern daß er uns Freude macht, wenn er manches verwandte Gute und Schöne an dem Gedicht entwickelt, so darf man diese kleine gehaltreiche Arbeit durchaus billigen und mit Dank erkennen.

 
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Für die Mißwollenden. Vorschlag

Man hat einen Oktavband herausgegeben: »Goethe in den wohlwollenden Zeugnissen der Mitlebenden«. Nun würde ich raten, ein Gegenstück zu besorgen: »Goethe in den mißwollenden Zeugnissen der Mitlebenden«. Die dabei zu übernehmende Arbeit würde den Gegnern leicht werden und zur Unterhaltung dienen, einem Verleger, dem Gewinn von allen Seiten her guten Geruch bringt, sichern Vorteil gewähren.

Zu diesem Vorschlag bewegt mich die Betrachtung, daß, da man mich aus der allgemeinen Literatur und der besondern deutschen jetzt und künftig, wie es scheint, nicht loswerden wird, es jedem Geschichtsfreunde gewiß nicht unangenehm sein muß, auf eine bequeme Weise zu erfahren, wie es in unsern Tagen ausgesehen und welche Geister darinnen gewaltet.

Mir selbst würde es bei dem Rückblick auf mein eigenes Leben höchst interessant sein; denn wann sollt ich mir leugnen, daß ich vielen Menschen widerwärtig und verhaßt geworden und daß diese mich auf ihre Weise dem Publikum vorzubilden gesucht. Ich bin mir wohl bewußt, daß ich niemals unmittelbar dagegen gewirkt, daß ich mich in ununterbrochener Tätigkeit erhalten und sie bis jetzt, wiewohl angefochten, bis gegen das Ende durchgeführt.

 
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Bedeutende Fördernis

durch ein einziges geistreiches Wort

Herr Dr. Heinroth in seiner »Anthropologie«, einem Werke, zu dem wir mehrmals zurückkommen werden, spricht von meinem Wesen und Wirken günstig, ja er bezeichnet meine Verfahrungsart als eine eigentümliche: daß nämlich mein Denkvermögen gegenständlich tätig sei, womit er aussprechen will: daß mein Denken sich von den Gegenständen nicht sondere, daß die Elemente der Gegenstände, die Anschauungen in dasselbe eingehen und von ihm auf das innigste durchdrungen werden, daß mein Anschauen selbst ein Denken, mein Denken ein Anschauen sei; welchem Verfahren genannter Freund seinen Beifall nicht versagen will.

Zu was für Betrachtungen jenes einzige Wort, begleitet von solcher Billigung, mich angeregt, mögen folgende wenige Blätter aussprechen, die ich dem teilnehmenden Leser empfehle, wenn er vorher, Seite 387 genannten Buches, mit dem Ausführlichern sich bekannt gemacht hat.

In dem gegenwärtigen wie in den früheren Heften habe ich die Absicht verfolgt: auszusprechen, wie ich die Natur anschaue, zugleich aber gewissermaßen mich selbst, mein Inneres, meine Art zu sein, insofern es möglich wäre, zu offenbaren. Hiezu wird besonders ein älterer Aufsatz: »Der Versuch als Vermittler zwischen Subjekt und Objekt«, dienlich gefunden wer den.

Hiebei bekenn ich, daß mir von jeher die große und so bedeutend klingende Aufgabe: »Erkenne dich selbst!« immer verdächtig vorkam, als eine List geheim verbündeter Priester, die den Menschen durch unerreichbare Forderungen verwirren und von der Tätigkeit gegen die Außenwelt zu einer innern falschen Beschaulichkeit verleiten wollten. Der Mensch kennt nur sich selbst, insofern er die Welt kennt, die er nur in sich und sich nur in ihr gewahr wird. Jeder neue Gegenstand, wohl beschaut, schließt ein neues Organ in uns auf.

Am allerfördersamsten aber sind unsere Nebenmenschen, welche den Vorteil haben, uns mit der Welt aus ihrem Standpunkt zu vergleichen und daher nähere Kenntnis von uns zu erlangen, als wir selbst gewinnen mögen.

Ich habe daher in reiferen Jahren große Aufmerksamkeit gehegt, inwiefern andere mich wohl erkennen möchten, damit ich in und an ihnen, wie an so viel Spiegeln, über mich selbst und über mein Inneres deutlicher werden könnte.

Widersacher kommen nicht in Betracht, denn mein Dasein ist ihnen verhaßt, sie verwerfen die Zwecke, nach welchen mein Tun gerichtet ist, und die Mittel dazu achten sie für ebensoviel falsches Bestreben. Ich weise sie daher ab und ignoriere sie, denn sie können mich nicht fördern, und das ist’s, worauf im Leben alles ankommt; von Freunden aber laß ich mich ebensogern bedingen als ins Unendliche hinweisen, stets merk ich auf sie mit reinem Zutrauen zu wahrhafter Erbauung.

Was nun von meinem gegenständlichen Denken gesagt ist, mag ich wohl auch ebenmäßig auf eine gegenständliche Dichtung beziehen. Mir drückten sich gewisse große Motive, Legenden, uraltgeschichtlich Überliefertes so tief in den Sinn, daß ich sie vierzig bis funfzig Jahre lebendig und wirksam im Innern erhielt; mir schien der schönste Besitz, solche werte Bilder oft in der Einbildungskraft erneut zu sehen, da sie sich denn zwar immer umgestalteten, doch, ohne sich zu verändern, einer reineren Form, einer entschiednern Darstellung entgegenreiften. Ich will hievon nur die »Braut von Korinth«, den »Gott und die Bajadere«, den »Grafen und die Zwerge«, den »Sänger und die Kinder« und zuletzt noch den baldigst mitzuteilenden »Paria« nennen.

Aus obigem erklärt sich auch meine Neigung zu Gelegenheitsgedichten, wozu jedes Besondere irgendeines Zustandes mich unwiderstehlich aufregte. Und so bemerkt man denn auch an meinen Liedern, daß jedem etwas Eigenes zum Grunde liegt, daß ein gewisser Kern einer mehr oder weniger bedeutenden Frucht einwohne; deswegen sie auch mehrere Jahre nicht gesungen wurden, besonders die von entschiedenem Charakter, weil sie an den Vortragenden die Anforderung machen, er solle sich aus seinem allgemein-gleichgültigen Zustande in eine besondere, fremde Anschauung und Stimmung versetzen, die Worte deutlich artikulieren, damit man auch wisse, wovon die Rede sei. Strophen sehnsüchtigen Inhalts dagegen fanden eher Gnade, und sie sind auch mit andern deutschen Erzeugnissen ihrer Art in einigen Umlauf gekommen.

An eben diese Betrachtung schließt sich die vieljährige Richtung meines Geistes gegen die Französische Revolution unmittelbar an, und es erklärt sich die grenzenlose Bemühung, dieses schrecklichste aller Ereignisse in seinen Ursachen und Folgen dichterisch zu gewältigen. Schau ich in die vielen Jahre zurück, so seh ich klar, wie die Anhänglichkeit an diesen unübersehlichen Gegenstand so lange Zeit her mein poetisches Vermögen fast unnützerweise aufgezehrt; und doch hat jener Eindruck so tief bei mir gewurzelt, daß ich nicht leugnen kann, wie ich noch immer an die Fortsetzung der »Natürlichen Tochter« denke, dieses wunderbare Erzeugnis in Gedanken ausbilde, ohne den Mut, mich im einzelnen der Ausführung zu widmen.

Wend ich mich nun zu dem gegenständlichen Denken, das man mir zugesteht, so find ich, daß ich ebendasselbe Verfahren auch bei naturhistorischen Gegenständen zu beobachten genötigt war. Welche Reihe von Anschauung und Nachdenken verfolgt ich nicht, bis die Idee der Pflanzenmetamorphose in mir aufging, wie solches meine »Italienische Reise« den Freunden vertraute.

Ebenso war es mit dem Begriff, daß der Schädel aus Wirbelknochen bestehe. Die drei hintersten erkannt ich bald, aber erst im Jahr 1790, als ich aus dem Sande des dünenhaften Judenkirchhofs von Venedig einen zerschlagenen Schöpsenkopf aufhob, gewahrt ich augenblicklich, daß die Gesichtsknochen gleichfalls aus Wirbeln abzuleiten seien, indem ich den Übergang vom ersten Flügelbeine zum Siebbeine und den Muscheln ganz deutlich vor Augen sah; da hatt ich denn das Ganze im allgemeinsten beisammen. Soviel möge diesmal das früher Geleistete aufzuklären hinreichen. Wie aber jener Ausdruck des wohlwollenden, einsichtigen Mannes mich auch in der Gegenwart fördert, davon noch kurze vorläufige Worte.

Schon einige Jahre such ich meine geognostischen Studien zu revidieren, besonders in der Rücksicht, inwiefern ich sie und die daraus gewonnene Überzeugung der neuen, sich überall verbreitenden Feuerlehre nur einigermaßen annähern könnte, welches mir bisher unmöglich fallen wollte. Nun aber durch das Wort gegenständlich ward ich auf einmal aufgeklärt, indem ich deutlich vor Augen sah, daß alle Gegenstände, die ich seit funfzig Jahren betrachtet und untersucht hatte, gerade die Vorstellung und Überzeugung in mir erregen mußten, von denen ich jetzt nicht ablassen kann. Zwar vermag ich für kurze Zeit mich auf jenen Standpunkt zu versetzen, aber ich muß doch immer, wenn es mir einigermaßen behaglich werden soll, zu meiner alten Denkweise wieder zurückkehren.

Aufgeregt nun durch eben diese Betrachtungen, fuhr ich fort, mich zu prüfen, und fand, daß mein ganzes Verfahren auf dem Ableiten beruhe; ich raste nicht, bis ich einen prägnanten Punkt finde, von dem sich vieles ableiten läßt, oder vielmehr der vieles freiwillig aus sich hervorbringt und mir entgegenträgt, da ich denn im Bemühen und Empfangen vorsichtig und treu zu Werke gehe. Findet sich in der Erfahrung irgendeine Erscheinung, die ich nicht abzuleiten weiß, so laß ich sie als Problem liegen, und ich habe diese Verfahrungsart in einem langen Leben sehr vorteilhaft gefunden: denn wenn ich auch die Herkunft und Verknüpfung irgendeines Phänomens lange nicht enträtseln konnte, sondern es beiseite lassen mußte, so fand sich nach Jahren auf einmal alles aufgeklärt in dem schönsten Zusammenhange. Ich werde mir daher die Freiheit nehmen, meine bisherigen Erfahrungen und Bemerkungen und die daraus entspringende Sinnesweise fernerhin in diesen Blättern geschichtlich darzu legen; wenigstens ist dabei ein charakteristisches Glaubensbekenntnis zu erzwecken, Gegnern zur Einsicht, Gleichdenkenden zur Fördernis, der Nachwelt zur Kenntnis und, wenn es glückt, zu einiger Ausgleichung.

 
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Von deutscher Baukunst. 1823

Einen großen Reiz muß die Bauart haben, welche die Italiener und Spanier schon von alten Zeiten her, wir aber erst in der neuesten, die deutsche (tedesca, germanica) genannt haben. Mehrere Jahrhunderte ward sie zu kleinern und zu ungeheuren Gebäuden angewendet, der größte Teil von Europa nahm sie auf; Tausende von Künstlern, aber Tausende von Handwerkern übten sie; den christlichen Kultus förderte sie höchlich und wirkte mächtig auf Geist und Sinn; sie muß also etwas Großes, gründlich Gefühltes, Gedachtes, Durchgearbeitetes enthalten, Verhältnisse verbergen und an den Tag legen, deren Wirkung unwiderstehlich ist.

Merkwürdig war uns daher das Zeugnis eines Franzosen, eines Mannes, dessen eigene Bauweise der gerühmten sich entgegensetzte, dessen Zeit von derselben äußerst ungünstig urteilte; und dennoch spricht er folgendermaßen:

»Alle Zufriedenheit, die wir an irgendeinem Kunstschönen empfinden, hängt davon ab, daß Regel und Maß beobachtet sei; unser Behagen wird nur durch Proportion bewirkt. Ist hieran Mangel, so mag man noch so viel äußere Zierat anwenden, Schönheit und Gefälligkeit, die ihnen innerlich fehlen, wird nicht ersetzt, ja man kann sagen, daß ihre Häßlichkeit nur verhaßter und unerträglicher wird, wenn man die äußeren Zieraten durch Reichtum der Arbeit oder der Materie steigert.

Um diese Behauptung noch weiter zu treiben, sag ich, daß die Schönheit, welche aus Maß und Proportion entspringt, keineswegs kostbarer Materien und zierlicher Arbeit bedarf, um Bewunderung zu erlangen, sie glänzt vielmehr und macht sich fühlbar, hervorblickend aus dem Wuste und der Verworrenheit des Stoffes und der Behandlung. So beschauen wir mit Vergnügen einige Massen jener gotischen Gebäude, deren Schönheit aus Symmetrie und Proportion des Ganzen zu den Teilen und der Teile untereinander entsprungen erscheint und bemerklich ist, ungeachtet der häßlichen Zieraten, womit sie verdeckt sind, und zum Trutz derselben. Was uns aber am meisten überzeugen muß, ist, daß, wenn man diese Massen mit Genauigkeit untersucht, man im ganzen dieselben Proportionen findet wie an Gebäuden, welche, nach Regeln der guten Baukunst erbaut, uns beim Anblick so viel Vergnügen gewähren.«

François Blondel, »Cours d’Architecture«. Cinquième partie. Livre V. Chap. XVI. XVII.

Erinnern dürfen wir uns hierbei gar wohl jüngerer Jahre, wo der Straßburger Münster so große Wirkung auf uns ausübte, daß wir unberufen unser Entzücken auszusprechen nicht unterlassen konnten. Eben das, was der französische Baumeister nach gepflogener Messung und Untersuchung gesteht und behauptet, ist uns unbewußt begegnet, und es wird ja auch nicht von jedem gefordert, daß er von Eindrücken, die ihn überraschen, Rechenschaft geben solle.

Standen aber diese Gebäude jahrhundertelang nur wie eine alte Überlieferung da, ohne sonderlichen Eindruck auf die größere Menschenmasse, so ließen sich die Ursachen davon gar wohl angeben. Wie mächtig hingegen erschien ihre Wirksamkeit in den letzten Zeiten, welche den Sinn dafür wieder erweckten! Jüngere und Ältere beiderlei Geschlechts waren von solchen Eindrücken übermannt und hingerissen, daß sie sich nicht allein durch wiederholte Beschauung, Messung, Nachzeichnung daran erquickten und erbauten, sondern auch diesen Stil bei noch erst zu errichtenden, lebendigern Gebrauch gewidmeten Gebäuden wirklich anwendeten und eine Zufriedenheit fanden, sich gleichsam urväterlich in solchen Umgebungen zu empfinden.

Da nun aber einmal der Anteil an solchen Produktionen der Vergangenheit erregt worden, so verdienen diejenigen großen Dank, die uns in den Stand setzen, Wert und Würde im rechten Sinne, das heißt historisch zu fühlen und zu erkennen, wovon ich nunmehr einiges zur Sprache bringe, indem ich mich durch mein näheres Verhältnis zu so bedeutenden Gegenständen aufgefordert fühle.

