Johann Wolfgang Goethe
Wilhelm Meisters
theatralische
Sendung
entstanden 1777-85, veröffentlicht 1911
Erstes Buch
Erstes Kapitel
Es war einige Tage vor dem Christabend 174-, als Benedikt Meister, Bürger und Handelsmann zu M-, einer mittleren Reichsstadt, aus seinem gewöhnlichen Kränzchen abends gegen achte nach Hause ging. Es hatte sich wider die Gewohnheit die Tarockpartie früher geendigt, und es war ihm nicht ganz gelegen, daß er so zeitlich in seine vier Wände zurückkehren sollte, die ihm seine Frau eben nicht zum Paradiese machte. Es war noch Zeit bis zum Nachtessen, und so einen Zwischenraum pflegte sie ihm nicht mit Annehmlichkeiten auszufüllen, deswegen er lieber nicht ehe zu Tische kam, als wenn die Suppe schon etwas überkocht hatte.
Er ging langsam und dachte so dem Bürgermeisteramte nach, das er das letzte Jahr geführt hatte, und dem Handel und den kleinen Vorteilen, als er eben im Vorbeigehen seiner Mutter Fenster sehr emsig erleuchtet sah. Das alte Weib lebte, nachdem sie ihren Sohn ausgestattet und ihm ihre Handlung übergeben hatte, in einem kleinen Häuschen zurückgezogen, wo sie nun vor sich allein mit einer Magd bei ihren reichlichen Renten sich wohlbefand, ihren Kindern und Enkeln mitunter was zugute tat, ihnen aber das Beste bis nach ihrem Tode aufhub, wo sie hoffte, daß sie gescheuter sein sollten, als sie bei ihrem Leben nicht hatte sehen können. Meister war durch einen geheimen Zug nach dem Hause geführt, da ihm, als er angepocht hatte, die Magd hastig und geheimnisvoll die Türe öffnete und ihn zur Treppe hinauf begleitete. Er fand, als er zur Stubentüre hineintrat, seine Mutter an einem großen Tische mit Wegräumen und Zudecken beschäftigt, die ihm auf seinen „Guten Abend“ mit einem „Du kommst mir nicht ganz gelegen“ antwortete. „Weil du nun einmal da bist, so magst du’s wissen, da sieh, was ich zurechtmache“, sagte sie und hob die Servietten auf, die übers Bett geschlagen waren, und tat zugleich einen Pelzmantel weg, den sie in der Eile übern Tisch gebreitet hatte, da nun denn der Mann eine Anzahl spannenlanger, artig gekleideter Puppen erblickte, die in schöner Ordnung, die beweglichen Drähte an den Köpfen befestigt, nebeneinander lagen und nur den Geist zu erwarten schienen, der sie aus ihrer Untätigkeit regen sollte. „Was gibt denn das, Mutter?“ sagte Meister. „Einen heiligen Christ vor deine Kinder!“ antwortete die Alte, „wenn’s ihnen so viel Spaß macht als mir, eh ich sie fertig kriegte, soll mir’s lieb sein.“ Er besah’s eine Zeitlang, wie es schien, sorgfältig, um ihr nicht gleich den Verdruß zu machen, als hielte er ihre Arbeit vergeblich. „Liebe Mutter“, sagte er endlich, „Kinder sind Kinder, Sie macht sich zu viel zu schaffen, und am Ende seh ich nicht, was es nutzen soll.“ – „Sei nur stille“, sagte die Alte, indem sie die Kleider der Puppen, die sich etwas verschoben hatten, zurechtrückte, „laß es nur gut sein, sie werden eine rechte Freude haben, es ist so hergebracht bei mir, und das weißt du auch, und ich lasse nicht davon; wie ihr klein, wart ihr immer drin vergackelt und trugt euch mit euern Spiel- und Naschsachen herum die ganze Feiertage; euere Kinder sollen’s nun auch so wohl haben, ich bin Großmutter und weiß, was ich zu tun habe.“ – „Ich will Ihr’s nicht verderben“, sagte Meister, „ich denke nur; was soll den Kindern, daß man’s ihnen heut oder morgen gibt; wenn sie was brauchen, so geb ich’s ihnen, was braucht’s da Heiliger Christ zu? Da sind Leute, die lassen ihre Kinder verlumpen und sparen’s bis auf den Tag.“ – „Benedikt“, sagte die Alte, „ich habe ihnen Puppen geputzt und habe ihnen eine Komödie zurechtegemacht, Kinder müssen Komödien haben und Puppen. Es war euch auch in eurer Jugend so, ihr habt mich um manchen Batzen gebracht, um den Doktor Faust und das Mohrenballett zu sehen; ich weiß nun nicht, was ihr mit euern Kindern wollt und warum ihnen nicht so gut werden soll wie euch.“
„Wer ist denn das?“ sagte Meister, indem er eine Puppe aufhub. „Verwirrt mir die Drähte nicht“, sagte die Alte, „es ist mehr Mühe, als Ihr denkt, bis man’s so zusammenkriegt. Seht nur, das da ist König Saul. Ihr müßt nicht denken, daß ich was umsonst ausgebe; was Läppchen sind, die hab ich all in meinem Kasten, und das bißchen falsch Silber und Gold, das drauf ist, das kann ich wohl dran wenden.“ – „Die Püppchen sind recht hübsch“, sagte Meister. „Das denk ich“, lächelte die Alte, „und kosten doch nicht viel. Der alte, lahme Bildhauer Merks, der mir Interessen schuldig ist von seinem Häuschen so lang, hat mir Hände, Füße und Gesichter ausschneiden müssen, kein Geld krieg ich doch nicht von ihm und vertreiben kann ich ihn nicht, er sitzt schon seit meinem seligen Mann her und hat immer richtig eingehalten bis zu seiner zwoten, unglücklichen Heurat.“ – „Dieser in schwarzem Samt und der goldenen Krone, das ist Saul?“ fragte Meister; „wer sind denn die andern?“ – „Das solltest du so sehen“, sagte die Mutter. „Das hier ist Jonathan, der hat Gelb und Rot, weil er jung ist und flatterig, und hat einen Turban auf. Der oben ist Samuel, der hat mir am meisten Mühe gemacht mit dem Brustschildchen. Sieh den Leibrock, das ist ein schieler Taft, den ich auch noch als Jungfer getragen habe.“ – „Gute Nacht“, sagte Meister, „es schlägt just achte.“ – „Sieh nur noch den David!“ sagte die Alte. „Ah, der ist schön, der ist ganz geschnitzt und hat rote Haare; sieh, wie klein er ist und hübsch.“ – „Wo ist denn nun der Goliath?“ sagte Meister; „der wird doch nun auch kommen.“ – „Der ist noch nicht fertig“, sagte die Alte. „Das muß ein Meisterstück werden. Wenn’s. nur erst alles fertig ist. Das Theater macht mir der Konstabler-Lieutenant fertig mit seinem Bruder; und hinten zum Tanz, da sind Schäfer und Schäferinnen, Mohren und Mohrinnen, Zwerge und Zwerginnen, es wird recht hübsch werden! Laß es nur gut sein und sag zu Hause nichts davon und mach nur, daß dein Wilhelm nicht hergelaufen kommt; der wird eine rechte Freude haben, denn ich denk’s noch, wie ich ihn die letzte Messe ins Puppenspiel schickte, was er mir alles erzählt hat und wie er’s begriffen hat.“ – „Sie gibt sich zu viel Mühe“, sagte Meister, indem er nach der Türe griff. „Wenn man sich um der Kinder willen keine Mühe gäbe, wie wärt ihr groß geworden?“ sagte die Großmutter.
Die Magd nahm ein Licht und führt’ ihn hinunter. –
Zweites Kapitel
Der Christabend nahte heran in seiner vollen Feierlichkeit. Die Kinder liefen den ganzen Tag herum und standen am Fenster in ängstlicher Erwartung, daß es nicht Nacht werden wollte. Endlich rief man sie, und sie traten in die Stube, wo jedem sein wohlerleuchtetes Anteil zu höchstem Erstaunen angewiesen ward. Jeder hatte von dem Seinigen Besitz genommen und war nach einem Zeitlang Angaffen im Begriff, es in eine Ecke und in seine Gewahrsam zu bringen, als ein unerwartetes Schauspiel sich vor ihren Augen auftat. Eine Tür, die aus einem Nebenzimmer hereinging, öffnete sich, allein nicht wie sonst zum Hin- und Widerlaufen; der Eingang war durch eine unerwartete Festlichkeit ausgefüllt, ein grüner Teppich, der über einem Tisch herabhing, bedeckte fest angeschlossen den untern Teil der Öffnung, von da auf baute sich ein Portal in die Höhe, das mit einem mystischen Vorhang verschlossen war, und was von da auf die Türe noch zu hoch sein mochte, bedeckte ein Stück dunkelgrünes Zeug und beschloß das Ganze. Erst standen sie alle von fern, und wie ihre Neugierde größer wurde, um zu sehen, was Blinkendes sich hinter dem Vorhang verbergen möchte, wies man jedem sein Stühlchen an und gebot ihnen freundlich, in Geduld zu erwarten. Wilhelm war der einzige, der in ehrerbietiger Entfernung stehen blieb und sich’s zwei-, dreimal von seiner Großmutter sagen ließ, bis er auch sein Plätzchen einnahm. So saß nun alles und war still, und mit dem Pfiff rollte der Vorhang in die Höhe und zeigte eine hochrot gemalte Aussicht in den Tempel. Der Hohepriester Samuel erschien mit Jonathan, und ihre wechselnde Stimmen vergeisterten ganz ihre kleine Zuschauer. Endlich trat Saul auf in großer Verlegenheit über die Impertinenz, womit der schwerlötige Kerl ihn und die Seinigen ausgefordert hatte – wie wohl ward’s da unserm Wilhelm, der alle Worte abpaßte und bei allem zugegen war, als der zwerggestaltete, raupigte Sohn Isai mit seinem Schäferstab und Hirtentasche und Schleuder hervortrat und sprach: „Großmächtigster König und Herr Herr! es entfalle keinem der Mut um dessentwillen; wenn Ihro Majestät mir erlauben wollen, so will ich hingehen und mit dem gewaltigen Riesen in den Streit treten.“ Dieser Aktus endigte sich. Die übrigen Kleinen waren alle vergackelt, Wilhelm allein erwartete das Folgende und sann drauf; er war unruhig, den großen Riesen zu sehen, und wie alles ablaufen würde.
Der Vorhang ging wieder auf. David weihte das Fleisch des Ungeheuers den Vögeln unter dem Himmel und den Tieren auf dem Felde. Der Philister sprach Hohn, stampfte viel mit beiden Füßen, fiel endlich wie ein Klotz und gab der ganzen Sache einen herrlichen Ausschlag. Wie dann nachher die Jungfrauen sungen: „Saul hat tausend geschlagen, David aber zehentausend“, und der Kopf des Riesen vor dem kleinen Überwinder hergetragen wurde und er davor die schöne Königstochter zur Gemahlin kriegte, verdroß es Wilhelmen doch bei aller Freude, daß der Glücksprinz so zwergenmäßig gebildet wäre. Denn nach der Idee vom großen Goliath und kleinen David hatte die liebe Großmutter nichts verfehlt, um beide recht charakteristisch zu machen. Die dumpfe Aufmerksamkeit der übrigen Geschwister dauerte ununterbrochen fort, Wilhelm aber geriet in eine Nachdenklichkeit, darüber er das Ballett von Mohren und Mohrinnen, Schäfern und Schäferinnen, Zwergen und Zwerginnen nur wie im Schatten vor sich hingaukeln sah. Der Vorhang fiel zu, die Türe schloß sich, und die ganze kleine Gesellschaft war wie betrunken taumelnd und begierig, ins Bett zu kommen; nur Wilhelm, der aus Gesellschaft mit mußte, lag allein, dunkel über das Vergangene nachdenkend, unbefriedigt in seinem Vergnügen, voller Hoffnungen, Drang und Ahndung.
Drittes Kapitel
Den andern Tag war eben alles wieder verschwunden, der mystische Schleier war aufgehoben, man ging durch diese Türe wieder frei aus einer Stube in die andre, aus der abends vorher so viel Abenteuer geleuchtet hatten. Die übrigen liefen mit ihren Spielsachen auf und ab, Wilhelm allein schlich hin und her, als wenn er eine verlorne Liebe suchte, als wenn er’s fast unmöglich glaubte, daß da nur zwei Türpfosten sein sollten, wo gestern so viel Zauberei gewesen war. Er bat seine Mutter, sie möchte es ihm doch wieder spielen lassen, von der er eine harte Antwort bekam, weil sie keine Freude an dem Spaße, den die Großmutter ihren Enkeln machte, haben konnte, da dieses ihr einen Vorwurf ihrer Unmütterlichkeit zu machen schien. Es ist mir leid, daß ich es sagen muß, indes ist es wahr, daß diese Frau, die von ihrem Manne fünf Kinder hatte, zwei Söhne und drei Töchter, wovon Wilhelm der Älteste war, noch in ihren ältern Jahren eine Leidenschaft für einen abgeschmackten Menschen kriegte, die ihr Mann gewahr wurde, nicht ausstehen konnte und worüber Nachlässigkeit, Verdruß und Hader sich in den Haushalt einschlich; daß, wäre der Mann nicht ein redlicher, treuer Bürger und seine Mutter eine gutdenkende, billige Frau gewesen, schimpflicher Ehe- und Scheidungsprozeß die Familie entehrt hätte. Die armen Kinder waren am übelsten dran; denn wie sonst so ein hülfloses Geschöpf, wenn der Vater unfreundlich ist, sich zu der Mutter flüchtet, so kamen sie hier von der andern Seite doppelt übel an, denn die Mutter hatte in ihrer Unbefriedigung meistens auch üble Launen, und wenn sie die nicht hatte, so schimpfte sie doch wenigstens auf den Alten und freute sich, eine Gelegenheit zu finden, wo sie seine Härte, seine Rauhigkeit, sein übles Betragen heraussetzen konnte. Wilhelmen schmerzte das etlichemal, er verlangte nur Schutz gegen seinen Vater und Trost, wenn er ihm übel begegnet war; aber daß man ihn verkleinerte, konnte er nicht leiden, daß man seine Klagen als Zeugnisse gegen einen Mann mißdeutete, den er im Grunde des Herzens recht liebhatte. Er kriegte dadurch eine Entfremdung gegen seine Mutter und war daher recht übel dran, weil sein Vater auch ein harter Mann war; daß ihm also nichts übrigblieb, als sich in sich selbst zu verkriechen, ein Schicksal, das bei Kindern und Alten von großen Folgen ist.
Viertes Kapitel
Wilhelm hatte in seiner Kindlichkeit eine Zeitlang hingelebt, manchmal an jenen glücklichen Weihnachtsabend überhin gedacht, immer gerne Bilder gesehen, Feen- und Heldengeschichten gelesen, als die Großmutter, die doch auch so viel Mühe nicht umsonst wollte gehabt haben, bei dem langüberlegten Besuch einiger Nachbarskinder veranlassete, daß das Puppenspiel wieder aufgeschlagen und wieder gegeben wurde.
Hatte Wilhelm das erstemal die Freude der Überraschung und des Staunens, so hatte er zum zweiten die Wollust des Aufmerkens und Forschens. Wie das zuginge, war jetzo sein Anliegen. Daß die Puppen nicht selbst redeten, das hatte er sich das erstemal schon gesagt; daß sie sich nicht von selbst bewegten, darüber ließ er sich nicht vexieren; aber warum das alles doch so hübsch war und es doch so aussah, als wenn sie selbst redeten und sich bewegten, warum man so gerne zusah und wo die Lichter und die Leute sein möchten, das war ihm ein Rätsel, das ihn um desto mehr beunruhigte, je mehr er wünschte, zugleich unter den Bezauberten und Zauberern zu sein, zugleich seine Hände verdeckt im Spiel zu haben und als Zuschauer ebendie Freude zu genießen, die er und die übrige Kinder empfingen. Das Stück war bald zu Ende und wieder am Tanz, als er sich listig der Hülle zu nähern suchte. Kaum war der Vorhang gefallen, man war unaufmerksam, und er hörte inwendig am Klappern, daß man mit Aufräumen beschäftigt sei, so hub er den untern Teppich auf und guckte zwischen den Tischbeinen weg. Eine Magd bemerkte es haußen und zog ihn zurück, allein er hatte doch so viel gesehen, daß man Freunde und Feinde, Saul und Goliath, Mohren und Zwerge in einen Schiebkasten packte, und das war seiner halbbefriedigten Neugierde frische Nahrung. So wie in gewissen Zeiten die Kinder auf den Unterschied der Geschlechter aufmerksam werden und ihnen Blicke durch die Hüllen, die diese Geheimnisse verbergen, gar wunderbare Bewegungen in ihrer Natur hervorbringen, so war’s Wilhelmen mit dieser Entdeckung; er war ruhiger und unruhiger als vorher, deuchte sich, daß er was erfahren hätte, und spürte eben daran, daß er gar nichts wisse.
Fünftes Kapitel
Die Kinder haben in einem wohleingerichteten und geordneten Hause eine Empfindung, wie ungefähr Ratten und Mäuse haben mögen, sie sind aufmerksam auf alle Ritze und Löcher, wo sie zu einem verbotenen Naschwerke gelangen können; sie genießen’s mit einer verstohlenen, wollüstigen Furcht, und ich glaube, daß dieses ein großer Teil des kindischen Glücks ist. Wilhelm war vor allen seinen Geschwistern aufmerksam, wenn irgend ein Schlüssel steckenblieb. Je größer die Ehrfurcht war, die er für die verschloßnen Türen in seinem Herzen herumtrug, an denen er wochen- und monatelang vorbeigehen mußte und in die er nur manchmal, wenn die Mutter das Heiligtum öffnete, um was herauszuholen, einen verstohlnen Blick tun durfte, desto schneller war er, einen Augenblick zu benutzen, den ihn die Nachlässigkcit der Wirtschafterin manchmal treffen ließ. Unter allen Türen war, wie man leicht erachten kann, die Türe der Speisekammer diejenige, auf die seine Sinnen am schärfsten gerichtet waren. Wenig ahndungsvolle Freuden des Lebens glichen der Empfindung, wenn ihn seine Mutter manchmal hereinrufte, um ihr etwas heraustragen zu helfen, und er dann einige gedörrte Pflaumen entweder ihrer Güte oder seiner List zu danken hatte. Die aufgehäufte Schätze übereinander umfingen seine Einbildungskraft mit ihrer Fülle, und selbst der unangenehme Geruch von so mancherlei Ausdünstungen durcheinander, als da sind: Seife, Licht, Zitronen und mancherlei alte und neue Büchsen, hatte so eine leckere Wirkung auf ihn, daß er niemals versäumte, sooft er in der Nähe war, sich an der eröffneten Atmosphäre auf einige Schritte wenigstens von ferne zu weiden. Dieser merkwürdige Schlüssel blieb einen Sonntagmorgen, da seine Mutter von dem Geläute übereilt ward und das ganze Haus in einer tiefen Sabbatstille lag, stecken. Kaum hatte es Wilhelm bemerkt, als er etlichemal sachte davor auf- und abging, sich endlich still und fein andrängte, die Türe öffnete und sich mit einem Schritt in der Nähe so vieler langgewünschter Glückseligkeit fühlte. Er besah Kästen, Säcke, Schachteln, Büchsen, Gläser mit einem schnellen, zweifelnden Blick, was er wählen und nehmen sollte, grift endlich nach den vielgeliebten dürren Pflaumen, versah sich mit einigen getrockneten Äpfeln und nahm genügsam noch eine eingemachte Pomeranzenschale dazu, mit welcher Beute er seinen Weg wieder rückwärtsglitschen wollte, als ihm ein paar nebeneinander stehende Kasten in die Augen fielen, aus deren einem ein paar Drähte, oben mit Häkchen versehen, durch den übel verschlossenen Schieber heraushingen. Ahndungsvoll fiel er darüber her, und mit welcher überirdischen Empfindung entdeckte er, daß darinnen seine Helden- und Freudenwelt aufeinandergepackt sei. Er wollte die obersten aufheben, betrachten, die untersten hervorziehen, allein gar bald verwirrte er die leichten Drähte, kam darüber in Unruh und Bangigkeit, besonders da er die Köchin in der benachbarten Küche einige Bewegung machen hörte, daß er alles, so gut er konnte, zusammendrückte, seinen Kasten zuschob und nur ein geschriebenes Büchelchen, darin die Komödie von David und Goliath aufgezeichnet war und das obenauf gelegen hatte, zu sich steckte und sich mit dieser Beute leise die Treppe hinauf in eine Dachkammer rettete. –
Von der Zeit an wandte er alle verstohlene, einsame Stunden drauf, sein Schauspiel hin und wider zu lesen, es auswendig zu lernen und sich in Gedanken vorzustellen, wie herrlich es sein müßte, wenn er auch die Gestalten dazu mit seinen Fingern beleben könnte; er ward darüber in seinen Gedanken selbst zum David und zum Goliath, spielte beide wechselsweise vor sich allein, und ich kann im Vorbeigehen nicht unbemerkt lassen, was vor einen magischen Eindruck Böden, Ställe und heimliche Gemächer auf die Kinder zu machen pflegen, wo sie, von dem Druck ihrer Lehrer befreit, sich fast ganz allein selbst genießen, eine Empfindung, die sich in spätern Jahren langsam verliert und manchmal wiederkehrt, wenn die Orte unsaubrer Notwendigkeit eine geheime Kanzlei für unglücklich Liebende abgeben müssen. An solchen Orten und unter solchen Umständen studierte Wilhelm das Stück ganz in sich hinein, ergriff alle Rollen und lernte sie auswendig, nur daß er sich meist an den Platz der Haupthelden zu setzen pflegte und die übrigen wie Trabanten nur im Gedächtnis so mitlaufen ließ. So lagen ihm die großmütige Reden Davids, mit denen er den übermütigen Riesen Goliath herausfoderte, Tag und Nacht im Sinn, er murmelte sie oft vor sich hin, niemand gab acht drauf, als daß sein Vater, der es hier und da bemerkte, bei sich selbst das gute Gedächtnis des Knaben pries, der von so wenigem Zuhören so mancherlei habe behalten können.
Sechstes Kapitel
An einem Abend, als die Großmutter ihren Wilhelm zu sich berufen hatte und er in großer Stille bei ihr saß und aus Zeraten sich mancherlei Gestalten zusammenformte, stellte er endlich auch einen Goliath und David auf und ließ sie gegeneinander gar trefflich perorieren, da denn am Ende Goliath einen derben Stoß bekam, daß die wächsernen Füße von dem Tische sich lösten und er in seiner Länge dalag. Sein Kopf wurde sogleich vom Rumpfe gesondert, der kleinen Heuschrecke auf einer Stecknadel mit wächsernem Griff in die Hand gegeben, und so weiter ein Dankpsalm angestimmt. Die Alte saß ganz verzaubert, hörte ihrem Enkel mit Erstaunen zu, und wie er fertig war, ging’s an ein Loben und Fragen, woher er diese Geschicklichkeit habe. Er hatte zwar eine ziemliche Gabe zu lügen, aber dabei ein reines Gefühl, wo er nicht zu lügen nötig habe. Er gestund seiner guten Großmutter, daß er im Besitz des Büchelchens sei, bat sie aber inständig, ihn dabei zu schützen und ihn nicht zu verraten, weil er’s gewiß nicht verderben noch verlieren wollte. Die Alte versprach’s ihm, und mit dem mündlichen Versprechen tat sie ihm und eigentlich sich selbst noch eins, daß sie den Vater dahin bewegen wolle, seinen Sohn vor irgendeiner Kinderversammlung in Gesellschaft des Artillerie-Lieutenants das große Drama selbst aufführen zu lassen. Sie verbot also Wilhelmen, weiter nichts von der Sache zu erwähnen, und machte sich wenige Tage drauf an die Unterhandlung und fand einige Schwierigkeiten. Die vorzüglichste davon war, daß ihr Sohn durch das anhaltende üble Betragen seiner Frau in die unangenehmste Gemütsverfassung versetzt war. Die ganze Sorge des Handels lag auf ihm, und sein Weib, anstatt das zu erkennen und wieder auf eine andre Weise förderlich zu sein, war sie die erste, ihn im Unglück aufzureiben, seine Handlungen zu mißdeuten, seine Fehler zu vergrößern und sein Gutes nicht zu erkennen; das gab bei seiner angebornen bürgerlichen Tätigkeit ein trauriges Mittelgefühl von vergebenem Streben und Arbeiten, wie es die Verdammten in der Hölle haben sollen. Und wenn er seine Kinder nicht gehabt hätte, auf die ein Blick ihm nicht manchmal wieder Mut und Überzeugung, daß er doch für etwas in der Welt arbeite, gegeben hätte, so wäre ihm nicht möglich gewesen, es auszuhalten. In solcher Stimmung verliert der Mensch ganz allen Sinn für die Kinderfreuden, die auch eigentlich zu erfinden und anzuwenden nicht des Vaters, sondern der Mutter Sache ist, und ist dann diese ein Unhold, so bleibt der armen Familie in ihren seligsten Jahren gar wenig Trost. Dieser Trost war ihnen hier die Großmutter. Sie wußte es denn doch so einzurichten, daß man ein paar Kammern, in denen nichts als Schränke stunden, im dritten Stock, dazu hergab, wo in der einen wieder die Zuschauer sitzen, in der andern die Schauspieler sein und die Aussicht des Theaters wie gewöhnlich die Öffnung der Türe ausfüllen sollte.
Der Alte hatte der Großmutter das alles zu veranstalten erlaubt; er selbst schien nur durch die Finger zu sehen, denn er hatte den Grundsatz, daß man den Kindern nicht müsse merken lassen, wie lieb man sie habe, sie griffen immer zu weit um sich, man müsse bei ihren Freuden ernst scheinen und sie ihnen manchmal verderben, damit sie nicht in das Übermaß fielen.
Siebentes Kapitel
Der Artillerie-Lieutenant, der ein Pate der Großmutter war, ward nunmehr beordert, das Theater aufzuschlagen und das übrige zu besorgen. Wilhelm merkte es wohl, da er die Woche verschiedentlich zu ungewöhnlicher Zeit ins Haus kam. Seine Begierde wuchs nur, da er wohl fühlte, daß er vor Sonnabend keinen Teil dran nehmen durfte. Endlich erschien der gewünschte Samstag. Abends fünf Uhr kam der Artillerie-Lieutenant und nahm Wilhelmen mit hinauf. Mit zitternder Freude trat er mit herein und erblickte auf beiden Seiten des Gestells die herabhangenden Puppen in der Ordnung, wie sie auftreten sollten; er betrachtete sie sorgfältig, stieg auf den Tritt, der ihn über das Theater erhub, daß er über seiner kleinen Welt schwebte; er sah nicht ohne Ehrfurcht zwischen die Brettchen hinunter, weil noch die Erinnerung, welch herrliche Wirkung es von außen tue, und das Gefühl, in welche Geheimnisse er eingeweihet sei, ihn umfaßte. Sie machten einen Versuch, und es ging trefflich.
Den andern Tag, da eine Gesellschaft Kinder geladen war, desgleichen, außer daß Wilhelm in dem Feuer der Aktion seinen Jonathan fallen ließ und er genötigt war, mit der Hand hinunterzugreifen und ihn zu holen, das denn die Illusion sehr unterbrach, ein großes Gelächter verursachte und ihn unsäglich kränkte. Auch schien dieser Fehler dem Vater sehr willkommen zu sein, der zwar in sich das größte Vergnügen fühlte, sein Söhnchen so fähig zu sehen, es aber wohlbedächtlich nicht an den Tag gab, nach geendigtem Stück sich gleich an die Fehler hing und sagte, es wäre recht artig gewesen, wenn nur dies oder das nicht versagt hätte. Unsern Prinzen kränkte das innig, er ward traurig für den Abend, hatte es aber den kommenden Morgen schon wieder verschlafen und ward in dem Gedanken selig, daß er außer dem Unglück trefflich gespielt habe; und es war dies nicht Eigendünkel, denn er hatte kein Muster vor sich als den Lieutenant, gegen das er sich messen konnte, der zwar in Abwechslung der groben und reinen Stimme ein Ziemliches getan hatte, hergegen aber auch affektiert: und steif perorierte, wenn man bei Wilhelmen eine gute, treue, mutige Seele in den Hauptstellen durchsah, wie zum Exempel die Aufforderung Goliaths war und die Bescheidenheit, womit er nach dem Siege vor dem König erschien.
Achtes Kapitel
G’nug, das Theater blieb aufgeschlagen, und da es nun die hübsche Frühlingszeit war und man ohne Feuer bestehen konnte, lag Wilhelm seine Frei- und Spielstunden in der Kammer und ließ die Puppen wacker durcheinanderspielen. Oft lud er seine Geschwister und Kameraden hinauf, öfter aber noch war er allein. Seine Einbildungskraft und seine Lebhaftigkeit brüteten über der kleinen Welt, die so gar bald eine andere Gestalt gewinnen mußte. Er hatte kaum das erste Stück, wozu das Theater und die Akteurs geschaffen und gestempelt waren, etlichemal aufgeführet, als es ihm keine Freude mehr machte. Er hatte unter den Büchern seines Vaters die „Teutsche Schaubühne“ und verschiedene italienisch-teutsche Opern gefunden, in die er sich sehr vertiefte und jedesmal gleich vorne die Personen überrechnete und das Stück aufführte. Da mußte nun König Saul in seinem schwarzen Samtkleide den Chaumigrem, Cato und Darius spielen, wobei zu bemerken ist, daß die Stücke niemals ganz, sondern meistenteils nur die fünften Akte, wo’s an ein Totstechen ging, aufgeführet wurden. Es konnte auch nicht fehlen, daß ihn die Oper mit ihren mannigfaltigen Veränderungen und Abenteuren mehr anzog. Er fand darin stürmische Meere, Götter, die in Wolken herabkommen, und, was ihn vorzüglich glücklich machte, Blitz und Donner. Er half sich da mit Pappe, Farbe und Papier, wußte gar trefflich Nacht zu machen, der Blitz war fürchterlich anzusehen, nur der Donner gelang nicht immer, doch das hatte so viel nicht zu sagen. Auch fand sich in den Opern mehr Gelegenheit, seinen David und Goliath anzubringen, welches im regelmäßigen Drama gar nicht angehen wollte. Er fühlte täglich mehr Anhänglichkeit für das enge Plätzchen, wo er so mannigfaltige Freude genoß, und ich kann nicht unbemerkt lassen, daß der Geruch, den die Puppen aus der Speisekammer an sich gezogen hatten, nicht wenig dazu beitrug. Das Theater war nun in ziemlicher Vollkommenheit, und daß er von Jugend auf ein Geschick gehabt hatte, mit dem Zirkel ein bißchen umzugehen und Pappe auszuschneiden und zu illuminieren, kam ihm jetzt wohl zustatten, und nun tat’s ihm um desto weher, daß ihn gar oft seine Personen an Ausführung großer Sachen hinderten. Seine Schwestern, die er ihre Puppen aus- und einkleiden sah, erregten in ihm den Gedanken, seinen Helden auch bewegliche Kleider nach und nach zu verschaffen. Man trennte ihnen also die Läppchen vom Leibe, setzte sie, so gut man konnte, zusammen, sparte sich etwas Geld, kaufte sich neues Band und Flintern, bettelte sich manches Stück Taft zusammen und schaffte sich nach und nach eine neue Theatergarderobe, wo besonders die Reifröcke für die Damen nicht vergessen waren. Er war wirklich nun für das größte Stück versehen, und man hätte denken sollen, es würde nun erst recht an ein Spielen gehen, aber es ging ihm, wie’s den Kindern öfters zu gehen pflegt, sie fassen weite Plane, machen große Anstalten, auch wohl einige Versuche, und es bleibt alles zusammen liegen. Mit Wilhelmen war’s vollkommen so, die größte Freude lag bei ihm nur in der Erfindung und in der Einbildungskraft; dies oder jenes Stück interessierte ihn um irgendeiner Szene willen, er ließ gleich wieder ein neu Kleid dazu machen. Über diese Wirtschaft waren die Kleidungsstücke, die sie ursprünglich anhatten, in Unordnung geraten und verschleppt worden, daß also nicht einmal das erste Stück mehr gut aufgeführt werden konnte. Die Großmutter hütete aus Alter und Schwächlichkeit das Bette, niemand im Haus gab weiter Achtung drauf, so daß in kurzer Zeit das Theater in große Unordnung geriet. Wilhelm überließ sich seiner Phantasie, probierte und bereitete ewig, ohne was zustande zu bringen, baute tausend Luftschlösser und spürte nicht, daß er noch keinen Grund zum ersten gelegt hatte.
