Johann Wolfgang Goethe

Proserpina

Ein Monodrama
 
 
 

veröffentlicht 1788,
uraufgeführt am 30.1.1778 in Weimar  * 

Proserpina.

Halte! Halte einmal, Unselige! Vergebens irrst du in diesen rauhen Wüsten hin und her! Endlos liegen sie vor dir, die Trauergefilde, und was du suchst, liegt immer hinter dir. Nicht vorwärts, aufwärts auch soll dieser Blick nicht steigen! Die schwarze Höhle des Tartarus umwölkt die liebe Gegenden des Himmels, in die ich sonst nach meines Ahnherrn froher Wohnung mit Liebesblick hinaufsah. Ach, Enkelin des Jupiters, wie tief bist du verloren! – Gespielinnen! als jene blumenreiche Täler für uns gesamt noch blühten, als an dem himmelklaren Strom des Alpheus wir plätschernd noch im Abendstrahle scherzten, einander Kränze wanden und heimlich an den Jüngling dachten, dessen Haupt unser Herz sie widmete: da war uns keine Nacht zu tief, zu schwatzen, keine Zeit zu lang, um freundliche Geschichten zu wiederholen, und die Sonne riß leichter nicht aus ihrem Silberbette sich auf, als wir, voll Lust zu leben, wieder früh im Tau die Rosenfüße badeten. O Mädchen! Mädchen! die ihr einsam nun, zerstreut an jenen Quellen schleicht, die Blumen auflest, die ich, ach, Entführte! aus meinem Schoße fallen ließ, ihr steht und seht mir nach, wohin ich verschwand. – Weggerissen haben sie mich, die raschen Pferde des Orkus; mit festen Armen hielt mich der unerbittliche Gott! Amor, ach Amor! floh lachend zum Olymp auf. – Hast du nicht, Mutwilliger! gnug an Himmel und Erde?  Mußt du Flammen der Hölle durch deine Flammen vermehren! – Heruntergerissen in diese endlose Tiefen! Königin hier! Königin? Vor der nur Schatten sich neigen! Hoffnungslos ist ihr Schmerz, hoffnungslos der Abgeschiednen Glück, und ich wend es nicht; den ernsten Gerichten hat das Schicksal sie übergeben. Und unter ihnen wandl’ ich umher, Göttin! Königin! Selbst Sklavin des Schicksals! – Ach, das fliehende Wasser möcht ich dem Tantalus schöpfen! mit lieblichen Früchten ihn sättigen! Armer Alter! für gereiztes Verlangen gestraft! – In Ixions Rad möcht ich eingreifen und Einhalt tun seinem Schmerz. Aber was vermögen wir Götter über die ewige Qualen! – Trostlos für mich und für sie wohn ich und schau auf der armen Danaiden Geschäftigkeit. Leer und immer leer, wie sie schöpfen und füllen! Leer und immer leer! Nicht einen Tropfen Wassers zum Munde, nicht einen Tropfen Wassers in ihre Wannen! Leer und immer leer! Ach, so ist’s mit dir auch, mein Herz! Woher willst du schöpfen und wohin? – Euer ruhiges Wandeln, Selige streicht nur vor mir vor über; mein Weg ist nicht mit euch. In euren leichten Tänzen, in euren tiefen Hainen, in eurer lispelnden Wohnung rauscht’s nicht von Leben wie droben, schwankt nicht von Schmerz zu Lust der Seligkeit Fülle. – Ist’s auf seinen düstern Augenbraunen, im verschlossenen Blick? – Magst du ihn Gemahl nennen? Und darfst du ihn anders nennen? – Liebe! Liebe! Liebe! warum öffnetest du sein Herz auf einen Augenblick, und warum nach mir? da du wußtest, es werde sich wieder auf ewig verschließen. Warum ergriff er nicht eine meiner Nymphen und setzte sie neben sich auf seinen kläglichen Thron? Warum mich, die Tochter der Ceres? – O Mutter! Mutter! Wie dich deine Gottheit verläßt im Verlust deiner Tochter! die du glücklich glaubtest, hinspielend, hintändelnd ihre Jugend. – Ach, du kamst gewiß und fragtest nach mir, was ich bedürfe, etwa ein neues Kleid oder goldne Schuhe, und du fandst die Mädchen an ihre Weiden gefesselt, wo sie mich verloren, nicht wiederfanden, in ihre Locken rauften, erbärmlich klagten, meine lieben Mädchen! – »Wohin ist sie? Wohin?« rufst du. »Welchen Weg nahm der Verruchte? Soll er ungestraft Jupiters Stamm entweihen? Wohin geht der Pfad seiner Rosse? Fackeln her! In der Nacht nach will ich ihm ziehen! will keine Stunde ruhen, bis ich sie finde, will keinen Gang scheuen hierhin und dorthin!« Dir blinken deine Drachen mit klugen Augen zu; aller Pfade gewohnt, folgen sie deinem Lenken. In der unbewohnten Wüste treibt dich’s irre – ach, nur hierher, hierher nicht! Nicht in die Tiefe der Nacht, unbetreten den Ewiglebenden, wo, bedeckt von beschwerendem Graus, deine Tochter ermattet! Wende aufwärts! aufwärts den geflügelten Schlangenpfad! aufwärts nach Jupiters Wohnung! Der weiß es, der weiß es allein, der Erhabene, wohin deine Tochter sei. – Vater der Götter und Menschen! Ruhst du noch oben auf deinem goldnen Stuhle, zu dem du mich, klein, so oft mit Freundlichkeit aufhubst, in deinen Händen mich scherzend gegen den endlosen Himmel schwenktest, daß ich kindisch droben zu verschweben bebte? Bist du’s noch, Vater? – Nicht zu deinem Haupte in dem ewigen Blau des feuerdurchwebten Himmels; – hier! hier! – Leite sie her, daß ich auf mit ihr aus diesem Kerker fahre! daß mir Phöbus wieder seine liebe Strahlen bringe, Luna wieder aus den Silberlocken lächle! O du hörst mich, freundlich lieber Vater, wirst mich wieder, wieder aufwärtsheben, daß, befreit von langer, schwerer Plage, ich an deinem Himmel wieder mich ergetze. Letze dich, verzagtes Herz! Ach! Hoffnung! Hoffnung gießt in Sturmnacht Morgenröte! Dieser Boden ist nicht Fels, nicht Moos mehr, diese Berge nicht voll schwarzen Grauses. Ach! hier find ich wieder eine Blume! Dieses welke Blatt, es lebt noch, harrt noch, daß ich seiner mich erfreue. Seltsam! seltsam! Diese Frucht hier, die mir in den Gärten droben, ach! so lieb war. – Laß dich genießen, freundliche Frucht! Laß mich  vergessen alle den Harm! Wieder mich wähnen droben in Jugend, in der vertaumelten lieblichen Zeit, in den umduftenden himmlischen Blüten, in den Gerüchen seliger Wonne, die der Entzückten, der Schmachtenden ward! Labend! labend! – Wie greift’s auf einmal durch diese Freuden, durch diese offne Wonne mit entsetzlichen Schmerzen, mit eisernen Händen der Hölle durch? – Was hab ich verbrochen, daß ich genoß? Ach! warum schafft die erste Freude hier mir Qual. Was ist’s? was ist’s? – Ihr Felsen scheint hier schröcklicher herabzuwinken! mich fester zu umfassen! Ihr Wolken tiefer mich zu drücken! Im fernen Schoße des Abgrunds dumpfe Gewitter tosend sich zu erzeugen! Und ihr weiten Reiche der Parzen mir zuzurufen: Du bist unser!