Seit meiner Entfernung von Straßburg sah ich kein wichtiges imposantes Werk dieser Art; der Eindruck erlosch, und ich erinnerte mich kaum jenes Zustandes, wo mich ein solcher Anblick zum lebhaftesten Enthusiasmus angeregt hatte. Der Aufenthalt in Italien konnte solche Gesinnungen nicht wieder beleben, um so weniger, als die modernen Veränderungen am Dome zu Mailand den alten Charakter nicht mehr erkennen ließen; und so lebte ich viele Jahre solchem Kunstzweige entfernt, wo nicht gar entfremdet.

Im Jahre 1810 jedoch trat ich, durch Vermittelung eines edlen Freundes, mit den Gebrüdern Boisserée in ein näheres Verhältnis. Sie teilten mir glänzende Beweise ihrer Bemühungen mit; sorgfältig ausgeführte Zeichnungen des Doms zu Köln, teils im Grundriß, teils von mehreren Seiten, machten mich mit einem Gebäude bekannt, das nach scharfer Prüfung gar wohl die erste Stelle in dieser Bauart verdient; ich nahm ältere Studien wieder vor und belehrte mich durch wechselseitige freundschaftliche Besuche und emsige Betrachtung gar mancher aus dieser Zeit sich herschreibenden Gebäude, in Kupfern, Zeichnungen, Gemälden, so daß ich mich endlich wieder in jenen Zuständen ganz einheimisch fand.

Allein der Natur der Sache nach, besonders aber in meinem Alter und meiner Stellung, mußte mir das Geschichtliche dieser ganzen Angelegenheit das Wichtigste werden, wozu mir denn die bedeutenden Sammlungen meiner Freunde die besten Fördernisse darreichten.

Nun fand sich glücklicherweise, daß Herr Moller, ein höchst gebildeter, einsichtiger Künstler, auch für diese Gegenstände entzündet ward und auf das glücklichste mitwirkte. Ein entdeckter Originalriß des Kölner Doms gab der Sache ein neues Ansehen; die lithographische Kopie desselben, ja die Kontradrücke, wodurch sich das ganze zweitürmige Bild durch Zusammenfügen und Austuschen den Augen darstellen ließ, wirkte bedeutsam, und was dem Geschichtsfreunde zu gleicher Zeit höchst willkommen sein mußte, war des vorzüglichen Mannes Unternehmen, eine Reihe von Abbildungen älterer und neuerer Zeit uns vorzulegen, da man denn zuerst das Herankommen der von uns diesmal betrachteten Bauart, sodann ihre höchste Höhe und endlich ihr Abnehmen vor Augen sehen und bequem erkennen sollte. Dieses findet nun um desto eher statt, da das erste Werk vollendet vor uns liegt und das zweite, das von einzelnen Gebäuden dieser Art handeln wird, auch schon in seinen ersten Heften zu uns gekommen ist.

Mögen die Unternehmungen dieses ebenso einsichtigen als tätigen Mannes möglichst vom Publikum begünstigt werden; denn mit solchen Dingen sich zu beschäftigen ist an der Zeit, die wir zu benutzen haben, wenn für uns und unsere Nachkommen ein vollständiger Begriff hervorgehen soll.

Und so müssen wir denn gleiche Aufmerksamkeit und Teilnahme dem wichtigen Werke der Gebrüder Boisserée wünschen, dessen erste Lieferung wir früher schon im allgemeinen angezeigt.

Mit aufrichtiger Teilnahme sehe ich nun das Publikum die Vorteile genießen, die mir seit dreizehn Jahren gegönnt sind, denn so lange bin ich Zeuge der ebenso schwierigen als anhaltenden Arbeit der Boisseréeschen Verbündeten. Mir fehlte es nicht diese Zeit her an Mitteilung frisch gezeichneter Risse, alter Zeichnungen und Kupfer, die sich auf solche Gegenstände bezogen; besonders aber wichtig waren die Probedrücke der bedeutenden Platten, die sich durch die vorzüglichsten Kupferstecher ihrer Vollendung näherten.

So schön mich aber auch dieser frische Anteil in die Neigungen meiner früheren Jahre wieder zurückversetzte, fand ich doch den größten Vorteil bei einem kurzen Besuche in Köln, den ich an der Seite des Herrn Staatsministers von Stein abzulegen das Glück hatte.

Ich will nicht leugnen, daß der Anblick des Kölner Doms von außen eine gewisse Apprehension in mir erregte, der ich keinen Namen zu geben wüßte. Hat eine bedeutende Ruine etwas Ehrwürdiges, ahnen, sehen wir in ihr den Konflikt eines würdigen Menschenwerks mit der stillmächtigen, aber auch alles nicht achtenden Zeit, so tritt uns hier ein Unvollendetes, Ungeheures entgegen, wo eben dieses Unfertige uns an die Unzulänglichkeit des Menschen erinnert, sobald er sich unterfängt, etwas Übergroßes leisten zu wollen.

Selbst der Dom inwendig macht uns, wenn wir aufrichtig sein wollen, zwar einen bedeutenden, aber doch unharmonischen Effekt; nur wenn wir ins Chor treten, wo das Vollendete uns mit überraschender Harmonie anspricht, da erstaunen wir fröhlich, da erschrecken wir freudig und fühlen unsere Sehnsucht mehr als erfüllt.

Ich aber hatte mich längst schon besonders mit dem Grundriß beschäftigt, viel darüber mit den Freunden verhandelt, und so konnte ich, da beinahe zu allem der Grund gelegt ist, die Spuren der ersten Intention an Ort und Stelle genau verfolgen. Ebenso halfen mir die Probedrücke der Seitenansicht und die Zeichnung des vorderen Aufrisses einigermaßen das Bild in meiner Seele auferbauen; doch blieb das, was fehlte, immer noch so übergroß, daß man sich zu dessen Höhe nicht aufschwingen konnte.

Jetzt aber, da die Boisseréesche Arbeit sich ihrem Ende naht, Abbildung und Erklärung in die Hände aller Liebhaber gelangen werden, jetzt hat der wahre Kunstfreund auch in der Ferne Gelegenheit, sich von dem höchsten Gipfel, wozu sich diese Bauweise erhoben, völlig zu überzeugen; da er denn, wenn er gelegentlich sich als Reisender jener wundersamen Stätte nähert, nicht mehr der persönlichen Empfindung, dem trüben Vorurteil oder, im Gegensatz, einer übereilten Abneigung sich hingeben, sondern als ein Wissender und in die Hüttengeheimnisse Eingeweihter das Vorhandene betrachten und das Vermißte in Gedanken ersetzen wird. Ich wenigstens wünsche mir Glück, zu dieser Klarheit nach funfzigjährigem Streben durch die Bemühungen patriotisch gesinnter, geistreicher, emsiger, unermüdeter junger Männer gelangt zu sein.

Daß ich bei diesen erneuten Studien deutscher Baukunst des zwölften Jahrhunderts öfters meiner frühern Anhänglichkeit an den Straßburger Münster gedachte und des damals, 1773, im ersten Enthusiasmus verfaßten Druckbogens mich erfreute, da ich mich desselben beim späteren Lesen nicht zu schämen brauchte, ist wohl natürlich: denn ich hatte doch die innern Proportionen des Ganzen gefühlt, ich hatte die Entwickelung der einzelnen Zieraten eben aus diesem Ganzen eingesehen und nach langem und wiederholtem Anschauen gefunden, daß der eine hoch genug auferbaute Turm doch seiner eigentlichen Vollendung ermangle. Das alles traf mit den neueren Überzeugungen der Freunde und meiner eigenen ganz wohl überein, und wenn jener Aufsatz etwas Amphigurisches in seinem Stil bemerken läßt, so möchte es wohl zu verzeihen sein da, wo etwas Unaussprechliches auszusprechen ist.

Wir werden noch oft auf diesen Gegenstand zurückkommen und schließen hier dankbar gegen diejenigen, denen wir die gründlichsten Vorarbeiten schuldig sind, Herrn Moller und Büsching, jenem in seiner Auslegung der gegebenen Kupfertafeln, diesem in dem Versuch einer Einleitung in die Geschicht der altdeutschen Baukunst; wozu mir denn gegenwärtig als erwünschtestes Hülfsmittel die Darstellung zuhanden liegt, welche Herr Sulpiz Boisserée als Einleitung und Erklärung der Kupfertafeln mit gründlicher Kenntnis aufgesetzt hat.

 
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Serbische Lieder

Schon seit geraumer Zeit gesteht man den verschiedenen eigentümlichen Volksdichtungen einen besondern Wert zu, es sei nun, daß dadurch die Nationen im ganzen ihre Angelegenheiten, auf große Staats- und Familienverhältnisse, auf Einigkeit und Streit, auf Bündnisse und Krieg bezüglich, überliefern oder daß die einzelnen ihr stilles, häusliches und herzliches Interesse vertraulich geltend machen. Bereits ein halbes Jahrhundert hindurch beschäftigt man sich in Deutschland ernstlich und gemütlich damit, und ich leugne nicht, daß ich unter diejenigen gehöre, die ein auf diese Vorliebe gegründetes Studium unablässig selbst fortsetzten, auf alle Weise zu verbreiten und zu fördern suchten; wie ich denn auch gar manche Gedichte, dieser Sinnes- und Gesangesart verwandt, von Zeit zu Zeit dem rein fühlenden Komponisten entgegenzubringen nicht unterließ.

Hiebei gestehen wir denn gerne, daß jene sogenannten Volkslieder vorzüglich Eingang gewinnen durch schmeichelnde Melodien, die in einfachen, einer geregelten Musik nicht anzupassenden Tönen einherfließen, sich meist in weicher Tonart ergehen und so das Gemüt in eine Lage des Mitgefühls versetzen, in der wir, einem gewissen allgemeinen, unbestimmten Wohlbehagen wie den Klängen einer Äolsharfe hingegeben, mit weichlichem Genusse gern verweilen und uns in der Folge immer wieder sehnsüchtig darnach zurückbestreben.

Sehen wir aber endlich solche Gedichte geschrieben oder wohl gar gedruckt vor uns, so werden wir ihnen nur alsdann entschiedenen Wert beilegen, wenn sie auch Geist und Verstand, Einbildung und Erinnerungskraft aufregend beschäftigen und uns eines ursprünglichen Volksstammes Eigentümlichkeiten in unmittelbar-gehaltvoller Überlieferung darbringen; wenn sie uns die Lokalitäten, woran der Zustand gebunden ist, und die daraus hergeleiteten Verhältnisse klar und auf das bestimmteste vor die Anschauung führen.

Indem nun aber solche Gesänge sich meist aus einer späteren Zeit herschreiben, die sich auf eine frühere bezieht, so verlangen wir von ihnen einen angeerbten, wenn auch nach und nach modifizierten Charakter zugleich mit einem einfachen, den ältesten Zeiten gemäßen Vortrag; und in solchen Rücksichten werden wir uns an einer natürlichen, kunstlosen Poesie nur einfache, vielleicht eintönige Rhythmen gefallen lassen.

Von gar Mannigfaltigem, was in dieser Art neuerlich mitgeteilt worden, nennen wir nur die neugriechischen, die bis in die letzten Zeiten heraufreichen, an welche die serbischen, obgleich altertümlicher, gar wohl sich anschließen oder vielmehr nachbarlich ein-und übergreifen.

Nun bedenke man aber einen Hauptpunkt, den wir hervorzuheben nicht verfehlen: Solche Nationalgedichte sind einzeln, außer Zusammenhang nicht füglich anzusehen, noch weniger zu beurteilen, am wenigsten dem rechten Sinne nach zu genießen. Das allgemein Menschliche wiederholt sich in allen Völkern, gibt aber unter fremder Tracht, unter fernem Himmel kein eigentliches Interesse; das Besonderste aber eines jeden Volks befremdet nur, es erscheint seltsam, oft widerwärtig, wie alles Eigentümliche, das wir noch nicht in einen Begriff auffassen, uns noch nicht anzueignen gelernt haben: In Masse muß man deshalb dergleichen Gedichte vor sich sehen, da alsdann Reichtum und Armut, Beschränktheit oder Weitsinn, tiefes Herkommen oder Tagesflachheit sich eher gewahren und beurteilen läßt.

Verweilen wir aber nicht zu lange im allgemeinen Vorworte und treten unser Geschäft ungesäumt an. Wir gedenken von serbischen Liedern zunächst zu sprechen.

Man erinnere sich jener Zeiten, wo unzählbare Völkerschaften sich von Osten her bewegen, wandernd, stockend, drängend, gedrängt, verwüstend, anbauend, abermals im Besitz gestört und ein altes Nomadenleben wieder von vorn beginnend.

Serben und Verwandte, von Norden nach Osten wandernd, verweilen in Mazedonien und kehren bald nach der Mitte zurück, nach dem eigentlichen sogenannten Serbien.

Das ältere serbische Lokale wäre nun vor allen Dingen zu betrachten, allein es ist schwer, sich davon in der Kürze einen Begriff zu machen. Es blieb sich wenige Zeiten gleich, wir finden es bald ausgedehnt, bald zusammengedrängt, zersplittert oder gesammelt, wie innere Spaltung oder äußerer Druck die Nation bedingte.

Auf alle Fälle denke man sich die Landschaft weiter und breiter als in unsern Zeiten, und will man sich einigermaßen an Ort und Stelle versetzen, so halte man vorerst an dem Zusammenfluß der Save mit der Donau, wo wir gegenwärtig Belgrad gelegen finden. Bewegt sich die Einbildungskraft an dem rechten Ufer des erstern Flusses hinauf, des andern hinunter, hat sie diese nördliche Grenze gewonnen, so erlaube sie sich dann, südwärts ins Gebirg und darüber weg bis zum Adriatischen Meer, ostwärts bis gegen Montenegro hin zu schweifen.

Schaut man sich sodann nach näheren und fernen Nachbarn um, so findet man Verhältnisse zu den Venezianern, zu den Ungarn und sonstigen wechselnden Völkern; vorzüglich aber in früherer Zeit zum griechischen Kaisertum, bald Tribut gebend, bald empfangend, bald als Feind, bald als Hülfsvolk; späterhin bleibt mehr oder weniger dasselbe Verhältnis zum türkischen Reich.

Wenn nun auch die zuletzt Eingewanderten eine Liebe zu Grund und Boden in der Flußregion der Donau gewannen und, um ihren Besitz zu sichern, auf den nächsten und ferneren Höhen so Schlösser als befestigte Städte erbauten, so bleibt das Volk immer in kriegerischer Spannung; ihre Verfassung ist eine Art von Fürstenverein unter dem losen Band eines Oberherrn, dem einige auf Befehl, andere auf höfliches Ersuchen wohl Folge leisten.

Bei der Erbfolge jedoch größerer und kleinerer Despoten hält man viel, ja ausschließlich auf uralte Bücher, die entweder in der Hand der Geistlichkeit verwahrt liegen oder in den Schatzkammern der einzelnen Teilnehmer.