Neuntes Kapitel
Die übrige Zerstreuungen der Jugend, da seine Gespanschaft sich zu vermehren anfing, taten auch dem einsamen, stillen Vergnügen Eintrag. Er war wechselsweise mit ihnen bald Jäger, bald Soldat, bald Reuter, wie es die Eigenschaft der Spiele mit sich brachte, doch hatte er immer darin einen Vorzug vor den andern, daß er imstande war, ihnen die nötigen Gerätschaften schicklich auszubilden. So waren die Schwerter meistens aus seiner Fabrik, er verzierte und verguldete die Schlitten, und aus einem geheimen Instinkt und alter Anhänglichkeit kam er bald drauf, ihre Miliz ins Antike umzuschaffen. Es wurden Helme verfertigt mit papiernen Büschen, Schilde, sogar Harnische wurden gemacht, Arbeiten, bei denen die Bedienten im Hause, die etwa Schneider waren, und die Nähterinnen manche Nadel zerbrachen. Einen Teil seiner jungen Gesellen sah er nun wohlgeschmückt vor sich, die übrige, weniger bedeutende wurden auch nach und nach, doch geringer ausstaffiert, und es war ein ganz stattliches Chor beisammen; sie marschierten in Höfen und Gärten, schlugen sich brav auf die Schilde und auf die Köpfe, es gab manche Mißheiligkeit, die Wilhelm bald beizulegen suchte. Dieses Spiel, was die andern sehr unterhielt, war kaum etlichemal getrieben worden, als es Wilhelmen schon nicht mehr befriedigte. Der Anblick so vieler gerüsteter Gestalten mußte ihm notwendig die Ritterideen aufreizen, die seit einiger Zeit, da er ins Lesen alter Romanen gefallen war, seinen Kopf ausfülleten. „Das befreite Jerusalem“, davon er Koppens Übersetzung in die Hände gekriegt hatte, schlug den Zapfen aus dem Fasse. Ganz konnte er das Gedicht nicht lesen, da waren aber Stellen, die er auswendig wußte, deren Bilder ihn immer umschwebten. Besonders fesselte ihn Chlorinde mit ihrem ganzen Tun und Lassen. Die Mannweiblichkeit, die ruhige Fülle ihres Daseins taten mehr Wirkung auf den keimenden Geist der Liebe, der sich im Knaben zu entwickeln anfing, als die gemachten Reize Armidens, ob er gleich ihren Garten nicht verachtete. Aber hundert- und hundertmal, wenn er abends am Fenster stand und in den Garten sah und die Sommersonne, hinter die Berge gewichen, den hauchenden Schein am Horizont heraufdämmerte, die Sterne hervortraten und aus allen Winkeln und Tiefen die Nacht hervordrang und der klingende Ton der Frösche aus der Ferne durch die feierliche Stille schrillte, sage er sich die Geschichte ihres traurigen Todes vor. Sosehr er von der Partei der Christen war, stund er ihr doch bei, den großen Turn anzuzünden. Arganten haßte er von Herzen und mißgönnte ihm die Gesellschaft des Engels. Und wie nun Tankred sie durch die Nacht entdeckt, unter der düstern Hülle der Streit beginnt und sie gewaltig kämpfen, er konnte nie die Worte aussprechen:
Allein das Lebensmaß Chlorindens ist nun voll
Und ihre Stunde kommt, in der sie sterben soll.
daß ihm nicht die Tränen in die Augen kamen, die reichlich flossen, wie der unglückliche Liebhaber ihr das Schwert in die Brust stößt, der Sinkenden den Helm löst und zur Taufe bebend das Wasser holt. Wie nun dann in dem bezauberten Wald Tankredens Schwert den Baum verletzt, Blut nach dem Hiebe fließt und eine Stimme ihn ans Herz trifft, daß er hier Chlorindens Wunde wieder aufreiße, und er vom Schicksal bestimmt zu sein scheint, das, was er liebt, unwissend zu verderben, ging unserm Wilhelm ganz das Herz über; es bemächtigte sich die Geschichte so seiner Einbildungskraft, daß sich ihm, was er von dem Gedichte gelesen hatte, dunkel zu einem Ganzen in der Seele bildete, ihn hinriß, und er, ohne zu wissen wie, ernstlich dran dachte, es vorzustellen. Er wollte Tankred und Reinalden spielen und fand dazu zwei Rüstungen ganz bereit, die er schon gefertigt hatte. Die eine von dunkelgrau Papier mit Schuppen sollte den ernsten Tankred, die andre von Silber- und Goldpapier den glänzenden Reinald zieren.
In der Lebhaftigkeit seiner Vorstellung erzählte er alles seinen Gespanen, die davon ganz entzückt waren und nur nicht wohl begreifen konnten, wie es an den Punkt kam, daß es aufgeführt, und zwar von ihnen aufgeführt werden sollte. Allen diesen Zweifeln half Wilhelm mit vieler Leichtigkeit ab. Er disponierte gleich über ein paar Zimmer in eines benachbarten Gespielen Haus, ohne zu berechnen, daß die alte Tante sie nimmermehr hergeben werde; ebenso war’s mit dem Theater, wovon er auch keine bestimmte Idee hatte, außer daß man’s auf Balken setzen, die Kulissen von geteilten spanischen Wänden hinstellen und zum Grund ein großes Tuch nehmen müsse. Woher aber alles kommen sollte, das hatte er nicht bedacht. Für den Wald fanden sie eine gute Auskunft, sie gaben einem alten Bedienten aus einem der Häuser, der nun Oberförster geworden war, gute Worte, daß ihnen der junge Birken und Fichten zukommen ließ: die wurden auch wirklich herbeigebracht, und nun fand man sich in großer Verlegenheit, wie man das Stück, eh die Bäume verdorrten, aufführen wolle. Nun war guter Rat teuer, es fehlte an Platz, am Theater, an Vorhängen. Die spanische Wände waren das einzige, was sie hatten. In dieser Verlegenheit gingen sie einen Vetter an, dem sie eine weitläufige Beschreibung von der Herrlichkeit machten, die es geben sollte; der wußte es zwar nicht zu verbinden, doch war er ihnen behülflich, schaffte in eine kleine Stube, was von Tischen im Haus und Nachbarschaft war, aneinander, stellte die Wände drauf, machte eine hintere Aussicht von grünen Vorhängen, die Bäume stunden auch gleich mit in der Reihe. Die Lichter waren angezündet, die Mädchen und Kinder hatten sich versammelt, es sollte angehn, die ganze Heldenschar war angezogen, nun spürte aber jeder zum erstenmal, daß er nicht wisse, was er zu sagen habe. In der Hitze der Erfindung, da Wilhelm ganz von seinem Gegenstand durchdrungen war, hatte er vergessen, daß doch jeder wissen müsse, was und wo er’s zu sagen habe, und in der Lebhaftigkeit der Ausführung war’s den übrigen auch nicht beigefallen. Sie glaubten, sie würden sich leicht als Helden darstellen, leicht so handeln und reden können wie die Personen, in deren Welt sie Wilhelms Gabe versetzt hatte.
Sie stunden alle erstaunt, fragten sich einander, was zuerst kommen sollte, und Wilhelm, der sich als Tankred vornenan gedacht hatte, fing, allein auftretend, einige Verse aus dem Heldengedicht herzusagen an. Weil aber das gar zu bald ins Erzählende überging und er in seiner eignen Rede endlich als dritte Person vorkam, auch der Gottfried, an dem die Sprache war, nicht herauskommen wollte, so mußte er eben unter großem Gelächter seiner Zuschauer wieder abziehen, ein Unfall, der ihn tiefer als manche folgende Leiden in der Seele kränkte. Das war nun verunglückt. Die Zuschauer saßen da und wollten was sehen. Gekleidet waren sie, Wilhelm raffte sich zusammen und entschloß sich kurz und gut, „David und Goliath“ zu spielen. Einige der Gesellschaft hatten ehmals das Puppenspiel mit ihm aufgeführt, alle hatten es oft gesehen, man teilte die Rollen aus, es versprach jeder sein Bestes zu tun, und ein kleiner drolliger Junge malte sich einen schwarzen Bart, um, wenn ja eine Lücke einfallen sollte, sie als Hanswurst mit einer Posse auszufüllen; das sah Wilhelm sehr ungern, als dem Ernste des Stücks zuwider, mußte es aber diesmal zugeben. Doch schwur er sich, wenn er nur einmal aus dieser Verlegenheit hauß wäre, sich nie, als wohl vorher überlegt, an ein Stück zu wagen.
Zehntes Kapitel
Wilhelm kam nunmehr in die Jahre, wo die körperliche Kräfte sich meist zu entwickeln anfangen und wo man oft nicht begreifen kann, warum ein witziges und munteres Kind zusehends dumpf und unbetulich wird. Er las nunmehro viel und fand in Komödien immer seine beste Befriedigung, und was er von Romanen las, konnte er nicht umhin, in seinem Sinne zu Schauspielen umzubilden. Er war in dem Wahn, daß alles, was in der Erzählung ergötze, vorgestellt noch viel treffender sein müsse. Auch wenn er etwa den Abriß einer Welt- und Staatengeschichte in der Schule durchlesen mußte, zeichnete er sich sorgfältig aus, wo einer auf eine besondere Weise erstochen oder vergiftet wurde, weil sich, nach seiner Vorstellung, dieses zu einem fünften Akt gar trefflich qualifizierte, denn die vier vorhergehende bracht er in seinen Kompositionen nicht leicht in Anschlag, weil er sie in keinem Stück jemals gelesen hatte. Seine Kameraden, die in den Geschmack vom Agieren gekommen waren, veranlaßten ihn manchmal, Rollen auszuteilen, und er, der eine sehr lebhafte Vorstellungskraft hatte und sich in alle Rollen denken konnte, glaubte, er könne sie auch alle vorstellen; er nahm daher meistens die sich am wenigsten für ihn schickten, und, wenn’s nur einigermaßen angehen wollte, gewöhnlich ein paar Rollen. Es ist ein Zug der Kindheit, aus allem alles machen zu können, sich die augenscheinlichsten Quiproquos nicht irren zu lassen. So spielten unsere Knaben fort, und jeder dünkte sich genug. Sie führten erst Stücke von bloß Mannspersonen auf, deren es nun nicht viel gibt, verkleideten nun bei andern einige aus ihrem Mittel und zogen zuletzt die Schwestern mit ins Spiel. In einigen Häusern sah man’s als eine nützliche Beschäftigung an, lud Gesellschaften drauf. Ein verwandter Hagestolz, der sich Kenner zu sein ausgab, mischte sich drein, lehrte sie, wie sie sich stellen, deklamieren und abgehen sollten, mit welchem Unterricht Wilhelm meist übel zufrieden war, weil er sich dünkte, es immer noch besser zu machen als der es anwies. Sie fielen gar bald aufs Trauerspiel, sie hatten gar oft sagen hören und glaubten es selbst, es sei leichter, ein Trauerspiel als ein Lustspiel zu machen und vorzustellen, und waren auch durchgehends bei jenem zufriedner als bei diesem, weil hier das Platte, Abgeschmackte, Unnatürliche gar schnell in die Augen fiel, dort aber sie sich selbst als erhabne Wesen vorkamen und nichts war, das ihnen das Schwülstige, Affektierte, Übertriebne ihrer tragischen Aktion mißbilligte, besonders da sie im gemeinen Leben bemerkt hatten, daß viele Personen, die nichts bedeuten, sich durch steifes Betragen und fremde Grimassen ein Ansehen zu geben glauben.
Knaben und Mädchen waren in diesem Spiele nicht lange beisammen, als die Natur sich zu regen und die Gesellschaft sich in verschiedene kleine Liebesgeschichten zu teilen anfing, da denn meistenteils Komödie in der Komödie gespielt ward. Die glücklichen Paars kneipten sich hinter den Theaterwänden die Finger fast ab und verschwammen in Glückseligkeit, wenn sie sich einander so geschminkt und aufgebändert noch einmal so idealisch und schön vorkamen, indes gegenüber auf der andern Seite die unglückliche Nebenbuhler sich für Neid verzehrten und oft in kindischem Trotz und Schadenfreude ein- und andre Stellen verdarben oder verderben machten. Bei solchen Gelegenheiten zeigte sich immer Wilhelms Direktorialqualität in ihrem Glanze, denn wenn er in den Proben dergleichen Zwiste in Güte beizulegen suchte, nachgiebig war und über manches ein Auge zutat, wenn sie nur sonst sich Mühe gaben und ihre Rollen wohl auswendig wußten, so verstund er doch am Tage der Ausführung keinen Spaß, und sobald er in Halbstiefeln, in königlichem Mantel und Diadem hinter dem Vorhang stund, durfte nichts Profanes und Läppisches vorfallen, und wehe dem, der ihm etwa in einer Neronischen Stimmung in die Quere kam, der wurde gewiß mit so einem gräßlichen Blick, mit so viel Würde des Arms und Festigkeit der Stimme in seine Schuldigkeit zurückgeschröckt, daß für diesmal wenigstens Ruhe ward.
Je mehr und wichtigere Stücke sie spielten, je weiter sich ihre Gesellschaft ausbreitete, desto schwerer ward Wilhelm das Amt eines Direktors, das er als Stifter mit dem besten Willen aller hergebracht hatte. Wenn ein Stück vorgeschlagen und ausgesucht war, gab’s manchen Verdruß, bis sie sich in die Rollen teilten; jeder machte an die ersten, an die Liebhaber und glänzenden, Anspruch, daß Wilhelm, dem’s nur drum zu tun war, daß ein Stück gespielt wurde, oft selbst zurücktrat und großmütig eine geringere nahm, nur daß er sich nicht entschließen konnte, den Vertrauten zu spielen. Wenn nun überdies gar eins und das andere in den Proben verdrießlich ward und etwa aus abgeschmacktem Trutz kurz vor dem bestimmten Tage der Aufführung seine Rolle absagte, da hatte er nun freilich alle Gelegenheit, seine Geduld, seine Nachgiebigkeit, seine Überredensgabe zu üben. Es ging denn doch. Sein Eifer, seine Unverdrossenheit, seine Liebe zur guten Sache, die durch die leidlichste Eigenliebe genährt wurde, die Treue, womit die Vorzüglichsten von der Gesellschaft an ihn gebunden waren, erleichterten ihm alle Mühe, und wie sollte der nicht seinen Vorsatz zustande bringen, der, sobald davon die Rede war, keine andre Leidenschaft hatte, durch nichts abseits gebracht werden konnte, sondern der auf seinen vorgesetzten Zweck mit der möglichsten Gradheit und dem besten Mute losging und die Mitwanderer durch Freundlichkeit und Gutheit auf seinen Pfad lockte.
Ein besonder Schicksal war’s, das hierin Wilhelms guten natürlichen Eigenschaften zu Hülfe kam, daß keine von den Mädchen, für die er zeitig genug eine Neigung empfand, mit von der theatralischen Gesellschaft sein konnten; seine Liebe zum Theater blieb ganz rein, und er konnte es ohne Mitwerben ansehen, wenn jeder von den andern seine Prinzessin auf den Thron setzen wollte. Diese Unparteilichkeit mehrte das Zutrauen der Seinigen, und öfters beruhigten sie sich bei seiner Entscheidung, die sie in unzuvergleichenden Fällen anzugehen pflegten.
Eilftes Kapitel
Das Knabenalter ist, glaub ich, darum weniger liebenswürdig als die Kindheit, weil es ein mittler, halber Zustand ist. Das Kindische klebt ihnen noch an, sie noch am Kindischen, allein sie haben mit der ersten Beschränktheit die liebevolle Behaglichkeit verloren, ihr Sinn steht vorwärts, sie sehen den Jüngling, den Mann vor sich, und weit auch ihr Weg dahin geht, eilt die Einbildung voraus, ihre Wünsche überfliegen ihren Kreis, sie ahmen nach, sie stellen vor, was sie nicht sein können noch sollen. Ebenso ist‘s mit dem innern Zustand ihres Körpers, ebenso mit ihrer Gestalt. Und so wurd‘s auch mit dem Theater unsrer jungen Freunde. Je länger sie spielten, je mehr Mühe sie sich gaben, wie sie nach und nach hie und da etwas aufhaschten, wurd ihr Spiel immer langweiliger, das Drollige ihrer ersten Unbefangenheit fiel weg, wo sie oft die Stücke, ohne es zu wissen, herrlich parodierten, es ward eine steife, einbildische Mittelmäßigkeit draus, die um desto fataler war, weil sie sich‘s selbst sagen konnten und oft gar von ihren Zuschauern hörten, daß sie sich um vieles gebessert hätten. Den größten Verderb brachte eine Gesellschaft Komödianten, die zu der Zeit in ihrer Stadt anlangte, unter sie. Die deutsche Bühne war damals in ebender Krise; man warf die Kinderschuhe weg, ehe sie ausgetreten waren, und mußte indes barfuß laufen. Unter diesen Schauspielern war zwar manches Natürliche und Gute, das unter der Last von Affektation, angenommenen Grimassen und Eigendünkel erstickt; und wie alles Unwahre am leichtesten nachgeahmt werden kann, so wie es am stärksten in die Augen fällt, so hatten unsere Liebhaber gar bald diese Krähen der fremden Federn berupft, um sich selbst damit auszustaffieren. Tritt, Stellung, Ton wurden unmerklich nachgeahmt, und sie machten sich allerseits wohl hinterher eine Ehre draus, wenn jemand ihrer Zuschauer so fein war zu finden, daß sie akkurat wie dieser oder jener Schauspieler anzusehen seien.
Zwölftes Kapitel
Der alte Meister setzte bei zunehmenden Jahren und immer gleichem Verdruß im Haushalt seine einzige Hoffnung auf Wilhelmen, dessen schöne Fähigkeiten ihm mitunter einen heitern Ausblick machten, nur wünschte er, daß der Knabe sie besser anwenden und sich zeitig und ganz dem Handelsgeschäfte widmen möchte. Auch hatte er in verschiedenen Stücken Ursache, mit seinem Sohne zufrieden zu sein. Französisch und Italienisch hatte er bald gelernt, im Lateinischen wußte er seinen Casum zu setzen, die Korrespondenz führte er mit vieler Leichtigkeit, außer daß hie und da, und besonders in den fremden Sprachen, ein theatralischer Ausdruck mit unterlief. Im Englischen gab er sich auch Mühe und im Laden war er unverbesserlich. Erstlich hatte er nie Langeweile, weil er an ruhigen Stunden gleich sein Buch oder seine Rolle unter dem Ladentisch hervorholte, zweitens weil er durch seine Leutseligkeit und gutes Betragen viele Leute herbeizog, zur rechten Zeit etwas zuzugeben wußte und über das unendliche Wählen der Frauenzimmer nie verdrießlich ward, ihnen vielmehr mit gutem Rate beistund und sie ehrlich abzuhalten suchte, wenn sie endlich für aller Wahl auf das Schlechteste zu fallen pflegten. Die Mädchen, die ihn auf dem Theater gesehen hatten, kamen meistenteils kurz drauf, um sich bei Tage zu überzeugen, wie er aussähe, und kamen meist miteinander darin überein, daß er zwar nicht so schön sei als bei Licht, geschminkt und in der Ferne, ihnen aber doch immer noch ganz wohl gefiel. Denn das ist gewiß, das Theater tingiert den Schauspieler mit einem gewissen Glanz, der auch sogar im gemeinen Leben nicht ganz von ihnen wegschwindet. Ihre Imagination suchte immer das schöne Bild, das ihnen vorschwebte, und wenn sie gleich anfangs unbefriedigt umkehrten, so kamen sie so lange wieder, wozu ihnen die Weitläufigkeit seines Handels erwünschte Gelegenheit gab, bis sie endlich alles zu finden glaubten oder wohl gar den frischen, wahren Burschen dem geschminkten, erlogenen Prinzen in der Ferne vorzogen.
Bei allen diesen guten Eigenschaften mangelte es ihm am wahren Geiste des Handelsmanns. Die Liebe zu Zahlen und besonders die Liehe zu Brüchen, in denen so viel zu stecken pflegt, ging ihm ab, Aufmerksamkeit auf kleine Vorteile, Gefühl von dem hohen Wert des Geldes. Mit großen Schmerzen bemerkte das der Alte oft, daß sein Sohn nie ein Rechner und vollkommner Wirt werden könne, ob er gleich ziemlich gut rechnen konnte und nichts verschwendete.
Wilhelms Geist war lang über diese niedre Bedürfnisse weg, besonders da ihm in seines Vaters Haus nichts abging, und er war viel zu lebhaft und aufrichtig, als daß nicht manchmal, selbst gegen seinen Vater, die Verachtung des Gewerbes durchgeblickt hätte. Er hielt es für eine drückende Seelenlast, für Pech, das die Flügel seines Geistes verleimte, für Stricke, die den hohen Schwung der Seele fesselten, zu dem er sich von Natur das Wachstum fühlte. Manchmal gab’s über irgendeine solche Äußerung Streit zwischen Vater und Sohn, an dessen Ende der Alte meist erzürnt, der Junge bewegt und die Sache dadurch nichts besser ward, indem jede Partei nur ihrer Meinung gewisser zu werden schien und Wilhelm, der seinen Vater liebte, auch nicht gerne angefahren war, sich mehr in sich selbst verschloß. Sein Gefühl, das wärmer und stärker ward, seine Einbildung, die sich erhöhte, waren unverrückt gegen das Theater gewendet, und was Wunder? In eine Stadt gesperrt, ins bürgerliche Leben gefangen, im Häuslichen gedrückt, ohne Aussicht auf Natur, ohne Freiheit des Herzens. Wie die gemeinen Tage der Woche hinschlichen, mußte er mitunter hingehn, die alberne Langeweile der Sonn- und Festtage machte ihn nur unruhiger, und was er etwa auf einem Spaziergange von freier Welt sah, ging nie in ihn hinüber, er war zum Besuch in der herrlichen Natur, und sie behandelte ihn als Besuch. Und mit der Fülle von Liebe, von Freundschaft, von Ahndung großer Taten, wo sollte er damit hin? Mußte nicht die Bühne ein Heilort für ihn werden, da er wie in einer Nuß die Welt, wie in einem Spiegel seine Empfindungen und künftige Taten, die Gestalten seiner Freunde und Brüder, der Helden und die überblinkende Herrlichkeiten der Natur bei aller Witterung unter Dache bequem anstaunen konnte? Kurz, es wird niemand wundern, daß er wie so viele andere ans Theater gefesselt war, wenn man recht fühlt, wie alles unnatürliche Naturgefühl auf diesen Brennpunkt zusammengebannt ist.
Dreizehntes Kapitel
Mancherlei Schicksale zerstreuten die Gesellschaft, die sonst zusammen das kleine Theater belebt hatte. Doch Wilhelm blieb die Wurzel davon, die manchmal wieder ausschlug. Es währte nicht lange, so versammelte er eine Anzahl, ein oder ein paar Stücke wurden aufgeführt, bis die gewöhnlichen Theaterzwiste sie wieder zerstreuten. Wilhelm war der glücklichste Werber und Parteimacher; wo er hinging, folgte seine Theaterwelt ihm nach, wo in Gesellschaft Langeweile war, ersuchte man ihn, einen Monolog zu deklamieren, er tat’s, und der Beifall, den er erhielt, war mit dem heimlichen Wunsche eines jeden verknüpft, es auch so machen zu können. Wenn nun der Vorrat von Monologen all war, mußte eins hintreten und die andere Rolle lesen, das gab Anlaß, Szenen zu zweien auswendig zu lernen, damit wurden mehre interessiert, und das Stück war beisammen.
Je lebendiger das Gefühl Wilhelmens wurde, desto mehr fingen ihm die meisten Stücke an zu mißfallen. Er hatte nun den ungeheuren Plunder teutsch- und französischen Theaters durchgelesen und kam immer mehr aus denen Jahren, wo man alles Gedruckte verschluckt, wo man an mittelmäßigen Sachen zwar nicht leicht Freude hat, doch aber alles um etwa einiger Stellen, eines rührenden Endes willen passieren läßt. Er suchte sich jetzo die heftigsten, höchst zärtlichen oder wütenden Szenen aus, und weil er von malerischer Stellung vieles gehört hatte, suchte er seine Deklamation mit mannigfaltigen Gebärden zu begleiten, die ihm nicht übel gelangen, weil er gut gebaut und von beweglichen Gliedern war, auch von Natur einen edeln Anstand hatte. Doch konnte es nicht fehlen, daß meist der Ausdruck etwas gewaltsam schien und die Zuschauer mehr ängstigte und in Verlegenheit setzte als vergnügte. Dabei muß nicht vergessen werden, daß in müßigen Stunden das Erstechen, Totniederfallen und verzweiflungsvolle Hinstürzen eifrigst geübt wurde; er brachte es auch wirklich so weit, daß nicht leicht ein Schauspieler die aufsteigende Abwechslung von zweiunddreißig Leidenschaften in einem Monolog stärker ausgeführt hat.
Vierzehntes Kapitel
In der gärenden Zeit dieser natürlichen Kunstbemühungen wollte das Schicksal, daß die Liebe ihn mit noch festern Banden ans Theater knüpfte. Bisher waren seine kleine Geschichtchen wie Präludien zu einem großen Musikstücke gewesen, wo man in mannigfaltigen Harmonien aus einem Tone in den andern übergeht, ohne eine bestimmte Melodie vorzutragen und ohne einen andern Zweck zu haben, als das Ohr zu mehr Empfänglichkeit für das Folgende vorzubereiten und den Zuhörer unvermerkt an die Pforte zu führen, wo sich ihm die ganze Herrlichkeit auf einmal offenbaren soll. Den meisten Menschen geht’s so in der Liebe, und wen das Schicksal liebhat, den leitet’s so zu Glück und Unglück.
Wilhelm, der das Schauspiel, das etlichemal des Jahrs in ihre Stadt kam, so oft besuchte, als es mit leidlichem Verdruß zu Hause angehen konnte, hatte sich unter allen Spielenden ein Mädchen gemerkt, die ihm öfters aufgefallen war, weil sie vor den übrigen etwas in ihrem Ton hatte, das manchmal ans Herz ging, besonders wenn sie klagte oder etwas drollig Gutherziges sagte. Sie gefiel ihm nicht immer, und wenn er sie oft nicht leiden konnte, warf er die Schuld auf die Rollen, und das feine Gesichtchen und die volle Brust redeten ihr wieder mächtig das Wort; er beneidete jeden Bedienten, der im Stück, frei mit ihr tun durfte. Die übrigen machten’s ihm selten recht. Um ihrentwillen schienen die Stücke aufgeführt zu werden, und er verglich den einem Gott, der seine Arme um sie werfen und bei einer fröhlichen Wiedererkennung sie als Bruder oder Gatte an sich drücken durfte. Ja es ging so weit, daß, wenn sie halbweg in ein Stück verflochten war, daß er, der sonst eine Vorstellung mit Kunst- und Kenneraugen ansah, in die wahre kindliche Täuschung aufgehoben ward und manchmal wie aus einem Traum auffuhr, wenn ein langweiliger Akt oder eine von andern schlecht vorgetragne Szene ihn sehr unsanft fallen ließ.
So ging es eine Weile fort, ohne daß er mit ihr bekannt wurde, seine bürgerliche Schüchternheit hielt ihn ab, wenn er auch aufs Theater kam, sich ihr zu nähern, und sooft er sie wiedersah, schien sich eine neue Ader in ihm zu bewegen; er machte gewiß immer einen schiefen Bückling, wenn er hinter den Theaterwänden nicht weit von ihr zu stehen kam, oder stieß irgendwo an oder verbrannte ehrerbietig ausweichend seinen Rock. Sie sah ihn auch etlichemal mit so einem bedeutenden Blick an, daß er glauben mußte, sie bemerke ihn, und es tat ihm äußerst wohl, ob sie gleich nicht im geringsten auf ihn achthatte. Denn auf dem Theater und in der großen Welt gewöhnt man sich, die Augen bedeutungsvoll auf Gegenstände zu richten, von denen man oft gar keine Notiz nimmt, und einer Frau besonders, die aus der Erfahrung hat, daß ihre Augen mannigfaltig wirken, aufreizen, lebendig machen, wird’s mechanisch, mit den Leuten Katzenmäusches zu spielen, ohne sie zu bemerken.
Fünfzehntes Kapitel
Unter dieser Zeit hatte Wilhelm abends in einem Gasthause, wo er Fremde auf ein Glas Wein traktierte, Bekanntschaft mit zwei Schauspielern gemacht. Sie fanden ihn so wohl vom Theater unterrichtet, so einen guten Begriff von der Kunst des Schauspielers, daß sie an ihm den rechten Mann zu finden glaubten, dem sie ihre Meisterschaft in verschiednen Rollen mit Ehren vortragen könnten. Sie luden ihn daher auf nächstens zu sich, wo sie ihm verschiedenes zu deklamieren versprachen; schwer verbarg er seine Freude, als sie ihm beiher sagten, Madame B. würde auch wohl von der Gesellschaft sein. – Ich nenne sie hier Madame und erinnre mich, sie vorher als Mädchen eingeführt zu haben. Um alles Mißverständnis aufzuheben, will ich gleich hier entdecken, daß sie eine Gewissensheurat mit einem Menschen ohne Gewissen eingegangen war; er verließ kurz drauf die Gesellschaft, und sie war, bis auf weniges, wieder Mädchen wie vorher; den Namen, den sie einmal hatte, behielt sie und galt wechselsweise für Jungfrau, Frau und Witwe. Wilhelmen war dran gelegen, sie für das letzte zu halten, und er fand wirklich die stärksten Gründe auf dieser Seite.