Die Parzen unsichtbar.

Du bist unser! ist der Ratschluß deines Ahnherrn! Nüchtern solltest wiederkehren, und der Biß des Apfels macht dich unser. Königin, wir ehren dich.

Proserpina.

Hast du’s gesprochen, Vater! Warum? warum? Was tat ich, daß du mich verstößest? Warum rufst du mich nicht zu deinem lichten Thron auf? Warum den Apfel? O verflucht die Früchte! Warum sind Früchte schön, wenn sie verdammen?

Die Parzen.

Bist nun unser! Warum trauerst du? Sieh, wir ehren dich! Dich, o Königin!

Proserpina.

O hätte der Tartarus eine Tiefe, daß ich euch drein verwünschte! O wäre der Kozyt nicht euer ewig Bad, daß ich für euch noch Flammen übrig hätte! Ich Königin, und kann euch nicht vernichten? In ewigem Haß sei ich mit euch verbunden! – So schöpfet, Danaiden! spinnt, Parzen! wütet, Furien! in ewig gleich elendem Schicksal! Ich beherrsch euch und bin drum elender als ihr alle.

Die Parzen.

Bist nun unser! Wir neigen dir! Bist unser, unser! hohe Königin!

Proserpina.

Fern! weg von mir sei eure Treu und Herrlichkeit!  Wie haß ich euch! Und dich, wie zehnfach haß ich dich, Abscheu und Gemahl, o Pluto! Pluto! – Weh mir! ich fühle schon die verhaßten Umarmungen!

Die Parzen.

Unser! Unsere Königin!

Proserpina.

Warum reckst du sie nach mir aus? Recke sie über den Avernus! Rufe die Qualen aus stygischen Nächten empor! Sie steigen deinem Wink entgegen, nicht meine Liebe. Gib mir das Schicksal deiner Verdammten! Nenn es nicht Liebe! Wirf mich mit diesen Armen in die zerstörende Qual.

 
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