Überzeugen wir uns nun, daß vorliegenden Gedichten, sosehr sie auch der Einbildungskraft gehören, doch ein historischer Grund, ein wahrhafter Inhalt eigen sei, so entsteht die Frage: inwiefern die Chronologie derselben auszumitteln möglich, d.h. hier: in welche Zeit das Faktum gesetzt, nicht aus welcher Zeit das Gedicht sei? eine Frage, die ohnehin bei mündlich überlieferten Gesängen sehr schwer zu beantworten sein möchte. Ein altes Faktum ist da, wird erzählt, wird gesungen, wieder gesungen, wann zum ersten- oder zum letztenmal? bleibt unerörtert.

Und so wird sich denn auch jene Zeitrechnung serbischer Gedichte erst nach und nach ergeben; wenige scheinen vor Ankunft der Türken in Europa, vor 1355 sich auszusprechen, sodann aber bezeugen mehrere deutlich den Hauptsitz des türkischen Kaisers in Adrianopel; spätere fallen in die Zeit, wo nach Eroberung von Byzanz die türkische Macht den Nachbarn immer fühlbarer wurde; zuletzt sieht man in den neusten Tagen Türken und Christen friedlich durcheinander leben, durch Handel und Liebesabenteuer wechselseitig einwirkend.

Die ältesten zeichnen sich bei schon bedeutender Kultur durch abergläubisch-barbarische Gesinnungen aus; es finden sich Menschenopfer, und zwar von der widerwärtigsten Art. Eine junge Frau wird eingemauert, damit die Feste Skutari erbaut werden könne, welches um so roher erscheint, als wir im Orient nur geweihte Bilder gleich Talismanen an geheimgehaltenen Orten in den Grund der Burgen eingelegt finden, um die Unüberwindlichkeit solcher Schutz- und Trutzgebäude zu sichern.

Von kriegerischen Abenteuern sei nun billig vorerst die Rede. Ihr größter Held, Marko, der mit dem Kaiser zu Adrianopel in leidlichem Verhältnis steht, kann als ein rohes Gegenbild zu dem griechischen Herkules, dem persischen Rustan auftreten, aber freilich in skythisch höchst barbarischer Weise. Er ist der oberste und unbezwinglichste aller serbischen Helden, von grenzenloser Stärke, von unbedingtem Wollen und Vollbringen. Er reitet ein Pferd hundertundfunfzig Jahre und wird selbst dreihundert Jahr alt; er stirbt zuletzt bei vollkommenen Kräften und weiß selbst nicht, wie er dazu kommt.

Die frühste dieser Epochen sieht also ganz heidnisch aus, die mittleren Gedichte haben einen christlichen Anstrich; er ist aber eigentlich nur kirchlich. Gute Werke sind der einzige Trost dessen, der sich große Untaten nicht verzeihen kann. Die ganze Nation ist eines poetischen Aberglaubens; gar manches Ereignis wird von Engeln durchflochten, dagegen keine Spur eines Satans; rückkehrende Tote spielen große Rollen; auch durch wunderliche Ahnungen, Weissagungen, Vögelbotschaften werden die wackersten Menschen verschüchtert.

Über alle jedoch und überall herrscht eine Art von unvernünftiger Gottheit. Durchaus waltet ein unwiderstehlich Schicksalswesen, in der Einöde hausend, Berg’ und Wälder bewohnend, durch Ton und Stimme Weissagung und Befehl erteilend, Wila genannt, der Eule vergleichbar, aber auch manchmal in Frauengestalt erscheinend, als Jägerin höchst schön gepriesen, endlich sogar als Wolkensammlerin geltend: im allgemeinen aber von den ältesten Zeiten her, wie überhaupt alles sogenannte Schicksal, das man nicht zur Rede stellen darf, mehr schadend als wohltätig.

In der mittlern Zeit haben wir den Kampf mit den überhandnehmenden Türken zu beachten bis zur Schlacht vom Amselfelde 1389, welche durch Verrat verloren wird, worauf die gänzliche Unterjochung des Volkes nicht ausbleibt. Von den Kämpfen des Czerny Georg sind wohl auch noch dichterische Denkmale übriggeblieben; in der allerneusten Zeit schließen sich die Stoßseufzer der Sulioten unmittelbar an, zwar in griechischer Sprache, aber im allgemeinen Sinn unglücklicher Mittelnationen, die sich nicht in sich selbst zu gründen und gegen benachbarte Macht nicht ins Gleichgewicht zu setzen geeignet sind.

Die Liebeslieder, die man aber auch nicht einzeln, sondern in ganzer Masse an sich herannehmen, genießen und schätzen kann, sind von der größten Schönheit; sie verkünden vor allen Dingen ein ohne allen Rückhalt vollkommenes Genügen der Liebenden aneinander; zugleich werden sie geistreich, scherzhaft anmutig; gewandte Erklärung, von einer oder von beiden Seiten, überrascht und ergötzt; man ist klug und kühn, Hindernisse zu besiegen, um zum ersehnten Besitz zu gelangen; dagegen wird eine schmerzlich empfundene unheilbare Trennung auch wohl durch Aussichten über das Grab hinüber beschwichtigt.

Alles, was es auch sei, ist kurz, aber zur Genüge dargestellt, meistens eingeleitet durch eine Naturschilderung, durch irgendein landschaftliches Gefühl oder Ahnung eines Elements. Immer bleiben die Empfindungen die wahrhaftesten. Ausschließliche Zärtlichkeit ist der Jugend gewidmet, das Alter verschmäht und hintangesetzt; allzu willige Mädchen werden abgelehnt und verlassen; dagegen erweist sich auch wohl der Jüngling flüchtig ohne Vorwand, mehr seinem Pferd als seiner Schönen zugetan. Hält man aber ernstlich und treulich zusammen, so wird gewiß die unwillkommene Herrschaft eines Bruders oder sonstiger Verwandten, wenn sie Wahl und Neigung stört, mit viel Entschlossenheit vernichtet.

Solche Vorzüge werden jedoch nur an und durch sich selbst erkannt, und es ist schon gewagt, die Mannigfaltigkeit der Motive und Wendungen, welche wir an den serbischen Liebesliedern bewundern, mit wenig Worten zu schildern, wie wir gleichwohl in Folgendem zu Anregung der Aufmerksamkeit zu tun uns nicht versagen.

1) Sittsamkeit eines serbischen Mädchens, welches die schönen Augenwimpern niemals aufschlägt; von unendlicher Schönheit. 2) Scherzhaft leidenschaftliche Verwünschung eines Geliebten. 3) Morgengefühl einer aufwachenden Liebenden; der Geliebte schläft so süß, sie scheut sich, ihn zu wecken. 4) Scheiden zum Tode; wunderbar: Rose, Becher und Schneeball. 5) Sarajewo durch die Pest verwüstet. 6) Verwünschung einer Ungetreuen. 7) Liebesabenteuer; seltsamlich: Mädchen im Garten. 8) Freundesbotschaft, der Verlobten gebracht durch zwei Nachtigallen, welche ihren dritten Gesellen, den Bräutigam, vermissen. 9) Lebensüberdruß über ein erzürntes Liebchen; drei Wehe sind ausgerufen. 10) Innerer Streit des Liebenden, der als Brautführer seine Geliebte einem Dritten zuführen soll. 11) Liebeswunsch; ein Mädchen wünscht ihrem Geliebten als quellender Bach durch den Hof zu fließen. 12) Jagdabenteuer; gar wunderlich. 13) Besorgt um den Geliebten, will das Mädchen nicht singen, um nicht froh zu scheinen. 14) Klage über Umkehrung der Sitten, daß der Jüngling die Witwe freie, der Alte die Jungfrau. 15) Klage eines Jünglings, daß die Mutter der Tochter zu viel Freiheit gebe. 16) Das Mädchen schilt den Wankelmut der Männer. 17) Vertraulich-frohes Gespräch des Mädchens mit dem Pferde, das ihr seines Herrn Neigung und Absichten verrät. 18) Fluch dem Ungetreuen. 19) Wohlwollen und Sorge. 20) Die Jugend dem Alter vorgezogen; auf gar liebliche Weise. 21) Unterschied von Geschenk und Ring. 22) Hirsch und Wila; die Waldgöttin tröstet den liebekranken Hirsch. 23) Mädchen vergiftet ihren Bruder, um den Liebsten zu erlangen. 24) Mädchen will den Ungeliebten nicht. 25) Die schöne Kellnerin; ihr Geliebter ist nicht mit unter den Gästen. 26) Liebevolle Rast nach Arbeit; sehr schön! es hält Vergleichung aus mit dem Hohenliede. 27) Gebundenes Mädchen, Kapitulation um Erlösung. 28) Zwiefache Verwünschung, ihrer eigenen Augen und des ungetreuen Liebhabers. 29) Vorzug des kleinen Mädchens und sonstiger Kleinheiten. 30) Finden und zartes Aufwecken der Geliebten. 31) Welches Gewerbes wird der Gatte sein? 32) Liebesfreuden verschwatzt. 33) Treu im Tode; vom Grabe aufblühende Pflanzen. 34) Abhaltung; die Fremde fesselt den Bruder, der die Schwester zu besuchen zögert. 35) Der Liebende kommt aus der Fremde, beobachtet sie am Tage, überrascht sie zu Nacht. 36) Im Schnee geht das verlassene Mädchen, fühlt aber nur das erkältete Herz. 37) Drei Mädchen wünschen Ring, Gürtel, den Jüngling; die letzte hat das beste Teil erwählt. 38) Schwur zu entbehren, Reue deshalb. 39) Stille Neigung; höchst schön. 40) Die Vermählte, früher den Wiederkehrenden liebend. 41) Hochzeitanstalten, Überraschung der Braut. 42) Eilig, neckisch. 43) Gehinderte Liebe, verwelkte Herzen. 44) Herzog Stephans Braut hintangesetzt. 45) Welches Denkmal dauert am längsten? 46) Klein und gelehrt. 47) Gatte über alles, über Vater, Mutter und Brüder; an den gerüsteten Gemahl. 48) Tödliche Liebeskrankeit. 49) Nah und versagt. 50) Wen nahm sich das Mädchen zum Vorbild? 51) Mädchen als Fahnenträger. 52) Die gefangene, bald befreite Nachtigall. 53) Serbische Schönheit. 54) Locken wirkt am sichersten. 55) Belgrad in Flammen.

Von der Sprache nunmehr mit wenigem das Nötige zu melden, hat seine besondere Schwierigkeit.

Die slawische teilt sich in zwei Hauptdialekte, den nördlichen und südlichen. Dem ersten gehört das Russische, Polnische, Böhmische, dem letzten fallen Slowenen, Bulgaren und Serben zu.

Die serbische Mundart ist also eine Unterabteilung des südslawischen Dialekts, sie lebt noch in dem Munde von fünf Millionen Menschen und darf unter allen südslawischen für die kräftigste geachtet werden.

Über ihre Vorzüge jedoch waltet in der Nation selbst ein Widerstreit; zwei Parteien stehen gegeneinander, und zwar folgendermaßen.

Die Serben besitzen eine alte Bibelübersetzung aus dem neunten Jahrhundert, geschrieben in einem verwandten Dialekt, dem altpannonischen. Dieser wird nun von der Geistlichkeit und allen, die sich den Wissenschaften widmen, als Sprachgrund und Muster angesehen; sie bedienen sich desselben im Reden, Schreiben und Verhandeln, fördern und begünstigen ihn; dagegen halten sie sich entfernt von der Sprache des Volks, schelten diese als abgeleitet von jenem und als Verderb des echten rechtmäßigen Idioms.

Betrachtet man aber diese Sprache des Volkes genauer, so erscheint sie in ursprünglicher Eigentümlichkeit, von jener im Grunde verschieden und in sich selbst lebendig, allem Ausdruck des tätigsten Wirkens und ebenso poetischer Darstellung genügend. Die in derselben verfaßten Gedichte sind es, von denen wir sprechen, die wir loben, die aber von jenem vornehmern Teil der Nation geringgeschätzt werden; deswegen sie auch niemals aufgeschrieben, noch weniger abgedruckt worden. Daher rührte denn auch die Schwierigkeit, sie zu erlangen, welche viele Jahre unüberwindlich schien, deren Ursache uns aber jetzt erst, da sie gehoben ist, offenbar wird.

Um nun von meinem Verhältnis zu dieser Literatur zu reden, so muß ich vorerst gestehen, daß ich keinen der slawischen Dialekte, ohnerachtet mehrerer Gelegenheiten, mir jemals eigen gemacht noch studiert und also von aller Originalliteratur dieser großen Völkerschaften völlig abgeschlossen blieb, ohne jedoch den Wert ihrer Dichtungen, insofern solche zu mir gelangten, jemals zu verkennen.

Schon sind es funfzig Jahre, daß ich den »Klaggesang der edlen Frauen Asan Agas« übersetzte, der sich in des Abbate Fortis »Reise«, auch von da in den »Morlackischen Notizen« der Gräfin Rosenberg finden ließ. Ich übertrug ihn nach dem beigefügten Französischen, mit Ahnung des Rhythmus und Beachtung der Wortstellung des Originals. Gar manche Sendung erhielt ich auf lebhaftes Anfragen sodann von Gedichten sämtlicher slawischen Sprachen; jedoch nur einzeln sah ich sie vor mir, weder einen Hauptbegriff konnt ich fassen noch die Abteilungen charakteristisch sondern.

Was nun aber die serbischen Gedichte betraf, so blieb ihre Mitteilung aus oben gemeldeter Ursache schwer zu erlangen. Nicht geschrieben, sondern durch mündlichen Vortrag, den ein sehr einfaches Saiteninstrument, Gusle genannt, begleitet, waren sie in dem niedern Kreise der Nation erhalten worden; ja es ereignete sich der Fall, als man in Wien von einigen Serben verlangte, dergleichen Lieder zu diktieren, daß dieses Gesuch abgeschlagen wurde, weil die guten einfachen Menschen sich keinen Begriff machen konnten, wie man ihre kunstlosen, im eigenen Vaterlande von gebildeten Männern verachteten Gesänge einigermaßen hochschätzen könne. Sie fürchteten vielmehr, daß man diese Naturlieder mit einer ausgebildeten deutschen Dichtkunst ungünstig zu vergleichen und dadurch den roheren Zustand ihrer Nation spöttisch kundzugeben gedenke. Von dem Gegenteil und einer ernstlichen Absicht überzeugte man sie durch die Aufmerksamkeit der Deutschen auf jenen »Klaggesang« und mochte denn wohl auch durch gutes Betragen die längst ersehnte Mitteilung, obgleich nur einzeln, hin und wieder erlangen.