Verlegenheit und Herzklopfen, als er sie sah, machten ihn lebhafter und angenehmer, er war sehr gefällig gegen sie, und das würde sie auch ohne seine sonst gute äußerliche Eigenschaften aufmerksam auf ihn gemacht haben. Man fing damit an, was nächstens sollte gespielt werden, sprach von neuen Stücken, vom deutschen Theater, daß wir’s dem französischen bald gleichtäten, daß es Sünde sei, nur übersetzte Stücke drauf zu spielen, daß große Herren anfingen, sich seiner anzunehmen, und vom Stande der Schauspieler, daß er täglich ehrbarer und geehrter werde. In Ausführung dieses letzten übertraf Wilhelm sie alle. „Es ist ein unerhörtes Vorurteil“, rief er aus, „daß die Menschen einen Stand schänden, den sie um so vieler Ursachen zu ehren hätten. Wenn der Prediger, der die Worte Gottes verkündiget, darum billig der Hochwürdigste im Staat ist, so kann man den Schauspieler gewiß ehrwürdig preisen, der uns die Stimme der Natur ans Herz legt, der mit Fröhlichkeit, Ernst und Schmerz wechselnde Anfälle auf die harte Brust der Menschen wagt, um ihr dunkel eingehülltes Gefühl rein zu stimmen und den göttlichen Klang der Verwandtschaft und Liebe untereinander hervorzulocken. Wo ist ein Sicherplatz gegen die Langeweile wie das Schauspielhaus, wo verbindet sich die Gesellschaft angenehmer, wo müssen die Menschen eher gestehen, daß sie Brüder sind, als wenn sie, an der Gestalt, an dem Munde eines einzigen hangend, alle in einer Empfindung schwebend emporgetragen werden? Was sind Gemälde und Statuen gegen das lebendige Fleisch von meinem Fleisch, gegen das andre Ich, das leidet, fröhlich ist und jede gleichgestimmte Nerve in mir unmittelbar berührt? Und wo läßt sich mehr Tugend vermuten, bei dem gedrückten Bürger, der in ängstlich schmutzigem Gewerb seine Nahrung zusammenschleppt, oder bei dem, dessen Kunst, die ihm Brot gibt, zugleich die edelsten, größten Gefühle der Menschheit durchdringt, der Tugend und Laster täglich in seiner Blöße studiert und darstellt und die Schönheit und Häßlichkeit am lebhaftesten fühlen muß, eh er sie andre so lebhaft empfinden lassen kann? Ich glaube wohl, daß bei manchen durch ein herumschweifendes Leben, Mangel und Druck sich diese Würde verdunkelt, aber eben drum, wie grausam ist es, die übrigen, die dem Bessern entgegenstreben, durch beschränkten Stolz zurückzustoßen.“ Er fuhr noch eine Weile recht herzlich fort, daß alle sehr verwundert dastanden, und ob ihnen gleich mitunter manches eingefallen war, worauf seine Apologie nicht zu passen schien, waren sie doch durchaus zufrieden und versicherten am Ende, daß es sehr wahr sei, wie ihnen Unrecht geschähe, dazu Madame B. auch eins und das andre sagte, bald aber den Diskurs auf die treffliche Art, wie Wilhelm es vorgetragen hätte, zu lenken wußte und ihm das Kompliment machte, er müßte schon mehr agiert haben. Obgleich dies ihm etwas unerwartet kam, weil er hier weder zu agieren noch deklamieren geglaubt, sondern frischweg, wie’s ihm ums Herz war, ausgeschüttet hatte, so nahm er doch gleich das Wort auf, hielt’s für einen Übergang zu einem andern Diskurs und versicherte sehr ehrlich, daß er immer viel Liebe zum Theater hätte, könnte sich aber leider nie gnug tun. Die andern versicherten, daß es für einen Liebhaber schon immer viel, wenn er einigermaßen ein- oder die andre Rolle gut spielte, allein Theater zu haben, wie man’s heißt, dazu gehöre ein großes Studium, das nur dem Akteur aufbehalten sei. Das war Wilhelmen nicht ganz recht, er bildete sich ziemlich ein, was sie Kunst nennten, zu besitzen, doch ließ er’s vorübergehn. Jeder bot nunmehr einen Monolog an vor Wilhelmen zu deklamieren; der eine, der im tragischen Affekt weder Vater noch Bruder kannte und das Kind im Mutterleib nicht schonte, drang vor und setzte mit dem belobten Selbst- und Geistergespräch aus „Richard dem Dritten“ sich in Schweiß und seinen Gast in Schröcken; die übrigen, die auf das Ende paßten, fielen teils mit komischen, teils mit empfindsamen Stellen ein, und jeder tat sein möglichstes, dem jungen Kenner vor den andern in die Augen zu fallen; er war so aufmerksam, als er’s bei der doppelten Hindernis, der Nähe seiner Geliebten und dem Monolog, den er auch zu rezitieren im Kopf herumwarf, sein konnte, lobte erstlich alles im ganzen und dann noch besonders jede Stelle, von welcher sie ihn fragten, ob er auf diesen oder jenen Ausdruck wohl achtgegeben habe? Es war bei ihm dies weder Lüge noch Kurzsichtigkeit, vielmehr verleitete ihn der Wunsch, viel Gutes zu finden, dahin, daß er vieles gut fand, und wenn’s ihm auch sehr schwante, es sei nicht ganz just, ließ er’s doch meist aus Gutmütigkeit durchwischen, warf die Schuld auf sich, seinen Humor, oder dachte wohl gar nicht weiter drüber. Madame B. und Wilhelm konnten nun nicht einig werden, wer zuerst seine Probe ablegen sollte; endlich fand sich’s im Diskurs, daß er die Rolle Meilefonts und sie Miß Sara gespielt hatte, auch ein Gegenwärtiger ungefähr den Norton auswendig wußte; so wurden sie gar bald eins, zusammen zu probieren. Wilhelm zog sich so viel möglich in unbehagliche Düsternheit zusammen, Sara schwebte in sanften Klagen und trug den fürchterlichen Traum recht ängstlich vor, wußte es auch dabei so gut zu machen, daß in den schmeichelnden Stellen zu unterscheiden schwer war, ob sie dem Helden des Stücks oder dem Schauspieler schönetat; darüber war Wilhelm von ihrer Aktion so bezaubert, daß er sie für die erste Aktrice von Deutschland hielt. Man wechselte nach geendigtem Versuch Lob und Zufriedenheit, und gewiß, Wilhelm hatte einige Stellen, wo sein Gefühl hinreichte, fürtrefflich ausgedruckt, auch würde sich die Bewunderung der Zuschauer mit Neid vermischt haben, wenn sie sich nicht selbst hätten sagen können, daß er an allen Orten, wo er in ihre Künste einen Eingriff wagte, weit hinter ihnen zurückbliebe. Man blieb noch eine Zeit beisammen, Wilhelm begleitete Madame nach Hause, wo er ihre Einladung, ob er noch mit heraufkommen wollte, leider ausschlagen mußte, um regelmäßig abends an seinem Familientische zu sein, doch behielt er sich diese Erlaubnis vor; und nachts und nächsten Tags kam ihr Bild ihm so oft vors Gesicht, daß er ganz zerstreut und ungeschickt in seiner Arbeit war. Abends, da er den Laden zumachte, faßte ihn eine unsichtbare Hand beim Schopf, er fühlte sich fortgeführt und fand sich wie im Traum auf dem Kanapee sitzend, an der Seite seiner Angebeteten.
Sechzehntes Kapitel
Ein Mädchen, das zu mehrern Liebhabern, die es unter sich gebracht hat, noch einen frischen gewinnt, gleicht der Flamme, wenn auf bald verzehrte Brände ein neu Stück Holz gelegt wird. Geschäftig schmeichelt sie dem ankommenden Liebling, leckt sich an ihm betulich hinauf, rings an ihn herum, daß er in vollem, herrlichem Glanz leuchtet; ihre Gierigkeit scheint nur an ihm hinzuspielen, aber mit jedem Zuge faßt sie tiefer und zehrt ihm das Mark bis ins Innerste aus. Bald wird er wie seine verlaßne Nebenbuhler am Grunde liegen und in angeschmauchter Trauer, in sich glühend, verglimmen.
Madame B. wußte im Anfange nicht recht, was sie mit Wilhelmen machen sollte. Die ersten Zeiten ihrer Bekanntschaft gingen unter ziemlicher Gesprächigkeit hin, bis diese sich endlich verlor und er in eine selige Stille verfiel, in der wir neben dem geliebten Gegenstande selbst aus der Langenweile eine unaussprechliche Wollust saugen. Seine Gutheit, Ergebenheit, Beschränktheit, Unschuld, Genügsamkeit, Verehrung und Herzlichkeit machten sie anfangs verlegen. Sie hatte in ihren ersten Jahren gar zu bald die kindlichen Freuden der Liebe von sich weggescheucht gesehen, sie war sich so mancher Erniedrigungen bewußt, denen sie sich in den Armen eines und des andern hatte hingeben müssen, auch gegenwärtig opferte sie sich den heimlichen Vergnügungen eines reichen und unausstehlich platten Muttersöhnchens auf, und da sie von Natur eine gute Seele war, wurd’s ihr niemals recht wohl, wenn Wilhelm ihr die Hand mit treuem Herzen hielt und küßte, wenn er ihr mit dem vollen, reinen Blick jugendlicher Liebe in die Augen sah; sie konnte den Blick nicht aushalten, sie fürchtete, er möchte Erfahrenheit in den ihrigen lesen; verwirrt schlug sie die Augen nieder, und der glückliche Wilhelm glaubte Ahndung, liebliches Geständnis der Liebe zu finden, und seine Sinnen gingen durcheinander wie Saiten auf dem Psalter. Glückliche Jugend! glückliche Zeiten des ersten Liebebedürfnisses! Der Mensch ist dann wie ein Kind, das sich am Echo stundenlang ergötzt, die Unkosten des Gesprächs allein trägt und mit der Unterhaltung sehr wohl zufrieden ist, wenn der unsichtbare Gegenmann auch nur die letzten Silben seiner eignen Worte wiederholt. Mariane half sich eine Zeitlang mit dieser Art. Sie hatte geliebt, war liebefähig, und vor Wilhelmen hatte sie, wie vor einem fremden Wesen, ein Gefühl, das der Ehrfurcht glich. Sie wußte sich halb natürlich, halb theatralisch in die Stimmung zu versetzen, in der er war, ihre drollige Art half ihr vieles, und es währte nicht lange, so war sie mit ihm bekannt; sie kam sich selbst in seiner Gegenwart besser vor, sie erinnerte sich wenig glücklicher, reiner Stunden ihrer Jugend, und die ganze Liebe, mit der Wilhelm sie umfaßte, der hohe Wert, den diese gute Seele auf sie legte, ihre eigne Neigung zu ihm verwischte bald, besonders in seiner Gegenwart, alles widrige Gefühl ihrer Unwürdigkeit. Ihr andrer Liebhaber war abwesend, und sie schob das Verhältnis mit ihm im Gedächtnisse seitwärts, wie man das Andenken von irgendeiner Schuld aus dem Reiche der lebhaften Erinnerungen in das Fach der historischen Kenntnisse verscheucht.
Er sah sie nur, sooft er konnte, das für einen Liebenden zwar selten war; die Abendstunden hatte er wohl manchmal frei, er vernachlässigte seine Freunde und müßigte sich sonst was ab; aber da war sie meistens auf dem Theater beschäftigt, und länger als achte, höchstens halb neune, da gewöhnlich das Schauspiel aus war, durfte er, ohne böse Gesichter von Vater und Mutter, nicht außen bleiben. Sie wußte es denn doch zu machen; entweder er war bestellt, wenn er ihren Namen auf dem Zettel nicht sähe, oder sie ließ sich unter dem Ballett nach Hause führen, und da konnte er verweilen, bis ihn das Rasseln der Kutschen von seinem Glücke zu scheiden nötigte.
Aus dem Parterre konnte er ihren Anblick fast gar nicht mehr aushalten, es saß ihm gleich an der Kehle. Er machte sich aufs Theater, hinter die Wände. Die perspektivische Magie war weg, aber der Zauber der Liebe blieb. Stundenlang konnte er am schmierigen Lichtwagen stehn, sich den Qualm der Unschlittlampen an die Nase gehen lassen, nach ihr hinausblicken, an einem Blick von ihr erzittern und in dem Balken- und Lattengerippe sich ein Paradies fühlen. Die ausgestopfte Lämmchen, Wasserfälle von Zindel, die pappene Rosenstöcke und die einseitigen Strohhütten rührten in ihm die lieblichsten Bilder, die er je in Dichtern von Schäferwelt gelesen hatte, sogar die hagere, langmäßige, weitbrüstige Tänzerinnen waren ihm nicht immer zuwider, weil sie auf einem Brette mit seiner Einzigen stunden. Und so ist es gewiß, daß Liebe, die selbst Rosen- und Myrtenwäldchen und Mondschein erst beleben muß, auch Hobelspäne und Papierschnitzeln beleben kann. Sie ist so eine starke Würze, daß die schalsten und ekelsten Brühen davon schmackhaft werden. Solch einer Würze brauchte es freilich, um den Zustand leidlich und in der Folge angenehm zu machen, in dem er gewöhnlich die verworrne Haushaltung ihrer Stube, auch wohl gelegentlich sie selbst antraf. In einem feinen Bürgerhause erzogen, war Ordnung und Reinlichkeit das Element, worin er atmete, und seine erhöhte Einbildungskraft hatte von jeher sein Zimmer, das er als sein kleines Reich ansah, stattlich ausstaffiert. Seine Bettvorhänge waren in großen Falten mit Quasten aufgezogen, wie die Thronen gemalt werden, mit einigen Unkosten hatte er sich einen Teppich in die Mitte des Zimmers und einen feinen auf den Tisch angeschafft. Seine Bücher und Gerätschaften legte und stellte er fast mechanisch so, daß sie meist eine schöne Gruppe machten, seine Mütze hatte er wie einen Turban zurechtegelegt und die weiten Ärmel an seinem Schlafrock nach türkischem Schnitt kurz stutzen lassen, davon er zwar die Ursache angab, daß sie ihn im Schreiben hinderten, und wenn er abends ganz allein war und niemand mehr zu fürchten hatte, trug er eine Seidenschärpe um den Leib; auch sagt man, daß er wohl manchmal einen Dolch, den er sich aus einer alten Rüstkammer zugeeignet, in Gürtel gesteckt habe und die Stube mit auf und ab marschiert sei, ja er soll nie anders sein Gebet als kniend auf dem Teppich verrichtet haben. Diese fastuose Seite seines Charakters und Betragens schadete übrigens seinem guten, natürlichen Wesen sehr wenig, sogar, wer genau achthaben wollte, würde diesen Zug in vielen Kindern und jungen Leuten antreffen. Ja was sag ich! ist’s doch in der Welt hergebracht, daß man sich die Majestät kaum anders als im Schlepp- und Prachtmantel denken kann, daß das Hohe des Standes, das Edle der Tat nur in pausbäckiger Repräsentation dem Menschen sichtbar und nachahmbar wird und daß man sie nicht fühlen machen kann, daß das Große und Erhabene nur das Reinste und Wahrste des Natürlichen ist, und daß sich’s eben drum weder vorzeigen noch nachahmen läßt.
Wie glücklich pries daher Wilhelm in seinem Herzen den Komödianten, den er im Besitz so mancher majestätischer Kleider, in steter Übung eines edeln Betragens sah, dessen Seele einen Spiegel des Herrlichsten und Prächtigsten, was die Welt je an Gesinnungen und Leidenschaften hergebracht, darstellte. Er dachte sich dessen häusliches Leben als eine Reihe von würdigen Handlungen und Beschäftigungen, davon die Erscheinung auf dem Theater nur die äußerste Spitze, nur wie der Blick des Silbers sei, das, vom Läuterfeuer lange umgetrieben, aus farbiger Regenbogenschönheit endlich blinkend vor den Augen des Arbeiters in einem Korne daliegt.
Anfänglich machte es ihn stutzen, wenn er bei seiner Geliebten war und durch den glücklichen Nebel, der ihn umhüllte, nebenaus auf Tische, Stühle und Boden sah; die Trümmern eines augenblicklichen, leichten, falschen Putzes lagen wie das glänzende Kleid eines Fisches, den man abgeschuppt hat, zerstreut in rascher Unordnung durcheinander. Die Werkzeuge menschlicher Reinlichkeit, Kämme, Seife, Tücher, Pomaden waren mit den Spuren ihrer Bestimmung gleichfalls unversteckt; Bücher und Schuhe, alte Wäsche und italienische Blumen, Etuis, Haarnadeln, Schminkbüchschen und Bänder, Musik und Strohhüte, keines verschmähte die Nachbarschaft des andern, alle waren durch ein gemeinschaftliches Element von Puder und Staub vereinigt. Doch da Wilhelm meist nicht wußte, wo er war, wenn er sie sah, da alles ihr gehörte, sie berührt hatte, ward ihm alles lieb und sogar fühlte er endlich in dieser unordentlichen, verworrnen Wirtschaft einen Reiz, der ihm niemals in seiner staatischen Prunkordnung das Herz geöffnet hatte. Es war ihm, wenn er hier ihre Schnürbrust wegnahm, um zum Klavier zu kommen, dort ihre Röcke aufs Bett legte, um sich zu setzen, wenn sie selbst mit unbefangner Freimütigkeit manches Natürliche, das Fremde sonst so sehr gegeneinander zu verheimlichen pflegen, vor ihm nicht zu verstecken suchte, es war ihm, sag ich, als wenn er ihr näher wäre, als wenn eine Gemeinschaft zwischen ihnen sich mit unsichtbaren Banden befestigte.
Schwerer zu verdauen war die Aufführung der übrigen Schauspieler, die er manchmal bei ihr antraf und durch sie kennenlernte. Geschäftig im Müßiggange, machten sie gewöhnlich von den äußersten Kleinigkeiten großes Aufhebens, was für Kleider sie anziehen, von welcher Seite sie herauskommen wollten, wie lange das Stück spielen würde, Klagen über die Ungerechtigkeiten des Direkteurs, der ihre Talente verkenne, daß der seine Rolle gestern nicht gewußt habe, daß jenes Stück nicht zu spielen sei, daß das teutsche Theater täglich sich verbeßre und der Komödiant immer mehr geehrt werde. Das waren die theatralische Diskurse. Im gemeinen Leben kamen die Kaffeehäuser und Weingärten, Spiel, irgendein Kamerad wegen Schulden im Gefängnis, was irgendein Akteur bei einer andern Truppe monatlich hat, ein Streit zwischen ein paar bissigen Weibern, darüber die Gesellschaft in zwei Parteien fiel, und dergleichen Dinge mehr vor. Der Schluß war immer das Publikum und seine Aufmerksamkeit und Zufriedenheit und der große, wichtige Einfluß des Theaters auf die Bildung einer Nation und der Welt.
Wilhelm wußte nicht, wie er das zurechtelegen sollte, er kam nicht zustande, sich einen deutlichen Begriff von diesen Widersprüchen zu bilden, da ihm seine Liebe zum übrigen Nachsinnen wenig Zeit ließ.
Siebzehntes Kapitel
Es geschieht gar selten, daß zwei junge, gleich unschuldige Seelen Hand in Hand den Weg der Liebe miteinander ausgehn, harmlos vor sich hinwallen und, in schlingenden Pfaden verloren, sich wider Vermuten an Orte geführt sehen, die sie sich weit entfernt glaubten. Denn wie die Natur fast durchaus Unerfahrenheit der Erfahrenheit untergeordnet hat, so ist’s auch hier; ein Teil wird immer die Rolle des Freundes spielen, der, in einer Gegend schon bekannt, den Ankömmling in ihre Schönheiten einweihen will. Schweigend lenkt er ihn unmerklich hie- oder dorthin, läßt ihm bei diesem und jenem Anblick sein Entzücken, ohne zu verraten, was für Großes ihm bevorsteht, läßt ihn mühsam auf- und absteigen, wo es nicht nötig wäre, um eine angenehme Aussicht von der Seite zu zeigen, wo sie eben die meiste Wirkung tut, und der andere, er merke die List oder nicht, dankt seinem Führer für die liebevolle Mühe.
So bescheiden Wilhelm war und ganz im Glauben an Marianens Tugend, stiegen seine Liebkosungen an ihr unmerklich mit jedem Tage, und sie, ohne ihn aus dem Besitze des zu setzen, was er sich anmaßte, hielt ihn nur auf jeder Stufe eine Zeitlang auf, wo ihn seine Liebe und Ehrfurcht ohnedas ein wenig ausruhen hießen. Ihre Verlegenheit, ihr ohnmächtiger Widerstand, den sie seinen Küssen entgegensetzte, ihr tiefes Nachdenken, in das sie oft verfiel, setzte ihn in solche entzückte Leidenschaft, daß er mit allen Fasern seines Lebens an ihr hing. Mariane lernte das Glück der Liebe, das ihr fremd war, in seinen Armen erst kennen, und die Herzlichkeit, mit der er sie an seinen Busen drückte, die Dankbarkeit, der es oft an ihrer Hand gnügte, durchdrang sie, und täglich lebte sie freier auf. Oft wünschte sie nunmehr ernstlich bei sich, von jener Verbindung, die wir oben erwähnten, deren Gedanke ihr täglich widriger ward, los zu sein. Aber wie loskommen? Jeder weiß, wie schwer der Mensch angeht, einen entscheidenden Schritt zu wagen, daß Tausende eher ihr Leben in abschleichendem Schicksal kümmerlich jedem neuen Tag hinüberschleppen! Und nun gar ein Mädchen in diesen Umständen! Sie hatte sich gar bald, wie nebenher, nach Wilhelms Vermögen, nach seinen Verhältnissen erkundigt, da sie denn wohl sah, daß sie keinen Ersatz dessen, was sie ihm aufzuopfern wünschte, hoffen könnte. Schon was ihm an Interessen von einem Kapital, das die Großmutter ihren Enkeln noch bei Lebzeiten der Eltern bestimmt hatte, zufiel, hatte er alles an Marianen gewendet, sie überlegte hin und her, und wenn sie keinen Ausweg sah, überließ sie sich wieder eine Weile dem Geratewohl, dem Leben und der Liebe. Täglich aber versanken mehr die Leichtigkeit, Lebhaftigkeit, Witz, wodurch sie im Anfang ihrer Leidenschaft einander fest zu binden, zu unterhalten gesucht und jede Liebkosung gewürzt hatten. Sonst scherzten sie oft in kleinen Szenen aus diesem oder jenem Stück, verspotteten einander mit lieblichen Neckereien irgendeines Dichters, und wenn der Gereizte ihr zuletzt um den Hals fiel und sie mit einem Kuß bestrafte und sie durch so eine selige Katastrophe das Vergangne zu Lügen machten, da waren’s die höchste Zeiten der Liebe, nun aber, da sie sich in diesen Freuden übernahmen, hatte es eine Wirkung auf Wilhelms Kopf, als wär er in Bier berauscht, er ward dumpf und unbehaglich in seinem Sehnen, daß er auf allerlei kleine Eifersucht und Neckereien fiel, das man ihm wohl verzeihen muß, denn er war schlimmer dran, als der einem Schatten nachläuft, denn er hielt in seinen Armen, er berührte mit seinen Lippen, was er nicht genießen, woran er sich nicht sättigen sollte. Mariane, die seine Qual nicht verkannte, hätte wohl schon in manchen Augenblicken das Glück, das er so sehnlich wünschte, mit ihm geteilt, sie fühlte in sich, daß er weit mehrers wert war, als sie ihm geben konnte, aber seine Verwirrung und seine Liebe verdunkelten ihm seine Vorteile, und ihre Stille, ihre Unruhe, ihre Tränen, ihre fliehende Umarmungen – lieblichste Töne der ergebenden Liebe – warfen ihn außer sich in überdrängten Schmerz zu ihren Füßen, bis sie beide zuletzt in dämmernden Augenblicken des Taumels sich in den Freuden der Liebe verloren, die das Schicksal den Menschenkindern aufspart, um sie für so viel Druck und Leiden, Mangel und Kummer, Harren, Träumen, Hoffen und Sehnen einigermaßen zu entschädigen.
Achtzehntes Kapitel
Wilhelm, der nun ohne Ausnahme glücklich war, überließ sich ganz den Entzückungen der Liebe. War er vorher durch Verlangen und Hoffnungen an Marianen gebunden, so war er es nunmehr durch die seligste Befriedigung, in der er immer wieder neuen Durst zu trinken schien. Das Andenken Marianens ergriff ihn in der kleinsten Abwesenheit nun immer lebhafter; denn war sie ihm sonst notwendig gewesen, so war sie ihm jetzt unentbehrlich, da er mit allen Banden der Menschheit an sie geknüpft war. In der Reinheit seiner Seele fand er, daß sie die Hälfte, mehr als die Hälfte seiner Seele sei. Er war dankbar und hingegeben ohne Grenzen. Auch Mariane konnte sich eine Zeitlang täuschen, sie teilte die Empfindung seines lebhaften Glücks mit ihm. Ach, wenn nur nicht manchmal die kalte Hand des Vorwurfs ihr übers Herz gefahren wäre! Selbst an dem Busen Wilhelms war sie nicht sicher davor, selbst unter den Flügeln seiner Liebe. Und wenn sie nun gar wieder allein war und aus den Wolken, in denen seine Leidenschaft sie emportrug, herab in die Erkenntnis ihres Zustands fiel, dann war sie zu bedauren. Denn Leichtsinn war ihre Hülfe, so lang sie in niedriger Verworrenheit lebte, sich über ihren Zustand betrog oder vielmehr ihn nicht kannte; da erschienen ihr die Vorfälle, denen sie ausgesetzt war, nur einzeln. Vergnügen und Verdruß lösten sich ab, ihre Demütigung wurde durch Eitelkeit und der Mangel oft durch augenblicklichen Überfluß vergütet. Sie konnte Not und Gewohnheit sich als Gesetz und Rechtfertigung anführen, und so lange ließen sich alle unangenehme Empfindungen von Stund zu Stund, von Tag zu Tag abschütteln. Nun aber hatte das arme Mädchen sich Augenblicke in eine bessere Welt hinübergerückt gefühlt, hatte, wie von oben herab, aus Licht und Freude ins Öde, Verworfene ihres Lebens heruntergesehen, hatte gefühlt, welche elende Kreatur ein Weib ist, das mit dem Verlangen nicht zugleich Liebe und Ehrfurcht einflößt, und fand sich äußerlich und innerlich immer am vorigen Flecke. Sie hatte nun gar nichts, was sie aufrichten konnte; wo sie hinsah und suchte, war’s in ihren Gedanken leer, und ihr Herz hatte keinen Widerhalt. Ganz im Gegenteil schwebte Wilhelm, ihm war auch eine neue Welt aufgegangen, aber voll glücklicher Aussichten. Ließ das Übermaß der ersten Freuden in etwas nach, so stellte sich das licht vor seine Seele, was ihn bisher dunkel durchwühlt hatte: „Sie ist dein! Sie hat sich dir hingegeben! Sie, das geliebte, gesuchte, angebetete Geschöpf dir auf Treu und Glauben hingegeben, aber sie hat’s keinem Undankbaren.“ Wo er stand und ging, redete er mit sich selbst, sein Herz floß beständig über, und er sagte sich in einer Fülle von prächtigen Worten die erhabenste Gesinnungen vor, er glaubte den hellen Wink des Schicksals zu verstehen, das ihm durch Marianen die Hand reichte, sich aus dem stockenden, schleppenden bürgerlichen Leben herauszureißen, das er schon so lange gewünscht hatte. Die Uneinigkeit seiner Eltern lag ihm auf dem Herzen; täglicher Zeuge von so einem Übel zu sein, greift das Herz an, das sich entweder mit verzehrt oder sich verhärtet und auf beide Art zugrunde geht. Dazu kam, daß einer seiner Freunde, ein sehr gesetzter Mensch, um seine ältere Schwester sich bewarb, und dem Vater also in seinem Handel beistehn und seine Stelle vertreten konnte.
Der Gedanke, seines Vaters Haus, die Seinigen zu verlassen, schien ihm leicht, kam gar nicht mit in Anschlag. Er war jung und neu in der Welt, und sein Mut, in ihren Weiten nach Glück und Befriedigung zu rennen, durch die Liebe erhöht. Seine Bestimmung zum Theater war ihm nunmehr klar, das hohe Ziel, das er sich vorgesteckt sah, schien ihm näher, indem er an Marianens Hand hinstrebte, und fehlen konnt es nicht, daß er in glücklichen Augenblicken den werdenden vollkommensten Schauspieler und den Schöpfer eines großen Nationaltheaters erblickte, nach den er so vielfältig hatte seufzen hören, und niemals ohne einige zufriedene Wendung auf sich selbst. Alles, was in den innersten Winkeln seiner Seele bisher geschlummert hatte, wurde reg, und aus den vielerlei Ideen mit Farben der Liebe ein Gemälde in Nebelgrund gearbeitet, wo freilich die Gestalten viel ineinanderflossen, aber auch das Ganze eine desto reizendere Wirkung tat.
Indessen lebte unser Paar mit ganz verschiedenem Drange des Herzens eine ganze Zeit weiter. Da ihnen keine Stunde zusammen lang wurde, so merkten sie kaum, wie schnell die Tage flohen, und ließen einen nach dem andern vorbei, ohne einen Entschluß zu fassen, der ihr Schicksal hätte aufklären oder bestimmen können.
Neunzehntes Kapitel
Wilhelms Freund und vermutlicher Schwager war einer von denen geprüften, in ihrem Dasein bestimmten Leuten, die gewöhnlich kalte Leute genennt werden, weil sie bei Anlässen weder schnell noch sichtlich auflodern. Auch war sein Umgang mit Wilhelmen ein anhaltender Zwist, wodurch ihre Liebe sich immer fester knüpfte. Jeder fand seine Rechnung beim andern. Werner tat sich was zugute drauf, daß er denen trefflichen, obgleich leider gelegentlich ausschweifenden Gaben Wilhelms mitunter Zügel und Gebiß anzulegen schien; und Wilhelm fühlte oft einen herrlichen Triumph, wenn er seinen bedächtlichen Freund in warmer Aufwallung mit sich fortnahm. So wetzte sich einer am andern, und sie wurden gewohnt, sich täglich zu sehen, eben darum, weil keiner was vom andern hatte, sie einander nicht verstunden, sich einander nicht verständlich machen konnten. Im Grund aber gingen sie doch, weil sie beide gute Menschen waren, nebeneinander, miteinander nach einem Ziel und konnten niemals begreifen, warum keiner den andern auf ebendie Gesinnungen reduzieren konnte. Werner spürte, daß Wilhelms Besuche seltner wurden, daß er in Lieblingsmaterien kurz und unruhig abbrach, daß er sich nicht mehr in lebhafter Ausbildung seltsamer Vorstellungen vertiefte, welches freilich immer ein Zeichen eines unbefangenen, sich selbst genügenden, in der Gegenwart eines Freundes Ruhe findenden Herzens ist. Werner, der sehr pünktlich war, suchte den Fehler in seinem eignen Betragen, so lang bis einige Kaffeehausgespräche ihn auf die Spur brachten und einige überfließende Unvorsichtigkeiten Wilhelms ihm mehr Gewißheit gaben. Er ließ sich auf eine nähere Untersuchung ein, entdeckte gar bald mit großem Entsetzen: Wilhelm habe sich an eine Komödiantin gehängt, an ein Weibsbild, das ihn verführe, ihn ums Geld bringe und noch dabei nebenher sich von dem unwürdigsten Nebenbuhler unterhalten lasse. Er unterließ nichts, sich von allem pünktlich zu überzeugen, und da er das war, formierte er eines Abends auf Wilhelm seinen Angriff, trug ihm alles haarklein erst gelassen, dann mit dem dringendsten Ernste der wohldenkenden Wahrheit vor, ließ keinen Zug unbestimmt, ließ seinen Freund alle die Bitterkeiten kosten, mit denen ruhige Menschen gegen Liebende so leicht freigiebig sind, aber er fiel auch aus den Wolken, als Wilhelm, zwar mit einiger Bewegung, doch mit großer Sicherheit versetzte: „Du kennst das Mädchen nicht! Ich weiß, daß der Schein wider sie ist, aber ich bin ihrer Treu und Tugend so gewiß als meiner Liebe.“ Werner blieb fest, erbot sich zu Beweisen und Zeugen, Wilhelm verwarf sie und ging bald in einer verdrießlichen Erschüttrung weg wie einer, dem ein ungeschickter Zahnarzt einen schadhaft festsitzenden Zahn gefaßt und vergebens dran geruckt hat. Mit heimlichem Unwillen schüttelte Wilhelm allen Verdacht aus seiner Einbildung, das schöne, ganze Bild Marianens, das vor seiner Seele stund, war durch Werners Erzählung auf einige Augenblicke verschoben und befleckt worden; es währte nicht lange, so hatte es Wilhelm wieder vollkommenlich gesäubert, zurechtegeruckt, und da er sie gar abends einen Augenblick wiedersah, fing es an, von neuem zu leuchten und zu glänzen.
Werner sann nun Tag und Nacht, wie er seinen Freund durch Zureden und Vorstellungen wieder zurechtbringen könnte, machte verschiedene Versuche, denen aber ganz gelinde ausgewichen wurde; darüber wurde er traurig und konnte nicht begreifen, wie die besten Gesinnungen, in reiner Wahrheit vorgetragen, auf Wilhelms gutes, treffliches Herz Eindruck zu machen nicht kräftig genug sein sollten.
