Johann Wolfgang Goethe
Tag- und
Jahreshefte
entstanden 1817-30, veröffentlicht 1830
Von 1749 bis 1764
Bei zeitig erwachendem Talente, nach vorhandenen poetischen und prosaischen Mustern, mancherlei Eindrücke kindlich bearbeitet, meistens nachahmend, wie es gerade jedes Muster andeutete. Die Einbildungskraft wird mit heiteren Bildern beschäftigt, die sich selbstgefällig an Persönlichkeit und die nächsten Zustände anschlossen. Der Geist näherte sich der wirklichen, wahrhaften Natur durch Gelegenheitsgedichte; daher entstand ein gewisser Begriff von menschlichen Verhältnissen mit individueller Mannigfaltigkeit: denn besondere Fälle waren zu betrachten und zu behandeln. Vielschreiberei in mehreren Sprachen, durch frühzeitiges Diktieren begünstigt.
Von 1764 bis 1769
Aufenthalt in Leipzig. Bedürfnis einer beschränkten Form zu besserer Beurteilung der eigenen Produktionen wird gefühlt; die griechisch-französische, besonders der Dramen, als anerkannt, ja gesetzlich, wird aufgenommen. Ernstere, unschuldige, aber schmerzliche Jugendempfindungen drängen sich auf, werden betrachtet und ausgesprochen, indessen der Jüngling mancherlei Verbrechen innerhalb des übertünchten Zustandes der bürgerlichen Gesellschaft gewahret. Von Arbeiten ersterer Art ist »Die Laune des Verliebten« und einige Lieder, von der zweiten »Die Mitschuldigen« übriggeblieben, denen man bei näherer Betrachtung ein fleißiges Studium der Molièrischen Welt nicht absprechen wird; daher aber auch das Fremdartige der Sitten, wodurch das Stück lange Zeit vom Theater ausgeschlossen blieb.
Von 1769 bis 1775
Fernere Einsicht ins Leben
Ereignis, Leidenschaft, Genuß und Pein. Man fühlt die Notwendigkeit einer freiern Form und schlägt sich auf die englische Seite. So entstehen »Werther«, »Götz von Berlichingen«, »Egmont«. Bei einfacheren Gegenständen wendet man sich wieder zur beschränkteren Weise: »Clavigo«, »Stella«, »Erwin und Elmire«, »Claudine von Villa Bella«, beide letztere prosaischer Versuch, mit Gesängen durchwebt. Hieher gehören die Lieder an Belinden und Lili, deren manche so wie verschiedene Gelegenheitsstücke, Episteln und sonstige gesellige Scherze verlorengegangen.
Inzwischen geschehen kühnere Griffe in die tiefere Menschheit; es entsteht ein leidenschaftlicher Widerwille gegen mißleitende, beschränkte Theorien; man widersetzt sich dem Anpreisen falscher Muster. Alles dieses, und was daraus folgt, war tief und wahr empfunden, oft aber einseitig und ungerecht ausgesprochen. Nachstehende Produktionen:»Faust«, die Puppenspiele, »Prolog zu Bahrdt«, sind in diesem Sinne zu beurteilen; sie liegen jedermann vor Augen. Dagegen waren die Fragmente des »Ewigen Juden« und »Hanswursts Hochzeit« nicht mitzuteilen. Letzteres erschien darum heiter genug, weil die sämtlichen deutschen Schimpfnamen in ihren Charakteren persönlich auftraten. Mehreres dieser frechen Art ist verlorengegangen; »Götter, Helden und Wieland« erhalten.
Die Rezensionen in den »Frankfurter Gelehrten Anzeigen« von 1772 und 1773 geben einen vollständigen Begriff von dem damaligen Zustand unserer Gesellschaft und Persönlichkeit. Ein unbedingtes Bestreben, alle Begrenzungen zu durchbrechen, ist bemerkbar.
Die erste Schweizer Reise eröffnete mir mannigfaltigen Blick in die Welt; der Besuch in Weimar umschlang mich mit schönen Verhältnissen und drängte mich unversehens auf einen neuen, glücklichen Lebensgang.