Alles dieses war jedoch von keiner Folge, wenn nicht ein tüchtiger Mann, namens Wuk Stephanowitsch Karadschitsch, geboren 1787 und erzogen an der Scheide von Serbien und Bosnien, mit seiner Muttersprache, die auf dem Lande weit reiner als in den Städten geredet wird, frühzeitig vertraut geworden wäre und ihre Volkspoesie liebgewonnen hätte. Er benahm sich mit dem größten Ernst in dieser Sache und gab im Jahre 1814 in Wien eine serbische Grammatik an den Tag und zugleich serbische Volkslieder, hundert an der Zahl. Gleich damals erhielt ich sie mit einer deutschen Übersetzung, auch jener »Trauergesang« fand sich nunmehr im Original; allein wie sehr ich auch die Gabe werthielt, wie sehr sie mich erfreute, so konnt ich doch zu jener Zeit noch zu keinem Überblick gelangen. In Westen hatten sich die Angelegenheiten verwirrt, und die Entwicklung schien auf neue Verwirrung zu deuten; ich hatte mich nach Osten geflüchtet und wohnte in glücklicher Abgeschiedenheit eine Zeitlang entfernt von Westen und Norden.

Nun aber enthüllt sich diese langsam reifende Angelegenheit immer mehr und mehr. Herr Wuk begab sich nach Leipzig, wo er in der Breitkopf-Härtelischen Offizin drei Bände Lieder herausgab, von deren Gehalt oben gesprochen wurde, sodann Grammatik und Wörterbuch hinzufügte, wodurch denn dieses Feld dem Kenner und Liebhaber um vieles zugänglicher geworden.

Auch brachte des werten Mannes Aufenthalt in Deutschland denselben in Berührung mit vorzüglichen Männern. Bibliothekar Grimm in Kassel ergriff mit der Gewandtheit eines Sprachgewaltigen auch das Serbische; er übersetzte die Wukische Grammatik und begabte sie mit einer Vorrede, die unsern obigen Mitteilungen zum Grunde liegt. Wir verdanken ihm bedeutende Übersetzungen, die in Sinn und Silbenmaß jenes Nationelle wiedergeben.

Auch Professor Vater, der gründliche und zuverlässige Forscher, nahm ernstlichen Teil, und so rückt uns dieses bisher fremd gebliebene und gewissermaßen zurückschreckende Studium immer näher.

Auf diesem Punkt nun, wie die Sachen gekommen sind, konnte nichts erfreulicher sein, als daß ein Frauenzimmer von besondern Eigenschaften und Talenten, mit den slawischen Sprachen durch einen frühern Aufenthalt in Rußland nicht unbekannt, ihre Neigung für die serbische entschied, sich mit aufmerksamster Tätigkeit diesem Liederschatz widmete und jener langwierigen Säumnis durch eine reiche Leistung ein Ende machte. Sie übersetzte, ohne äußeren Antrieb, aus innerer Neigung und Gutachten, eine große Masse der vorliegenden Gedichte und wird in einem Oktavband so viel derselben zusammenfassen, als man braucht, um sich mit dieser ausgezeichneten Dichtart hinreichend bekannt zu machen. An einer Einleitung wird’s nicht fehlen, die das, was wir vorläufig hier eingeführt, genauer und umständlicher darlege, um einen wahren Anteil dieser verdienstvollen neuen Erscheinung allgemein zu fördern.

Die deutsche Sprache ist hiezu besonders geeignet; sie schließt sich an die Idiome sämtlich mit Leichtigkeit an, sie entsagt allem Eigensinn und fürchtet nicht, daß man ihr Ungewöhnliches, Unzulässiges vorwerfe; sie weiß sich in Worte, Wortbildungen, Wortfügungen, Redewendungen und was alles zur Grammatik und Rhetorik gehören mag, so wohl zu finden, daß, wenn man auch ihren Autoren bei selbsteignen Produktionen irgendeine seltsamliche Kühnheit vorwerfen möchte, man ihr doch vorgeben wird, sie dürfe sich bei Übersetzung dem Original in jedem Sinne nahe halten.

Und es ist keine Kleinigkeit, wenn eine Sprache dies von sich rühmen darf: denn müssen wir es zwar höchst dankenswert achten, wenn fremde Völkerschaften dasjenige nach ihrer Art sich aneignen, was wir selbst innerhalb unseres Kreises Originelles hervorgebracht, so ist es doch nicht von geringerer Bedeutung, wenn Fremde auch das Ausheimische bei uns zu suchen haben. Wenn uns eine solche Annäherung ohne Affektation wie bisher nach mehrern Seiten hin gelingt, so wird der Ausheimische in kurzer Zeit bei uns zu Markte gehen müssen und die Waren, die er aus der ersten Hand zu nehmen beschwerlich fände, durch unsere Vermittelung empfangen.

Um also nun vom Allgemeinsten ins Besonderste zurückzukehren, dürfen wir ohne Widerrede behaupten: daß die serbischen Lieder sich in deutscher Sprache besonders glücklich ausnehmen. Wir haben mehrere Beispiele vor uns, Wuk Stephanowitsch übersetzte uns zuliebe mehrere derselben wörtlich, Grimm auf seinem Wege war geneigt, sie im Silbenmaße darzustellen; auch Vatern sind wir Dank schuldig, daß er uns das wichtigste Gedicht: die »Hochzeit des Maxim Cernojewitsch« im Auszuge prosaisch näherbrachte, und so verdanken wir denn auch der raschen, unmittelbar einwirkenden Teilnahme unserer Freundin schnell eine weitere Umsicht, die, wie wir hoffen, das Publikum bald mit uns teilen wird.

 
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Nachlese zu Aristoteles’ »Poetik«

Ein jeder, der sich einigermaßen um die Theorie der Dichtkunst überhaupt, besonders aber der Tragödie bekümmert hat, wird sich einer Stelle des Aristoteles erinnern, welche den Auslegern viel Not machte, ohne daß sie sich über ihre Bedeutung völlig hätten verständigen können. In der nähern Bezeichnung der Tragödie nämlich scheint der große Mann von ihr zu verlangen, daß sie durch Darstellung Mitleid und Furcht erregender Handlungen und Ereignisse von den genannten Leidenschaften das Gemüt des Zuschauers reinigen solle.

Meine Gedanken und Überzeugung von gedachter Stelle glaube ich aber am besten durch eine Übersetzung derselben mitteilen zu können.

»Die Tragödie ist die Nachahmung einer bedeutenden und abgeschlossenen Handlung, die eine gewisse Ausdehnung hat und in anmutiger Sprache vorgetragen wird, und zwar von abgesonderten Gestalten, deren jede ihre eigne Rolle spielt, und nicht erzählungsweise von einem Einzelnen; nach einem Verlauf aber von Mitleid und Furcht mit Ausgleichung solcher Leidenschaften ihr Geschäft abschließt.«

Durch vorstehende Übersetzung glaube ich nun die bisher dunkel geachtete Stelle ins klare gesetzt zu sehen und füge nur folgendes hinzu: Wie konnte Aristoteles in seiner jederzeit auf den Gegenstand hinweisenden Art, indem er ganz eigentlich von der Konstruktion des Trauerspiels redet, an die Wirkung und, was mehr ist, an die entfernte Wirkung denken, welche eine Tragödie auf den Zuschauer vielleicht machen würde? Keineswegs! Er spricht ganz klar und richtig aus: wenn sie durch einen Verlauf von Mitleid und Furcht erregenden Mitteln durchgegangen, so müsse sie mit Ausgleichung, mit Versöhnung solcher Leidenschaften zuletzt auf dem Theater ihre Arbeit abschließen.

Er versteht unter Katharsis diese aussöhnende Abrundung, welche eigentlich von allem Drama, ja sogar von allen poetischen Werken gefordert wird.

In der Tragödie geschieht sie durch eine Art Menschenopfer, es mag nun wirklich vollbracht oder unter Einwirkung einer günstigen Gottheit durch ein Surrogat gelöst werden, wie im Falle Abrahams und Agamemnons, genug, eine Söhnung, eine Lösung ist zum Abschluß unerläßlich, wenn die Tragödie ein vollkommenes Dichtwerk sein soll. Diese Lösung aber, durch einen günstigen gewünschten Ausgang bewirkt, nähert sich schon der Mittelgattung, wie die Rückkehr der Alkeste; dagegen im Lustspiel gewöhnlich zu Entwirrung aller Verlegenheiten, welche ganz eigentlich das Geringere von Furcht und Hoffnung sind, die Heirat eintritt, die, wenn sie auch das Leben nicht abschließt, doch darin einen bedeutenden und bedenklichen Abschnitt macht. Niemand will sterben, jedermann heiraten, und darin liegt der halb scherz-, halb ernsthafte Unterschied zwischen Trauer- und Lustspiel israelitischer Ästhetik.

Ferner bemerken wir, daß die Griechen ihre Trilogie zu solchem Zwecke benutzt: denn es gibt wohl keine höhere Katharsis als der »Ödipus von Colonus«, wo ein halbschuldiger Verbrecher, ein Mann, der durch dämonische Konstitution, durch eine düstere Heftigkeit seines Daseins, gerade bei der Großheit seines Charakters, durch immerfort übereilte Tatausübung den ewig unerforschlichen, unbegreiflich folgerechten Gewalten in die Hände rennt, sich selbst und die Seinigen in das tiefste, unherstellbarste Elend stürzt und doch zuletzt noch aussöhnend ausgesöhnt und zum Verwandten der Götter, als segnender Schutzgeist eines Landes eines eignen Opferdienstes wert, erhoben wird.

Hierauf gründet sich nun auch die Maxime des großen Meisters, daß man den Helden der Tragödie weder ganz schuldig noch ganz schuldfrei darstellen müsse. Im ersten Falle wäre die Katharsis bloß stoffartig, und der ermordete Bösewicht z.B. schiene nur der ganz gemeinen Justiz entgangen; im zweiten Falle ist sie nicht möglich: denn dem Schicksal oder dem menschlich Einwirkenden fiele die Schuld einer allzu schweren Ungerechtigkeit zur Last.

Übrigens mag ich bei diesem Anlaß wie bei jedem andern mich nicht gern polemisch benehmen; anzuführen habe ich jedoch, wie man sich mit Auslegung dieser Stelle bisher beholfen. Aristoteles nämlich hatte in der »Politik« ausgesprochen: daß die Musik zu sittlichen Zwecken bei der Erziehung benutzt werden könnte, indem ja durch heilige Melodien die in den Orgien erst aufgeregten Gemüter wieder besänftigt würden und also auch wohl andere Leidenschaften dadurch könnten ins Gleichgewicht gebracht werden. Daß hier von einem analogen Fall die Rede sei, leugnen wir nicht, allein er ist nicht identisch. Die Wirkungen der Musik sind stoffartiger, wie solches Händel in seinem »Alexandersfest« durchgeführt hat und wie wir auf jedem Ball sehen können, wo ein nach sittig-galanter Polonaise aufgespielter Walzer die sämtliche Jugend zu bacchischem Wahnsinn hinreißt.

Die Musik aber, so wenig als irgendeine Kunst, vermag auf Moralität zu wirken, und immer ist es falsch, wenn man solche Leistungen von ihnen verlangt. Philosophie und Religion vermögen dies allein; Pietät und Pflicht müssen aufgeregt werden, und solche Erweckungen werden die Künste nur zufällig veranlassen. Was sie aber vermögen und wirken, das ist eine Milderung roher Sitten, welche aber gar bald in Weichlichkeit ausartet.

Wer nun auf dem Wege einer wahrhaft sittlichen inneren Ausbildung fortschreitet, wird empfinden und gestehen, daß Tragödien und tragische Romane den Geist keineswegs beschwichtigen, sondern das Gemüt und das, was wir das Herz nennen, in Unruhe versetzen und einem vagen, unbestimmten Zustande entgegenführen; diesen liebt die Jugend und ist daher für solche Produktionen leidenschaftlich eingenommen.

Wir kehren zu unserm Anfang zurück und wiederholen: Aristoteles spricht von der Konstruktion der Tragödie, insofern der Dichter, sie als Objekt aufstellend, etwas würdig Anziehendes, Schau- und Hörbares abgeschlossen hervorzubringen denkt.

Hat nun der Dichter an seiner Stelle seine Pflicht erfüllt, einen Knoten bedeutend geknüpft und würdig gelöst, so wird dann dasselbe in dem Geiste des Zuschauers vorgehen; die Verwicklung wird ihn verwirren, die Auflösung aufklären, er aber um nichts gebessert nach Hause gehen: er würde vielmehr, wenn er asketisch-aufmerksam genug wäre, sich über sich selbst verwundern, daß er ebenso leichtsinnig als hartnäckig, ebenso heftig als schwach, ebenso liebevoll als lieblos sich wieder in seiner Wohnung findet, wie er hinausgegangen. Und so glauben wir alles, was diesen Punkt betrifft, gesagt zu haben, wenn sich schon dieses Thema durch weitere Ausführung noch mehr ins klare setzen ließe.

 
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Lorenz Sterne

Es begegnet uns gewöhnlich bei raschem Vorschreiten der literarischen sowohl als humanen Bildung, daß wir vergessen, wem wir die ersten Anregungen, die anfänglichen Einwirkungen schuldig geworden. Was da ist und vorgeht, glauben wir, müsse so sein und geschehen; aber gerade deshalb geraten wir auf Irrwege, weil wir diejenigen aus dem Auge verlieren, die uns auf den rechten Weg geleitet haben. In diesem Sinne mach ich aufmerksam auf einen Mann, der die große Epoche reinerer Menschenkenntnis, edler Duldung, zarter Liebe in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts zuerst angeregt und verbreitet hat.

An diesen Mann, dem ich so viel verdanke, werd ich oft erinnert; auch fällt er mir ein, wenn von Irrtümern und Wahrheiten die Rede ist, die unter den Menschen hin- und widerschwanken. Ein drittes Wort kann man im zarteren Sinne hinzufügen, nämlich Eigenheiten. Denn es gibt gewisse Phänomene der Menschheit, die man mit dieser Benennung am besten ausdrückt; sie sind irrtümlich nach außen, wahrhaft nach innen und, recht betrachtet, psychologisch höchst wichtig. Sie sind das, was das Individuum konstituiert, das Allgemeine wird dadurch spezifiziert, und in dem Allerwunderlichsten blickt immer noch etwas Verstand, Vernunft und Wohlwollen hindurch, das uns anzieht und fesselt.

Gar anmutig hat in diesem Sinne Yorick-Sterne, das Menschliche im Menschen auf das zarteste entdeckend, diese Eigenheiten, insofern sie sich tätig äußern, »ruling passion« genannt. Denn fürwahr, sie sind es, die den Menschen nach einer gewissen Seite hintreiben, in einem folgerechten Gleise weiterschieben und, ohne daß es Nachdenken, Überzeugung, Vorsatz oder Willenskraft bedürfte, immerfort in Leben und Bewegung erhalten. Wie nahe die Gewohnheit hiemit verschwistert sei, fällt sogleich in die Augen: denn sie begünstigt ja die Bequemlichkeit, in welcher unsere Eigenheiten ungestört hinzuschlendern belieben.