Der alte Meister lag diese Zeit her an einer Krankheit nieder; Wilhelms Arbeiten nahmen ihm seine Tage, die Sorgfalt für seinen Vater die Abende weg, es blieb ihm also für seine Geliebte nur die Nacht übrig. Sie wurde auch mit ihm drauf eins, er fand eine Türe, die aus einem Holzstall in ein enges Gäßchen ging, sehr bequem, um nächtlich sein Haus zu verlassen.
Die seltsame Stimmung der Nacht, die öden Gassen, die er sonst nur voller Gewerbe gewohnt war, die flimmernde Nachtlichter seiner Bekannten und das Gefühl des Geheimnisses würzten das Abenteuer, und er schlich, in seinen Mantel eingewickelt, alle Lindors und Leanders im Busen, meist nachtnächtlich ein zu seiner Geliebten.
Zwanzigstes Kapitel
Mariane, die ihn immer lieber gewann, war indes in einem erbärmlichen Zustand. Die Freigebigkeit ihres reichen Liebhabers war durch seine Abwesenheit nicht unterbrochen worden, und nun hatte er ihr mit Überschickung eines Stück Nesseltuchs zum Nachtkleide seine nächste Ankunft gemeldet.
Sie war schon oft in Verlegenheit gewesen und konnte in das Schicksal des folgenden Tages wie in eine trübe Ewigkeit hinstarren. Nun diesmal war sie von zu viel Seiten gedrängt. Zwei Liebhaber nebeneinander, das unter andern Umständen wohl angegangen wäre, wurde hier schon schwerer. Wilhelm hatte ihr in der Treue seines Herzens den Verdacht haarklein erzählt, den man ihm gegen sie beibringen wollen, sie wußte also, er war wenigstens aufmerksam; der andre war übermütig, tölpisch in seinem Betragen, und sie war in einem Zustande, wo sie’s mit keinem verderben wollte, um eines gewiß zu sein. Wilhelms Zärtlichkeit hatte über ihre Klugheit gesiegt, und sie fühlte, daß ihr das unerwünschte Glück, Mutter zu werden, bevorstehe. Sie hatte es einer alten Theaterschneiderin, die eine bewährte Vertraute in solchen Fällen war, entdeckt, die nach einigen grausamen Vorschlägen, vor denen Marianen schauderte, ihr den Rat gab, sie möchte lieber, wenn es doch einmal sein sollte, die Schuld auf den reichen als den armen Liebhaber bringen und überhaupt gegen Wilhelmen sich nur nichts merken lassen, übrigens wegen geschickter Behandlung der Sache auf sie ein vollkommnes Vertrauen setzen. Eben diese Alte hatte schon Marianen vor einer feierlichen Verbindung mit Wilhelmen bewahrt, sie hielt ihn nur vor einen Setzling, den ein kluger Fischer wieder ins Wasser wirft. „Was wollen Sie mit ihm?“ sagte sie oft. „Seine Eltern werden nicht leiden, daß er Sie heuratet, und mit ihm durchzugehen wäre eine unverzeihliche Narrheit; er hat nichts, und wozu einen Mann am Hals, der. noch dazu in Sie verliebt wäre, und über das alles ist unser Direktor ein Mann, der keinen Spaß versteht, sobald ein Abenteuer éclat wird, er ist eifrig auf die Renommee seiner Truppe, wie er’s heißt, und eh man sagen sollte, eine von seinen Aktricen habe einen hübschen Bürgerssohn debauchiert, er jagte sie am Tage des Aufbruchs weg. Und wo hernach hin? Ein reisender Komödiant ist ein elender Geschöpf als alle reisende Handwerksbursche. Davor, wenn Sie sich ihn erhalten, kommen Sie vielleicht übers Jahr wieder hierher, sein Vater ist indessen tot, und es läßt sich immer wieder eine alte Liebe mit Vorteil anknüpfen.“ Die Theaterschneiderin war von den Kindern dieser Welt, sie hatte recht bis auf einen gewissen Punkt und behielt auch in Marianens Herze recht bis auf einen gewissen Punkt, denn diese hatte doch keinen Gedanken, wie sich’s von Wilhelm scheiden ließe. Indessen hat die Klugheit so was Gebietendes, daß wir ihr oft auch wider unsre Neigung folgen. Wilhelm verstund Marianens Betragen nun gar nicht; er, der sie ganz vor seine Frau ansah, sie nicht anders als sein liebes Weibchen nannte, oft durch seine Liebkosungen sie zu einer nähern Erklärung, Bestimmung dieses Verhältnisses leiten wollte, er fühlte sie immer ausweichen auf dem Punkt von Heuraten, wo die Mädchen einem so leicht entgegenkommen; und doch war er wieder delikat, vermutete wieder ganz andere Delikatesse von ihr, kam in Willens, sich zu erklären, und ging wieder weg von der Seite, wie er gekommen war, zersann sich, zerstritt sich wieder einen Tag in sich selbst, stand immer auf dem Sprung und kam niemals vom Fleck. Über das alles aber wurden seine Ideen immer mehr bestätigt, seine dunkle Aussichten, seine verworrne Hoffnungen wurden zu Planen. Er hatte während der Krankheit seines Vaters die Heurat seiner ältern Schwester mit Wernern unmerklich beschleunigt; sie war insoweit richtig, nur die notwendige Umständlichkeiten hielten sie noch eine Weile auf. Er hatte schon in Gedanken seinen wieder auflebenden Vater ganz gesund gemacht, seinen Schwager an seine Stelle im Handel und Wandel der Familie untergeschoben, und er schien sich manchmal die Füße aus den schwer geschloßnen Ketten zum Versuche herauszuziehen, wie ein künstlicher Dieb oder ein Zauberer in der Gefangenschaft manchmal tut, um sich zu überzeugen, daß seine Rettung möglich und näher sei, als die kurzsichtige Menschen glauben. Wenn er denn nun in freier, nächtlicher Stunde abschüttelnd allen Druck über einen großen Platz wandelte und seine Hände gen Himmel reichte, er fühlte alles hinter und unter sich; er los von allem, und nun entgegen den Umarmungen seiner Geliebten in verstohlner Nacht, und wieder sich denkend in den Umarmungen seiner Geliebten auf dem blendenden Theatergerüste, und so Natur und Kunst, und bewundert und beneidet, so war ihm immer der weite Weg durch die Stadt zu ihrem Hause ein Augenblick, ununterbrochen als hie und da durch eines Nachtwächters Ruf; und wenn nun wieder Mariane ihn mit Natur und Kunst empfing, ihren heimlichen Kummer bemeisterte und ihr Vergnügen aufstutzte, wenn sie das weiße Nachtkleid, darin sie wirklich recht englisch aussah, in seinen Armen unvermutet einweihte, was blieb ihm, an gegenwärtigem Vergnügen ersättigt, übrig, als seine Geliebte mit in die frohe Zukunft zu reißen, wenn sie, die nun niemals mitzuempfinden schien, auf die lieblichste Fragen, ob er sich Vater glauben dürfe, zugeschlossen und verlegen war! Er legte es freilich wieder aus und herrlich genug, bot die ganze Zeit den Überfluß seiner Empfindung und seiner Gutmütigkeit auf, um zurechtezulegen und Lücken zu füllen, nur daß ihm nie dabei wohl werden konnte.
Einundzwanzigstes Kapitel
Der Direktor unserer Schauspielergesellschaft hatte schon verschiedentlich mit dem Abzug gedroht; denn obgleich die Stadt nicht ganz gering war und sich manche wohlhabende Bürger, auch reiche Müßiggänger darinne fanden, so konnte er doch sein Konto außer den Messen nicht finden. Vielen war das Drama von Bub, Dame, König und Aß interessanter, die übrige Theaterfreunde reflektierten auf den halben Gulden oder behalfen sich mit Freibilletts; zum Abonnieren hatten sie durchaus keinen Sinn, und so ging die Kunst nach Brote, wie’s in dieser Welt hergebracht ist, da man nicht leicht eine Idee vom Spaß haben kann als gratis. Dies war nun zwar oft ein blinder Lärm, der aber doch das Publikum aufs neue zu kommen und Wilhelmen dringendere Anstalten zu machen bewegte. Werner nahm nun wirklich Teil an den Handelsgeschäften, und Wilhelm, der nie aus seiner Vaterstadt gekommen war, hatte ihn, der sich auf verschiedenen fremden Plätzen umgesehen hatte, überzeugt, daß für den Unerfahrnen auch eine solche Reise höchst nötig sei. Sie waren über eine gewisse Summe Geldes übereingekommen, die Werner schaffen und sich nach und nach wieder bezahlt machen sollte; und wenn Wilhelm bei sich diesen Betrug ganz für heilig hielt und überzeugt war, daß ihn seine Eltern und Verwandten in der Zukunft dafür segnen sollten, so war doch der Gedanke an den ersten Augenblick, da sie’s erfahren würden, ein Steinchen, an dem seine Imagination sich manchmal wund stieß. Endlich schien die Gesellschaft im Ernst ihren Aufenthalt nicht länger fristen zu wollen. Norman, Wilhelms Nebenbuhler, beschleunigte seine Reise, um Marianens Liebe noch wenige Tage zu genießen, und Wilhelm faßte sich nun schließlich und letztens zusammen, um sie auf ewig zu besitzen und sich ans Theater mit unauflöslichen Banden zu knüpfen.
Werner, den er nun stärker antrieb, ihm das Mittel zur vorgegebenen Reise zu erleichtern, argwohnte nichts Übels, denn die Klugheit vermutet nicht das Außerordentliche. Er dachte, es ist gut, daß es sich eben so trifft und Wilhelm einen Ort, der ihm so oft eine unschickliche Liebe ins Gedächtnis rufen muß, bald nach dem Gegenstande verläßt.
Wilhelm war die letzte Zeit in seinen Gängen geheimer geworden; dies ließ den andern eine Beßrung schließen, hielt ihn von weitern Maßregeln ab und gab ihm alle Bereitwilligkeit, die Wilhelm wünschen konnte.
Auf der andern Seite war es Marianen ein willkommnes Wort, als Wilhelm von ihr die Erlaubnis bat, sie einige Tage nicht zu sehen; sie kriegte dadurch Luft, ihren ungestümen Norman, dem ihr Herz nicht entgegenging, wenigstens in einiger Fassung zu bewillkommen. Wilhelm saß nun bei sich zu Hause, kramte unter seinen Papieren, musterte seine Besitztümer, was ihm wohl bei seiner Wanderung in die Welt nützlich sein könnte. Was nach seiner bisherigen Bestimmung schmeckte von Büchern und sonst, ward alles abseits gelegt. Nur die Werke des Geschmacks, Dichter und Kritiker, wurden als bekannte Freunde unter die Erwählten gestellt, und da er bisher sehr wenig von den letzten profitiert hatte, so erneuerte sich seine Begierde darnach, als er sie schamrot jetzo wieder durchsah und fand, daß sie vom Buchbinder her noch unaufgeblättert waren. Er hatte sie sich in der völligen Überzeugung, wie notwendig solche Werke seien, angeschafft und niemals in dem Studio derselben vom Flecke kommen können. Einen Teil der Zeit wandte er auch an, um an Marianen einen langen Brief zu schreiben; er bedurfte der Schrift, um alles recht rund und voll zu sagen, wie er’s bei sich in seinem Herzen fühlte; denn ob er gleich auf dem Theater eine auswendig gelernte Rolle frischweg deklamierte und sich auch im gemeinen Leben weitläufig über Meinungen und Grillen perorierend herausließ, so stockte es ihm doch oft in der Kehle, wenn er seine Empfindungen lebhaft mitteilen sollte; er konnte nie große Worte gnug finden, um das, was er fühlte, auszudrücken, und wenn er der Worte zu viel machte, fand er doch, daß es nicht recht mit dem, wie’s in ihm war, zusammenstimmen wollte; das Schreiben half ihm aus dieser Verlegenheit, denn wie wir einem abwesenden Geliebten eine herrlichere Gestalt zu geben gewohnt sind, so finden wir auch nichts Ungereimtes in einem erhöhten Ausdruck unsrer Gefühle, welchen die allem Romantischen so feindselige Gegenwart mehrenteils mißbilligt. Der Brief, den er Marianen schrieb, war folgender:
Zweiundzwanzigstes Kapitel
Unter der lieben Hülle der Nacht, die mich sonst in deinen Armen bedeckte, sitz ich und denk und schreibe an dich, und was ich sinne und treibe, ist um deinetwillen. O Mariane! mir, dem glücklichsten unter den Männern, ist’s wie einem Bräutigam, der ahndungsvoll, welch eine neue Welt sich in ihm und durch ihn entwickeln wird, vor den geheiligten Teppichen steht, gedankenvoll, lüstern, vor den geheimnisvollen Vorhängen, woher ihm die Lieblichkeit der Liebe entgegensäuselt. Ich hab es über mich gewonnen, dich einige Tage nicht zu sehen, es war leicht in Hoffnung einer solchen Entschädigung. Ewig mit dir zu sein! ganz der Deinige! Liebste, du weißt nicht, was ich will, und doch könntest du’s wissen. Wie oft hab ich mit leisen Tönen der Treue, die, weil sie alles zu halten wünscht, nichts zu sagen wagt, an deinem Herzen geforscht nach dem Mitverlangen einer ewigen Verbindung. Verstanden hast du mich gewiß, denn in deinem Herzen muß ebender Wunsch keimen; vernommen hast du mich in jedem Kuß, in jedem Augenblicke anschmiegender Ruhe; und nun deine Ausweichungen, deine Bescheidenheit – wie lieb ich dich, meine Beste! Was eine andre durch Künste hervorzulocken sucht, den Entschluß, den meist das Mädchen durch übrigen Sonnenschein reif zu machen trachtet, dem entziehst du dich und schließest die schon halb geöffnete Brust deines Geliebten durch anscheinende Gelassenheit wieder zu. Ich verstehe dich! Welch ein Elender müßt ich sein, wenn ich an diesen Zeichen die reine, uneigennützige, mehr für mich besorgte Liebe nicht erkennen wollte! Sei ruhig! wir gehören einander an, und keins von beiden verläßt oder verliert etwas, wenn wir füreinander leben. Nimm sie hin, diese Hand, feierlich noch dies überflüssige Zeichen. Alle Freuden der Liebe haben wir empfunden, aber es sind neue Seligkeiten in dem bestätigten Gedanken der Dauer. Frage nicht, wie! sorge nicht! das Schicksal sorgt für die Liebe, und das um so gewisser, da sie genügsam ist. Mein Herz hat schon lang meiner Eltern Haus verlassen, es ist bei dir, wie mein Geist auf der Bühne schwebt. O meine Geliebte! ist leicht ein Mensch, dem so gewährt ist wie mir, seine Wünsche zu verbinden? Was mir jetzt keinen Schlaf in die Augen kommen läßt, was mich an meine Papiere heftet, was in mir wie eine ewige Morgenröte auf- und absteigt, deine Liebe und mein Glück. Ich halte mich kaum, daß ich nicht auffahre, hinrenne, und bezwinge mich, um sicherzugehen und nicht wie ein Unbesonnener törichte, verwegne Schritte zu tun. Ich habe mit Direkteur S. Bekanntschaft, meine Reise geht gerade zu ihm, er hat vor einem Jahr oft seinen Leuten etwas von meiner Lebhaftigkeit und Freude am Theater gewünscht, und ich werde ihm gewiß willkommen sein. Denn bei eurer Truppe ist’s nichts, auch ist S. so weit von hier, daß ich anfangs meinen Schritt verbergen kann. Einen leichten Unterhalt find ich da gleich, ich sehe mich um im Publiko, lerne seine Leute kennen, hole dich nach und – Mariane! du siehst, was ich über mich gewältigen kann, um dich gewiß zu haben; denn dich so lange nicht zu sehen, dich in der weiten Welt zu wissen, recht lebhaft darf ich’s mir nicht vorsagen – und dann wieder deine Liebe, die mich vor allem sichert! Und ich bitte dich, versag mir das einzige nicht, eh wir uns scheiden, gib mir deine Hand vor dem Priester, ich werde ruhig gehen. Es ist nur Formel unter uns, aber so eine schöne Formel; der Segen des Himmels zu dem Segen der Erde! In der Nachbarschaft, im Ritterschaftlichen geht’s leicht und heimlich an. Geld für den Anfang für uns beide hab ich, wir wollen teilen, und ehe das all ist, wird der Himmel weiterhelfen. Ja, Liebste! es ist mir gar nicht bange. Was mit so viel Fröhlichkeit begonnen wird, muß ein glückliches Ende nehmen. Ich habe nie gezweifelt, daß man sein glücklich Fortkommen in der Welt finden könne, wenn’s einem Ernst ist, und ich fühle mir Mut genug, für zwei, für mehrere einen Erwerb zu gewinnen. Die Welt ist undankbar, sagen sie; ich habe noch nicht gefunden, daß sie undankbar sei, wenn man auf die rechte Art etwas für sie zu tun weiß. Mir glüht die ganze Seele beim Gedanken, endlich einmal aufzutreten und den Menschen in das Herz hineinzureden, was sie sich so lang zu hören sehnen. Wie tausendmal ist’s freilich mir, der ich so von der Herrlichkeit des Theaters eingenommen bin, bang durch die Seele gegangen, wenn ich die Elendesten gesehen habe sich einbilden, sie könnten uns ein großes, treffliches Wort ans Herz reden; es ist schlimmer, als was durch die Fistel gezwungen wird, eine Versündigung, wie’s in der groben Ungeschicklichkeit dieser Bursche herzugehen pflegt. Das Theater hat einen Streit mit der Kanzel oft gehabt, und sie haben einander nichts vorzuwerfen. Es wäre zu wünschen, daß an beiden Orten nur die edelsten Menschen stünden, daß Gott und Natur immer verherrlicht würden. Es sind keine Träume, meine Liebste: wie ich an deinem Herzen habe fühlen können, daß du in Liebe bist und für mich bist, so ergreife ich auch den glänzenden Gedanken und sage – ich will’s nicht aussagen, aber hoffen will ich’s, daß auf uns herabsteigen soll die große Schönheit und die so von allen gewünschte Erscheinung des Übermenschlichen in menschlicher Gestalt. So gewiß, als mir an deinem Herzen Freuden gewährt waren, die von den Menschen immer göttlich genennt werden, weil sie in diesen Augenblicken über sich selbst gehoben sind. Ich kann nicht schließen; ich habe schon so viel gesagt und weiß nicht, ob ich dir alles schon gesagt habe, alles, was dich angeht, denn für das Rad, wie sich’s in meinem Herzen dreht, sind keine Worte. – Nimm dieses Blatt indes, meine Liebe! Ich habe es wieder durchlesen und finde, daß ich von vornen anfangen sollte, indes hat’s alles, was du zu wissen nötig hast, was dir Vorbereitung ist, wenn ich nun bald mit der Fröhlichkeit der süßen Liebe an deinen Busen zurückkehre. Ich komme mir vor wie ein Gefangener, der in einem Kerker lauschend seine Ketten abfeilt. Ich sage gute Nacht meinen sorglos schlafenden Eltern und bald eine längere gute Nacht – – Leb wohl! für diesmal schließ ich, die Augen sind mir zwei-, dreimal zugefallen, es ist schon tief in der Nacht.“
Dreiundzwanzigstes Kapitel
Der Tag wollte, da es schon gegen das Frühjahr ging, gar nicht endigen, als er, diesen Brief schön gefaltet in der Tasche, sich zu Marianen hinsehnte. Endlich erschlich er ihre Wohnung und konnte sich in ihren Armen nach einer so langen Abwesenheit kaum wieder fassen. Ihr Herz war wie in Stücken geschnitten, geteilt mit sich selbst in schwer blutenden Schmerzen von jeder seiner Umarmungen. Sein Plan war, er wollte sich auf die Nacht nur anmelden, ihr beim Weggehen den Brief in die Hand drücken und ihre Entzückungen, ihre ergreifende Freuden bei seiner Rückkehr in tiefer Nacht genießen, und eh er sich’s versah, ward’s ihm ganz matt in der erwünschten Nähe seiner Geliebten. Sie war krank und konnte nicht sagen wo; unbehaglich war sie nun sehr und konnte sich auch auf den Vorschlag, daß er heute nacht wiederkommen wollte, nicht einlassen. Er, der bei einem längern Umgang dergleichen weibliche Winke zu ehren gewohnt war, stund in Stille ab, es war ihm aber doch, als wenn auch sein Brief nicht in der Jahreszeit wäre, er behielt ihn bei sich, da verschiedene ihrer Bewegungen ihn auf eine leidliche Weise wegzugehen nötigten. In dem Taumel seiner ahndenden Liebe raffte er noch ein Halstuch von ihr, das er auf der Kommode liegend fand, zusammen, steckte es in die Tasche und verließ wider Willen ihre Lippen und ihre Türe. Er schlich nach Hause, konnte da nicht lange bleiben, kleidete sich um, suchte wieder die freie Luft. Er hörte in einer Straße von Klarinetten, Waldhörnern und Fagotts eine angenehme Nachtmusik, es schwoll ganz durchaus in ihm. Es waren durchreisende Spielleute, er hatte schon von ihnen sprechen gehört. Er machte sich an sie, und für ein Stück Geld schleppte er sie mit sich nach Marianens Wohnung. Es waren Bäume in der Nachbarschaft, die den Platz von alther zierten, darunter steckte er seine Sänger, er selbst ruhte weiter hin, überließ seinen Busen ganz den schwebenden Tönen, die in der labenden Nacht um ihn säuselten. Unter den holden Sternen hingestreckt, war ihm sein Dasein wie ein goldner Traum. „Sie hört auch diese Flöten“, sagt’ er zu seinem Herzen, „sie fühlt, wessen Andenken, wessen Liebe die Nacht wohlklingend macht. Auch in der Entfernung sind wir durch diese Melodien zusammengebunden, wie in jeder Entfernung durch die feinste Stimmung der Liebe. Ach, zwei liebende Herzen, sie sind als wie zwei Magnetuhren, was in dem einen sich bewegt, muß auch das andere mit bewegen, denn es ist nur eins, was beide bewegt, eine Kraft, die sie durchgeht. Kann in ihren Armen der Mensch eine Möglichkeit fühlen, sich von ihr zu trennen? Und doch, ich werde fern von ihr sein, werde einen Heilort für unsere Liebe suchen und werde sie immer mit mir haben. Wie oft ist mir’s geschehen, daß ich abwesend von ihr, in Gedanken an sie verloren ein Buch, ein Kleid oder sonst was berührte und glaubte, ihre Hand zu fühlen, so ganz war ich mit ihrer Gegenwart umkleidet. Und jener Augenblicke mich zu erinnern, die das Licht des Tages wie das Auge des kalten Zuschauers fliehen, die zu genießen Götter den schmerzlosen Zustand gleich rein schwebender Seligkeit verlassen! – zu erinnern! – als wenn Erinnerung für den Rausch des Taumelkelchs wäre, der unsere Sinnen an himmlischen Stricken gebunden aus aller ihrer Fassung peitscht – und ihre Gestalt – – -“ Er verlor sich in Erinnerungen, die Ruhe ging in Verlangen hinüber, er umfaßte einen Baum, kühlte seine heiße Wange an der Rinde, und die Winde der Nacht saugten begierig den Hauch auf, der aus dem reinen Busen bewegt hervordrang. Er suchte nach dem Halstuch, das er von ihr mitgenommen hatte, es war vergessen, es stak im vorigen Kleide. Seine Lippen lechzten, seine Glieder zitterten in Verlangen. Die Musik hörte auf, und es war ihm, als wär er aus dem Elemente gefallen, in dem seine Empfindungen bisher getragen wurden. Seine Unruhe vermehrte sich, da seine Gefühle nicht mehr an den sanften Tönen genährt und gelindert wurden. Er irrte herum und ward gegen Marianens Wohnung getragen. Er setzte sich auf der Schwelle nieder, er ward schon beruhigter, er küßte den messingenen Ring, womit man an ihre Türe pochte. Er saß wieder eine Weile stille. Wie er sie sich dachte hinter ihren Vorhängen, im weißen Nachtkleide mit dem roten Band um den Kopf in süßen Träumen! und dann dacht er sich so nahe zu ihr hin, daß ihm vorkam, sie müßte nun von ihm träumen. Seine Gedanken waren lieblich wie die Geister der Dämmerung, Ruhe und Verlangen wechselte in ihm, die Liebe lief mit schaudernder Hand tausendfältig über alle Saiten seiner Seele; es war, als wenn der Gesang der Sphären über ihm stille stünde, um die leisen Melodien seines Herzens zu belauschen.
Hätte er den Hauptschlüssel bei sich gehabt, der ihm sonst Marianens Türe öffnete, er würde sich nicht gehalten haben, würde ins Heiligtum der Liebe eingedrungen sein. Er schwankte halb träumend unter den Bäumen hin, er entfernte sich langsam; etlichemal wollte er seitwärts nach Hause und ward immer wieder umgewendet, endlich, als er’s über sich vermochte und an der Ecke noch einmal zurücksah, kam’s ihm vor, als wenn Marianens Türe sich öffnete und eine schwarze Gestalt sich herausbewegte; er war zu weit, um deutlich zu sehen, eh er sich faßte und hinsah, war schon wieder in der Nacht die Erscheinung verloren, nur ganz weit schien sie ihm an einem weißen Hause hinzustreifen, er stund und blinzte, und eh er sich ermannte und nachlief, war sie in den mannigfaltigen Gassen verloren. Wie einer, dem ein Blitz die Gegend in einem Winkel erhellt, der drauf vergebens mit geblendeten Augen die vorige Gestalten, den Zusammenhang der Pfade in der Finsternis sucht, so war’s vor seinen Augen, so war’s in seinem Herzen.
Und wie ein Gespenst der Mitternacht, das ungeheure Schröcken erzeugt, in folgenden Augenblicken der Fassung für ein Kind des Schröckens kann ausgedeutet werden und Zweifel in der Seele endlos sich auf- und abwickeln, so war’s ihm, als er, an einen Eckstein gelehnt, des Morgens Lichtgrau und das Geschrei der Hahnen nicht achtete. Die frühe Gewerbe, die lebendig zu werden anfingen, trieben ihn endlich durch sein Schlupfloch nach Hause.
Er hatte sich, wie er ankam, dieses Blendwerk mit bündigsten Gründen ziemlich aus der Seele wegräsoniert, doch die schöne Stimmung der Nacht, an die er jetzt auch wie an eine Erscheinung zurückdachte, war auch dahin. Sein Herz zu letzen, ein Siegel seinem erholten Glauben aufzudrücken, zog er das Halstuch aus der vorigen Tasche; das Rauschen eines Zettels, der herausfiel, zog ihm das Tuch von den Lippen, er hob auf und las:
„So hab ich dich lieb, kleiner Narre, was war dir auch gestern? Heute nacht komm ich zu dir. Ich glaub wohl, daß dir’s leid tut, von hier wegzugehen, aber hab Geduld, auf die ***Meß komm ich auch. Höre, tu mir nicht wieder die schwarz-grün-braune Jacke an, du siehst drin aus wie die Hexe von Endor; hab ich dir nicht das weiße Negligé drum geschickt, daß ich ein weiß Schäfchen in meinen Armen halten will? Schick mir deine Zettel immer durch das alte Luder; die hat der Teufel selbst zur Iris bestellt.
N.“
Zweites Buch
Erstes Kapitel
Wilhelm war nunmehr auf der Besserung, und Werner kam noch redlich jeden Abend nach vollendeten Geschäften, wie er es in den schlimmern Zeiten der Krankheit seines Freundes gewohnt worden war, um ihn mit Erzählen, Vorlesen, auch wohl oft durch die bloße Gegenwart von den heimlichen Gedanken abzubringen, in denen der Unglückliche sein Schicksal wiederzukauen und sich selbst zu verzehren eine Wollust fand. Einmal, als Wilhelm in der Abenddämmerung aus dem Schlummer erwachte und die Vorhänge seines Bettes, um aufzustehen, teilte, sah er Wernern, der, indes angekommen, sich, um ihn nicht zu stören, mit einem Buche ins Fenster gestellt hatte. „Warum lässest du nicht ein Licht kommen?“ sagte der Kranke mit einem „guten Abend“; „was liesest du?“ – „Ich fand einen Teil des Corneille auf dem Tische und schlug eben seine Abhandlung über die drei Einheiten auf. Ich habe so viel darüber reden hören und war begierig zu lesen, was dieser berühmte Schriftsteller darüber entscheidet.“ – „Entschieden hat er nun wohl nichts“, versetzte Wilhelm. „Mir scheint seine Schrift mehr eine Verteidigung gegen allzu strenge Gesetzgeber als selbst ein Gesetz zu sein, wornach sich seine Nachfolger zu richten hätten.“ – „Ich merkte auch bald, daß ich mich geirrt hatte“, sagte Werner, „da ich mir aus diesen Blättern einen Maßstab in die Seele zu befestigen dachte, wornach ich künftighin die Schauspiele beurteilen könnte.“ – „Wenn es auch Regeln gibt“, fiel Wilhelm ein, „wornach man die Werke der Dichter richten darf, so mögen sie doch nicht so leicht anzuwenden sein als Elle und Gewicht und die vier Spezies der Rechenkunst.“ – „Ich verstehe das nicht“, sagte der andere, „denn wenn die Vorschrift einmal richtig und festgesetzt ist, so muß man ja leicht sehen können, ob der Schriftsteller sich darnach gerichtet hat oder nicht.“ Wilhelm war still.
Doch ich merke, um meine Leser zu befriedigen, werde ich die Erzählung an das Ende des vorigen Buchs anknüpfen müssen.
Die Pest oder ein böses Fieber ihresgleichen rasen in einem gesunden, vollsäftigen Körper, den sie anfallen, schneller und stärker, und so war der arme Wilhelm von seinem Schicksale überwältigt, daß in einem Augenblicke sein ganzes Eingeweide brannte. Wie wenn ungefähr unter der Zurüstung ein Feuerwerk in Brand gerät, gingen in seinem Busen Glück und Hoffnung, Wollust und Freuden, Wirkliches und Geträumtes auf einmal scheiternd durcheinander. In den Augenblicken solchen wüsten Geschickes erstarrt meistens der Zuschauer, und dem, den es trifft, ist es eine Wohltat, daß ihn die Sinne verlassen.
Die Zeiten des lauten, ewig in sich wiederkehrenden, unerträglichen Schmerzens folgten darauf. Doch sind auch diese für eine Gnade der Natur zu achten. In solchen Stunden hatte Wilhelm seine Geliebte noch nicht ganz verloren, seine Schmerzen waren unermüdet erneuerte Versuche, das Glück, das ihm aus der Seele entfloh, noch festezuhalten, die Möglichkeit davon in der Vorstellung wieder zu erhaschen. Und wie man einen Körper, solange die Verwesung dauert, nicht ganz tot nennen kann, denn die Kräfte, die vergebens in alten Bestimmungen zu wirken suchen, arbeiten jetzt an der Zerstörung und nur dann, wenn sich auch diese aufgerieben haben, wenn das Ganze in gleichgültigen Staub und Gebeine zerlegt ist, dann entstehet das erbärmlich leere Totengefühl, nur durch den Atem des Ewiglebenden zu erquicken.
In so einer neuen, ganz lieblichen Seele war viel zu ertöten, zu zerreißen, zu zerstören, und die schnellheilende Kraft, die in der Jugend ist, gab selbst der Gewalt des Schmerzens neue Nahrung und Heftigkeit. Der Streich war zu treffend tödlich. Werner, nun aus Not sein Vertrauter, griff voll Eifer zu Feuer und Schwert, um der gehaßten Leidenschaft, dem Ungeheuer, aufs innerste Leben zu gehen. Die Gelegenheit war so glücklich, die Zeugnisse so bei der Hand, er trieb’s mit solcher Heftigkeit und Grausamkeit Schritt vor Schritt, ließ dem Freunde nicht das mindeste Labsal des mindesten augenblicklichen Betruges und vertrat ihm jeden Schlupfwinkel, daß die Natur, die doch ihren Liebling nicht wollte zugrunde gehen lassen, ihn mit Krankheit anfiel, um ihm von der andern Seite Luft zu machen.