Bis 1780
An allen vorgemeldeten, nach Weimar mitgebrachten, unvollendeten Arbeiten konnte man nicht fortfahren; denn da der Dichter durch Antizipation die Welt vorwegnimmt, so ist ihm die auf ihn losdringende wirkliche Welt unbequem und störend; sie will ihm geben, was er schon hat, aber anders, das er sich zum zweiten Male zueignen muß.
Bei Gelegenheit eines Liebhabertheaters und festlicher Tage wurden gedichtet und aufgeführt: »Lila«, »Die Geschwister«, »Iphigenia«, »Proserpina«, letztere freventlich in den »Triumph der Empfindsamkeit« eingeschaltet und ihre Wirkung vernichtet; wie denn überhaupt eine schale Sentimentalität überhandnehmend manche harte realistische Gegenwirkung veranlaßte. Viele kleine Ernst-, Scherz- und Spottgedichte, bei größeren und kleineren Festen, mit unmittelbarem Bezug auf Persönlichkeiten und das nächste Verhältnis, wurden von mir und andern, oft gemeinschaftlich, hervorgebracht. Das meiste ging verloren; ein Teil, z.B. »Hans Sachs«, ist eingeschaltet oder sonst verwendet. Die Anfänge des »Wilhelm Meister« wird man in dieser Epoche auch schon gewahr, obgleich nur kotyledonenartig: die fernere Entwicklung und Bildung zieht sich durch viele Jahre.
Dagegen wurde manche Zeit und Mühe auf den Vorsatz, das Leben Herzog Bernhards zu schreiben, vergebens aufgewendet. Nach vielfachem Sammeln und mehrmaligem Schematisieren ward zuletzt nur allzu klar, daß die Ereignisse des Helden kein Bild machen. In der jammervollen Iliade des Dreißigjährigen Krieges spielt er eine würdige Rolle, läßt sich aber von jener Gesellschaft nicht absondern. Einen Ausweg glaubte ich jedoch gefunden zu haben: ich wollte das Leben schreiben wie einen ersten Band, der einen zweiten notwendig macht, auf den auch schon vorbereitend gedeutet wird; überall sollten Verzahnungen stehenbleiben, damit jedermann bedaure, daß ein frühzeitiger Tod den Baumeister verhindert habe, sein Werk zu vollenden. Für mich war diese Bemühung nicht unfruchtbar; denn wie das Studium zu »Berlichingen« und »Egmont« mir tiefere Einsicht in das funfzehnte und sechzehnte Jahrhundert gewährte, so mußte mir diesmal die Verworrenheit des siebzehnten sich, mehr als sonst vielleicht geschehen wäre, entwickeln.
Ende 1779 fällt die zweite Schweizer Reise. Aufmerksamkeit auf äußere Gegenstände, Anordnung und Leitung unserer geselligen Irrfahrt ließen wenig Produktivität aufkommen. Übriggeblieben ist davon als Denkmal die »Wanderung von Genf auf den Gotthard«.
Die Rückreise, da wir wieder in die flächere Schweiz gelangten, ließ mich »Jery und Bätely« ersinnen; ich schrieb das Gedicht sogleich und konnte es völlig fertig mit nach Deutschland nehmen. Die Gebirgsluft, die darinnen weht, empfinde ich noch, wenn mir die Gestalten auf Bühnenbrettern zwischen Leinwand und Pappenfelsen entgegentreten.