 
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Die Zusammenkunft der Naturforscher in Berlin

Wenn wir eine europäische, ja eine allgemeine Weltliteratur zu verkündigen gewagt haben, so heißt dieses nicht, daß die verschiedenen Nationen von einander und ihren Erzeugnissen Kenntnis nehmen, denn in diesem Sinne existiert sie schon lange, setzt sich fort und erneuert sich mehr oder weniger. Nein! hier ist vielmehr davon die Rede, daß die lebendigen und strebenden Literatoren einander kennenlernen und durch Neigung und Gemeinsinn sich veranlaßt finden, gesellschaftlich zu wirken. Dieses wird aber mehr durch Reisende als durch Korrespondenz bewirkt, indem ja persönlicher Gegenwart ganz allein gelingt, das wahre Verhältnis unter Menschen zu bestimmen und zu befestigen.

Schaue man also nicht zu weit umher, sondern erfreue sich zuerst, wenn im Vaterland sich Gesellschaften, und zwar wandernde, von Ort zu Ort sich bewegende Gesellschaften hervortun; weshalb denn uns die Nachricht eines würdigen Freundes von dem letzten in München versammelten Verein der Naturforscher höchst erwünscht gewesen, welche folgendermaßen lautet:

»Am erfreulichsten erscheint bei dieser Anstalt: sie ersetzt uns Deutschen den Mangel einer Hauptstadt, in welcher von Zeit zu Zeit die Naturforscher zusammentreffen könnten, um sich über alles, was dem Fortschreiten der Wissenschaften frommt oder als Hindernis im Wege steht, zu besprechen. Ja es gewähren diese gesellschaftlichen Wanderungen aus einem deutschen Hauptort in den andern noch den größeren Vorteil, daß man in den Sammlungen eines jeden Neues vorfindet und durch Vergleichung des schon Gesehenen von der Richtigkeit der gefaßten wissenschaftlichen Bestimmung überzeugt wird. Größer ist vielleicht noch der Vorteil, daß Menschen, die sonst unerkannt oder wohl gar verkannt durch ihr ganzes Leben nebeneinander einhergegangen wären, sich nun als Wissenschaftsverwandte aufsuchen und ein Verhältnis zueinander gewinnen, statt einander zu bekritteln und schmählustig zu rezensieren. Das Wichtigste endlich ist wohl dies, daß die Staatsmänner, welche durch andre oder persönlich an diesen Versammlungen teilnehmen, zu der Überzeugung gelangen, daß es mit dem redlichen Forschen auch wirklich ehrlich gemeint sei. Die im künftigen Jahre zu Berlin abzuhaltende Versammlung wird wahrscheinlich die Brücke bilden, um aus nördlichen und östlichen Staaten verwandte Naturforscher heranzuziehen. So hätte dann das Wandern abermals einen schönen heilsamen Zweck erreicht. Der Himmel gönne dem wissenschaftlichen Streben in unserm deutschen Vaterland noch lange Friede und Ruhe, so wird sich eine Tätigkeit entfalten, wie sie die Welt nur in einem Jahrhundert, nach Erfindung des Druckes, bei weit geringeren Hülfsmitteln erlebt hat.«

 
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»German romance«

Volumes IV. Edinburgh 1827

Um den Sinn dieses Titels im Deutschen wiederzugeben, müßten wir allenfalls sagen: Musterstücke romantischer, auch märchenhafter Art, ausgewählt aus den Werken deutscher Autoren, welche sich in diesem Fache hervorgetan haben; sie enthalten kleinere und größere Erzählungen von Musäus, Tieck, Hoffmann, Jean Paul Richter und Goethe in freier, anmutiger Sprache. Merkwürdig sind die einem jeden Autor vorgesetzten Notizen, die man so wie die Schillerische Biographie gar wohl rühmen, auch unsern Tagesblättern und – heften zu Übersetzung und Mitteilung, wenn es nicht etwa schon uns unbewußt geschehen ist, empfehlen darf. Die Lebenszustände und – ereignisse sind mit Sorgfalt dargestellt und geben von dem individuellen Charakter eines jeden, von der Einwirkung desselben auf seine Schriften genugsame Vorkenntnis. Hier sowohl wie in der Schillerischen Biographie beweist Herr Carlyle eine ruhige, klare, innige Teilnahme an dem deutschen poetischliterarischen Beginnen; er gibt sich hin an das eigentümliche Bestreben der Nation, er läßt den Einzelnen gelten, jeden an seiner Stelle, und schlichtet hiedurch gewissermaßen den Konflikt, der innerhalb der Literatur irgendeines Volkes unvermeidlich ist. Denn leben und wirken heißt ebensoviel als Partei machen und ergreifen. Niemand ist zu verdenken, wenn er um Platz und Rang kämpft, der ihm seine Existenz sichert und einen Einfluß verschafft, der auf eine glückliche weitere Folge hindeutet.

Trübt sich nun hiedurch der Horizont einer innern Literatur oft viele Jahre lang, der Fremde läßt Staub, Dunst und Nebel sich setzen, zerstreuen und verschwinden und sieht jene fernen Regionen vor sich aufgeklärt mit ihren lichten und beschatteten Stellen, mit einer Gemütsruhe, wie wir in klarer Nacht den Mond zu betrachten gewohnt sind.

Hier nun mögen einige Betrachtungen, vor längerer Zeit niedergeschrieben, eingeschaltet stehen, sollte man auch finden, daß ich mich wiederhole, wenn man nur zugleich gesteht, daß Wiederholung irgend zum Nutzen gereichen könne.

Offenbar ist das Bestreben der besten Dichter und ästhetischen Schriftsteller aller Nationen schon seit geraumer Zeit auf das allgemein Menschliche gerichtet. In jedem Besondern, es sei nun historisch, mythologisch, fabelhaft, mehr oder weniger willkürlich ersonnen, wird man durch Nationalität und Persönlichkeit hin jenes Allgemeine immer mehr durchleuchten und durchscheinen sehen.

Da nun auch im praktischen Lebensgange ein Gleiches obwaltet und durch alles irdisch Rohe, Wilde, Grausame, Falsche, Eigennützige, Lügenhafte sich durchschlingt und überall einige Milde zu verbreiten trachtet, so ist zwar nicht zu hoffen, daß ein allgemeiner Friede dadurch sich einleite, aber doch, daß der unvermeidliche Streit nach und nach läßlicher werde, der Krieg weniger grausam, der Sieg weniger übermütig.

Was nun in den Dichtungen aller Nationen hierauf hindeutet und hinwirkt, dies ist es, was die übrigen sich anzueignen haben. Die Besonderheiten einer jeden muß man kennenlernen, um sie ihr zu lassen, um gerade dadurch mit ihr zu verkehren: denn die Eigenheiten einer Nation sind wie ihre Sprache und ihre Münzsorten, sie erleichtern den Verkehr, ja sie machen ihn erst vollkommen möglich.

Eine wahrhaft allgemeine Duldung wird am sichersten erreicht, wenn man das Besondere der einzelnen Menschen und Völkerschaften auf sich beruhen läßt, bei der Überzeugung jedoch festhält, daß das wahrhaft Verdienstliche sich dadurch auszeichnet, daß es der ganzen Menschheit angehört. Zu einer solchen Vermittelung und wechselseitigen Anerkennung tragen die Deutschen seit langer Zeit schon bei. Wer die deutsche Sprache versteht und studiert, befindet sich auf dem Markte, wo alle Nationen ihre Waren anbieten, er spielt den Dolmetscher, indem er sich selbst bereichert.

Und so ist jeder Übersetzer anzusehen, daß er sich als Vermittler dieses allgemein-geistigen Handels bemüht und den Wechseltausch zu befördern sich zum Geschäft macht. Denn was man auch von der Unzulänglichkeit des Übersetzens sagen mag, so ist und bleibt es doch eines der wichtigsten und würdigsten Geschäfte in dem allgemeinen Weltverkehr.

Der Koran sagt: »Gott hat jedem Volke einen Propheten gegeben in seiner eigenen Sprache.« So ist jeder Übersetzer ein Prophet in seinem Volke. Luthers Bibelübersetzung hat die größten Wirkungen hervorgebracht, wennschon die Kritik daran bis auf den heutigen Tag immerfort bedingt und mäkelt. Und was ist denn das ganze ungeheure Geschäft der Bibelgesellschaft anders, als das Evangelium einem jeden Volke in seine Sprache und Art gebracht zu überliefern?

 
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Erläuterungen zu dem aphoristischen Aufsatz »Die Natur« Die Natur

Fragment
(Aus dem »Tiefurter Journal« 1783)

Natur! Wir sind von ihr umgeben und umschlungen – unvermögend aus ihr herauszutreten, und unvermögend tiefer in sie hineinzukommen. Ungebeten und ungewarnt nimmt sie uns in den Kreislauf ihres Tanzes auf und treibt sich mit uns fort, bis wir ermüdet sind und ihrem Arme entfallen.

Sie schafft ewig neue Gestalten; was da ist war noch nie, was war kommt nicht wieder – Alles ist neu und doch immer das Alte.

Wir leben mitten in ihr und sind ihr fremde. Sie spricht unaufhörlich mit uns und verrät uns ihr Geheimnis nicht. Wir wirken beständig auf sie und haben doch keine Gewalt über sie.

Sie scheint alles auf Individualität angelegt zu haben und macht sich nichts aus den Individuen. Sie baut immer und zerstört immer und ihre Werkstätte ist unzugänglich.

Sie lebt in lauter Kindern, und die Mutter, wo ist sie? – Sie ist die einzige Künstlerin: aus dem simpelsten Stoffe zu den größten Kontrasten: ohne Schein der Anstrengung zu der größten Vollendung – zur genausten Bestimmtheit immer mit etwas Weichem überzogen. Jedes ihrer Werke hat ein eigenes Wesen, jede ihrer Erscheinungen den isoliertesten Begriff und doch macht alles eins aus.

Sie spielt ein Schauspiel: ob sie es selbst sieht, wissen wir nicht, und doch spielt sies für uns, die wir in der Ecke stehen.

Es ist ein ewiges Leben, Werden und Bewegen in ihr und doch rückt sie nicht weiter. Sie verwandelt sich ewig und ist kein Moment Stillestehen in ihr. Fürs Bleiben hat sie keinen Begriff und ihren Fluch hat sie ans Stillestehen gehängt. Sie ist fest. Ihr Tritt ist gemessen, ihre Ausnahmen selten, ihre Gesetze unwandelbar.

Gedacht hat sie und sinnt beständig, aber nicht als ein Mensch, sondern als Natur. Sie hat sieh einen eigenen allumfassenden Sinn vorbehalten, den ihr niemand abmerken kann.

Die Menschen sind all in ihr und sie in allen. Mit allen treibt sie ein freundliches Spiel, und freut sich, je mehr man ihr abgewinnt. Sie treibts mit vielen so im verborgenen, daß sies zu Ende spielt, ehe sies merken.

Auch das Unnatürlichste ist Natur. Wer sie nicht allenthalben sieht, sieht sie nirgendwo recht.

Sie liebet sich selber und haftet ewig mit Augen und Herzen ohne Zahl an sich selbst. Sie hat sich auseinander gesetzt um sich selbst zu genießen. Immer läuft sie neue Genießer erwachsen, unersättlich sich mitzuteilen.

Sie freut sich an der Illusion. Wer diese in sich und andern zerstört, den straft sie als der strengste Tyrann. Wer ihr zutraulich folgt, den druckt sie wie ein Kind an ihr Herz.

Ihre Kinder sind ohne Zahl. Keinem ist sie überall karg, aber sie hat Lieblinge, an die sie viel verschwendet und denen sie viel aufopfert. Ans Große hat sie ihren Schutz geknüpft.

Sie spritzt ihre Geschöpfe aus dem Nichts hervor, und sagt ihnen nicht, woher sie kommen und wohin sie gehen, Sie sollen nur laufen; die Bahn kennt sie.

Sie hat wenige Triebfedern, aber nie abgenutzte, immer wirksam, immer mannigfaltig.

Ihr Schauspiel ist immer neu, weil sie immer neue Zuschauer schafft. Leben ist ihre schönste Erfindung, und der Tod ist ihr Kunstgriff viel Leben zu haben.

Sie hüllt den Menschen in Dumpfheit ein und spornt ihn ewig zum Lichte. Sie macht ihn anhängig zur Erde, träg und schwer und schüttelt ihn immer wieder auf.

Sie gibt Bedürfnisse, weil sie Bewegung liebt. Wunder, laß sie alle diese Bewegung mit so wenigem erreichte. Jedes Bedürfnis ist Wohltat. Schnell befriedigt, schnell wieder erwachsend. Gibt sie eins mehr, so ist’s ein neuer Quell der Lust. Aber sie kommt bald ins Gleichgewicht.

Sie setzt alle Augenblicke zum längsten Lauf an und ist alle Augenblicke am Ziel.

Sie ist die Eitelkeit selbst; aber nicht für uns, denen sie sich zur größten Wichtigkeit gemacht hat.

Sie läßt jedes Kind an sich künsteln, jeden Toren über sich richten, tausend stumpf über sich hingehen und nichts sehen, und hat an allen ihre Freude und findet bei allen ihre Rechnung.

Man gehorcht ihren Gesetzen, auch wenn man ihnen widerstrebt, man wirkt mit ihr, auch wenn man gegen sie wirken mit.

Sie macht alles, was sie gibt, zur Wohltat, denn sie macht es erst unentbehrlich. Sie säumet, daß man sie verlange, sie eilet, daß man sie nicht satt werde.

Sie hat keine Sprache noch Rede, aber sie schafft Zungen und Herzen durch die sie fühlt und spricht.

Ihre Krone ist die Liebe. Nur durch sie kommt man ihr nahe. Sie macht Klüfte zwischen allen Wesen und alles will sich verschlingen. Sie hat alles isolieret um alles zusammenzuziehen. Durch ein paar Züge aus dem Becher der Liebe hält sie für ein Leben voll Mühe schadlos.

Sie ist alles. Sie belohnt sich selbst und bestraft sich selbst, erfreut und quält sich selbst. Sie ist rauh und gelinde, lieblich und schröklich, kraftlos und allgewaltig. Alles ist immer da in ihr. Vergangenheit und Zukunft kennt sie nicht. Gegenwart ist ihr Ewigkeit. Sie ist gütig. Ich preise sie mit allen ihren Werken. Sie ist weise und still. Man reißt ihr keine Erklärung vom Leibe, trutzt ihr kein Geschenk ab, das sie nicht freiwillig gibt. Sie ist listig, aber zu gutem Ziele, und am besten ists, ihre List nicht zu merken.

Sie ist ganz und doch immer unvollendet. So wie sies treibt, kann sies immer treiben.

Jedem erscheint sie in einer eigenen Gestalt. Sie verbirgt sich in tausend Namen und Termen und ist immer dieselbe.

Sie hat mich hereingestellt, sie wird mich auch herausführen. Ich vertraue mich ihr. Sie mag mit mir schalten. Sie wird ihr Werk nicht hassen. Ich sprach nicht von ihr. Nein, was wahr ist und was falsch ist, alles hat sie gesprochen. Alles ist ihre Schuld, alles ist ihr Verdienst.

 
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Goethe an den Kanzler v. Müller

Jener Aufsatz ist mir vor kurzem aus der brieflichen Verlassenschaft der ewig verehrten Herzogin Anna Amalia mitgeteilt worden; er ist von einer wohlbekannten Hand geschrieben, deren ich mich in den achtziger Jahren in meinen Geschäften zu bedienen pflegte.