Ein lebhaftes Fieber mit seinen Folgen, den Arzneien und der Mattigkeit, die Bemühungen der Seinen ums Bette, die Nähe und Liebe der Mitgebornen, die durch Mangel und Bedürfnis erst recht fühlbar wird, waren so viele Zerstreuungen eines veränderten Zustandes und eine kümmerliche Unterhaltung. Erst wie er wieder besser wurde, das heißt, wie seine Kräfte erschöpft waren, sah er mit Entsetzen in den qualvollen Abgrund eines dürren Elendes hinab, eine Empfindung, als wenn man in den ausgebrannten, hohlen Becher eines Volkans hinuntersieht. Nunmehr machte er sich selbst die bittersten Vorwürfe, daß er, nach erlittenem so großem Verlust, noch einen schmerzlosen, ruhigen, gleichgültigen Augenblick haben könnte. Er verachtete sein eigen Herz und sehnte sich nach dem Labsal der Tränen und des Jammers. Um diese wieder in sich zu erwecken, brachte er vor sein Andenken alle Szenen des vergangenen Glückes. Mit der größten Lebhaftigkeit malte er sie sich aus, strebte er wieder in sie hinein, und wenn er sich zur möglichsten Höhe hinaufgearbeitet hatte, wenn ihm der Sonnenschein voriger Tage wieder die Glieder zu beleben und den Busen zu heben schien, sah er rückwärts auf den erschröcklichen Abgrund, labte sein Aug an dem Sturze, warf sich hinunter und erzwang von der Natur die bittersten Schmerzen. Und so wiederholt zerriß er sich selbst. Denn die Jugend, die so reich an eingewickelten Kräften ist, weiß nicht, was sie verschleudert, wenn sie dem Schmerz, den ein Verlust erregt, noch so viele erzwungene Leiden gleichsam nachwirft, als wolle sie Verlornem dadurch noch erst einen rechten Wert geben.
Er war so überzeugt, daß dieser Verlust der einzige, der erste und letzte sei, den er in seinem Leben machen könne, daß er jeden Trost verabscheute, der ihm diese Leiden als endlich vorstellen wollte. Jede freudige, sonst teilnehmende Ader haßt’ er an sich und nährte dagegen jene stillstehende, schleichende, in sich gekehrte Empfindung, die heimlich den Kern des Lebens aushöhlt. Leise, fieberhafte Bewegungen, Nachhälle seiner Krankheit, schlichen in seinem innersten Bau und wurden durch eine falsche Diät Leibes und der Seele unterhalten. Er floh die Menschen, enthielt sich in seiner Stube und konnte es nie warm genug darin haben. Der Kaffee, den er bisher noch gar nicht gekannt, schlich sich als Arznei bei ihm ein, dann wurde dieser Lieblingstrank erst einmal des Tages, darauf zweimal genommen und bald unentbehrlich. Dieser leidige und allgemein verbreitete Gift des Körpers und des Beutels wirkte bei ihm auf das gefährlichste. Seine Vorstellung wurde mit schwarzen, leicht beweglichen Bildern erfüllt, mit welchen seine Imagination ein rastloses Drama, das die Hölle des Dante zum würdigen Schauplatz erwählet hätte, aufzuführen sich gewöhnte. Die vorübergehende falsche Stimmung, die dieser verräterische Saft dem Geiste gibt, ist zu reizend, als daß man sie, einmal empfunden, entbehren möchte, die Abspannung und Nüchternheit, die darauf folget, zu öde, als daß man nicht den vorigen Zustand durch neuen Genuß wieder heraufholen sollte.
Der Tee, ein würdiger, obgleich weitläufiger Anverwandter der verderblichen Bohne, ward als ein guter Gesellschafter, die häusliche Langeweile zu ergötzen, auch abends gewöhnlich aufgefordert; und da dann gleichfalls der Wein nicht immer mäßig genommen wurde, wenn gute Freunde zu Tische waren und die Lebhaftigkeit des Gespräches sich in einem solchen Vehikel am besten ausbreitete, so entstand daraus und aus andern Verknüpfungen ein widriges Unbehagen in seinem ganzen Wesen. Er ward von falschen Launen gepeitscht, seine Begriffe waren verworren und übertrieben, man erkannte ihn fast nicht mehr gegen die vorigen Zeiten.
Leider wird dieser fast so unbeschreiblich- als unerträgliche Zustand von vielen wohl verstanden werden, die, wie unser Freund, sich für außerordentliche physische und moralische Phänomene ansehen und jene Bewegungen, die sie zerreißend beunruhigen, der Gewalt ihres Herzens, der Kraft ihres Geistes zuschreiben; da sie doch mit etwas mehr Ordnung in ihrer Diät, mit etwas mehr Natur in ihrem Genusse zu ihrer eigenen und zu der Ihrigen Zufriedenheit recht ordentliche und recht natürliche Menschen werden würden. Ja, erlaubt mir, meine Freunde, daß ich euch sage: Ihr erscheint mir oft wie kleine, sachte Bäche, worein die Knaben Steine tragen, um sie rauschen zu machen.
Die Reste jener ersten Krankheit stockten noch in Wilhelms Gefäßen. Durch seine Lebensart konnte die Natur nicht wieder in ihre gleiche Wege geleitet werden. Er verabscheute jede Zerstreuung und Bewegung. Im Schlafrocke, Pantoffeln und der Nachtmütze fand er seine Beruhigung und zuletzt gar in einer Pfeife Tobak sein Glück. Es fehlte nun fast nichts mehr, ihn, den Wohlgebildeten, Reinlichen, Freien, in den Zustand jener Menschen zu versetzen, die oft ohne Geist und innern Beruf über mißverstandenen Büchern wie Schuster auf dem Schemel verkümmern.
Und er wäre auch untergegangen, hätte ihn nicht die Kraft seiner Natur, die wieder zum Geraden und Reinen strebte, gerettet. Je enger jene körperliche Fesseln zusammengezogen wurden, desto mehr sträubte sich die innere Gewalt, brach bei der ersten Gelegenheit los und durchwühlte das ganze Gebäude. Vergebens, daß man sie zu besänftigen hoffte. Mit der Weisheit einer verständigen Zuchtmeisterin griff sie durch, faßte jedes Übel in der Wurzel, kehrte das Oberste zuunterst, warf aus, was zu grob war, verzehrte das Feinere, und unbarmherzig in ihren unaufhaltsamen Wirkungen brachte sie unsern Freund etliche Male an die Pforten des Todes. Aber auch ihre Kur war aus dem Grunde; alles Fremde und Falsche ward vertrieben und der wohlgebaute Körper zu seinem künftigen Glücke in seinen innersten Verhältnissen wiederhergestellt. Freilich nahmen die Kräfte alsdann so langsam zu, daß man oft glauben konnte, sie schwänden wieder. In den gefährlichsten Augenblicken hatte er rein allem Leben entsagt, das hinter ihm zu liegen schien; er war los geworden von der Welt, und die Ruhe, die aus diesem Gefühl kam, war wie ein freundliches Klima, aus dem der Genesende gelinde Lebenssäfte zog. Dankbar nahm er nunmehro von der Quelle des Lebens das wieder an, was er in der Wut seines Zustandes verschleudert und mit Füßen getreten hatte; und so ward er wie ein Kind zum zweitenmal wieder ins Leben zurückgeführt, und wie ein Kind fiel er bei der ersten anwandelnden Munterkeit wieder über die vorigen Spielsachen her.
Was ihm zunächst lag, waren Theaterbücher. Er las mit vielem Vergnügen die besten Stücke wieder nacheinander, die ihm doch hier und da anders als sonst vorkamen.
Einen solchen Band hatte Werner während der Mittagsruhe seines Freundes aufgeblättert, wie wir zu Anfange dieses Kapitels gesehen haben.
Zweites Kapitel
Werner konnte nie recht leiden, daß Wilhelm ein Gespräch fallenließ und eine Weile in sich selbst gekehrt blieb. Er fühlte, da es nie als Verachtung auszulegen war, daß seines Freundes Herz sich bei solchen Anlässen sachte zuschloß, daß die lebhafte Seele sich in Reiche begab, wohin sie keinen bedächtig gesinnten Begleiter mitnehmen wollte. Werner hielt dafür, ein freundschaftlicher Umgang sei, um sich wechselseitig zu unterrichten, sich seine Zweifel mitzuteilen und, einer von dem andern überführt, sich zu vergleichen.
Wilhelm schien dagegen hier und da bemerkt zu haben, daß der Geist des Menschen ein eignes Ganzes ausmache, das sich mit einem andern nie vereinigen, wohl aber an mehr- oder wenigern Punkten sich berühren könnte. Er mußte bald zu dieser Erfahrung gelangen; denn ein Geschöpf, das im Werden ist, hat mit den entwickelten, auch denen von eigner Art, wenig gemein. Und was ihm als Wahrheit vorschwebte, hing an so vielen Fäden, war so gedrängt, so voller Aussichten, so leise nur zu fühlen, daß er fast nie imstande war, in einem Gespräche vorwärtszukommen und hübsch rund und deutlich zu sagen, was er wollte.
Als Knabe hatte er zu großen, prächtigen Worten und Sprüchen eine außerordentliche Liebe, er schmückte seine Seele damit aus wie mit einem köstlichen Kleide und freute sich darüber, als wenn sie zu ihm selbst gehörten, kindisch über diesen äußern Schmuck. In der Folge, als der Jüngling sich von innen heraus fühlte, seine Seele in Arbeit und Bewegung kam, verschmähte er die Worte, weil er das für unaussprechlich hielt, was in ihm aufquoll. Ihm war es auch nicht in Worte zu fassen, es dehnte sich alles zu weit auseinander, daß er es mit den engen, ängstlichen Banden des bestimmten Ausdruckes nicht umgrenzen konnte, besonders wenn ihm jemand widersprach; denn das, wovon seine Seele voll war, einem willigen Zuhörer aneinanderhängend mitzuteilen, machte ihm das größte Vergnügen, wie wir davon Beispiele gesehen haben und noch sehen werden. Zum Dialog hingegen war er gar nicht eingerichtet; ihm war nicht leicht gegeben, sich in die Gesinnungen der andern zu versetzen, und wenn der Faden seiner Ideen durch die Eingriffe des Streitenden oft zerrissen wurde, brachte er, um mehrerer Deutlichkeit willen, Sachen, Gleichnisse, Geschichten, Stellen herbei, die ganz und gar mit dem Gegenstande, wovon man sprach, keinen erscheinenden Zusammenhang hatten. Der Gegenteil behielt also immer recht, und wenn er sich sonst mit aller Lebhaftigkeit verteidigt hatte und sich zuletzt, um fertig zu werden, mit Paradoxen und Berufung an Himmel und Erde zu helfen suchte, wurde er meist überstimmt und ausgelacht. Dadurch hatte er sich nach und nach angewöhnt, in der Stille der Sonne entgegenzustreben, die seine Flügel zeitigen und ausspannen sollte. Besonders neuerdings, da ihm der große Knoten, an den er alles anknüpfte, abgerissen war, wußte er sich meist in nichts zu finden. –
Werner versuchte, das entschlürfte Gespräch sachte wieder einzufädeln. „Wenn dir es nicht zuwider ist und ich dir nicht etwas vorlesen soll, so erkläre mir doch einigermaßen, wie es mit den drei Einheiten steht und was man davon halten darf.“ – „Mein Kopf ist nicht ganz frei“, sagte Wilhelm, „sonst wollte ich gerne dein Verlangen erfüllen. Zwar gestehe ich dir, je mehr ich es überlege, desto mehr überzeuge ich mich, daß es gefährlich ist, seinen Weg von dieser Seite in das dramatische Land zu nehmen.“
„Gib mir doch einen Begriff“, sagte Werner, „verwirfst du denn diese Regeln und diese drei Einheiten ganz?“
„Wenn du nur wüßtest“, sagte Wilhelm, „was du in diesen Worten für Begriffe verwirrst. Ich entziehe mich keiner Regel, welche aus der Beobachtung der Natur und aus der Eigenschaft eines Dinges genommen ist; ich verachte auch diese sogenannten Einheiten nicht, weil sie teils zum Notwendigen eines Stückes, teils zu seiner Zierde gehören; ich halte nur die Methode für ungeschickt, womit man uns diese sonst ganz guten und nützlichen Lehren vorträgt, weil sie unsere Gedanken fesselt und uns verhindert, die wahren Verhältnisse zu erkennen. Wenn einer den Menschen einteilte in Seele, Leib, Haare und Kleider, so würde dir die Albernheit einer solchen Lehrart bald auffallen, ob du gleich nicht leugnen könntest, daß sich an dir alle diese Teile befinden. Nicht viel besser und fast ebenso unphilosophisch ist jene, wenn man sie näher beleuchtet. Ein Kerbholz, wo Dinge von ganz ungleichem Werte in einer Reihe eingeschnitten sind.
Die Einheit der Handlung im höheren Sinne genommen macht nicht allein den Ruhm des Dramas, sondern eines jeden Gedichtes, und diese, dünkt mich, ist indispensable. Nach ihr, wieviel wichtige Dinge sind nicht abzuhandeln, eh wir an Ort und Zeit kommen, worüber so viel zu sagen ist und wegen welcher man fast allen Schriftstellern oft durch die Finger hat sehen müssen. Ja, wenn denn am Ende Einheiten sein sollen, warum nur drei und nicht ein Dutzend? Die Einheit der Sitten, des Tons, der Sprache, des Charakters in sich, der Kleider, der Dekoration und der Erleuchtung, wenn du willst. Denn was heißt Einheit, wenn es doch etwas bedeuten soll, anders als innere Ganzheit, Übereinstimmung mit sich selbst, Schicklichkeit und Wahrscheinlichkeit?
Wieviel anders hat man bisher dieses Wort als Kunstwort gebraucht! Bei jeder der sogenannten drei Einheiten bedeutet es etwas anders. Einheit der Handlung heißt teils Einfachheit der Handlung, teils geschickte und innige Verbindung mehrerer. Einheit des Ortes heißt Einerleiheit, Unveränderlichkeit oder Einschränkung des Platzes. Einheit der Zeit sodann heißt kurzes, faßliches, einigermaßen wahrscheinliches Maß derselben. Du wirst also mit mir übereinkommen, daß man diese Dinge nicht hätte so nebeneinander und hintereinander rangieren sollen. Ich habe mir also diese alte Formeln bei meiner Untersuchung über das Drama ganz aus dem Sinne geschlagen, um einen natürlichern und richtigern Weg zu finden; dabei bin ich sorgfältiger als jemals, aufzusuchen, was nachdenkende Menschen darüber geschrieben haben. Sogar habe ich neulich eine Übersetzung von des Aristoteles ,Poetik’ gelesen.“ – „Teile mir doch etwas davon mit“, versetzte Werner. „Aus dem Ganzen“, sagte Wilhelm, „weiß ich wirklich noch nichts zu machen; man müßte wohl mehrere von seinen Schriften gelesen haben, um mit seiner Art etwas bekannter zu werden, auch überhaupt von dem Altertum unterrichteter sein, als ich es bin. Unterdessen hab ich mir vortreffliche Stellen daraus gemerkt und sie nach meiner Art zusammengesetzt, ausgelegt und kommentiert.“
„Ich kann den Wunsch unmöglich aufgehen“, versetzte Werner, „einen ausführlichen und bestimmten Maßstab zu haben, wornach ich die Güte eines Stückes beurteilen könne.“
„Du irrst darinne“, versetzte Wilhelm, „wenn du glaubst, es könne einer dem andern dieses Maß sogleich in die Hand geben. Man muß sich lange mit einer Sache beschäftigen und sie durchaus kennenlernen, alsdann versteht man erst recht, was verständige und gelehrte Leute darüber für Meinung hegen. Und wie der Dichter eher ist als der Kritiker, so müssen wir auch vieles sehen, lesen und hören, ehe wir uns einfallen lassen wollen zu urteilen. Nicht gerechnet, daß einer, der nicht vom Handwerke ist, am besten tut, er überläßt sich seinem natürlichen Gefühle und grübelt nicht lange, wenn ihn der Dichter oder Schauspieler ergötzt.“ – „So habe ich es auch immer gehalten“, sagte Werner, „bis man mir neuerdings gar zuviel vorgeschwätzt und mich irregemacht hat. Denn so kam ich zum Exempel mit großem Vergnügen aus dem ,Lustigen Schuster oder der Teufel ist los’ und hatte gesehen, daß sich die ganze Welt recht sehr daran ergötzt hatte; das nahmen mir gewisse Personen sehr übel, die man für Kenner hält, spotteten über meinen schlechten Geschmack und bewiesen mir ihr Recht der Länge nach. Man will doch auch nicht dastehen, als wenn man aufs Maul geschlagen wäre, besonders wenn man doch ein paar Augen im Kopfe hat wie ein anderer.“
Wilhelm versetzte: „Es ist schwerer, als man denkt, gerecht zu sein. Wie ich meine Untersuchungen anstelle, will ich dir sagen; ich sehe, daß man auf keine andere Weise herauskommt. Ich suche nun schon lange Zeit und besonders, seitdem mir meine Krankheit zum Lesen Raum läßt, zu finden, was zum Wesen des Schauspieles gehört und was nur zufällig dran ist; freilich sollte mehr Studium dazu, als ich habe machen können, denn man müßte die Geschichte des Schauspiels von seinem ersten Ursprunge, die Theater aller Nationen und den größten Teil ihrer Stücke kennen, man müßte untersuchen, worin sie miteinander übereinkommen müssen, um gute Stücke zu sein, und worin sie voneinander abweichen können; auf diese Gedanken hat mich der brave Legationsrat R. gebracht, der dir auch so wohl gefiel. Ich sehe aber, es ist keine Sache für mich. Ich habe mit dem französischen Theater anfangen wollen. Ich nahm den Corneille vor, und kaum hatte ich einige Stücke gelesen, als eine solche Gärung in meinem Kopfe war und ein unwiderstehlich Verlangen in mir entstand, gleich eins in dieser Art zu komponieren.“ – „Du wirst es doch aufgeschrieben haben“, sagte Werner, „laß mich doch auch was sehen. Du bist immer so geheimnisvoll damit; wenn mir es meine Frau nicht verraten hätte, so wüßte ich gar nicht, daß du so vielerlei geschrieben hast.“ – „Vielleicht finde ich einmal eine Stunde“, sagte Wilhelm, „wo ich leichtsinnig genug bin, dir von der Kindheit meiner Bemühungen Rechenschaft zu geben. Ich bin überzeugt, daß es tausend Schriftstellern und andern, die sich um Talente und Künste bemühten, gegangen ist wie mir. Ein Trieb jugendlicher Nachahmung führt den verwandten Geist auf gebahnte Wege, die großen Muster reizen uns an, die Anfänge sind leicht, wir lassen uns tändelnd auf einen Pfad ein, dessen Beschwerden und Länge wir dann erst bemerken, wenn schon ein Teil zurückgelegt ist. Gewohnheit, Neigung heißen uns darauf beharren, meist mit innerm Unwillen und mit dem ängstlichen Gefühl, daß wir hinter jenen, denen wir vorzulaufen gedachten, weit zurückblieben. Gib lieber den Corneille her, den Teil, wo ,Cinna’ drinne steht, und lies mir daraus einige Szenen vor.“
Werner tat es, und da er die französische Verse nicht gut deklamierte, so ergriff Wilhelm endlich selbst das Buch und las mit vielem Feuer und Erhebung der Seele, so daß Werner zuletzt ausrief: „Herrlich und außerordentlich!“
„Sage mir“, fuhr Wilhelm auf, „ist dir nicht auch so, müssen nicht diese Situationen jede Menschenseele gewaltig angreifen? Im ganzen so sonderbar, so einfach und schön! Es ist so groß und scheint so natürlich, man nimmt den innigsten Teil und wagt doch nicht, sich selbst in die Lage zu denken, man ist und bleibt Zuschauer und erwartet von den höhern Wesen, wie sie sich benehmen werden. Ja wenn der Autor Kraft und Saft hat, fähig ist, was wir uns allenfalls nur denken und vorstellen, lebendig hervorzuführen, wenn wir unsere Halbgötter jeden wichtigen Schritt gesetzt und fest tun sehen und eines jeden Betragen kernhaft und ganz ist in der schröcklichen Lage, wie befriedigt werden wir und wie dankbar vergnügt kehren wir zurück, wenn uns die Verlegenheiten, die geteilten Gefühle so liebreich ängstlich, so wohl zu dem Schröcklichen stimmend in unser Herz gelegt werden. Es mag nur einer nach etwas Neuem und Fremdem schnappen, oder er mag seine Brust zum Anteile hingeben, er findet bei so einem Gegenstande immer seine Befriedigung, will mich dünken. Ich bitte dich, lies das Stück ganz! lies es ja!“
„Du hast mich sehr neugierig darauf gemacht und auf seine übrigen; sind sie diesem gleich?“ – „Wie ein Mann sich nicht ganz gleich, nicht ganz ungleich sein kann.“ – „Seine Landsleute haben ihn den Großen genannt; einige, wenn ich mich nicht irre, haben ihm diesen Ehrennamen streitig gemacht.“ – „Welchen er als Dichter verdient, wage ich nicht zu entscheiden; ich bewundere, was über mir ist, ich beurteile es nicht. Soviel weiß ich, ein großes Herz hatte er gewiß. Eine tiefe innere Selbständigkeit ist der Grund aller seiner Charaktere, Stärke des Geistes in allen Situationen ist das Liebste, was er schildert. Laß auch, daß sie in seinen jüngern Stücken manchmal als Rodomontade aufschlägt und in seinem Alter zu Härte vertrocknet, so bleibt es immer eine edle Seele, deren Äußerungen uns wohltun.“ – „Sollte man denn aber so sicher von dem Werke auf den Verfasser schließen können? Denn es ist eben keine große Kunst, im Trauerspiel edel und großmütig zu sein, ein Königreich zu verschenken, einer Geliebten zu entsagen, das Leben dranzusetzen und de gleichen Dinge mehr, die im gemeinen Leben, ich wollte wetten, ein König so gut als ein anderer von sich ablehnet. Auf den Brettern kann ein jeder seine Prinzen nach Belieben großtun lassen.“ – „Wirklich großtun kann einer auf dem Theater so wenig als irgendwo, wenn er nicht eine große Ader in sich hat. Ein Schriftsteller mit einer kleinen, engen Seele wird, wenn er erhabene Gegenstände bearbeitet, das Große immer am unrechten Orte suchen, er wird gleich übertrieben und albern werden, und es wird’s ihm kein Mensch zugute halten, dagegen das wirklich Edle immer Beifall und Bewunderung abzwingt. Wie uns die grausamen Leidenschaften zum Entsetzen und traurige Schicksale zum Mitleiden hinreißen, Falschheit uns verachten heißt, übermütiger Mißbrauch der Gewalt unsern Haß aufreizt und so jede der mannigfaltigen Leidenschaften, die uns bewegen, einzeln oder verbunden! Gewiß, wer von allen diesen das hohe Menschengefühl hat, und wen die Natur zum Dichter machte, daß er diese Wirkung als lebendig hervorbringen kann, der wird durch viele Zeiten durch die menschliche Seele erschüttern und bewegen.“
Werner suchte nun das Gespräch, das ihm für Wilhelms Gesundheitsumstände zu lebhaft wurde, zu verändern und gedachte noch zum Schluß etwas von den eignen Werken des jungen Dichters zu erhaschen; allein sosehr er sich auch bemühte, war es diesen Abend unmöglich, in diese Geheimnisse zu dringen. Zu voll von dem Bilde Corneillens, und wenn man will, vom Ideale Corneillens, das sich Wilhelm gebildet hatte, sah er seine Arbeiten als Sudelpapiere der Schulübung an, die, wenn sie der Knabe vollgeschrieben hat, gewöhnlich zu Wickeln verschnitten werden. Er fühlte einen Abstand, den ihm sein Gefühl zu überspringen nicht erlaubte. Ein seltner Fall bei einem Schriftsteller, ja bei einem Menschen überhaupt. Die Natur hat uns meist so glücklich mit uns selbst verwebt, daß wir nicht leicht einen andern, seine Handlungen und Besitzungen ansehen, ohne auf uns zurückzukehren, um das Unsere, wäre es auch verhältnismäßig noch so klein, mit dem angenehmsten Vorgefühl zu genießen. Gütige Mutter, wie weise und liebreich hast du die kleine, enge Haushaltung eines jeden sparsam reichlich ausgestattet!
Werner stund endlich ab, besonders da er merkte, sein Freund hatte sich in der Lebhaftigkeit des Gesprächs zu sehr angegriffen. Er versparte es auf ein andermal, wo es ihm auch gelang.
Drittes Kapitel
An einem der folgenden Tage überraschte er Wilhelmen, der beschäftigt war, eine Menge Papiere auseinanderzukramen, wovon er einen Teil bei Werners Ankunft versteckte. Es waren Briefe, Billetts von Marianen und andere Zettelchen, die sich auf sie bezogen. „Hast du etwas von deinen Schriften hier bei der Hand“, sagte der Hereintretende, „so zeige mir’s.“ – „Wenn du es nicht Schriften nennen willst, sondern dem Kinde den rechten Namen gibst, will ich es wohl über mein Herze bringen, mich vor dir lächerlich zu machen.“
Er schob indes die offen liegenden Blätter zusammen, und es war ihm lieb, sie auf eine gute Weise wegzubringen; denn es beunruhigte ihn oft der Gedanke, Werner möchte darauf bestehen, daß alles übrige Andenken Marianens vertilgt und die Reste von Briefen, die er vermuten konnte, dem Feuer aufgeopfert werden sollten. Und so ward ein Pack herbeigebracht, der, aufgebunden, in viele einzelne starke und schwache Hefte, Bogen und Blätter auseinanderfiel.
Ach, dachte Wilhelm bei sich, wie er die Schnur aufzog, so hoffte ich euch nicht wieder zu öffnen! Wie verändert ist mein Schicksal, seit ich euch zusammenband! Denn er hatte diese Sammlung mit denen übrigen Sachen, die er auf seiner Flucht mitnehmen wollte, beiseite gelegt. „Rühre mir nichts an“, rief er, als der Neugierige zugreifen wollte. „bringe nichts in Unordnung. Du stellst dir wohl nicht vor, daß diese Papiere in chronologischer Reihe hintereinander liegen.“ – „Das ist wohlgetan, man kann desto besser sehen, wie man zunimmt.“
„Ich fürchte nur, daß weder mich in der Folge noch jemanden die Schattierungen unterhalten werden. Zuvörderst muß ich dich vorbereiten, daß du viele Plane, viele einzelne Szenen, angefangene Stücke finden wirst und fast nichts geendigt.“ – „Wunderbar! ist es dir auch gegangen wie vielen jungen Schriftstellern, von denen ich gehört habe?“ – „O daß es allen so ginge! Wir würden so viele Werkchens, die immer unfertig bleiben, wenn sie auch geendigt sind, nicht zu sehen bekommen; es würde nicht jeder, durch das kindische Beispiel gereizt, dem Gefühle, ähnliche Albernheit hervorbringen zu können, unmäßig nachhängen, und unsere Literatur würde nicht einer Schenke gleich werden, wo der Geringste mit lauter Zufriedenheit schwelgt, weil er immer seinesgleichen findet, der mit ihm anstößt. Also zuvörderst hier einige Aufzüge und Szenen im Geschmacke des Plautus.“ – „Des Plautus? Wie kömmst du an den?“ – „Wir explizierten ihn bei dem Magister, denn ich sollte auch ein wenig Lateinisch lernen. Er war der erste Theaterdichter, den ich zu sehen bekam, und somit wurde er auf der Stelle nachgeahmt. Von unsern Puppenspielen, von unsern episch-dramatischen Impromptus, woran nichts als der Dialog fehlte, habe ich dir schon sonst erzählt.“ – „Lies mir etwas.“ – „Gott bewahre mich, es ist abscheulich. Du kannst denken: da ist ein mürrischer, geiziger Alter, der betrogen wird, ein Bedienter, der betrügt, ein verliebter junger Mensch, der sich nicht zu helfen weiß. Du kannst dir vorstellen, daß der Alte nicht alt, der Junge nicht jung, der Knecht nicht knechtisch ist, sondern daß sie ohngefähr das Gröbste von dem tun und sagen, was sie Plautus tun und sagen läßt.“
Wilhelm hätte hinzusetzen können: Der Lehrling in jeder Kunst bildet im Anfange nur von dem Muster nach, was er an ihm sieht, und darin ist er um einige wenige Grade von vielen Meistern unterschieden; denn sie bilden auch nur meist ihren Vorgängern und, wenn’s hoch kommt, der Natur nach, was sie an ihr sehen. Wie selten tritt einer auf, der aus eigner innrer Kraft das Wahre verherrlicht und das Fürtreffliche hervorbringt.