Daß ich diese Betrachtungen verfaßt, kann ich mich faktisch zwar nicht erinnern, allein sie stimmen mit den Vorstellungen wohl überein, zu denen sich mein Geist damals ausgebildet hatte. Ich möchte die Stufe damaliger Einsicht einen Komparativ nennen, der seine Richtung gegen einen noch nicht erreichten Superlativ zu äußern gedrängt ist. Man sieht die Neigung zu einer Art von Pantheismus, indem den Welterscheinungen ein unerforschliches, unbedingtes, humoristisches, sich selbst widersprechendes Wesen zum Grunde gedacht ist, und mag als Spiel, dem es bitterer Ernst ist, gar wohl gelten.

Die Erfüllung aber, die ihm fehlt, ist die Anschauung der zwei großen Triebräder aller Natur: der Begriff von Polarität und von Steigerung, jene der Materie, insofern wir sie materiell, diese ihr dagegen, insofern wir sie geistig denken, angehörig; jene ist in immerwährendem Anziehen und Abstoßen, diese in immerstrebendem Aufsteigen. Weil aber die Materie nie ohne Geist, der Geist nie ohne Materie existiert und wirksam sein kann, so vermag auch die Materie sich zu steigern, so wie sichs der Geist nicht nehmen läßt, anzuziehen und abzustoßen; wie derjenige nur allein zu denken vermag, der genugsam getrennt hat, um zu verbinden, genugsam verbunden hat, um wieder trennen zu mögen.

In jenen Jahren, wohin gedachter Aufsatz fallen möchte, war ich hauptsächlich mit vergleichender Anatomie beschäftigt und gab mir 1786 unsägliche Mühe, bei anderen an meiner Überzeugung: dem Menschen dürfe der Zwischenknochen nicht abgesprochen werden, Teilnahme zu erregen. Die Wichtigkeit dieser Behauptung wollten selbst sehr gute Köpfe nicht einsehen, die Richtigkeit leugneten die besten Beobachter, und ich mußte, wie in so vielen andern Dingen, im stillen meinen Weg für mich fortgehen.

Die Versatilität der Natur im Pflanzenreiche verfolgte ich unablässig und es glückte mir Anno 1787 in Sizilien die Metamorphose der Pflanzen, so im Anschauen wie im Begriff, zu gewinnen. Die Metamorphose des Tierreichs lag nahe dran und im Jahre 1790 offenbarte sich mir in Venedig der Ursprung des Schädels aus Wirbelknochen; ich verfolgte nun eifriger die Konstruktion des Typus, diktierte das Schema im Jahre 1795 an Max Jacobi in Jena und hatte bald die Freude von deutschen Naturforschern mich in diesem Fache abgelöst zu sehen.

Vergegenwärtigt man sich die hohe Ausführung, durch welche die sämtlichen Naturerscheinungen nach und nach vor dem menschlichen Geiste verkettet worden, und liest alsdann obigen Aufsatz, von dem wir ausgingen, nochmals to mit Bedacht; so wird man nicht ohne Lächeln jenen Komparativ, wie ich ihn nannte, mit dem Superlativ, mit dem hier abgeschlossen wird, vergleichen und eines funfzigjährigen Fortschreitens sich erfreuen.

Weimar, 24. Mai 1828.

 
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Einleitung zu Thomas Carlyle, »Leben Schillers«

Der hochansehnlichen »Gesellschaft für ausländische schöne Literatur«
zu Berlin

Als gegen Ende des vergangenen Jahres ich die angenehme Nachricht erhielt, daß eine mir freundlich bekannte Gesellschaft, welche bisher ihre Aufmerksamkeit inländischer Literatur gewidmet hatte, nunmehr dieselbe auf die ausländische zu wenden gedenke, konnte ich in meiner damaligen Lage nicht ausführlich und gründlich genug darlegen, wie sehr ich ein Unternehmen, bei welchem man auch meiner auf das geneigteste gedacht hatte, zu schätzen wisse.

Selbst mit gegenwärtigem öffentlichen Ausdruck meines dankbaren Anteils geschieht nur fragmentarisch, was ich im bessern Zusammenhang zu überliefern gewünscht hätte. Ich will aber auch das, wie es mir vorliegt, nicht zurückweisen, indem ich meinen Hauptzweck dadurch zu erreichen hoffe, daß ich nämlich meine Freunde mit einem Manne in Berührung bringe, welchen ich unter diejenigen zähle, die in späteren Jahren sich an mich tätig angeschlossen, mich durch eine mitschreitende Teilnahme zum Handeln und Wirken aufgemuntert und, durch ein edles, reines, wohlgerichtetes Bestreben wieder selbst verjüngt, mich, der ich sie heranzog, mit sich fortgezogen haben. Es ist der Verfasser des hier übersetzten Werkes, Herr Thomas Carlyle, ein Schotte, von dessen Tätigkeit und Vorzügen sowie von dessen näheren Zuständen nachstehende Blätter ein mehreres eröffnen werden.

Wie ich denselben und meine Berliner Freunde zu kennen glaube, so wird zwischen ihnen und ihm eine frohe wirksame Verbindung sich einleiten, und beide Teile werden, wie ich hoffen darf, in einer Reihe von Jahren sich dieses Vermächtnisses und seines fruchtbaren Erfolges zusammen erfreuen, so daß ich ein fortdauerndes Andenken, um welches ich hier schließlich bitten möchte, schon, als dauernd gegönnt, mit anmutigen Empfindungen voraus genießen kann.

In treuer Anhänglichkeit und Teilnahme

Weimar, April 1830

J. W. von Goethe

Es ist schon einige Zeit von einer allgemeinen Weltliteratur die Rede, und zwar nicht mit Unrecht: denn die sämtlichen Nationen, in den fürchterlichsten Kriegen durcheinandergeschüttelt, sodann wieder auf sich selbst einzeln zurückgeführt, hatten zu bemerken, daß sie manches Fremde gewahr worden, in sich aufgenommen, bisher unbekannte geistige Bedürfnisse hie und da empfunden. Daraus entstand das Gefühl nachbarlicher Verhältnisse, und anstatt daß man sich bisher zugeschlossen hatte, kam der Geist nach und nach zu dem Verlangen, auch in den mehr oder weniger freien geistigen Handelsverkehr mit aufgenommen zu werden.

Diese Bewegung währt zwar erst eine kurze Weile, aber doch immer lang genug, um schon einige Betrachtungen darüber anzustellen und aus ihr baldmöglichst, wie man es im Warenhandel ja auch tun muß, Vorteil und Genuß zu gewinnen.

Gegenwärtiges, zum Andenken Schillers geschriebene Werk kann, übersetzt, für uns kaum etwas Neues bringen; der Verfasser nahm seine Kenntnisse aus Schriften, die uns längst bekannt sind, so wie denn auch überhaupt die hier verhandelten Angelegenheiten bei uns öfters durchgesprochen und durchgefochten worden.

Was aber den Verehrern Schillers, und also einem jeden Deutschen, wie man kühnlich sagen darf, höchst erfreulich sein muß, ist: unmittelbar zu erfahren, wie ein zartfühlender, strebsamer, einsichtiger Mann über dem Meere in seinen besten Jahren durch Schillers Produktionen berührt, bewegt, erregt und nun zum weitern Studium der deutschen Literatur angetrieben worden.

Mir wenigstens war es rührend zu sehen, wie dieser rein und ruhig denkende Fremde selbst in jenen ersten, oft harten, fast rohen Produktionen unsres verewigten Freundes immer den edlen, wohldenkenden, wohlwollenden Mann gewahr ward und sich ein Ideal des vortrefflichsten Sterblichen an ihm auferbauen konnte.

Ich halte deshalb dafür, daß dieses Werk, als von einem Jüngling geschrieben, der deutschen Jugend zu empfehlen sein möchte; denn wenn ein munteres Lebensalter einen Wunsch haben darf und soll, so ist es der: in allem Geleisteten das Löbliche, Gute, Bildsame, Hochstrebende, genug das Ideelle, und selbst in dem nicht Musterhaften das allgemeine Musterbild der Menschheit zu erblicken.

Ferner kann uns dieses Werk von Bedeutung sein, wenn wir ernstlich betrachten: wie ein fremder Mann die Schillerischen Werke, denen wir so mannigfaltige Kultur verdanken, auch als Quelle der seinigen schätzt, verehrt und dies ohne irgendeine Absicht rein und ruhig zu erkennen gibt.

Eine Bemerkung möchte sodann hier wohl am Platze sein: daß sogar dasjenige, was unter uns beinahe ausgewirkt hat, nun, gerade in dem Augenblicke, welcher auswärts der deutschen Literatur günstig ist, abermals seine kräftige Wirkung beginne und dadurch zeige, wie es auf einer gewissen Stufe der Literatur immer nützlich und wirksam sein werde.

So sind z.B. Herders »Ideen« bei uns dergestalt in die Kenntnisse der ganzen Masse übergegangen, daß nur wenige, die sie lesen, dadurch erst belehrt werden, weil sie durch hundertfache Ableitungen von demjenigen, was damals von großer Bedeutung war, in anderem Zusammenhange schon völlig unterrichtet worden. Dieses Werk ist vor kurzem ins Französische übersetzt; wohl in keiner andern Überzeugung, als daß tausend gebildete Menschen in Frankreich sich immer noch an diesen Ideen zu erbauen haben.

In bezug auf das dem gegenwärtigen Bande vorgesetzte Bild sei folgendes gemeldet: Unser Freund, als wir mit ihm in Verhältnis traten, war damals in Edinburgh wohnhaft, wo er, in der Stille lebend, sich im besten Sinne auszubilden suchte und, wir dürfen es ohne Ruhmredigkeit sagen, in der deutschen Literatur hiezu die meiste Fördernis fand.

Später, um sich selbst und seinen redlichen literarischen Studien unabhängig zu leben, begab er sich, etwa zehen deutsche Meilen südlicher ein eignes Besitztum zu bewohnen und zu benutzen, in die Grafschaft Dumfries. Hier, in einer gebirgigen Gegend, in welcher der Fluß Nith dem nahen Meere zuströmt, ohnfern der Stadt Dumfries, an einer Stelle, welche Craigenputtoch genannt wird, schlug er mit einer schönen und höchst gebildeten Lebensgefährtin seine ländlich einfache Wohnung auf, wovon treue Nachbildungen eigentlich die Veranlassung zu gegenwärtigem Vorworte gegeben haben.

Gebildete Geister, zartfühlende Gemüter, welche nach fernem Guten sich bestreben, in die Ferne Gutes zu wirken geneigt sind, erwehren sich kaum des Wunsches, von geehrten, geliebten, weit abgesonderten Personen das Porträt, sodann die Abbildung ihrer Wohnung sowie der nächsten Zustände sich vor Augen gebracht zu sehen.

Wie oft wiederholt man noch heutigestags die Abbildung von Petrarchs Aufenthalt in Vaucluse, Tassos Wohnung in Sorrent! Und ist nicht immer die Bieler Insel, der Schutzort Rousseaus, ein seinen Verehrern nie genugsam dargestelltes Lokal?

In eben diesem Sinne hab ich mir die Umgebungen meiner entfernten Freunde im Bilde zu verschaffen gesucht, und ich war um so mehr auf die Wohnung Herrn Thomas Carlyles begierig, als er seinen Aufenthalt in einer fast rauhen Gebirgsgegend unter dem 55. Grade gewählt hatte.

Ich glaube, durch solch eine treue Nachbildung der neulich eingesendeten Originalzeichnungen gegenwärtiges Buch zu zieren und dem jetzigen gefühlvollen Leser, vielleicht noch mehr dem künftigen, einen freundlichen Gefallen zu erweisen und dadurch, so wie durch eingeschaltete Auszüge aus den Briefen des werten Mannes, das Interesse an einer edlen allgemeinen Länder- und Weltannäherung zu vermehren.

Thomas Carlyle an Goethe
Craigenputtoch, den 25. September 1828

»Sie forschen mit so warmer Neigung nach unserem gegenwärtigen Aufenthalt und Beschäftigung, daß ich einige Worte hierüber sagen muß, da noch Raum dazu übrigbleibt. Dumfries ist eine artige Stadt mit etwa 15000 Einwohnern und als Mittelpunkt des Handels und der Gerichtsbarkeit anzusehen eines bedeutenden Distrikts in dem schottischen Geschäftskreis. Unser Wohnort ist nicht darin, sondern funfzehn Meilen (zwei Stunden zu reiten) nordwestlich davon entfernt, zwischen den Granitgebirgen und dem schwarzen Moorgefilde, welche sich westwärts durch Galloway meist bis an die Irische See ziehen. In dieser Wüste von Heide und Felsen stellt unser Besitztum eine grüne Oase vor, einen Raum von geackertem, teilweise umzäuntem und geschmücktem Boden, wo Korn reift und Bäume Schatten gewähren, obgleich ringsumher von Seemöwen und hartwolligen Schafen umgeben. Hier, mit nicht geringer Anstrengung, haben wir für uns eine reine, dauerhafte Wohnung erbaut und eingerichtet; hier wohnen wir in Ermangelung einer Lehr- oder andern öffentlichen Stelle, um uns der Literatur zu befleißigen, nach eigenen Kräften uns damit zu beschäftigen. Wir wünschen, daß unsre Rosen und Gartenbüsche fröhlich heranwachsen, hoffen Gesundheit und eine friedliche Gemütsstimmung, um uns zu fördern. Die Rosen sind freilich zum Teil noch zu pflanzen, aber sie blühen doch schon in Hoffnung.

Zwei leichte Pferde, die uns überall hintragen, und die Bergluft sind die besten Ärzte für zarte Nerven. Diese tägliche Bewegung, der ich sehr ergeben bin, ist meine einzige Zerstreuung; denn dieser Winkel ist der einsamste in Britannien, sechs Meilen von einer jeden Person entfernt, die mich allenfalls besuchen möchte. Hier würde sich Rousseau ebensogut gefallen haben als auf seiner Insel Saint-Pierre.

Fürwahr, meine städtischen Freunde schreiben mein Hierhergehen einer ähnlichen Gesinnung zu und weissagen mir nichts Gutes; aber ich zog hierher allein zu dem Zweck, meine Lebensweise zu vereinfachen und eine Unabhängigkeit zu erwerben, damit ich mir selbst treu bleiben könne. Dieser Erdraum ist unser, hier können wir leben, schreiben und denken, wie es uns am besten deucht, und wenn Zoilus selbst König der Literatur werden sollte.

Auch ist die Einsamkeit nicht so bedeutend, eine Lohnkutsche bringt uns leicht nach Edinburgh, das wir als unser britisch Weimar ansehen. Habe ich denn nicht auch gegenwärtig eine ganze Ladung von französischen, deutschen, amerikanischen, englischen Journalen und Zeitschriften, von welchem Wert sie auch sein mögen, auf den Tischen meiner kleinen Bibliothek aufgehäuft!