„Indessen mußte ich immer“, fuhr Wilhelm fort, „leiden, daß in meinem Kopfe allerlei Figuren ihr Spiel fortspielten. Denn es war gar nicht willkürlich; alles, was ich erzählt las oder erzählen hörte, ging auch gleich in mir vor, und je mehr ich in der Folge Theaterstücke verschlang, desto mehr baute, wenn ich so sagen darf, sich ein Theater in meinem Kopfe auf, in dessen Grenzen alles geschah. Hier siehst du, mein Freund, schon Musterstücke der folgenden Zeiten!“
„Wie! Was! Verse! Schäfernamen!“
„Alexandriner in aller Form und heroische Schäferspiele; dies war eine Gattung, die mich übermäßig ergötzte. Du kannst es daraus sehen, daß zwei völlig fertig sind und unvollendet eine Schar folgt.“ – „Du mußt mir sie zum Scherze mitgeben.“ – „Sehr gerne, denn du wirst über den Ernst, womit alles behandelt ist, recht herzlich lachen. Meine Hauptpersonen, aus fürstlichem Stamm geboren, durch seltsame Schicksale ihres Reiches verlustig, irrend und unbekannt, halten sich in den stillen Wohnungen gastfreier Hirten auf. Welch ein Kontrast in Leidenschaften und Charaktern! Welcher Reichtum an Bildern! Welche Abwechslungen von Erzählungen und Beschreibungen! Gewiß, diese Gattung ist recht für den Autor als Kind gemacht, der gerne alles überall anbringt. Was die Tragödie Hohes und Rührendes, was das Lustspiel Ergötzendes, was das Schäferspiel Liebliches hat, kannst du hier in einem bunt zusammenraffen.“ – „Sollte man denn nicht in dieser Art gute Stücke machen können?“ – „Gar wohl, und man hat ihrer auch schon, nur meine waren’s nicht. Ein Knabe, der sich selbst nicht kennt, der von den Menschen nichts weiß, der von den Werken der Meister allenfalls nur sich zueignet, was ihm gefiel, was will der dichten?“ – „Wo nahmst denn du nur die vielen Sachen her?“ – „Woher? Aus meiner Einbildung, die wie ein lebendiges Rüsthaus von Puppen und Schattenbildern war, die sich immer durcheinander bewegten. Wie Liebhaber des Kartenspiels nicht müde werden, mit wenigen Blättern gegeneinander zu streiten, und sich an den mannigfaltigen Verbindungen ergötzen, in denen der aufgestempelte oder willkürlich angenommene Wert dieser Helden einander bald fürchterlich wird, bald wieder unter andern Umständen der Held dem Knechte zu Fuße liegt, so spielte ich auch meine wenige Figuren unaufhörlich durcheinander. Was in frühern Zeiten bloß Puppe, Theater, Maske gewesen war, wurde nun mit einem sanften Geiste angehaucht, die Gestalten wurden schöner, reizender, und du kannst denken, daß es der Geist der Liebe war, der hier auch seine belebende Kraft zeigte.“ – „Davon werde ich ja die Spuren in diesen Heften finden?“ – „O ja, auf jeder Seite, und den Verfasser dazu. Ich fing nun an, mich selbst zu fühlen, mir Märchen über mich selbst zu erzählen, und nun ging es damit ins weite Land. Es hinderte mich nichts, so schön, so gut, so großmütig, so leidenschaftlich, so elend, so rasend zu sein, als ich wollte. Ich fädelte die Abenteuer nach Belieben ein und löste sie, wie mir gut deuchte. Und da ich mich reiner Verse befleißigte, so hatte ich ein doppelt und dreifach Vergnügen, wenn es fertig war, nur daß ich mich über der Arbeit meistens schon wieder klüger deuchte, .als ich mich hielt, wie ich den Plan machte, und so immer manches große Veränderungen erlitt und die meisten Unternehmungen gar scheiterten.“
Werner hatte indes in die Stücke gesehen und einige Tiraden gelesen. „Die Verse sind nicht übel“, sagte er. „Das dachte ich damals auch; da ich niemand hatte, der mir ein Wort drüber sagen konnte, so war mir Gottscheds Bühne der Maßstab, wornach ich meine Stücke maß, und mir kamen sie immer interessanter dem Inhalte nach und an Versen ebenso wohlklingend vor als jene, und damit wußte ich mir viel, weil ich in meiner Unerfahrenheit meine Muster alle für klassisch hielt.“ – „Hat dir niemand an diesen Versen geholfen?“ – „Wer sollte? und an Versen kann man niemand helfen, das war mir das Geringste! Von Jugend auf hab ich in jedem Silbenmaße, das ich hörte oder las, gleich fortreden oder -schreiben können. Der Model war wohl in meinem Kopfe, wenn nur die Masse etwas nutze gewesen wäre, die ich hineinzugießen hatte.“ – „Das wird nun schon kommen, wenn du fortfährst, dich in müßigen Stunden zu üben.“ – „In müßigen Stunden“, sagte Wilhelm und seufzte tief. „O ja“, versetzte Werner, „denn du wirst immer noch Zeit finden, da du weitläufige Gesellschaften nicht liebst und nicht aufs Kaffeehaus gehst.“ – „Wie irre bist du, lieber Freund, wenn du glaubst, daß eine solche Arbeit, deren Vorstellung die ganze Seele füllt, könne in unterbrochnen, zusammengegeizten Stunden hervorgebracht werden. Nein, der Dichter muß ganz sich, ganz in seinem geliebten Gegenstande leben. Er, der vom Himmel inwärts auf das köstlichste begabet ist, der einen unzerstörlichen Reichtum von der Natur erhalten hat, er muß auch inwärts ungestört mit seinen Schätzen in der Glückseligkeit leben, die ein Reicher vergebens mit aufgehäuften Gütern um sich hervorzubringen sucht. Sieh die Menschen an, wie sie nach Glück und Vergnügen rennen; ihre Wünsche, ihre Mühe, Geld und Zeit jagen rastlos, und wornach? Nach dem, was der Dichter von der Natur erhalten hat, nach dem Genuß der Welt, nach dem Mitgefühl sein selbst in andern, nach einem harmonischen Zusammensein mit vielen oft unvereinbaren Dingen. Was beunruhigt die Menschen, als daß sie ihre Begriffe nicht mit den Sachen verbinden können, daß der Genuß sich ihnen unter den Händen wegstiehlt, daß das Gewünschte zu spät kommt und daß alles Erreichte auf ihr Herz nicht die Wirkung tut, welche die Begierde sie in der Ferne ahnden ließ. Gleichsam wie einen Gott hat das Schicksal den Dichter über dieses alles hinübergesetzt. Er sieht das Gewirre der Leidenschaften Familien und Reiche zwecklos bewegen, er sieht die unauflöslichen Rätsel der Mißverständnisse, denen oft nur ein einsilbiges Wort zur Entwicklung fehlt, unsägliche und unherstellbare Verwirrungen verursachen. Er fühlt das Traurige und das Freudige jedes Menschenschicksals mit; wenn der Weltmensch in einer abzehrenden Melancholie über großen Verlust seine Tage hinschleicht oder in ausgelassener Freude seinem Schicksale entgegengehet, so schreitet die empfängliche, leichtbewegliche Seele des Dichters wie die wandelnde Sonne von Nacht zu Tag, mit leisen Übergängen stimmt seine Harfe zu Freud und Leid. Eingeboren auf dem Grund seines Herzens wächst die schöne Blume der Weisheit hervor, und wenn die andern wachend träumen und von ungeheuren Vorstellungen aus allen ihren Sinnen geängstiget werden, so lebt er den Traum des Lebens als ein Wachender, und das Seltenste, was geschieht, ist ihm zugleich Vergangenheit und Zukunft. Und so ist der Dichter zugleich Lehrer, Wahrsager, Freund der Götter und der Menschen. Wie willst du, daß er sich mit einem niedrigen Gewerbe besudle, er, der wie ein Vogel gebaut ist, um die Welt zu überfliegen, in den Lüften zu nisten und seine Nahrung von Knospen und Früchten, einen Zweig mit dem andern leicht verwechselnd, zu nehmen, er sollte zugleich wie der Stier am Pfluge ziehen, wie der Hund sich auf eine Fährte gewöhnen oder vielleicht gar, an die Kette geschlossen, einen Meierhof durch sein Bellen sichern?“
Werner hatte mit Verwunderung zugehört und, wie man sich leicht denken kann, wenig Realität in diesen Worten gefunden. „Wenn nur auch die Menschen“, fiel er ihm ein, „wie die Vögel gemacht wären und, ohne daß sie spinnen und weben, ein holdseliges Leben in Genuß zubringen könnten! Wenn sie nur auch bei Ankunft des Winters sich so leicht in ferne Gegenden begeben könnten, dem Mangel auszuweichen und sich vor dem Froste zu sichern!“
„So haben die Dichter in Zeiten gelebt, wo die Natur noch ehrwürdiger war, und so sollten sie immer leben. Genüglich in ihrem Innersten ausgestattet, bedurften sie wenig; die Gabe, schöne Empfindungen, herrliche Bilder den Menschen in den süßten, stimmenden Worten und Melodien mitzuteilen, bezauberte von jeher die Welt und war für sie ein reichliches Erbteil. An der Könige Hofe, an den Tischen der Reichen, vor den Türen der Verliebten horchte man auf sie, indem sich das Ohr und die Seele für alles andre verschloß, wie man sich selig preist und entzückt stille steht, wenn aus den Gebüschen, durch die man wandelt, die Stimme der Nachtigall gewaltig rührend hervorruft! Sie fanden eine gastfreie Welt, und ihr niedrig scheinender Stand erhöhte sie nur so viel mehr. Der Held lauschte ihren Gesängen, und der Überwinder der Welt huldigte einem Dichter, weil er fühlte, daß ohne diesen sein ungeheures Dasein nur wie ein Sturmwind vorüberfahren würde; der Liebende wünschte sich sein Verlangen und seinen Genuß so tausendfach und so harmonisch, als die beseelte Lippe ihn schilderte; und selbst der Reiche konnte seine Besitztümer, seine Abgötter, nicht mit eignen Augen so kostbar sehen, als sie ihm vom Glanze des allen Wert fühlenden und erhöhenden Geistes beleuchtet erschienen. Ja, wer hat, wenn du willst, Götter gebildet, uns zu ihnen erhoben, sie zu uns herniedergebracht, als der Dichter?“
Es ist schade, dachte Werner bei sich selbst, daß mein Freund, der sonst so vernünftig ist, auf diesen Punkt so ausgelassen schwärmt.
„Ja, mein Liebster“, fuhr der andre fort, „einem solchen Dasein sich ausschließlich zu übergeben, welche Seligkeit! Bedenke nur, wie viele Menschen sich schon begabt glauben, wenn sie mit einiger Leichtigkeit ihre Gedanken in einem Silbenmaße vortragen, mit gefälligen Reimen zieren können, wenn man gleich sonst den Geist, der den Dichter macht, bei ihnen vermißt. Wie ängstlich wünschen Tausende diesen Vorzug, und wie vergebens arbeiten sie, ihn zu erstreben.“ – „Ich habe von vielen vernünftigen Leuten urteilen hören, daß mancher seine Zeit und Kräfte besser hätte anwenden können.“ – „Ich glaube, daß sich viele betrügen, daß man sich aber auch dafür an andern betrügt. Die angeborne Leidenschaft zur Dichtkunst ist so wenig als ein anderer Naturtrieb zu hemmen, ohne das Geschöpf zugrunde zu richten. Und wie der Ungeschickte, den man straft, meistens noch einen zweiten Fehler begeht, mit dem ernstlichen Vorsatze, das Vergangne gutzumachen, so wird der Dichter, um der Dichtung zu entgehen, erst recht zum Dichter.“
„Hast du denn von Jugend auf diesen unwiderstehlichen Trieb gefühlt?“ – „Das kannst du von diesen Papieren sehen, und doch ist das nur der hundertste Teil, was ich geschrieben, und der tausendste des, was ich erdacht habe. Leider hat mich mein Verlangen nicht weit geführet, und ich sehe diese Reste mit Betrübnis und Verachtung an; es ist nichts drinne, was einen Wert hätte.“ – „Du irrst dich hierüber vielleicht.“ – „O nein, ich verstehe mich wohl darauf, ich konnte mir nie lange schmeicheln, außer mit der Hoffnung. Ich hoffte, daß die Begierde meines Herzens mich dem Gegenstande meines Verlangens näherbringen sollte, und ich kann dir sie nicht groß genug beschreiben. Besonders waren meine Wünsche alle aufs Trauerspiel gerichtet, dessen Würde für mich einen unglaublichen Reiz hatte. Ich erinnere mich noch eines Gedichtes, das irgendwo stecken muß, wo die Muse der tragischen Dichtkunst und eine andre Frauensgestalt, in der ich das Gewerbe personifiziert hatte, sich um meine werte Person recht wacker zankten. Die Erfindung ist gemein, und ich erinnre mich nicht, ob die Verse was taugten; aber du sollst es sehen, um der Furcht, des Abscheues, der Liebe und der Leidenschaft willen, die darinne herrscht. Es ist kindisch und abgeschmackt und ohne Nachdenken geschrieben, desto mehr beweist es, was es beweisen soll. Wie ängstlich hatte ich die alte Hausmutter geschildert, mit ihrem Rocken im Gürtel, Schlüssel an der Seite, Brillen auf der Nase, immer fleißig, immer in Unruhe, zänkisch und haushältisch, kleinlich und beschwerlich! Wie kümmerlich beschrieb ich den Zustand, sich unter ihrer Rute zu bücken und sein knechtisches Tagewerk im Schweiße des Angesichtes zu verdienen! Wie anders trat jene dagegen auf! welche Erscheinung ward sie dem bekümmerten Herzen! Herrlich gebildet! In ihrem Wesen und Betragen als eine Tochter der Freiheit anzusehen. Das Gefühl ihrer selbst gab ihr Würde ohne Stolz, ihre Kleider ziemten ihr, sie umhüllten jedes Glied, ohne es zu zwängen, und die reichlichen Falten des Stoffes wiederholten wie ein tausendfaches Echo die reizenden Bewegungen der Göttlichen. Welch ein Kontrast! und auf welche Seite sich mein Herz wandte, kannst du leicht denken. Auch war nichts vergessen, um meine Muse kenntlich zu machen: Krone und Dolche, Ketten und Masken, wie sie mir meine Vorgänger überliefert hatten, waren ihr auch hier zugeteilt. Der Wettstreit war heftig, und du kannst dir denken, daß die Reden beider Personen kontrastierten, da man im vierzehnten Jahre gewöhnlich das Schwarze und Weiße recht gegeneinander zu malen pflegt. Die Alte redete, wie es einer Person geziemt, die eine Stecknadel aufhebt, und jene wie eine, die Königreiche verschenkt. Die warnenden Drohungen der Alten wurden verschmäht, ich sah die mir versprochne Reichtümer schon mit dem Rücken an. Enterbt und nackt übergab ich mich der Muse, die mir ihren goldnen Schleier zuwarf und meine Blöße bedeckte.“
„Vergiß ja nicht, es aufzusuchen, ich bin neugierig, die beiden Frauens kennenzulernen. Was man doch in der Jugend für tolles Zeug im Kopfe hat!“ – „Darf ich dir’s gestehen, mein Freund, und wirst du es nicht lächerlich finden, wenn ich dir sage, daß jene Bilder mich noch immer verfolgen, und das, wenn ich mein Herz untersuche, so ernst und noch ernster als damals. Zwar was bleibt mir Unglücklichen gegenwärtig übrig? Ach, wer mir’s vorausgesagt hätte, daß die Arme meines Geistes so bald zerschmettert werden sollten, mit denen ich ins Unendliche griff und mit denen ich doch gewiß ein Großes zu umfassen hoffte. Wer mir dieses vorausgesagt hätte, würde mich zur Verzweiflung gebracht haben, und noch jetzo, da das Gericht über mich ergangen ist, jetzt, da ich die verloren habe, die anstatt jener Gottheit mich zu meinen Wünschen hinüberführen sollte, was bleibt mir übrig, als mich den bittersten Schmerzen zu überlassen? O mein Bruder“, fuhr er fort, „ich leugne es nicht, sie war mir bei meinen heimlichen Anschlägen wie der Kloben, an den eine Strickleiter befestigt ist. Gefährlich hoffend schwebt der Abenteurer in der Luft, das Eisen bricht, und er liegt zerschmettert am Füße seiner Wünsche. Es ist auch für mich kein Trost mehr, keine Hoffnung! Ich mochte“, rief er aus, indem er aufsprang, „alle diese unglückselige Papiere in Stücken zerreißen und ins Feuer werfen.“ Er faßte in seiner Wut ein paar Hefte an, zerriß sie und warf sie an den Boden. Werner erschrak und hielt ihn kaum mit Gewalt ab. „Laß mich“, sagte Wilhelm, „was sollen diese elende Blätter! Für mich sind sie weder Stufe noch Aufmunterung mehr; sollen sie übrigbleiben, um mich bis ans Ende meines Lebens zu peinigen? Sollen sie vielleicht einmal der Welt zum Gespötte dienen, anstatt ihr Mitleiden und Schauer zu erregen? Weh über mich und über mein Schicksal! Nun versteh ich erst die Klagen der Dichter, der aus Not weise gewordenen Traurigen. Bisher hielt ich mich für unzerstörbar, für unverwundlich; und ach! und nun sehe ich, daß ein schwerer früher Schade nicht wieder ausgewaschen, nicht wieder hergestellt werden kann; ich fühle, daß ich ihn mit ins Grab nehmen muß, er kann und soll keinen Tag des Lebens von mir weichen, der Schmerz, der mich noch zuletzt umbringt, und auch ihr Andenken soll bei mir bleiben, mit mir leben und sterben, das Andenken der Unwürdigen – ach, mein Geliebter! wenn ich von Herzen reden soll, der gewiß nicht ganz Unwürdigen! Ihr Stand, ihre Schicksale haben sie tausendmal bei mir entschuldigt. Ich bin zu grausam gewesen, du hast mich in deine Kälte, in deine Härte unbarmherzig eingeweiht, meine zerrütteten Sinnen gefangengehalten und mich verhindert, das für sie und für mich zu tun, was ich uns beiden schuldig war. Gott weiß, in welchen Zustand ich sie versetzt habe, und erst nach und nach fällt mir’s aufs Gewissen, in welcher Verzweiflung, in welcher Hülflosigkeit ich sie verlassen habe. War’s nicht möglich, daß sie sich entschuldigen konnte? war’s nicht möglich? Wieviel Mißverständnisse können die Welt verwirren, wieviel Umstände können dem größten Fehler Vergebung erflehen! Wie oft denke ich mir sie, in der Stille für sich sitzend, auf ihren Ellenbogen gestützt; ,das ist’, sagt sie, ,die Treue, die Liebe, die er mir zuschwor! mit diesem unsanften Schlag das schöne Leben zu endigen, das uns verband!’ “ Er brach in einen Strom von Tränen aus, indem er sich mit dem Gesichte auf den Tisch warf und die übereinanderliegenden Papiere benetzte. Werner stand in der größten Verlegenheit dabei. Er hatte sich diesen raschen Übergang der Leidenschaft nicht vermutet. Etlichemal wollte er ihm in die Rede fallen, etlichemal das Gespräch woandershin lenken; vergebens! er widerstand dem Strome nicht! Auch hier übernahm die ausdauernde Freundschaft wieder ihr Amt. Er ließ den heftigsten Anfall des Schmerzens vorüber, fing an, die Papiere zu ordnen, legte sie zusammen, machte ein Zeichen, wo sie geblieben waren, steckte einige Hefte zu sich und ließ sich von Wilhelmen versprechen, daß er sie wohl aufbewahren und bei Gelegenheit weiter mit ihm durchgehen wolle. Und so schieden sie wieder voneinander. Wilhelm ins stille Nachgefühl des Schmerzens versenkt und der andre erschröckt von dem neuen Ausbruch einer Leidenschaft, die er lange bemeistert und durch seinen guten Rat und Zureden überwältigt glaubte.
Viertes Kapitel
Ihr tiefen Schatten, heißet mich willkommen,
Hier fühlt die Brust sich weniger beklommen,
Du stiller Teich, du Baum, den ich erkor,
Gewähret mir die Ruh, die ich verlor.
O Stamm, der du, was Menschen auch empfanden,
So lange hier in fester Ruh gestanden,
Rings um dich her der Kinder Schar gezeugt,
Der du, wie wir, dem Sturm dich jung gebeugt,
Befestigt nun mit männlich starken Seiten
Dem Wetter stehst und der Gewalt der Zeiten:
O sprich mir Mut, du dauerhafter, zu,
Lehr meine Brust dem Unglück stehn wie du.
O Lüftchen, das die stille Welle kräuselt,
Das mir um Stirn und Locke freundlich säuselt
Von Ast zu Ast mutwillig wechselnd fliegt,
Mit einem Hauch viel tausend Zweige biegt:
O kannst du mir auf deinen stillen Schwingen
Nicht auch den Trost in meinen Busen bringen?
Doch auch vergebens such ich hier mein Glück,
Ich floh den Hof, es blieb der Schwarm zurück.
Dort ließ ich sie, in wohl verwahrten Mauren
Mit Freundes Blick einander aufzulauren,
Ließ das Gefolg des Reichtums und der Macht,
Die Schmeichelei, die unbequeme Pracht,
Und dachte, der Natur hier übergeben,
Mit mir allein, mir selber aufzuleben;
Doch leider fühlt mein Herz, nun völlig frei,
Die alte Qual hier doppelt wieder neu.
Unsere Freunde hatten an einem schönen Frühlingstage, begleitet von Wilhelms Schwester, nun Werners Frau, ihren Spaziergang nach einer Gegend gerichtet, welche sie beide von Jugend auf immer angezogen hatte. Sie waren an einen Ort gelangt, wo sie sonst als Kinder miteinander zu spielen und als Jünglinge mit Hoffnungen der Zukunft sich zu unterhalten pflegten. Unter einer uralten Eiche setzten sich die Ehleute nieder und genossen der schönen Aussicht. Wilhelm ging auf und ab, und vor den Gegenständen, die ihn umgaben, rezitierte er jene Stelle mit großer Wahrheit; wie er denn meist für jede Gelegenheit mehr oder weniger Verse eines Schauspieles oder sonst eines Gedichtes in seinem Kopfe in Bereitschaft fand und, wenn er allein war oder wenn es sich vor der Gesellschaft schicken wollte, sich nicht zurückhielt; wie er denn auch oft mechanisch, durch eine bloße Wortreminiszenz einen Teil seines Vorrates auszukramen bewegt ward.
Werner erinnerte sich sogleich, diesen Monolog in einem der heroischen Schäferstücke gelesen zu haben, die ihm sein Freund neulich anvertraut hatte. Zeither wagte er es nicht, davon anzufangen, weil er die Rückkehr jener leidenschaftlichen Schmerzen befürchtete; nunmehr aber, da er seinen Freund durch die bedenklichen Worte des Schlusses der Gefahr seiner Lieblingsempfindung ganz nahe ausgesetzt sah, so wußte er in der Geschwindigkeit kein Mittel, ihn davon zu entfernen, als daß er von den Stücken selbst anfing und den Bewegten auf ein ruhiges Gespräch zu leiten suchte. Er betrog sich darinne nicht, es gelang ihm; denn nicht immer tun dieselben Sachen dieselben Wirkungen; die Veränderungen der Lagen und Umstände verwandeln einen Gegenstand oft ganz und gar.
„Ich habe“, sagte er, „diese Stelle schon in der ,Königlichen Einsiedlerin’ mit Vergnügen gelesen und mir einen Teil davon gemerkt.“ – „Ich möchte mich“, versetzte Wilhelm, „weder einer Unbescheidenheit noch einer übertriebenen Demut schuldig machen. Die Stelle mag leidlich sein, wenn ich nur sie und mehrere dergleichen an denen Plätzen, wo sie stehen, verantworten könnte. Dies ist ein Fehler, in den man so leicht fällt, daß man sich in elegischen Empfindungen ausbreitet, daß man sich mit Beschreibungen und Gleichnissen aufhält, die doch eigentlich der Tod des Dramas sind, welches allein nach seiner immer fortgehenden Handlung geschätzt werden kann. Dieser Fehler geht fast durch alle Stücke, die ich bisher gemacht, und deswegen werden sie, wenn auch erträgliche Stellen drinne sein sollten, immer von den Meistern der Kunst verworfen werden.“ – „Was mich betrifft“, sagte Werner, „so sind mir schöne Stellen das Liebste an einem ganzen Stücke, denn die merkt man sich und kann sie zu seinem Nutzen ziehen.“ – „Ich habe nichts dagegen, wenn sie den Fortschritt der Handlung nicht hindern, vielmehr bin ich überzeugt, daß auch ein gutes Stück viel kräftige Stellen haben, ja, wenn du willst, aus trefflichen Stellen bestehen kann, wenn sie sich gleich nicht einzeln in Stammbücher schreiben lassen. Ich war selbst von jener Krankheit, die im Publiko so allgemein ist, dahingerissen, und ich habe meine Bekehrung nicht mir selbst, sondern meinem vortrefflichen Freunde R. zu danken, dem ich einige von meinen Sachen wies. Wie glücklich wäre ich gewesen, wenn er sich zu meinem Vorteile länger hier aufgehalten hätte. Was ist zum Exempel in dem Stücke, dessen du erwähnest, aus dem ich eben die Stelle hersagte, Vorzügliches? Der bei dem Menschen allgemeine Wunsch, sich aus verwirrenden Verhältnissen herauszusehnen und unter harmlosen Bäumen ein ganzes Leben zu genießen, wie uns manchmal ein Sommerabend gegönnt wird! In wieviel hundert Gedichten ist dieses nicht schon gut oder schlecht vorgetragen worden? Und nimm die Verse weg, die diese Gefühle schildern und die allenfalls eine leidliche Elegie würden gegeben haben, nimm vielleicht noch einige Gleichnisse aus, die ein episches Gedicht zieren dürften, so ist das übrige entweder gemein und kindisch oder unwahr und übertrieben. Wie willst du nun, daß ich mir einigermaßen Gutes von dem Stücke denken soll?“ – „Der Autor, merk ich wohl, ist selten ein unparteiischer Richter seiner eigenen Sachen, er tut sich bald zuviel, bald zuwenig. Ich wollte nur, das Stück wäre gedruckt oder würde aufgeführt; wir würden sehen, was es für einen Beifall finden sollte.“ – „Dafür bewahre mich Gott“, fuhr Wilhelm auf, „daß ich Gelegenheit gebe, das Publikum zu verderben. Dieses möchte ich ebensowenig, als von ihm verdorben werden, und meistenteils geschieht doch das, wie ich merke, durch wechselseitige Ehre und Nachgiebigkeit, die sie einander bezeigen. Wenn ich jemals öffentlich auftreten sollte, wünschte ich freilich zu gefallen, ja allgemein zu gefallen; denn ich habe die Schriftsteller meistens nicht vor aufrichtig oder vor sehr eingebildet gehalten, die nur bloß Kennern ihre Sachen widmen und alle diejenigen, denen sie nicht gefallen, unter die Herde der Nichtkenner verwiesen. Das Gute muß freilich von den Verständigen erst geprüft und, wenn ich sagen darf, erst gestempelt werden; es muß aber auch, wenn es menschlich ist, eine allgemeine glückliche Würkung tun, vorzüglich auf diejenigen, die nicht urteilen können, Und ich glaube, der hat den höchsten Punkt erreicht, der diese beiden Stimmen, welche zusammen erst, wenn ich hier das lateinische Sprüchwort anwenden darf, die Stimme Gottes ausmachen, auf sich vereinigt.
Er darf mit einiger Selbstzufriedenheit an sich denken, daß sich zu seiner Wahl die Edeln und das Volk vereinigen. Wenn man nur früher auf das Rechte geleitet würde! Denn eben durch diese und andere dergleichen Fehler habe ich alle Mühe, die ich auf meine Trauerspiele gewendet, verloren, die denn auch, wie mir mein gelehrter Freund die Augen öffnete, außer einigen wenigen Stellen, die aber doch nichts weniger als neu und erhaben sind, meistenteils von falsch nachgeahmter Theaterleidenschaft strotzen, die Backen mit allgemeinen Sittensprüchen aufpausen und, darüber sich selbst gleichsam vergessend, auf ihrem Wege sehr ungeschickt hin und wider stolpern und sich zuletzt nicht mit einem Ausgange, mit einer Entwicklung, sondern mit einem Fall und Sturz endigen.“
„Du sprichst ja als wie von einer großen Anzahl, sind es denn so viele? Man hat dir nicht angemerkt, daß du so fleißig warst.“ – „Wo ich ging und stund, machte ich Plane, und wo ich mich beiseite stehlen konnte, schrieb ich Verse. Ganz geendigt findest du nicht über drei bis vier Stücke.“ – „Ist das nicht genug?“ – „Mehrere aber zum größten Teil, und, wie ich dir schon gesagt habe, angefangen eine ganze Schar.“
Die Schwester, welche bisher einer Magd, die einige Erfrischungen brachte, das Körbchen und die Flasche abgenommen und in das Gras zurechtgesetzt hatte, mischte sich hier auch in das Gespräch und fing mit einiger Lebhaftigkeit, wie eins, das lange zugehört, ob es gleich auch etwas zu sagen gehabt hätte, zu ihrem Manne an: „Es ist wirklich schade, daß er alles hat stecken lassen; denn ich kann dir versichern, es waren recht schöne Stücke, und ich habe mein Lebtag so keine spielen sehen. Ich schrieb sie ihm gerne ab und merkte mir immer dabei die Stellen, die mir am besten gefielen.“ – „Was für Helden wähltest du dir?“ sagte Werner. – „Du wirst dich wundern“, versetzte der andere darauf, „ob es gleich ganz natürlich ist, daß ich mir sie aus der Bibel aufsuchte.“ – „Aus der Bibel.“ rief jener, „das hätte ich mir am wenigsten erwartet.“ – „Und doch“, sagte Wilhelm, „ist es ganz natürlich. Die erste Geschichte, die unsere jugendliche Aufmerksamkeit reizt und in Verwunderung setzt, erzählt uns von jenen heiligen Männern, an welchen Gott einen besondern Anteil zu nehmen geruhte. Wir hören von ihnen gleichsam als von unseren eigenen Stammvätern sprechen, und die vorzüglichsten Männer der vorzüglichsten Nation müssen für uns die ersten in der Welt werden. Wir untersuchen nicht, wie interessant ihre Handlungen sind, sondern die Handlungen sind uns merkwürdig, weil sie von ihnen erzählt werden.“ – „Du sagtest“, fiel ihm Werner ein, „daß einige von diesen Stücken fertig geworden; was waren für Gegenstände drinne ausgeführt?“ – „Laß dir es von Amelien erzählen“, sagte Wilhelm und lächelte. „Dabei wirst du dich vielleicht wieder recht wundern, wenn du die Feinde des Volks Gottes als Hauptpersonen meiner Stücke auftreten siehst; ich kann dir aber versichern, es war in der rechtgläubigsten Absicht, denn die Propheten taten darinne sehr ihre Schuldigkeit und sagten ihnen vorneherein derb die Wahrheit; schröckliche Träume, Ahndungen regten ihre Gewissensbisse auf und ließen ihnen keine ruhige Stunde, daß sie wirklich recht matt und abgehetzt waren, als ihnen der fünfte Akt den Fang gab.“
Amelie ließ nicht undeutlich merken, daß es ihr unangenehm sei, wenn der Bruder diese Sache lächerlich mache. Es sei ihm doch auch einmal bittrer Ernst drum gewesen, und ihr gefallen sie eben noch. Ihr Mann bat sie, ihm die Helden zu nennen, und zu seiner großen Verwunderung hörte er die berüchtigten Namen von Jesabel und Belsazar. „Ei, ei!“ rief er aus, „eine Königin vom Fenster gestürzt! eine Hand, die aus der Wand reicht! das als theatralische Gegenstände zu denken, dazu gehört viel Mut der Einbildung.“
„Es ist mir lieb“, sagte Wilhelm, „daß dir das Abgeschmackte sogleich auffällt. Noch mehr wird es dich wundern, wenn ich dir sage, daß ich eben darum diese Geschichten wählte. Sei versichert, es geht vielen Theaterschriftstellern so. In einem Roman, in einer Geschichte ist etwas merkwürdig, und sie meinen gleich, es müsse so vorgestellt werden und gebe auch Stoff zu vier Akten voraus, ob es gleich so wenig zum Drama paßt als der Salto mortale meiner Königin und die drohende Wunderhand.“ – „Wie ums Himmels willen“, sagte der Schwager, „hast du diese Gegenstände behandelt?“ – „Vielleicht glaubst du mir kaum, wenn ich dich versichere, daß sie ganz mit den Regeln und mit allem theatralischen Anstande ausgeführet wurden.“ –,,Du mußt sie lesen“, fiel die Schwester ein, „denn er sagt dir doch sonst nicht das Rechte.“ – „Zuvörderst muß ich dir nur gestehen“, fuhr Wilhelm fort, ohne sich an ihre Einwendung zu kehren, „daß mich die Spekulation einer besondern Todesart auf das Sujet von der Jesabel brachte. Ich sah, daß alle meine Vorgänger sich die künstlichste Mühe gegeben hatten, mit Dolch und Gift und andern schädlichen Werkzeugen auf das mannigfaltigste zu hantieren, so daß dem Nachfolger fast keine Kombination mehr übrigblieb. Um desto mehr fiel mir der Sturz in die Augen, der das Leben einer berüchtigten Königin endigte.“ Werner schlug wider seine Gewohnheit in ein lautes Lachen aus und rief: „Ich begreife nicht, sollte sie denn wirklich von oben heruntergeworfen werden, wie man es in Merians Kupferbibel zu sehen kriegt?“ – „Wie kannst du dir einen solchen Puppenspielstreich von einem geübten Schriftsteller denken! Nein, meine Sachen sollten vor dem besten Geschmack ausführbar sein. Der Schauplatz ist in einem großen Saal, von da er sich nicht wegwendet, und in dem fünften Akt, wo Jesabel vergebens den Überwinder durch erkünstelte Reize und Schmeicheleien zu bewegen, durch Drohungen zu erschüttern sucht, endigt der Held in gerechtem Eifer mit Vorwürfen und Verwünschungen und schneidet ein sehr wohlgeführtes Gespräch ziemlich rittermäßig kurz ab, indem er der Wache befiehlt, sie herabzustürzen. Diese greift zu – und der Vorhang fällt.“ – „bravo!“ rief Werner, „das war gut ausgedacht.“ – „Mir war nur bange“, versetzte Wilhelm, „es möchte einmal bei einer Vorstellung aus Versehen der Vorhang nicht heruntergehen, wodurch denn freilich die ganze Wirkung des Trauerspiels sich in ein Gelächter würde aufgelöst haben.“ – „Du wirst gewiß recht prächtige Stellen in dem Stücke finden“, sagte die Schwester zu ihrem Manne, „und die Königin ist so gottlos, daß man ihr alles Übel gönnt.“ – „Nicht wahr, Amelie“, sagte Wilhelm, „du hast es ihr auch besonders übelgenommen, daß sie noch Ansprüche auf einen jungen König machte, den du allenfalls selbst nicht verschmäht hättest?“ – „Nun aber Belsazar!“ fiel Werner ein. „Den laß ich mir gar nicht nehmen“, sagte die Schwester. „Es sind so schöne Sachen drin, die ich mir alle auswendig gemerkt habe.“ – „Gib mir nur einen Begriff davon“, sagte Werner. „Meine Helden“, versetzte Wilhelm, „waren gewöhnlich jung, weil ich nichts interessanter wußte als die Jugend, in der ich mich selbst fühlte, und so war auch mein König Belsazar ein feiner junger Herr.“ – „Erinnerst du dich noch“, sagte die Schwester, „was der fremde Herr, dessen Geschmack du so sehr rühmst, auf einem Spaziergange sagte, als er den Morgen das Stück gelesen hatte?“ – „Ich bin überzeugt“, versetzte Wilhelm, „daß er es aus schonender Güte, um mich nicht ganz niederzuschlagen, gesagt hat. Er behauptete, der junge König sei gut geschildert. Eigentlich ist es ein Mensch, deren es viele in jedem Stande gibt. Er will das Gute, hat ein Gefühl für Rechtschaffenheit und Tugend, eine dunkele, unbehagliche Ehrfurcht vor dem strengen Gotte der Hebräer, einen bequemen, hergebrachten Dienst seiner eignen Götter, leichtsinnig über sein Reich, beschäftigt durch seine Leidenschaften, eifrig bei Festen und Gelagen, am liebsten in der Zerstreuung, wozu seine Hofleute das Ihrige willig beitragen.“ – „Nun, das klingt so übel nicht“, sagte Werner. „Höre nur einmal einen Monolog, womit der König den zweiten Akt anfängt“, sagte Amelie, „ich kann ihn auswendig.“ – „Rezitier ihn nur“, versetzte Wilhelm, „ich will indes auf dem Damme spazierengehen. Ich mag nicht wohl leiden, wenn man mir meine Sachen vorrezitiert.“ – „Wie würde dir es gehen, wenn sie aufgeführt würden?“ – „Ich weiß nicht, das würde sich finden, verlegen würde mich’s auf alle Fälle machen.“ Und so ging er von ihnen auf die Seite. „Du denkst dir“, sagte Amelie, als er weg war, „daß es des Königs Geburtstag ist, daß in der Nacht die Verschwornen den ersten Akt eröffnen und sich, da der Tag graut, entfernen. Die Sonne gehet auf, der König, aufgeweckt von dem Trompeten- und Paukenschall, der seiner Stadt das Fest verkündigt, reißt sich aus den Armen einer Geliebten und übersieht von der Terrasse die Herrlichkeit Babylons. Auch bemerke ich noch, daß ein Verschworner im vorhergehenden Akte Belsazars Furcht vor dem Donnerwetter mit Verachtung erwähnt hat.“
Fünftes Kapitel
Welch schöner, hoher Tag verdrängt die süße Nacht,
Weckt mich vom Schlummer auf? Ein Tag der Lust und Pracht!
Die Liebe hielte mich in sanftem Arm gebunden,
Nun ruft die Freude mir zu neuen, goldnen Stunden;
Von Jubel tönt die Stadt, es tönet das Gefild
Im Morgensonnenglanz wie Memnons Zauberbild.
Ich höre Lied um Lied aus tausend Kehlen dringen,
Die ihres Königs Preis und Glück dem König singen.
Einstimmig ladet’s mich von allen Seiten ein,
Der Glücklichste des Volks, den Göttern gleich zu sein.
Laßt jede Stunde so des Lebens mir verfließen,
Was bleibt dem Wunsche mehr? ich hab’s und will’s genießen.
Rein wie der Himmel sei mein ungetrübtes Glück!
Was steigst du Wolke dort? Verbirg dich meinem Blick!
Wie? soll die Herrlichkeit des Fests mir Einzgen prangen
Und tief in meiner Brust des Donners Ahndung bangen?
O schwaches Menschenherz, o leicht gefangner Geist,
Du schwillst, du steigst empor, wie dich’s ein Schmeichler heißt.
Ein Volk auf seinen Knien kann deinen Stolz entzücken
Und sein Gehorsam dich, der du gebietst, berücken;
Und wann der Lüfte Macht nur dich entzündend schlägt,
Beugst kindisch du das Haupt, das frech die Krone trägt.
O Glück, das du dich mir, der Liebsten gleich, ergeben,
Komm auf der Morgenluft, mich freundlich zu umschweben!
In deinem Arm allein genieß ich froh und leicht,
Was die Geburt mir gab und was du mir gereicht.
Wie schweift mein Geist umher und dringt nach allen Seiten, Mein ungeheures Reich noch weiter auszubreiten,
Mit hohem Siegerschritt durch alle Welt zu gehn,
Am letzten Meere nur unwillig stillzustehn.
Und doch hat sich umsonst mein Herz so hoch erhoben,
Hier ruft’s: „Du bist nicht Herr! erkenne jenen droben!“
Dein Sklave blickt herauf, du scheinst ihm herrlich groß,
Sieh du auf ihn herab, sein Los ist auch dein Los.
Mag stolz dein golden Bild in hundert Tempeln thronen,
Du brauchst nur engen Raum, un endlich still zu wohnen.
Beherrschest du den Tag? die Freude? den Verdruß?
Es reißt die Zeit dich hin, wohin ein jeder muß.
Er nur alleine lebt, und er wird ewig leben,
Der Himmel trägt ihn kaum, fühlt unter ihm sich beben;
Im Wetter eingehüllt, tritt er mit Macht hervor,
Der Donner bringt sein Wort in mein betäubtes Ohr.
Es tönt: „Du bist ein Staub, den ich im Sturm verwehe,
Du bist, o Herrlicher, die Blume, die ich mähe.“
Amelie mußte ihrem Manne verschiedene Verse zweimal vorsagen, die er sehr lobte und selbst im Gedächtnis zu behalten wünschte. Nach der Zurückkunft des Bruders fing ein Streit von neuem an, ohngefähr demjenigen gleich, den wir im vorigen Kapitel erzählt haben. Die Schwester sprach von dem Stücke mit Entzücken, Werner gab ihr im voraus Beifall, weil er vermutete, daß das Ganze so wie der Monolog geglückt sein werde.
Wilhelm hatte viel daran auszusetzen, und weil ihm, da er sprach, viele Sachen gegenwärtig waren und er ein Resultat mancher Betrachtungen, welche die andern nicht selbst gemacht hatten, behauptete, da ihm vertrauliche Werke der Dichtkunst vor der Seele standen, mit denen er die seinigen verglich, und als ein Künstler von den innern Federn, die ein Stück in Bewegung setzen, mit Leuten sprach, die nur nach Wirkungen, die auf sie gemacht werden, urteilten, so war es ohnmöglich, daß er sie überzeugte, besonders da sie, wenn man es genau betrachtete, alle drei würklich recht hatten.
Er unterließ aber doch nicht, seinen Lieblingsgrundsatz aber- und abermals einzuschärfen, daß im Drama die Handlung, insofern sie vorgeht und vorgestellt werden kann, die Hauptsache sei, und daß Gesinnungen und Empfindungen dieser fortschreitenden Handlung völlig untergeordnet werden müssen, ja, daß die Charaktere selbst nur in Bewegung und durch Bewegung sich zeigen dürfen. Man gab ihm das zu und führte gleich darauf Beispiele an, die das Gegenteil bewiesen. Zuletzt versicherte er, daß er seine bisherigen Arbeiten deswegen durchaus verachte, weil sie sich alle durch diesen Fehler auszeichneten. „Sie sind“, sagte er, „wie Leute, die niemand schätzt, weil sie viel schwätzen und wenig tun.“ Amelie war darüber empfindlich und sagte scherzend: „Zeige doch nur auch von deinen neuen Sachen etwas vor, die du gemacht hast, seitdem du so gelehrt worden bist.“ – „Das werde ich nicht“, versetzte Wilhelm, „denn ich halte, was ich nach meiner neuen Erkenntnis arbeite, für ziemlich gut und fürchte doch immer, ob ich gleich weiß, daß ich auf dem rechten Weg bin, ich möchte nicht Kräfte haben, darauf fortzukommen, oder in der Folge, ohne die Leitung eines geschickten Meisters, mich abermals und noch gefährlicher verirren. Meine alten Sachen geb ich euch zu Lob und Tadel preis, laßt über den gegenwärtigen mich noch im Geheimnisse brüten. Das Publikum macht selbst die Meister irre; wir Schüler können, vom Winde hin und her getrieben wie junge, schlanke, erst gepflanzte Bäume, gar nicht Wurzel fassen und laufen Gefahr zu verdorren. Dafür will ich euch zum Beschluß die Fragmente eines kleinen Aufsatzes lesen, der in meiner Schreibetafel ist und die mir mein Freund auf verschiedene Fragen zusandte, die ich ihm über dramatische Gegenstände tat. Man hat oft unter den Kritikern gehandelt, ja wohl gestritten, woher das Gefallen komme, das der Mensch am Drama, besonders am Trauerspiele hat. Man hat über den Gegenstand desselben und seine Absicht verschiedene Meinungen gehegt; hier werdet ihr philosophische Gedanken hören, die zwar etwas weither anzufangen scheinen, doch manches über diese Materie denken lassen.“ Wilhelm suchte das Blatt auf und las:
„Der Mensch ist durch seine Natur und durch die Natur der Dinge zu verschiedenen Schicksalen bestimmt; Lust und Schmerz, Glück und Unglück in ihren höchsten Graden sind ihm gleich entfernt und gleich nah. Von dem Übeln, von dem Guten ist ihm, wenn ich es so nennen darf, eine Vorahndung gegeben, die zugleich innigst mit der Kraft verbunden ist, die Bürden des Lebens auf sich zu nehmen und zu tragen.
Jede Seele wird in dem Gange der Tage zu dem, was ihr bevorsteht, mehr oder weniger zubereitet, so daß ihr meistens das Außerordentliche, wenn es vorkommt, besonders sobald die ersten Augenblicke der Überraschung vorüber sind, gewöhnlich bekannt und erträglich scheint; und ob ich gleich nicht leugnen will, daß viele bei unvermutetem Glück und Unglück sich sehr ungebärdig stellen, so finden wir doch auch, daß manche, denen wir sonst die Stärke der Seele nicht zuschreiben können, ein seltnes Glück mit Gleichmut und ein hereinbrechendes Unglück mit Gelassenheit auf sich nehmen. Wir sehen oft Menschen, die durch nichts Außerordentliches bezeichnet sind, Schmerzen, Krankheit, Verlust der Ihrigen mit stiller Standhaftigkeit ertragen und selbst dem eigenen Tode als etwas Bekanntem und Notwendigem entgegengehen.
Daß die Vorahndung des Guten bei allen Menschen mit dem Wunsche, es zu besitzen, verbunden sei, ist natürlich und fällt bald in die Augen; daß aber auch der Mensch eine Art Lüsternheit nach dem Übel und eine dunkle Sehnsucht nach dem Genusse des Schmerzens habe, ist schwerer zu bemerken, mit andern Gefühlen verwandt, unter andern Symptomen verhüllt, die uns leicht von unserer Betrachtung abführen können.
Es ist lange gesagt worden, daß der gleichgültige Zustand derjenige sei, dem der Mensch am meisten zu entfliehen suche. Sobald Seele und Körper durch Schlaf und Ruhe in den Zustand der Behaglichkeit versetzt sind, so verlangen beide wieder, sich zu regen, zu würken, gereizt, gerührt und so ihres Daseins gewahr zu werden. Tausendfältig ist das Verlangen, diesen Reiz zu genießen; der einfache Mensch bedarf des einfacheren, geringeren, schwächeren, der ausgebildete des mannigfaltigern, stärkern, wiederholtern. Diese Begierde ist so gewaltig, daß sie selten in den Grenzen ihrer Kräfte bleibt und daß selbst der Mäßigscheinende zwar nicht jeden Tag seines Lebens betrunken schließt, doch aber die ganze Summe seines Daseins früher, als es bestimmt war, aufzehrt.
Von jedem, was dem Menschen Sonderbares begegnet, wird er innig gerührt. Ein Übel, das vorüber ist, wird ihm zu einem Schatze der Erinnerung für sein ganzes Leben. Was andern Sonderbares widerfährt, davon sind die Geschichten höchst willkommen, sie seien nun aus der vergangnen Zeit aufbewahrt, oder sie werden zu uns als Neuigkeiten von fremden Weltgegenden herübergebracht. Am stärksten aber wird das Volk gerührt von allem, was unter seine Augen gebracht wird. Weit mehr als, eine ausführliche Beschreibung zieht ein gesudeltes Gemälde, ein kindischer Holzschnitt den dunkeln Menschen an. Und wie viel Tausende sind, die in dem vortrefflichsten Bilde nur das Märchen erblicken. Die großen Bilder der Bänkelsänger drücken sich weit tiefer ein als ihre Lieder, obgleich auch diese die Einbildungskraft mit starken Banden fesseln.
Was kann nun einen größern Eindruck auf die Menge machen, als wenn der Held selbst gleichsam vor ihnen aus dem Grabe aufersteht, vor ihnen handelt, spricht, sein Innerstes entdeckt, leidet und in der erdichteten Gefahr zuletzt umkommt? Wie viel Tausende werden unwiderstehlich nach einer Exekution, die sie verabscheuen, hingerissen, wie ängstet sich die Brust der Menge für den Übeltäter, und wie viele würden unbefriedigt nach Hause gehen, wenn er begnadigt würde und ihm der Kopf sitzen bliebe? Das sprudelnde Blut, das den bleichen Nacken des Schuldigen färbt, besprengt die Einbildungskraft der Zuschauer mit unauslöschlichen Flecken; schaudernd, lüstern blickt die Seele wieder nach Jahren zu dem Gerüste hinauf, läßt alle fürchterliche Umstände wieder vor sich erscheinen und scheut es sich selbst zu gestehen, daß sie sich an dem gräßlichen Schauspiele weidet. Viel willkommner sind jene Exekutionen, welche der Dichter veranstaltet.
Der gesunde Mensch kann durch nichts gerührt werden, daß nicht zugleich die Saiten seines Wesens erschüttert werden sollten, von denen die entzückenden Harmonien des Vergnügens auf ihn herabströmen. Und selbst grausame, zerstörende Begierden, worüber man sich auch bei Kindern entsetzt, die man durch Strafen zu vertreiben sucht, haben geheime Wege und Schlupfwinkel, wodurch sie zu den allersüßesten Vergnügungen hinübergehen. Alle diese innerlichen Gänge und Wege werden durch Schauspiele, besonders durch die Tragödie mit elektrischen Funken durchschüttert, und ein Reiz ergreift den Menschen; je dunkler er ist, je größer wird das Vergnügen.
Die Begriffe, die sich Menschen von Menschen und Dingen machen, sind so dunkel, so verwirrt, so unvollständig, daß ein albernes Quiproquo sie im mindesten nicht irrt. Karl XII. wird an seinen Stiefeln und zugeknöpftem Rock, vorzüglich aber an seinen straupigen Haaren, Heinrich IV. an seinem Knebelbart und Halskrause erkannt, und man nimmt die widersprechendsten Repräsentanten gerne für die abgeschiedne Majestät. Und ich behaupte sogar, daß, je mehr das Theater gereinigt wird, es zwar verständigen und geschmackvollen Menschen angenehmer werden muß, allein von seiner ursprünglichen Würkung und Bestimmung immer mehr verliert. Es scheint mir, wenn ich ein Gleichnis brauchen darf, wie ein Teich zu sein, der nicht allein klares Wasser, sondern auch eine gewisse Portion von Schlamm, Seegras und Insekten enthalten muß, wenn Fische und Wasservögel sich darin wohlbefinden sollen.
Indem ich die Feder niederzulegen genötigt bin und auf das, was ich geschrieben, zurücksehe, so sehe ich, daß ich so verworren und unvollständig bin als irgend einer, der eine solche Materie zu behandeln gewagt hat. Lassen Sie durch diese flüchtige Gedanken nur bei sich Gedanken erregen. Vielleicht sprechen wir nächstens über das Possenspiel und ihre vornehme Tochter, die Komödie. Dabei dürfen wir, wenn wir auf den Grund kommen wollen, weder Zigeuner noch Bärentanz noch die gefährlichen Sprünge und Verdrehungen herumziehender Wagehälse vergessen.“
Unsere Freunde waren eben im Begriffe, jeder nach seiner Art, den schweren Stein dieser Lektüre anzufassen, zu wälzen und womöglich ihm einige seiner scharfen Ecken abzuschlagen (denn so ist meistenteils der Leser gebildet, daß er jede Sache gerne rund in seine Hände nehmen möchte, um sie recht mit Bequemlichkeit zu betrachten und nachher wie eine Kegelkugel zu seiner Absicht vor sich hinzurollen), als sie durch eine Erscheinung unterbrochen wurden, die ihre ganze Aufmerksamkeit auf sich zog.
Sechstes Kapitel
Es kam eine Partie gewaffneter Leute durchs Feld her, die sie an ihren weiten und langen Röcken, an ihren großen Aufschlägen, unförmlichen Hüten und schweren Gewehren, an ihrem treuherzigen Gange und an dem bequemen Tragen ihres Körpers sogleich für ein Kommando Landmiliz benachbarter Herrschaft erkannten. Als dieser Trupp näher kam, sie grüßte, seine Flinte bei der großen Eiche abstellte und sich auf den Platz daneben bequem lagerte, um eine Pfeife Tobak zu rauchen, ließen sie sich mit einem Unteroffizier in ein Gespräch ein und vernahmen, daß er vom Amte geschickt sei, hier auf der Grenze ein paar junge Leute in Empfang zu nehmen, die miteinander durchgegangen und durch Steckbriefe in der nächsten Stadt angehalten worden. Die Eiche, welche bei Wilhelmen solche poetische Gefühle erregt, war eigentlich ein Grenzbaum. Hier wollten sie verweilen und die Ankunft des gefangenen Paares erwarten. Wilhelm ward auf diese Nachricht stutzig, noch mehr aber verwundert, als er hörte, der junge Mensch sei ein Komödiant und das Mädchen die Tochter eines hübschen Mannes aus dem benachbarten Städtchen. Aus der weitschweifigen Geschichte, die der Unteroffizier erzählte, war so viel zu nehmen, daß vor einem halben Jahre eine Truppe bei ihnen gewesen sei, die sich nicht lange erhalten können. Da sie endlich aufgebrochen, sei ein Akteur zurückgeblieben, der nicht weiter mitziehen wollen und der, weil er sich bequemt hätte, für ein geringes Geld junge Leute Französisch und tanzen zu lehren, einige Gönner und Aufmunterer gefunden habe. In dem Hause des Herrn N., wo er zur Miete gesessen, sei er mit dessen Tochter erster Ehe, auf welche seine zweite Frau nicht sonderlich achtgegeben, bekannt geworden, sei mit ihr viel spazierengegangen, habe sie im Garten deklamieren lehren, worüber auch die Leute zu reden angefangen; es habe darüber im Hause Händel gesetzt, eines Morgens früh seien beide vermißt worden, und da die Eltern in das Amt gelaufen, habe man die benachbarte Obrigkeit requiriert, wo sie denn auch in Verhaft gebracht, ihnen nunmehr übergeben werden sollten.
Unsere Freunde waren bei dieser Erzählung erstaunt, da ihnen die Ähnlichkeit der Schicksale in umgewechseltem Geschlechte auffiel, und ihre Neugierde wurde sehr erregt, das ungleiche Paar zu sehen. Es währte nicht lange, so kam der Aktuarius zu Pferde nach, unterhielt sich mit seinem Kommando und bekräftigte die Geschichte, auf Befragen der Gesellschaft, mit einigen noch näheren Umständen
Endlich sah man von ferne einen Wagen kommen, der von einer Bürgerwache mehr lächerlich als fürchterlich umgeben war. Ein unförmlicher Stadtschreiber ritt voraus, der mit dem gegenseitigen Aktuarius unter der Eiche am Grenzsteine sich mit großer Gewissenhaftigkeit und wunderlichen Gebärden komplimentierte, wie es etwa Geist und Zauberer, der eine inner-, der andere außerhalb des Kreises, bei gefährlichen nächtlichen Operationen tun mögen. Die Aufmerksamkeit der Zuschauer war indes auf den Wagen gerichtet. Die alte Kutsche, worin man die Schöne anfangs transportierte, war unterwegs gebrochen, und da man einen Bauerwagen zu Hülfe gerufen, erbat sie sich die Gesellschaft ihres Freundes, der, wegen des besondern Begriffs von Kriminalität des Falles mit Ketten beschweret, erst nebenherging. Sie saßen also beiderseits auf einigen Bündeln Stroh beieinander, blickten sich mit Zärtlichkeit an, und er bewegte, indem er ihre Hände küßte, mit vielem Anstande die klingenden Fesseln. „Wir sind sehr unglücklich“, rief er der Gesellschaft zu, die sich dem Wagen genähert hatte, „aber wir sind nicht so schuldig, als wir scheinen. So belohnen grausame Menschen treue Liebe, und Eltern, die das Glück ihrer Kinder gänzlich vernachlässigen, reißen sie mit Ungestüm aus den Armen der Freude, die sich ihrer nach langen trüben Tagen bemächtigte.“
Die Fragen, die von der Gesellschaft an sie geschahen, waren etwas prosaischer. Indes sie beantwortet wurden, hatten beide Gerichte ihre Zeremonien absolviert, der Wagen ging weiter, und Wilhelm, den das Schicksal der Verliebten sehr interessierte, verlangte von dem Ehepaar, daß es mit ihm ins benachbarte Amt, welches etwa eine halbe Stunde von da lag, gehen sollte. Sie entschuldigten sich mit dem nähern Abend, nahmen ihren Weg nach der Stadt zurück, er aber eilte seinen Liebenden nach, und da er eine alte Bekanntschaft mit dem Amtmann, noch ehe sie ankamen, zu erneuern gedachte, so ergriff er einen Fußpfad und erreichte noch zu rechter Zeit das Amthaus, wo er alles in Bewegung und zum Empfange der Flüchtlinge bereit fand.
Der Aktuarius, der bald nach ihm eintraf, erzählte mit großer Freude, wie alles glücklich gegangen und daß seine jungen Leute nicht weit von dem Orte entfernt seien. Mit mehr Zufriedenheit setzte er hinzu, er habe befohlen, daß der Wagen nicht zum Stadttore hereinfahren und daß man sie an dem Garten, welcher durch eine kleine Pforte mit dem Amthause zusammenhing, absetzen sollte, da sie denn ganz in der Stille hereingebracht werden könnten.
Wilhelm, ob ihm gleich die platte und gefühllose Art, womit der Mann die Sache behandelte, mißfiel, konnte doch nicht umhin, ihn zu loben, daß er soviel Vorsicht zur Schonung des unglücklichen Paars gebraucht habe. Jener nahm zwar das Kompliment selbstgefällig auf, freute sich aber eigentlich nur deswegen in seinem Herzen, weil er der auf den Straßen und vor dem Amthause versammelten Bürgerschaft einen Streich gespielt und sie um so ein erwünschtes Schauspiel bevorteilt hatte, als die öffentliche Demütigung eines Mädchens war, das sonst etwas mehr als andre auf sich zu halten pflegte. Hierauf erzählte er dem Amtmann, wie vortrefflich sein Pferd ginge, das er erst gestern von dem Juden getauscht, und ließ sich weitläufig über dessen gute Eigenschaften heraus, wodurch denn Wilhelm verhindert wurde, sich näher nach der Angelegenheit zu erkundigen, und sich heimlich sehr wunderte, daß man in Erwartung so wichtiger Begebenheiten, mitten unter den ernsthaftesten Dienstverrichtungen fremde, gleichgültige, und er hätte wohl Lust gehabt hinzuzusetzen, alberne Dinge mit Interesse einschieben könne
Ihre Ankunft wurde gemeldet. Der Amtmann, der von solchen außerordentlichen Fällen kein sonderlicher Liebhaber war, weil er meistenteils in deren Behandlung ein- und den andern Fehler machte und bei dem besten Willen gewöhnlich von der fürstlichen Regierung mit einem derben Verweise belohnt wurde, ging mit schwerem Schritte in die Amtstube, wohin ihm Wilhelm, der Aktuarius und einige andere angesehene Bürger folgten, die sich aus Neugier versammelt hatten.
Zuerst ward die Schöne vorgeführt, die ohne Frechheit sehr gelassen und mit Bewußtsein ihrer selbst hereintrat. Die Art, wie sie ihre Kleider zurechtgerückt hatte, die auf der Flucht und in ihrer Gefangenschaft eben nicht in den vorteilhaftesten Umständen sein konnten, zeigte Wilhelmen an, daß sie ein Mädchen sei, die etwas auf sich hielt. Sie fing auch, ohne gefragt zu sein, über ihren Zustand nicht unschicklich an.
Der Aktuarius gebot ihr zu schweigen und hielt seine Feder über dem gebrochnen Blatte. Der Amtmann setzte sich in Fassung, sah ihn an, räusperte sich und fragte das arme Kind, wie ihr Name heiße und wie alt sie sei?
„Ich bitte Sie, mein Herr“, versetzte sie, „es muß mir gar wunderbar vorkommen, daß Sie mich um meinen Namen und mein Alter fragen, da Sie sehr gut wissen, wie ich heiße und daß ich so alt wie Ihr ältster Sohn bin. Was Sie von mir wissen wollen und was Sie wissen müssen, will ich gerne ohne Umschweife sagen.
Seit meines Vaters zweiter Heurat werde ich zu Hause nicht zum besten gehalten. Ich hätte einige hübsche Partien tun können, wenn sie nicht meine Stiefmutter aus Furcht vor der Ausstattung vereitelt hätte. Nun habe ich den jungen Melina kennenlernen, ich habe ihn lieben müssen, und da wir die Hindernisse voraussahen, die unserer Verbindung im Wege stunden, entschlossen wir uns, miteinander in der weiten Welt ein Glück zu suchen, das uns zu Hause nicht gewährt schien.
Ich habe nichts mitgenommen, als was mein eigen war, ja ich habe noch ein ansehnliches Mütterliches zu fordern; wir sind nicht als Diebe und Räuber entflohen, und mein Geliebter verdient nicht, daß er mit Ketten und Banden belegt herumgeschleppt werde. Der Fürst ist gerecht, er wird diese Härte nicht billigen. Wenn wir strafbar sind, so sind wir es nicht auf diese Weise.“
Der alte Amtmann kam hierüber doppelt und dreifach in Verlegenheit. Die gnädigsten Ausputzer summten ihm schon um den Kopf, und die geläufige Rede des Mädchens hatte ihm den Entwurf des Protokolls gänzlich zerrüttet. Das Übel wurde noch größer, als sie bei wiederholten ordentlichen Fragen sich nicht weiter einlassen wollte, sondern sich auf das, was sie eben gesagt, standhaft berief.
„Ich bin keine Verbrecherin“, sagte sie, „man hat mich auf Strohbündeln zur Schande hierhergeführt; es ist eine höhere Gerechtigkeit, die uns wieder zu Ehren bringen soll.“
Der Aktuarius hatte indessen immer ihre Worte nachgeschrieben und flüsterte dem Amtmanne zu, er solle nur weitergehen, ein förmliches Protokoll würde sich nachher schon verfassen lassen.
Der Alte nahm wieder Mut und fing nun an, nach den süßen Geheimnissen der Liebe mit dürren Worten und in hergebrachten, trocknen Formeln sich zu erkundigen.
Wilhelmen stieg die Röte ins Gesicht, und die Wangen der artigen Verbrecherin belebten sich mit der reizenden Farbe der Schamhaftigkeit. Sie schwieg und stockte, bis die Verlegenheit zuletzt ihren Mut erhöhte.
„Sein Sie versichert“, rief sie aus, „daß ich stark genug sein würde, die Wahrheit zu bekennen, wenn ich auch gegen mich selbst sprechen müßte; sollte ich nun zaudern und stocken, da sie mir Ehre macht? Ja, ich habe ihn von dem Augenblicke an, da ich seiner Neigung und seiner Treue gewiß war, als meinen Ehmann angesehen, ich habe ihm alles gerne gegönnt, was die Liebe fordert und was ein überzeugtes Herz nicht versagen kann. Machen Sie nun mit mir, was Sie wollen. Wenn ich einen Augenblick es zu gestehen zauderte, so war es die Furcht, daß mein Bekenntnis für ihn schlimme Folgen haben möchte.“
Wilhelm faßte, als er das hörte, einen hohen Begriff von den Gesinnungen des Mädchens, indes sie die Gerichtspersonen für eine freche Dirne erkannten und die gegenwärtigen Bürger Gott dankten, daß dergleichen Vorfälle in ihrer Familie entweder nicht geschehen oder nicht bekannt geworden waren.
Wilhelm versetzte seine Mariane in diesem Augenblicke vor den Richtstuhl, legte ihr noch schönere Worte in den Mund, ließ ihre Aufrichtigkeit noch herzlicher und ihr Bekenntnis noch edler werden. Die heftigste Leidenschaft, beiden Liebenden zu helfen, bemächtigte sich seiner. Er verbarg sie nicht und bat den zaudernden Amtmann heimlich, er möchte doch der Sache ein Ende machen, es sei ja alles so klar als möglich und bedürfe weitere Umstände nicht.
Dieses half so viel, daß man das Mädchen abtreten, dafür aber den jungen Menschen, nachdem man ihm vor der Tür die Fesseln abgenommen hatte, hereinkommen hieß. Dieser schien über sein Schicksal mehr nachdenkend. Seine Antworten waren ordentlicher und gesetzter, und wenn er von einer Seite weniger heroische Freimütigkeit zeigte, so empfahl er sich Wilhelmen hingegen durch mehr Zärtlichkeit, die aus seinen Reden hervorblickte.
Da auch dieses Verhör geendigt war, welches mit dem vorigen in allem übereinstimmte, nur daß er, um das Mädchen zu schonen, was sie schon gestanden hatte, hartnäckig leugnete, ließ man endlich sie selbst vortreten, und es entstand zwischen beiden eine Szene, welche ihnen das Herz unsers Freundes ganz zu eigen machte.
Was nur in Romanen und Komödien vorzugehen pflegt, sah er hier in einer unangenehmen Gerichtsstube vor Augen: den Streit wechselseitiger Großmut, die Stärke der Liebe im Unglück.
„Ist es denn also wahr“, sagte er bei sich selbst, „daß die schüchterne Zärtlichkeit, die vor dem Auge der Sonne und der Menschen sich furchtsam verbirgt und nur in abgesonderter Einsamkeit, im tiefen Geheimnisse zu genießen wagt, wenn sie durch einen feindseligen Zufall hervorgeschleppt wird, daß sie sich alsdann mutiger, stärker, tapferer zeigt als andere brausende und großtuigte Leidenschaften?“ Er beneidete heimlich ihr Glück, und der Verlust Marianens wurde ganz in seiner Seele lebendig. Wenn er sie dadurch wieder hätte erhalten können, wie gern würde er sich mit ihr an den Platz der beiden Liebenden gestellt und sich der gefühllosen Justiz preisgegeben haben!