Auch an altertümlichen Studien fehlt es nicht. Von einigen unsrer Höhen entdeck ich, ohngefähr eine Tagereise westwärts, den Hügel, wo Agricola und seine Römer ein Lager zurückließen; am Fuße desselben war ich geboren, wo Vater und Mutter noch leben, um mich zu lieben. Und so muß man die Zeit wirken lassen. Doch wo gerat ich hin! Lassen Sie mich noch gestehen, ich bin ungewiß über meine künftige literarische Tätigkeit, worüber ich gern Ihr Urteil vernehmen möchte; gewiß schreiben Sie mir wieder und bald, damit ich mich immer mit Ihnen vereint fühlen möge.«

Wir nach allen Seiten hin wohlgesinnten, nach allgemeinster Bildung strebenden Deutschen, wir wissen schon seit vielen Jahren die Verdienste würdiger schottischer Männer zu schätzen. Uns blieb nicht unbekannt was sie früher in den Naturwissenschaften geleistet, woraus denn nachher die Franzosen ein so großes Übergewicht erlangten.

In der neuern Zeit verfehlten wir nicht, den löblichen Einfluß anzuerkennen, den ihre Philosophie auf die Sinnesänderung der Franzosen ausübte, um sie von dem starren Sensualism zu einer geschmeidigern Denkart auf dem Wege des gemeinen Menschenverstandes hinzuleiten. Wir verdankten ihnen gar manche gründliche Einsicht in die wichtigsten Fächer britischer Zustände und Bemühungen.

Dagegen mußten wir vor nicht gar langer Zeit unsre ethisch-ästhetischen Bestrebungen in ihren Zeitschriften auf eine Weise behandelt sehen, wo es zweifelhaft blieb, ob Mangel an Einsicht oder böser Wille dabei obwaltete; ob eine oberflächliche, nicht genug durchdringende Ansicht oder ein widerwilliges Vorurteil im Spiele sei. Dieses Ereignis haben wir jedoch geduldig abgewartet, da uns ja dergleichen im eignen Vaterlande zu ertragen genugsam von jeher auferlegt worden.

In den letzten Jahren jedoch erfreuen uns aus jenen Gegenden die liebevollsten Blicke, welche zu erwidern wir uns verpflichtet fühlen und worauf wir in gegenwärtigen Blättern unsre wohldenkenden Landsleute, insofern es nötig sein sollte, aufmerksam zu machen gedenken.

Herr Thomas Carlyle hatte schon den »Wilhelm Meister« übersetzt und gab sodann vorliegendes »Leben Schillers« im Jahre 1825 heraus.

Im Jahre 1827 erschien »German Romance« in vier Bänden, wo er aus den Erzählungen und Märchen deutscher Schriftsteller, als Musäus, La Motte-Fou qué, Tieck, Hoffmann, Jean Paul und Goethe, heraushob, was er seiner Nation am gemäßesten zu sein glaubte.

Die einer jeden Abteilung vorausgeschickten Nachrichten von dem Leben, den Schriften, der Richtung des genannten Dichters und Schriftstellers geben ein Zeugnis von der einfach-wohlwollenden Weise, wie der Freund sich möglichst von der Persönlichkeit und den Zuständen eines jeden zu unterrichten gesucht und wie er dadurch auf den rechten Weg gelangt, seine Kenntnisse immer mehr zu vervollständigen.

In den Edinburgher Zeitschriften, vorzüglich in denen, welche eigentlich fremder Literatur gewidmet sind, finden sich nun außer den schon genannten deutschen Autoren auch Ernst Schulze, Klingemann, Franz Horn, Zacharias Werner, Graf Platen und manche andere von verschiedenen Referenten, am meisten aber von unserm Freunde beurteilt und eingeführt.

Höchst wichtig ist, bei dieser Gelegenheit zu bemerken, daß sie eigentlich ein jedes Werk nur zum Text und Gelegenheit nehmen, um über das eigentliche Feld und Fach sowie alsdann über das besondere Individuelle ihre Gedanken zu eröffnen und ihr Gutachten meisterhaft abzuschließen.

Diese »Edinburgh Reviews«, sie seien dem Innern und Allgemeinen oder den auswärtigen Literaturen besonders gewidmet, haben Freunde der Wissenschaften aufmerksam zu beachten: denn es ist höchst merkwürdig, wie der gründlichste Ernst mit der freisten Übersicht, ein strenger Patriotismus mit einem einfachen reinen Freisinn in diesen Vorträgen sich gepaart findet.

Genießen wir nun von dort in demjenigen, was uns hier so nah angeht, eine reine einfache Teilnahme an unsern ethisch-ästhetischen Bestrebungen, welche für einen besondern Charakterzug der Deutschen gelten können, so haben wir uns gleichfalls nach dem umzusehen, was ihnen dort von dieser Art eigentlich am Herzen liegt. Wir nennen hier gleich den Namen Burns, von welchem ein Schreiben des Herrn Carlyle folgende Stelle enthält:

»Das einzige einigermaßen Bedeutende, was ich seit meinem Hiersein schrieb, ist ein Versuch über Burns. Vielleicht habt ihr niemals von diesem Mann gehört, und doch war er einer der entschiedensten Genies, aber in der tiefsten Klasse der Landleute geboren und durch die Verwicklungen sonderbarer Lagen zuletzt jammervoll zugrunde gerichtet, so daß, was er wirkte, verhältnismäßig geringfügig ist; er starb in der Mitte der Mannsjahre (1796).

Wir Engländer, besonders wir Schottländer, lieben Burns mehr als irgendeinen Dichter seit Jahrhunderten. Oft war ich von der Bemerkung betroffen, er sei wenig Monate vor Schiller in dem Jahr 1759 geboren, und keiner dieser beiden habe jemals des andern Namen vernommen. Sie glänzten als Sterne in entgegengesetzten Hemisphären, oder, wenn man will, eine trübe Erdatmosphäre fing ihr gegenseitiges Licht auf.«

Mehr jedoch, als unser Freund vermuten mochte, war uns Robert Burns bekannt; das allerliebste Gedicht »John Barley-Corn« war anonym zu uns gekommen, und verdienterweise geschätzt, veranlaßte solches manche Versuche, unsrer Sprache es anzueignen. Hans Gerstenkorn, ein wackerer Mann, hat viele Feinde, die ihn unablässig verfolgen und beschädigen, ja zuletzt gar zu vernichten drohen. Aus allen diesen Unbilden geht er aber doch am Ende triumphierend hervor, besonders zu Heil und Fröhlichkeit der leidenschaftlichen Biertrinker. Gerade in diesem heitern genialischen Anthropomorphismus zeigt sich Burns als wahrhaften Dichter.

Auf weitere Nachforschung fanden wir dieses Gedicht in der Ausgabe seiner poetischen Werke von 1822, welcher eine Skizze seines Lebens voransteht, die uns wenigstens von den Äußerlichkeiten seiner Zustände bis auf einen gewissen Grad belehrte. Was wir von seinen Gedichten uns zueignen konnten, überzeugte uns von seinem außerordentlichen Talent, und wir bedauerten, daß uns die schottische Sprache gerade da hinderlich war, wo er des reinsten, natürlichsten Ausdrucks sich gewiß bemächtigt hatte. Im ganzen jedoch haben wir unsre Studien so weit geführt, daß wir die nachstehende rühmliche Darstellung auch als unsrer Überzeugung gemäß unterschreiben können.

Inwiefern übrigens unser Burns auch in Deutschland bekannt sei, mehr als das Konversationslexikon von ihm überliefert, wüßte ich, als der neuen literarischen Bewegungen in Deutschland unkundig, nicht zu sagen; auf alle Fälle jedoch gedenke ich die Freunde auswärtiger Literatur auf die kürzesten Wege zu weisen: »The Life of Robert Burns. By J. G. Lockhart«. Edinburgh 1828, rezensiert von unserm Freunde im »Edinburgh Review«, Dezember 1828.

Nachfolgende Stellen, daraus übersetzt, werden den Wunsch, das Ganze und den genannten Mann auf jede Weise zu kennen, hoffentlich lebhaft erregen.

»Burns war in einem höchst prosaischen Zeitalter, dergleichen Britannien nur je erlebt hatte, geboren, in den allerungünstigsten Verhältnissen, wo sein Geist, nach hoher Bildung strebend, ihr unter dem Druck täglich harter körperlicher Arbeit nachzuringen hatte, ja unter Mangel und trostlosesten Aussichten auf die Zukunft; ohne Fördernis als die Begriffe, wie sie in eines armen Mannes Hütte wohnen, und allenfalls die Reime von Ferguson und Ramsay als das Panier der Schönheit aufgesteckt. Aber unter diesen Lasten versinkt er nicht; durch Nebel und Finsternis einer so düstern Region entdeckt sein Adlerauge die richtigen Verhältnisse der Welt und des Menschenlebens, er wächst an geistiger Kraft und drängt sich mit Gewalt zu verständiger Erfahrung. Angetrieben durch die unwiderstehliche Regsamkeit seines inneren Geistes, strauchelt er vorwärts und zu allgemeinen Ansichten, und mit stolzer Bescheidenheit reicht er uns die Frucht seiner Bemühungen, eine Gabe dar, welche nunmehr durch die Zeit als unvergänglich anerkannt worden.

Ein wahrer Dichter, ein Mann, in dessen Herzen die Anlage eines reinen Wissens keimt, die Töne himmlischer Melodien vorklingen, ist die köstlichste Gabe, die einem Zeitalter mag verliehen werden. Wir sehen in ihm eine freiere, reinere Entwicklung alles dessen, was in uns das Edelste zu nennen ist; sein Leben ist uns ein reicher Unterricht, und wir betrauern seinen Tod als eines Wohltäters der uns liebte sowie belehrte.

Solch eine Gabe hat die Natur in ihrer Güte uns an Robert Burns gegönnt; aber mit allzu vornehmer Gleichgültigkeit warf sie ihn aus der Hand als ein Wesen ohne Bedeutung. Es war entstellt und zerstört, ehe wir es anerkannten, ein ungünstiger Stern hatte dem Jüngling die Gewalt gegeben, das menschliche Dasein ehrwürdiger zu machen, aber ihm war eine weisliche Führung seines eigenen nicht geworden. Das Geschick – denn so müssen wir in unserer Beschränktheit reden –, seine Fehler, die Fehler der andern lasteten zu schwer auf ihm, und dieser Geist, der sich erhoben hätte, wäre es ihm nur zu wandern geglückt, sank in den Staub, seine herrlichen Fähigkeiten wurden in der Blüte mit Füßen getreten. Er starb, wir dürfen wohl sagen, ohne jemals gelebt zu haben. Und so eine freundlich warme Seele, so voll von eingebornen Reichtümern, solcher Liebe zu allen lebendigen und leblosen Dingen! Das späte Tausendschönchen fällt nicht unbemerkt unter seine Pflugschar, sowenig als das wohlversorgte Nest der furchtsamen Feldmaus, das er hervorwühlt. Der wilde Anblick des Winters ergötzt ihn; mit einer trüben, oft wiederkehrenden Zärtlichkeit verweilt er in diesen ernsten Szenen der Verwüstung; aber die Stimme des Windes wird ein Psalm in seinem Ohr; wie gern mag er in den sausenden Wäldern dahinwandern: denn er fühlt seine Gedanken erhoben zu dem, der auf den Schwingen des Windes einherschreitet. Eine wahre Poetenseele! sie darf nur berührt werden, und ihr Klang ist Musik.

Welch ein warmes allumfassendes Gleichheitsgefühl! Welche vertrauensvolle grenzenlose Liebe! Welch edelmütiges Überschätzen des geliebten Gegenstandes! Der Bauer, sein Freund, sein nußbraunes Mädchen sind nicht länger gering und dörfisch, Held vielmehr und Königin; er rühmt sie als gleich würdig des Höchsten auf der Erde. Die rauhen Szenen schottischen Lebens sieht er nicht im arkadischen Lichte, aber in dem Rauche, in dem unebenen Tennenboden einer solchen rohen Wirtlichkeit findet er noch immer Liebenswürdiges genug. Armut fürwahr ist sein Gefährte, aber auch Liebe und Mut zugleich; die einfachen Gefühle, der Wert, der Edelsinn, welche unter dem Strohdach wohnen, sind lieb und ehrwürdig seinem Herzen. Und so über die niedrigsten Regionen des menschlichen Daseins ergießt er die Glorie seines eigenen Gemüts, und sie steigen, durch Schatten und Sonnenschein gesänftigt und verherrlicht, zu einer Schönheit, welche sonst die Menschen kaum in dem Höchsten erblicken.

Hat er auch ein Selbstbewußtsein, welches oft in Stolz ausartet, so ist es ein edler Stolz, um abzuwehren, nicht um anzugreifen, kein kaltes mißlaunisches Gefühl, ein freies und geselliges. Dieser poetische Landmann beträgt sich, möchten wir sagen, wie ein König in der Verbannung; er ist unter die Niedrigsten gedrängt und fühlt sich gleich den Höchsten; er verlangt keinen Rang, damit man ihm keinen streitig mache. Den Zudringlichen kann er abstoßen, den Stolzen demütigen, Vorurteil auf Reichtum oder Altgeschlecht haben bei ihm keinen Wert. In diesem dunklen Auge ist ein Feuer, woran sich eine abwürdigende Herablassung nicht wagen darf; in seiner Erniedrigung, in der äußersten Not vergißt er nicht für einen Augenblick die Majestät der Poesie und Mannheit. Und doch, so hoch er sich über gewöhnlichen Menschen fühlt, sondert er sich nicht von ihnen ab, mit Wärme nimmt er an ihrem Interesse teil, ja er wirft sich in ihre Arme, und wie sie auch seien, bittet er um ihre Liebe. Es ist rührend zu sehen, wie in den düstersten Zuständen dieses stolze Wesen in der Freundschaft Hülfe sucht und oft seinen Busen dem Unwürdigen aufschließt, oft unter Tränen an sein glühendes Herz ein Herz andrückt, das Freundschaft nur als Namen kennt. Doch war er scharf- und schnellsichtig, ein Mann vom durchdringendsten Blick, vor welchem gemeine Verstellung sich nicht bergen konnte. Sein Verstand sah durch die Tiefen des vollkommensten Betrügers, und zugleich war eine großmütige Leichtgläubigkeit in seinem Herzen. So zeigte sich dieser Landmann unter uns: eine Seele wie Äolsharfe, deren Saiten, vom gemeinsten Winde berührt, ihn zu gesetzlicher Melodie verwandelten. Und ein solcher Mann war es, für den die Welt kein schicklicher Geschäft zu finden wußte, als sich mit Schmugglern und Schenken herumzuzanken, Akzise auf den Talg zu berechnen und Bierfässer zu visieren. In solchem Abmühen ward dieser mächtige Geist kummervoll vergeudet, und hundert Jahre mögen vorübergehen, eh uns ein gleicher gegeben wird, um vielleicht ihn abermals zu vergeuden.«

Und wie wir den Deutschen zu ihrem Schiller Glück wünschen, so wollen wir in eben diesem Sinne auch die Schottländer segnen. Haben diese jedoch unserm Freunde so viel Aufmerksamkeit und Teilnahme erwiesen, so wär es billig, daß wir auf gleiche Weise ihren Burns bei uns einführten. Ein junges Mitglied der hochachtbaren Gesellschaft, der wir Gegenwärtiges im ganzen empfohlen haben, wird Zeit und Mühe höchlich belohnt sehen, wenn er diesen freundlichen Gegendienst einer so verehrungswürdigen Nation zu leisten den Entschluß fassen und das Geschäft treulich durchführen will. Auch wir rechnen den belobten Robert Burns zu den ersten Dichtergeistern, welche das vergangene Jahrhundert hervorgebracht hat.