Durch seine Vermittlung schloß sich die ganze Handlung noch ziemlich balde. Er verschaffte, daß sie beide in leidliche Verwahrung genommen wurden, und wenn es möglich gewesen wäre, so hätte er die Geliebte zu ihren Eltern diesen Abend noch hinübergebracht. Denn er setzte sich fest vor, hier ein Mittelsmann zu werden und die glückliche und ständige Verbindung beider Liebenden zu befördern. Er schickte seinem Schwager einen Boten, daß er diese Nacht und den morgenden Tag außenbleiben würde. Darauf begab er sich mit des Amtmanns Erlaubnis dahin, wo man den jungen Menschen in einem kleinen Zimmer verwahrt hielt.
Siebentes Kapitel
Schon unter dem Verhör war der Gedanke in Wilhelmen aufgestiegen, er müsse den jungen Gefangenen vormals an einem andern Orte gesehen haben; das Gesicht schien ihm bekannt, das Wesen hingegen fremd; den Namen Melina konnte er sich auf keine Weise erinnern. Indem der Gerichtsdiener ihm die Türe der Verwahrung aufmachte, er hereintrat und den Fremden wieder ins Gesicht faßte, rief er, wie mit einer Art von augenblicklicher Inspiration, aus: „Ei, Herr Pfefferkuchen, sind Sie es, den ich wiederfinde? und ist es möglich, daß ich Sie eine ganze halbe Stunde habe verkennen dürfen?“ – „Sind Sie es“, rief jener, „mit dem ich das Vergnügen hatte, in M. nebst einigen Kameraden und unserer angenehmen Mariane einen vergnügten Abend zuzubringen? Wahrscheinlich hat meine veränderte Frisur, eine andere Kleidung und ein anderer Name, Sie irregemacht.“ Wilhelm stutzte und wußte bei sich selbst nicht, welchem von den dreien oder allen zusammen er die Ursache seiner Verblendung geben sollte.
Wenn es uns erlaubt ist, in seine Seele eine Mutmaßung zu wagen, so lag es wohl darin: Jener Pfefferkuchen, den er kannte, war eigentlich ein stumpfer, kurzer, enger Mensch ohne die Grazie des Adels in seinen Bewegungen und Betragen. Sein Wesen war so gemein wie sein Name, und außer einer starken Stimme und einer gewissen Heftigkeit, womit er leidenschaftliche Rollen spielte, war nichts, das ihn einigermaßen ausgezeichnet hätte; und dieses Bild war in Wilhelms Seele geblieben. Melina hingegen, dem er in Ketten begegnete, den er vorm Richtstuhle sah, war durch seinen Zustand in eine stille Traurigkeit versetzt, er rührte die andern, weil er selbst gerührt war, und ein standhaftes Betragen auf dem Gipfel der Gefahr erhöhte sein Wesen einen Augenblick und verbreitete einen edeln Anstand über seine ganze Person.
„Wie sind Sie zu dem ganz fremden Namen gekommen?“ sagte Wilhelm. „Er ist so gar entfernt nicht von dem vorigen“, antwortete jener. „Namen haben einen großen Einfluß auf die Vorstellung der Menschen. Der meinige gab zu Spöttereien Anlaß, und er war mir selbst zuwider. Weil man auch an verschiedenen Orten Honigkuchen statt Pfefferkuchen sagt, so übersetzte ich ihn Melina, sobald ich Gelegenheit hatte, an einem fremden Orte zum ersten Male aufzutreten.“ – „Ich zweifle, ob jemand die Etymologie herausfinden werde“, versetzte Wilhelm.
Melina (welchen Namen wir ihm nicht mißgönnen wollen) fing darauf an, Wilhelmen seine ganze Geschichte zu erzählen, und dieser brennte vor Verlangen, etwas Näheres von Marianen zu hören, wornach er auch, sobald es sich nur einigermaßen schickte, mit bescheidenen Fragen sich erkundigte. „Unsere Truppe hat sehr viel an ihr verloren“, sagte der andere. „Ist sie abgegangen?“ versetzte Wilhelm. „Ja“, sagte jener, „und zwar auf eine unangenehme Art. Als wir damals von M. weggingen, nahmen wir unsern Weg nach der ***Messe. Mariane war in der letzten Zeit immer traurig gewesen, und so blieb sie es auch im Wagen, wo ich einige Stationen bei ihr saß. Gewöhnliche Streitigkeiten, die bei dem beschwerlichen Transport einer Truppe entstehen, waren ihr gleichgültig, sie ließ sich alles gefallen, sie scherzte und sang nicht wie sonst, und die lächerlichen Zufälle, die einem oder dem andern begegneten, konnten ihr keine freundliche Miene abzwingen. Sie wurde darüber oft berufen, aber auch dies schien ihr weder Unruhe noch Verlegenheit zu machen, wir konnten nichts davon begreifen. Auf einmal hörten wir zu ***, wo wir übernachtet hatten, einen großen Streit zwischen ihr und dem Direktor. Es hatte dieser aus der Stadt, wo wir hinwollten, wie wir nachher erfuhren, einen Brief von den Anverwandten eines jungen Menschen erhalten, mit dem sie in Verbindung gestanden hatte. Der Brief war drohend und erniedrigend für sie und den Direktor, der darüber heftig mit ihr zusammenkam und sie endlich zu dem Entschluß brachte, die Gesellschaft zu verlassen. Sie ging auch wirklich nicht weiter, sondern blieb in dem Wirtshause, das wir verließen, zurück. Da aus dem Briefe sichtbar war, daß unsere alte Theaterschneiderin mit um die Geschichte wußte, so nahm der Direktor, der sie längst gerne los gewesen wäre, diesen Vorwand, um auch ihr den Abschied zu geben. Die beiden Frauens blieben also allein, viele der Gesellschaft bedaurten sie. Ich habe mich in der Folge oft nach ihr erkundigt und nichts wieder von ihr erfahren.“
Wilhelm ward über diese Geschichte so nachdenklich, daß er eine ganze Weile nicht zuhörte, als Melina zu der seinigen überging und über das, was ihm geschehen war, sich ausbreitete, vorzüglich aber wegen der Zukunft seine Gesinnungen erklärte. Still und in sich gekehret, starr vor sich hinsehend, stand Wilhelm vor ihm, und jener erklärte diese Abwesenheit für ein nachdenkliches Aufmerken. Wie verwundert war er daher, als Wilhelm zuletzt auf seine Frage: „Glauben Sie denn, daß ich wohl tue und bei diesem Metier besser fahren werde?“ aufsehend und ohne sich zu besinnen antwortete: „O ja! Ich bin überzeugt, daß Sie kein besseres erwählen können und daß Ihre Gattin, soviel ich sie kenne, auch auf dem Theater ihr Glück machen wird. Sie hat eine angenehme Gestalt, einen guten Anstand, eine gefällige Stimme und Jugend genug, um sich in einer neuen Laufbahn zu finden.“
Unser Freund konnte sich nicht anders denken, als daß der Schauspieler mit seiner jungen Gattin das Theater aufsuchen würde. Es schien ihm ebenso natürlich und notwendig, als daß der Frosch das Wasser sucht. Nicht einen Augenblick hatte er daran gezweifelt, vielmehr glaubte er, das, was ihm seine eigene Seele sagte, von dem andern während seiner Abwesenheit gehört zu haben, der ihm indessen ganz das Gegenteil vorgetragen hatte und mit einiger Verwunderung sagte: „Sie müssen mich nicht verstanden haben, mein Herr, denn ich habe mir vorgenommen, nicht wieder auf das Theater zurückzukehren, vielmehr eine bürgerliche Bedienung, sie sei auch welche sie wolle, anzunehmen, wenn ich nur eine erhalten kann.“ – „Darum tun Sie sehr übel“, versetzte Wilhelm, „es ist schon ohne besondere Ursache nicht ratsam, die Lebensart, die man ergriffen hat, zu verändern, und überdies wüßte ich keine, die Ihnen so viele Annehmlichkeiten darbietet als die eines Schauspielers.“ – „Man sieht, daß Sie keiner gewesen sind“, versetzte jener. Darauf sagte Wilhelm: „Wie selten ist der Mensch mit dem Zustande zufrieden, in dem er sich befindet; er wünscht sich immer den seines Nächsten, aus welchem sich dieser gleichfalls heraussehnet.“ – „Indes bleibt doch ein Unterschied“, versetzte Melina, „zwischen dem Schlimmen und dem Schlimmern. Die Erfahrung, nicht die Ungeduld macht mich so handeln. Ist wohl ein kümmerlicheres, unsichereres und mühseligeres Stückchen Brot in der Welt? Beinahe wäre es ebensogut, es vor den Türen zu betteln. Was hat man von dem Neide seiner Mitgenossen, von der Parteilichkeit des Direktors, von der übeln Laune des Publikums auszustehen! Wahrhaftig, man muß ein Fell haben wie ein Bär, der in der Gesellschaft von Affen und Hunden an der Kette herumgeführt und geprügelt wird, um bei dem Tone eines Dudelsacks vor Kindern und Pöbel zu tanzen.“
Wilhelm dachte allerlei bei sich selbst, was er jedoch dem guten Menschen nicht ins Gesicht sagen wollte. Er ging also nur von, ferne mit dem Gespräch um ihn herum. Jener ließ sich desto aufrichtiger und weitläufiger heraus. „Täte es nicht not“, sagte er, „daß der Direktor jedem Stadtrate zu Füßen fiel’, um nur die Erlaubnis zu haben, vier Wochen zwischen der Messe ein paar Groschen mehr an einem Orte zirkulieren zu machen! Ich habe den unsrigen, der insoweit ein guter Mann war, oft bedauret, wenn er mir gleich zu anderer Zeit zu Mißvergnügen Ursache gab. Ein guter Akteur steigert ihn, die schlechten kann er nicht loswerden, und wenn er seine Einnahme einigermaßen der Ausgabe gleichsetzen will, so ist es dem Publikum gleich zuviel. Das Haus steht leer, und man muß, um nur nicht gar zugrunde zu gehen, mit Schaden und Kummer spielen. Nein, mein Herr, da Sie sich unsrer, wie Sie sagen, annehmen mögen, so bitte ich Sie, sprechen Sie auf das inständigste mit den Eltern meiner Geliebten! Man versorge mich hier, man gebe mir einen kleinen Schreiber- oder Einnehmerdienst, und ich will mich glücklich schätzen.“
Nach noch einigen gewechselten Worten schied Wilhelm mit dem Versprechen, morgen ganz früh die Eltern anzugehen und zu sehen, was er ausrichten könne. Kaum war er allein, so brach er vor sich in diese Worte aus: „Du unglücklicher Melina, der du noch immer Pfefferkuchen heißen solltest, nicht in deinem Stande, sondern in dir liegt das Armselige, über das du nicht Herr werden kannst! Welcher Mensch in der Welt, der ohne innern Beruf ein Handwerk, Kunst oder irgendeine Lebensart ergriffe, könnte er, müßte er nicht wie du seinen Zustand unerträglich finden? Wer mit einem Talente zu einem Talente geboren ist, findet in demselben sein schönstes Dasein! Nichts ist auf der Erde ohne Beschwerlichkeit, nur der innere Trieb, die Lust, die Liebe helfen uns Hindernisse überwinden, Wege bahnen und uns aus dem engen Kreise, worinnen sich andere kümmerlich abängstigen, emporheben. Dir sind die Bretter nichts als Bretter, und die Rollen, was einem Schulknaben sein Pensum ist, und die Zuschauer siehst du an, wie sie sich selbst an Werkeltagen vorkommen. Dir könnte es also freilich einerlei sein, hinter einem Pult über liniierten Büchern zu sitzen und die Zinsen einzutragen, welche hungrige Untertanen bringen. Du fühlst nicht das zusammenbrennende, zusammentreffende Ganze, das allein durch den Geist erfunden, begriffen und ausgeführt wird; du fühlst nicht, daß in den Menschen ein besserer Funke lebt, der, wenn er keine Nahrung erhält, wenn er nicht geregt wird, von der Asche täglicher Bedürfnisse und Gleichgültigkeit tiefer bedeckt und doch so spät und fast nie erstickt wird. Du fühlst in deiner Seele keine Kraft, ihn aufzublasen, in deinem eigenen Herzen keinen Reichtum, um dem erweckten Nahrung zu geben. Der Hunger treibt dich, und der Mangel ängstiget dich, die Unbequemlichkeiten sind dir zuwider, und es ist dir verborgen, daß in jedem Stande diese Feinde lauren, die nur mit Freudigkeit und Gleichmut zu überwinden sind. Du tust wohl, dich in jene Grenzen einer gemeinen Stelle zu sehnen, denn welche würdest du wohl ausfüllen, die Geist und Mut verlangt! Gib einem Soldaten, einem Staatsmanne, einem Geistlichen deine Gesinnungen, und mit ebensoviel Recht wird er sich über das Kümmerliche seines Standes beschweren können. Ja, hat es nicht sogar Menschen gegeben, die von aller Menschlichkeit und Lebensgefühl so ganz verlassen waren, daß sie das ganze Leben und Wesen der Sterblichen für ein Nichts, für ein kummervolles und staubgleiches Dasein erklärt haben? Regten sich lebendig in deiner Seele die Gestalten würkender Menschen, wärmte deine Brust ein teilnehmendes, belebendes Feuer, verbreitete sich über deine ganze Gestalt die Stimmung, die aus dem Innersten kommt, wären die Töne deiner Kehle, die Worte deiner Lippen lieblich anzuhören, fühltest du dich genug in dir selbst, so würdest du dir gewiß Ort und Gelegenheit aufsuchen, dich in andern fühlen zu können.“
Unter solchen Worten und Gedanken hatte sich unser Freund ausgekleidet, und er stieg mit einem Gefühle des innigsten Behagens zu Bette und erzählte sich einen ganzen Roman, was er an der Stelle des Unwürdigen morgenden Tages tun würde, welche Phantasien ihn in das Reich des Schlafes sanft hinüberbegleiteten und dort, von ihren Geschwistern, den Träumen, mit offenen Armen aufgenommen, durch sie gestärkt und neu belebt, das ruhende Haupt unsres Freundes mit dem Vorbilde des Himmels umgaben.
Am frühen Morgen war er schon wieder erwacht und dachte seiner vorstehenden Unterhandlung nach. Er überwand gar bald die kleine Verlegenheit, sich ganz fremden Menschen in einer so wichtigen Sache zu nähern. Er kam vor das Haus, und das Herz klopfte ihm für Unruhe. Er trug sein Anbringen bescheiden vor und fand gar bald mehr und weniger Schwierigkeiten, als er sich vermutet hatte. Geschehen war es einmal, und wenngleich außerordentlich strenge und harte Leute sich gegen das Vergangene und nicht zu Ändernde doch mit Gewalt setzen und das Übel dadurch zu vermehren pflegen, so hat es dagegen gewöhnlich auf die Gemüter der Menschen eine unwidersprechliche Gewalt, und das unmöglich Geschienene, das er wirklich sieht, nimmt neben dem Gemeinen seinen Platz ein, wie wir schon oben zu bemerken Gelegenheit gehabt haben. Es war also bald ausgemacht, daß Herr Melina die Tochter heuraten sollte, dagegen sollte sie wegen ihrer Unart kein Heuratsgut kriegen und versprechen, ihr Mütterliches noch einige Jahre gegen geringe Interessen in des Vaters Händen zu lassen. Der zweite Punkt wegen einer bürgerlichen Versorgung fand schon größere Schwierigkeiten. Man wollte das ungeratene Kind nicht vor Augen sehen, man wollte die Verbindung eines hergelaufenen Menschen mit einer so angesehenen Familie, welche sogar mit einem Superintendenten verwandt war, sich durch die Gegenwart nicht beständig aufrücken lassen; man könne ebensowenig hoffen, daß die fürstlichen Kollegien ihm eine Stelle anvertrauen würden. Beide Eltern waren gleich stark dagegen, und Wilhelm, der sehr eifrig dafür sprach, ob er gleich im Grunde dem Menschen, den er geringschätzte, die Rückkehr auf das Theater nicht gönnte und überzeugt war, daß er eines solchen Glückes nicht wert sei, konnte er nichts ausrichten. Hätte er die geheime Triebfedern gekannt, so würde er sich die Mühe gar nicht gegeben haben, sie zu überreden, denn der Vater, der seine Tochter gerne bei sich behalten wollte, haßte den jungen Menschen, weil seine Frau, eh dieser dem Mädchen den Hof machte, selbst ein Auge auf ihn geworfen hatte, und diese konnte in ihrer Stieftochter eine glückliche Nebenbuhlerin nicht vor Augen leiden. Ich führe die Befreiung beider Liebenden, ihre Aufnahme zu Hause und das Ende dieser Geschichte nicht weitläufig aus. Genug, Melina mußte wider seinen Willen mit seiner jungen Braut, die schon größere Lust bezeigte, die Welt zu sehen und sich der Welt sehen zu lassen, nach einigen Tagen abreisen und einen Ort suchen, wo eine Truppe ihre Nahrung fand.
Achtes Kapitel
Es war Sonntag geworden, und Wilhelm hatte sich noch nicht wieder zu Hause sehen lassen. Sein Schwager legte es aus, wie es auch wirklich war, daß er die Zeit teils zur Versöhnung der Familie, teils zu seinem Vergnügen würde angewendet haben. Es war ein Festtag, und jedes wünschte spazierenzugehen. Vater und Mutter, Frau, Handelsdiener, Knechte und Mägde hatte Werner ausgehen lassen und blieb zu Hause, wo er sich gerne aufhielt. Wilhelms Großvater, der in dem Handel viel gewonnen hatte, erbaute das Haus zuerst; allein unter der Verwaltung des Vaters hatte es viel von seinem bürgerlichen Glanze verloren, welchen Werner nach und nach wiederherzustellen bemüht war. Er ging herum und sah, wie weit die Handwerksleute in der Woche gekommen waren und was in der nächsten zu tun übrigbleiben würde. Das Dach war völlig hergestellt: statt mehreren morschen Balken andere eingezogen, statt verfaulter und ausgewitterter Bretter neue angeschlagen; der Mauerer arbeitete, die gesprungenen Wände auszuzwicken, und der Tüncher, ihnen Glätte und Ansehen zu geben; inwendig war auch schon viel getan, alle Zimmer und Säle geweißt, statt des alten, verrauchten, dunkeln Tafelwerks die Wände mit neuen, bunten Farben angemacht oder mit Kattunpapier beschlagen. Genug, wo man hintrat, sah man die Spuren des entstehenden Lebens, das sich zu einer langen Dauer Hoffnung machte. Werner besah dies alles mit großer Zufriedenheit und fing nun an, da er das Notwendige bald geendiget fand, auch an das Vergnügliche zu denken, um solches, wenn es ihm die Kasse erlauben würde, nach und nach zu vollenden.
In der Mitte des Hauses war ein großer, mit Sandplatten belegter Hof, der auch seit Werners Regierung wieder im Sommer einen angenehmen Aufenthalt abgab; was ihn sonst anfüllte und entstellte, war auf die Seite und jedes an seinen Ort in die Ställe, Remisen und auf die Böden gebracht worden. Gereinigt diente er nunmehr zum Sammelplatze und Spaziergange der Familie. Im Grunde desselben stand eine künstliche Grotte, wo ehemals Wasser gesprungen hatte, wo von aber die Röhren in Unordnung gekommen und viele von den Zieraten abgebrochen worden waren. Solches wieder in Ordnung zu machen, hatte Werner schon Perlemuttermuscheln, Korallen, Bleiglanz und was dazu gehört, verschrieben und hoffte, bald wieder alles in Ordnung zu sehen und bei dem springenden Wasser sonntags mit guten Freunden ein Glas Wein zu trinken und eine Pfeife zu rauchen. Nachdem er dieses alles bedacht, stieg er auf den obern Teil des Hauses, wo zwischen ein paar Dachgiebeln ein Altan angebracht war, den er in dem schlimmsten Zustande fand. Auch hier spekulierte er auf neue Orangenkasten, bunte Scherben, fremde Gewächse, womit er seinen hangenden Garten auszieren und sich zwischen den Schornsteinen ein kleines Paradies schaffen wollte. Der Abend kam herbei, er stieg herab, besuchte noch im Vorbeigehen die Gewölbe, sah nach den Zuckerkisten, Kaffeefässern und nach den Zeronen Indigo, für welche er, weil es guter Handel war, eine besondere Zärtlichkeit hatte. Er setzte sich darauf ins Comptoir, schlug seine Handelsbücher nach und ergötzte sich in dieser Lektüre, da ihm der offenbare Vorteil daraus in die Augen leuchtete, mehr, als wenn es die geschmackvollste Schrift gewesen wäre.
Hierüber trat Wilhelm herein, der, ganz voll von seinem Abenteuer und den schönen Gegenden, die er in Gesellschaft einiger Bekannten besucht, seinen Schwager mit großer Lebhaftigkeit davon unterhielt. Dieser gab ihm zwar mit seiner gewöhnlichen Langmut Gehör, doch war er diesmal selbst von eigener Leidenschaft so angefüllt, daß er auf die Fragen Wilhelms, was er bisher gemacht habe, das Gespräch auf diejenige Dinge lenkte, die ihn am meisten interessierten.
„Ich ging soeben“, sagte Werner, „unsere Bücher durch, und bei der Leichtigkeit, wie sich der Zustand unseres Vermögens übersehen läßt, bewunderte ich aufs neue die großen Vorteile, welche die doppelte Buchhaltung dem Kaufmanne gewährt. Es ist eine der schönsten Erfindungen des menschlichen Geistes, und ein jeder guter Haushalter sollte sie in seiner Wirtschaft einführen. Die Ordnung und Leichtigkeit, alles vor sich zu haben, vermehrt die Lust zu sparen und zu erwerben, und wie ein Mensch, der übel haushält, sich in der Dunkelheit am besten befindet und die Summen nicht gerne zusammenrechnen mag, die er alle schuldig ist, so wird dagegen einem guten Wirte nichts angenehmer, als wenn er sich alle Tage das Fazit seines wachsenden Glückes ziehen kann. Selbst ein Unfall, wenn er ihn verdrießlich überrascht, erschröckt ihn nicht, denn er weiß sogleich, was für erworbene Vorteile er auf die andere Waagschale zu legen hat. Ich bin überzeugt, mein lieber Bruder“, fuhr er fort, „wenn du nur einmal einen rechten Geschmack an unsern Geschäften kriegen könntest, so würdest du finden, daß man viele Fähigkeiten des Geistes mit Nutzen und Vergnügen dabei anwenden kann.“ – „Es ist möglich“, versetzte Wilhelm, „daß ich einige Neigung, ja vielleicht Leidenschaft für den Handel hätte fühlen können, wenn er mir nicht von Jugend auf in seiner kleinlichsten Gestalt bange gemacht hätte.“ – „Du hast recht“, versetzte jener, „und die Schilderung des personifizierten Gewerbes in einem jugendlichen Gedichte, davon du mir erzähltest, paßt fürtrefflich auf die Krämerei, in der du erzogen bist, nicht auf den Handel, den du kennenzulernen keine Gelegenheit gehabt hast. Glaube mir, du würdest für deine feurigste Einbildungskraft Beschäftigung finden, wenn du die Scharen rühriger Menschen, die wie Ströme die ganze Welt durchkreuzen, wegführen und zurückbringen, mit dem Geiste erkennen solltest. Seitdem unser beiderseitiges Interesse so nahe verbunden ist, habe ich immer gewünscht, es möchten es auch unsere Bemühungen sein. Ich konnte dir nicht zumuten, in einem Laden mit der Elle zu messen, mit der Waage zu wägen; laß uns das durch unsere Handelsdiener nebenher betreiben und geselle dich hergegen zu mir, um durch alle Art von Spedition und Spekulation einen Teil des Geldes und Wohlbefindens an uns zu reißen, das in der Welt seinen notwendigen Kreislauf führet. Wirf einen Blick auf alle natürliche und künstliche Produkte aller Weltteile, siehe, wie sie wechselsweise zur Notdurft geworden sind; welch eine angenehme, geistreiche Sorgfalt ist es, was in dem Augenblick bald am meisten gesucht wird, bald fehlt, bald schwer zu haben ist, jedem, der es verlangt, leicht und schnell zu schaffen, sich vorsichtig in Vorrat zu setzen und den Vorteil jedes Augenblickes dieser großen Zirkulation zu genießen. Dies ist, dünkt mich, was jedem, der Kopf hat, eine große Freude machen wird. Aber freilich muß man erst in dieser Zunft Genosse werden, das dir wohl schwerlich an diesem Orte geschehen kann. Ich habe schon lange darüber nachgedacht, und es würde dir auf alle Fälle vorteilhaft sein, eine Reise zu tun.“
Wilhelm schien nicht abgeneigt, und Werner fuhr fort: „Wenn du nur erst ein paar große Handelsstädte, ein paar Häfen solltest gesehen haben, so würdest du gewiß mit fortgerissen werden; wenn du siehst, wo alles herkommt, wo es hingeht, so wirst du es gewiß auch mit Vergnügen durch deine Hände gehen sehen. Die geringste Ware siehst du im Zusammenhange mit dem ganzen Handel, und eben darum hältst du nichts vor gering, weil alles die Zirkulation vermehrt, von der dein Leben seine Nahrung hat.“
Werner, der seinen richtigen Verstand in dem Umgange mit Wilhelmen ausbildete, hatte sich gewöhnet, auch an sein Gewerbe, an seine Geschäfte mit Erhebung der Seele zu denken, und glaubte immer, daß er es mit mehrerem Rechte tue als sein sonst verständiger und geschätzter Freund, der, wie es ihm schien, auf das Unreellste von der Welt einen so großen Wert und das Gewicht seiner ganzen Seele legte. Manchmal dachte er, es könne gar nicht fehlen, dieser falsche Enthusiasmus müsse zu überwältigen und ein so guter Mensch auf den rechten Weg zu bringen sein. In dieser Hoffnung fuhr er fort: „Es haben die Großen dieser Welt sich der Erde bemächtiget und leben in Herrlichkeit und Überfluß von ihren Früchten. Das kleinste Fleck ist schon erobert und eingenommen, alle Besitztümer befestiget, jeder Stand wird vor das, was ihm zu tun obliegt, kaum und zur Not bezahlt, daß er sein Leben hinbringen kann; wo gibt es nun noch einen rechtmäßigern Erwerb, eine billigere Eroberung als den Handel? Haben die Fürsten dieser Welt sich der Flüsse, der Wege bemächtigt und nehmen von dem, was durch- und vorbeigeht, einen starken Gewinn, sollen wir nicht mit Freuden die Gelegenheit ergreifen und durch unsere Tätigkeit auch Zoll von jenen Artikeln nehmen, die teils das Bedürfnis, teils der Übermut den Menschen unentbehrlich gemacht hat? Und ich kann dir versichern, wenn du nur deine dichterische Einbildungskraft anwenden wolltest, so könntest du meine Göttin als eine unüberwindliche Siegerin der deinigen kühn entgegenstellen; sie führt freilich lieber den Ölzweig als das Schwert, Dolch und Ketten kennet sie gar nicht, aber Kronen teilet sie auch ihren Lieblingen aus, die, es sei ohne Verachtung jener gesagt, von echtem, aus dem Quelle geschöpften Golde und von Perlen glänzen, die sie aus der Tiefe des Meeres durch ihre immer geschäftigen Diener geholt hat.“ Wilhelm, ob ihn dieser Ausfall, so gelinde er auch war, gleich ein wenig verdroß, war doch zu gutmütig, darauf zu antworten, und im Grunde konnte er wohl leiden, daß ein jeder von seinem Handwerke auf das beste dachte, wenn man ihm nur dasjenige unangefochten ließ, dem er sich zu widmen wünschte. Er nahm indes die Apostrophe des auf einmal feurig gewordenen Werners mit ebender Gelassenheit auf, wie jener die seinigen aufzunehmen pflegte.
„Und dir“, rief Werner aus, „der du an menschlichen Dingen so herzlichen Anteil nimmst, was wird es dir für ein Schauspiel sein, wenn du das Glück, das mutige Unternehmungen begleitet, vor deinen Augen den Menschen wirst gewährt sehen! Was ist reizender als der Anblick eines Schiffes, das von einer glücklichen Fahrt wieder anlangt, das von einem reichen Fange frühzeitig zurückekehrt! Nicht der Verwandte, der Bekannte, der Teilnehmer allein, ein jeder fremder Zuschauer wird hingerissen, wenn er die Freude sieht:, mit welcher der eingesperrte Schiffer ans Land springt, noch ehe sein Fahrzeug es ganz berührt, sich wieder frei fühlt und nunmehr das, was er dem falschen Wasser geraubt, der getreuen Erde anvertrauen kann. Wir leben im Gewinn und Verlust, und wenn uns beides nur in Zahlen zu Gesichte kommt, so macht uns das eine dunkle Furcht und dagegen das andere keine innerliche, herzliche Freude. Das Glück ist die Göttin der lebendigen Menschen, und um seine Gunst recht zu fühlen, muß man leben und Menschen sehen, die sich recht lebendig und sinnlich fühlen.“ Werner beschrieb dergleichen Szenen mehr, die seinen Freund lockten und aufmunterten. Er fühlte sich schon lange wieder munter und gesund, etwas zu unternehmen; zu Hause gefiel es ihm nicht, und er sann auf allerlei Gelegenheit, wie er sich in der Welt umsehen wollte, und was alles darinne zu treiben und anzufangen sein möchte. Es gefiel ihm daher ganz wohl, daß Werner von einer Reise sprach, und er antwortete: „Wenn du denkst, daß Geld zu dieser Ausgabe vorrätig sei und daß es gut angewendet sein möchte, so bin ich es gerne zufrieden. Ich möchte mich freilich auch gerne einmal ein wenig umsehen, und da du schon ziemlich herumgekommen bist, so wirst du am besten tun, mir einen Plan zu machen, dem ich willig folgen werde.“ – „So viel“, versetzte Werner, „wirst du immer finden, als du brauchst, und nach meiner Rechnung soll deine Reise noch Geld einbringen.“ – „Das möchte so gar gewiß nicht sein“, versetzte Wilhelm, „ob ich dabei so viel lerne, das Gelds wert sein möchte.“ – „So verstehe ich’s auch nicht“, sagte jener. „Du kannst unterweges mit der größten Bequemlichkeit Geschäfte machen, die uns einträglich sind. Ich habe aus unsern Büchern neulich alle Schulden ausgezogen, die an allen Orten und Enden unserer Handlung zurückstehen; ich setze dir die nötigen Erläuterungen auf, gebe dir die Papiere mit, und du kannst auf deinem Wege spielend nicht allein dein Reisegeld überall mitnehmen, sondern mir auch von Zeit zu Zeit etwas schicken; denn es sind ansehnliche Summen drunter, die ich nicht ganz verloren gebe.“ – „Es ist freilich keine angenehme Beschäftigung“, sagte Wilhelm, „Schulden zu mahnen.“ – „Es kommt nur auf die Gewohnheit an“, sagte Werner, „und man wird leichter mit den Leuten fertig, als man denkt. Ich halte sehr viel auf die Gegenwart, man kommt viel schneller mit seinen Schuldnern auseinander und macht sich leicht neue Kunden; die Menschen wollen angetrieben sein. Wir müssen darüber weiter sprechen, und du wirst gar bald und gerne dich mit meinen Gedanken vereinigen. Der Vater ist es leicht zufrieden, es war ja schon vor deiner Krankheit die Absicht. Kommst du alsdann wieder, so hast du doch alles gesehen, hast die Leute kennenlernen und wirst dich endlich gewiß in Geschäften an meiner Seite gerne bearbeiten. In großen Städten siehst du dich um und besuchst die merkwürdigen Fabriken und Gebäude, findest abends gute Gesellschaften, auch ein wohleingerichtetes Theater, welches ich dir zu sehen wohl einmal gönnen möchte.“ Was hier Werner zuletzt vorbrachte, war das, woran Wilhelm zuerst gedacht hatte, und das schwerste Gewicht in seiner Waagschale. Sie wurden bald des Handels einig und das Nötige herbeigeschafft und besorgt.