Im Jahr 1829 kam uns ein sehr sauber und augenfällig gedrucktes Oktavbändchen zur Hand: »Catalogue of German Publications, Selected and Systematically Arranged for W. H. Koller and Jul. Cahlmann. London.«

Dieses Büchlein, mit besonderer Kenntnis der deutschen Literatur in einer die Übersicht erleichternden Methode verfaßt, macht demjenigen, der es ausgearbeitet, und den Buchhändlern Ehre, welche ernstlich das bedeutende Geschäft übernehmen, eine fremde Literatur in ihr Vaterland einzuführen, und zwar so, daß man in allen Fächern übersehen könne, was dort geleistet worden, um sowohl den gelehrten, den denkenden Leser als auch den fühlenden und Unterhaltung suchenden anzulocken und zu befriedigen. Neugierig wird jeder deutsche Schriftsteller und Literator der sich in irgendeinem Fache hervorgetan, diesen Katalog aufschlagen, um zu forschen: ob denn auch seiner darin gedacht, seine Werke mit andern verwandten freundlich aufgenommen worden. Allen deutschen Buchhändlern wird es angelegen sein zu erfahren: wie man ihren Verlag über dem Kanal betrachte, welchen Preis man auf das Einzelne setze, und sie werden nichts verabsäumen, um mit jenen die Angelegenheit so ernsthaft angreifenden Männern in Verhältnis zu kommen und dasselbe immerfort lebendig zu erhalten.

Wenn ich nun aber das von unserm schottischen Freunde vor so viel Jahren verfaßte »Leben Schillers«, auf das er mit einer ihm so wohl anstehenden Bescheidenheit zurücksieht, hiedurch einleite und gegenwärtig an den Tag fördere, so erlaube er mir, einige seiner neusten Äußerungen hinzuzufügen, welche die bisherigen gemeinsamen Fortschritte am besten deutlich machen möchten.

Thomas Carlyle an Goethe
Den 22. Dezember 1829

»Ich habe zu nicht geringer Befriedigung zum zweiten Male den Briefwechsel gelesen und sende heute einen darauf gegründeten Aufsatz über Schiller ab für das ›Foreign Review‹. Es wird Ihnen angenehm sein zu hören, daß die Kenntnis und Schätzung der auswärtigen, besonders der deutschen Literatur sich mit wachsender Schnelle verbreitet, so weit die englische Zunge herrscht, so daß bei den Antipoden, selbst in Neuholland, die Weisen Ihres Landes ihre Weisheit predigen. Ich habe kürzlich gehört, daß sogar in Oxford und Cambridge, unsern beiden englischen Universitäten, die bis jetzt als die Haltpunkte der insularischen eigentümlichen Beharrlichkeit sind betrachtet worden, es sich in solchen Dingen zu regen anfängt. Ihr Niebuhr hat in Cambridge einen geschickten Übersetzer gefunden, und in Oxford haben zwei bis drei Deutsche schon hinlängliche Beschäftigung als Lehrer ihrer Sprache. Das neue Licht mag für gewisse Augen zu stark sein; jedoch kann niemand an den guten Folgen zweifeln, die am Ende daraus hervorgehen werden. Laßt Nationen wie Individuen sich nur einander kennen, und der gegenseitige Haß wird sich in gegenseitige Hülfleistung verwandeln, und anstatt natürlicher Feinde, wie benachbarte Länder zuweilen genannt sind, werden wir alle natürliche Freunde sein.«

Wenn uns nach allem diesem nun die Hoffnung schmeichelt, eine Übereinstimmung der Nationen, ein allgemeineres Wohlwollen werde sich durch nähere Kenntnis der verschiedenen Sprachen und Denkweisen nach und nach erzeugen, so wage ich von einem bedeutenden Einfluß der deutschen Literatur zu sprechen, welcher sich in einem besondern Falle höchst wirksam erweisen möchte.

Es ist nämlich bekannt genug, daß die Bewohner der drei britischen Königreiche nicht gerade in dem besten Einverständnisse leben, sondern daß vielmehr ein Nachbar an dem andern genugsam zu tadeln findet, um eine heimliche Abneigung bei sich zu rechtfertigen.

Nun aber bin ich überzeugt, daß, wie die deutsche ethisch-ästhetische Literatur durch das dreifache Britannien sich verbreitet, zugleich auch eine stille Gemeinschaft von Philogermanen sich bilden werde, welche in der Neigung zu einer vierten, so nah verwandten Völkerschaft auch untereinander als vereinigt und verschmolzen sich empfinden werden.

 
 * 

Wohlgemeinte Erwiderung

Nur allzu oft werden mir von jungen Männern deutsche Gedichte zugesendet mit dem Wunsch: ich möge sie nicht allein beurteilen, sondern auch über den eigentlichen dichterischen Beruf des Verfassers meine Gedanken eröffnen. Sosehr ich aber dieses Zutrauen anzuerkennen habe, bleibt es doch im einzelnen Falle unmöglich, das Gehörige schriftlich zu erwidern, welches mündlich auszusprechen schon schwierig genug sein würde. Im allgemeinen jedoch kommen diese Sendungen bis auf einen gewissen Grad überein, so daß ich mich entschließen mag, für die Zukunft einiges hier auszusprechen.

Die deutsche Sprache ist auf einen so hohen Grad der Ausbildung gelangt, daß einem jeden in die Hand gegeben ist, sowohl in Prosa als in Rhythmen und Reimen sich dem Gegenstande wie der Empfindung gemäß nach seinem Vermögen glücklich auszudrücken. Hieraus erfolgt nun, daß ein jeder, welcher durch Hören und Lesen sich auf einen gewissen Grad gebildet hat, wo er sich selbst gewissermaßen deutlich wird, [sich] also bald gedrängt fühlt, seine Gedanken und Urteile, sein Erkennen und Fühlen mit einer gewissen Leichtigkeit aussprechen.

Schwer, vielleicht unmöglich wird es aber dem Jüngeren, einzusehen, daß hiedurch im höhern Sinne noch wenig getan ist. Betrachtet man solche Erzeugnisse genau, so wird alles, was im Innern vorgeht, alles, was sich auf die Person selbst bezieht, mehr oder weniger gelungen sein, und manches auf einen so hohen Grad, daß es so tief als klar und so sicher als anmutig ausgesprochen ist. Alles Allgemeine, das höchste Wesen wie das Vaterland, die grenzenlose Natur so wie ihre einzelnen unschätzbaren Erscheinungen überraschen uns in einzelnen Gedichten junger Männer, woran wir den sittlichen Wert nicht verkennen dürfen und die Ausführung lobenswürdig finden müssen.

Hierinne liegt aber gerade das Bedenkliche: denn viele, die auf demselben Wege gehn, werden sich zusammengesellen und eine freudige Wanderung zusammen antreten, ohne sich zu prüfen, ob nicht ihr Ziel allzu fern im Blauen liege.

Denn leider hat ein wohlwollender Beobachter gar bald zu bemerken, daß ein inneres jugendliches Behagen auf einmal abnimmt, Trauer über verschwundene Freuden, Schmachten nach dem Verlornen, Sehnsucht nach dem Ungekannten, Unerreichbaren, Mißmut, Invektiven gegen Hindernisse jeder Art, Kampf gegen Mißgunst, Neid und Verfolgung die klare Quelle trübt, und die heitere Gesellschaft vereinzelt und zerstreut sich in misanthropische Eremiten.

Wie schwer ist es daher, dem Talente jeder Art und jedes Grades begreiflich zu machen: daß die Muse das Leben zwar gern begleitet, aber es keineswegs zu leiten versteht. Wenn wir beim Eintritt in das tätige und kräftige, mitunter unerfreuliche Leben, wo wir uns alle, wie wir sind, als abhängig von einem großen Ganzen empfinden müssen, alle früheren Träume, Wünsche, Hoffnungen und die Behaglichkeiten früherer Märchen zurückfordern, da entfernt sich die Muse und sucht die Gesellschaft des heiter Entsagenden, sich leicht Wiederherstellenden auf, der jeder Jahrszeit etwas abzugewinnen weiß, der Eisbahn wie dem Rosengarten die gehörige Zeit gönnt, seine eignen Leiden beschwichtigt und um sich her recht emsig forscht, wo er irgendein Leiden zu lindern, Freude zu fördern Gelegenheit findet.

Keine Jahre trennen ihn sodann von den holden Göttinnen, die, wenn sie sich der befangenen Unschuld erfreuen, auch der umsichtigen Klugheit gerne zur Seite stehen, dort das hoffnungsvolle Werden im Keim begünstigen, hier eines Vollendeten in seiner ganzen Entwicklung sich freuen. Und so sei mir erlaubt, diese Herzensergießung mit einem Reimwort zu schließen:

Jüngling, merke dir in Zeiten,

Wo sich Geist und Sinn erhöht:

Daß die Muse zu begleiten,

Doch zu leiten nicht versteht.

 
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Ein Wort für junge Dichter

Unser Meister ist derjenige, unter dessen Anleitung wir uns in einer Kunst fortwährend üben und welcher uns, wie wir nach und nach zur Fertigkeit gelangen, stufenweise die Grundsätze mitteilt, nach welchen handelnd wir das ersehnte Ziel am sichersten erreichen.

In solchem Sinne war ich Meister von niemand. Wenn ich aber aussprechen soll, was ich den Deutschen überhaupt, besonders den jungen Dichtern geworden bin, so darf ich mich wohl ihren Befreier nennen; denn sie sind an mir gewahr geworden, daß, wie der Mensch von innen heraus leben, der Künstler von innen heraus wirken müsse, indem er, gebärde er sich, wie er will, immer nur sein Individuum zutage fördern wird.

Geht er dabei frisch und froh zu Werke, so manifestiert er gewiß den Wert seines Lebens, die Hoheit oder Anmut, vielleicht auch die anmutige Hoheit, die ihm von der Natur verliehen war.

Ich kann übrigens recht gut bemerken, auf wen ich in dieser Art gewirkt; es entspringt daraus gewissermaßen eine Naturdichtung, und nur auf diese Art ist es möglich, Original zu sein.

Glücklicherweise steht unsere Poesie im Technischen so hoch, das Verdienst eines würdigen Gehalts liegt so klar am Tag, daß wir wundersam erfreuliche Erscheinungen auftreten sehen. Dieses kann immer noch besser werden, und niemand weiß, wohin es führen mag; nur freilich muß jeder sich selbst kennenlernen, sich selbst zu beurteilen wissen, weil hier kein fremder äußerer Maßstab zu Hülfe zu nehmen ist.

Worauf aber alles ankommt, sei in kurzem gesagt. Der junge Dichter spreche nur aus, was lebt und fortwirkt, unter welcherlei Gestalt es auch sein möge; er beseitige streng allen Widergeist, alles Mißwollen, Mißreden und was nur verneinen kann: denn dabei kommt nichts heraus.

Ich kann es meinen jungen Freunden nicht ernst genug empfehlen, daß sie sich selbst beobachten müssen, auf daß bei einer gewissen Fazilität des rhythmischen Ausdrucks sie doch auch immer an Gehalt mehr und mehr gewinnen.

Poetischer Gehalt aber ist Gehalt des eigenen Lebens; den kann uns niemand geben, vielleicht verdüstern, aber nicht verkümmern. Alles was Eitelkeit, das heißt Selbstgefälliges ohne Fundament ist, wird schlimmer als jemals behandelt werden.

Sich frei zu erklären ist eine große Anmaßung; denn man erklärt zugleich, daß man sich selbst beherrschen wolle, und wer vermag das? Zu meinen Freunden, den jungen Dichtern, sprech ich hierüber folgendermaßen: Ihr habt jetzt eigentlich keine Norm, und die müßt ihr euch selbst geben; fragt euch nur bei jedem Gedicht, ob es ein Erlebtes enthalte und ob dies Erlebte euch gefördert habe.

Ihr seid nicht gefördert, wenn ihr eine Geliebte, die ihr durch Entfernung, Untreue, Tod verloren habt, immerfort betrauert. Das ist gar nichts wert, und wenn ihr noch soviel Geschick und Talent dabei aufopfert.

Man halte sich ans fortschreitende Leben und prüfe sich bei Gelegenheiten; denn da beweist sich’s im Augenblick, ob wir lebendig sind, und bei späterer Betrachtung, ob wir lebendig waren.

 
 * 

Epochen geselliger Bildung

I

In einer mehr oder weniger rohen Masse entstehen enge Kreise; die Verhältnisse sind die intimsten, man vertraut nur dem Freunde, man singt nur der Geliebten, alles hat ein häusliches Familienansehn. Die Zirkel schließen sich ab nach außen und müssen es tun, weil sie in dem rohen Elemente ihre Existenz zu sichern haben. Sie halten daher auch mit Vorliebe auf die Muttersprache, man nennte mit Recht diese Epoche

die idyllische.

II

Die engen Kreise vermehren sich und dehnen sich zugleich weiter aus, die innere Zirkulation wird lebhafter, den fremden Sprachen verweigert man die Einwirkung nicht, die Kreise bleiben abgesondert, aber nähern sich und lassen einander gewähren. Ich würde diese Epoche nennen

die soziale oder zivische.

III

Endlich vermehren sich die Kreise und dehnen sich von innen immer mehr aus, dergestalt, daß sie sich berühren und ein Verschmelzen vorbereiten. Sie begreifen, daß ihre Wünsche, ihre Absichten dieselben sind, aber sie können die Scheidegrenzen nicht auflösen. Sie mag einstweilen heißen

die allgemeinere.

IV

Daß sie aber universell werde, dazu gehört Glück und Gunst, deren wir uns gegenwärtig rühmen können. Denn da wir jene Epochen seit vielen Jahren treulich durchgefördert, so gehört ein höherer Einfluß dazu, das zu bewirken, was wir heute erleben: die Vereinigung aller gebildeten Kreise, die sich sonst nur berührten, die Anerkennung eines Zwecks, die Überzeugung, wie notwendig es sei, sich von den Zuständen des augenblicklichen Weltlaufs im realen und idealen Sinne zu unterrichten. Alle fremde Literaturen setzen sich mit der einheimischen ins gleiche, und wir bleiben im Weltumlaufe nicht zurück. Diese Darstellung möchte wohl den herzlichsten Dank und die redlichste Panegyrik den hohen Begünstigenden aussprechen.

s[alvo] m[eliori]

Weimar, den 25. April 1831

J. W. v. Goethe

 
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Sämtliche Werke
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