Bis 1786
Die Anfänge »Wilhelm Meisters« hatten lange geruht. Sie entsprangen aus einem dunkeln Vorgefühl der großen Wahrheit: daß der Mensch oft etwas versuchen möchte, wozu ihm Anlage von der Natur versagt ist, unternehmen und ausüben möchte, wozu ihm Fertigkeit nicht werden kann; ein inneres Gefühl warnt ihn abzustehen, er kann aber mit sich nicht ins klare kommen und wird auf falschem Wege zu falschem Zwecke getrieben, ohne daß er weiß, wie es zugeht. Hiezu kann alles gerechnet werden, was man falsche Tendenz, Dilettantismus usw. genannt hat. Geht ihm hierüber von Zeit zu Zeit ein halbes Licht auf, so entsteht ein Gefühl, das an Verzweiflung grenzt, und doch läßt er sich wieder gelegentlich von der Welle, nur halb widerstrebend, fortreißen. Gar viele vergeuden hiedurch den schönsten Teil ihres Lebens und verfallen zuletzt in wundersamen Trübsinn. Und doch ist es möglich, daß alle die falschen Schritte zu einem unschätzbaren Guten hinführen: eine Ahnung, die sich im »Wilhelm Meister« immer mehr entfaltet, aufklärt und bestätigt, ja sich zuletzt mit klaren Worten ausspricht: »Du kommst mir vor wie Saul, der Sohn Kis’, der ausging, seines Vaters Eselinnen zu suchen, und ein Königreich fand.«
Wer die kleine Oper »Scherz, List und Rache« mit Nachdenken lesen mag, wird finden, daß dazu mehr Aufwand als billig gemacht worden. Sie beschäftigte mich lange Zeit; ein dunkler Begriff des Intermezzo verführte mich, und zugleich die Lust, mit Sparsamkeit und Kargheit in einem engen Kreise viel zu wirken. Dadurch häuften sich aber die Musikstücke dergestalt, daß drei Personen sie nicht zu leisten vermögen. Sodann hat der freche Betrug, wodurch ein geiziger Pedant mystifiziert wird, für einen rechtlichen Deutschen keinen Reiz, wenn Italiener und Franzosen sich daran wohl ergötzen möchten; bei uns aber kann die Kunst den Mangel des Gemüts nicht leicht entschuldigen. Noch einen Grundfehler hat das Singspiel, daß drei Personen, gleichsam eingesperrt, ohne die Möglichkeit eines Chors, dem Komponisten, seine Kunst zu entwickeln und den Zuhörer zu ergötzen, nicht genugsame Gelegenheit geben. Dessenungeachtet hat mir mein Landsmann Kayser, in Zürich sich aufhaltend, durch seine Komposition manchen Genuß verschafft, viel zu denken gegeben und ein gutes Jugendverhältnis, welches sich nachher in Rom erneuerte, immerfort lebendig erhalten.
»Die Vögel« und andere, verlorengegangene Festspiele für Ettersburg mögen hier noch genannt werden. Die zwei Akte von »Elpenor« wurden 1783 geschrieben. Zu Ende dieser Epoche reifte der Entschluß, meine sämtlichen Arbeiten bei Göschen herauszugeben. Die Redaktion der vier ersten Bände war Michael 1786 vollendet.
1787 bis 1788
Die vier letzten Bände sollten sodann nur meistens angelegte und unvollendete Arbeiten enthalten; auf Herders Anregung jedoch wird deren fernere Bearbeitung unternommen. Von Ausführung des einzelnen findet sich viel in den zwei Bänden der »Italienischen Reise«. »Iphigenie« ward abgeschlossen noch vor der sizilianischen Fahrt. Als ich, bei meiner Rückkehr nach Rom, »Egmont« bearbeitete, fiel mir auf, in den Zeitungen lesen zu müssen, daß in Brüssel die Szenen, die ich geschildert, sich fast wörtlich erneuerten, so daß auch hier die poetische Antizipation wieder in Betracht kam. In die eigentliche italienische Opernform und ihre Vorteile hatte ich mich, bei meinem Aufenthalte in dem musikalischen Lande, recht eingedacht und eingeübt; deshalb unternahm ich mit Vergnügen, »Claudine von Villa Bella« metrisch zu bearbeiten, ingleichen »Erwin und Elmire«, und sie dem Komponisten zu freudiger Behandlung entgegenzuführen. Nach der Rückkehr aus Italien im Jahre 1788 wurde »Tasso« erst abgeschlossen, aber die Ausgabe bei Göschen dem Publikum vollständig überliefert.
1789
Kaum war ich in das weimarische Leben und die dortigen Verhältnisse, bezüglich auf Geschäfte, Studien und literarische Arbeiten, wieder eingerichtet, als sich die Französische Revolution entwickelte und die Aufmerksamkeit aller Welt auf sich zog. Schon im Jahr 1785 hatte die Halsbandgeschichte einen unaussprechlichen Eindruck auf mich gemacht. In dem unsittlichen Stadt-, Hof- und Staatsabgrunde, der sich hier eröffnete, erschienen mir die greulichsten Folgen gespensterhaft, deren Erscheinung ich geraume Zeit nicht loswerden konnte; wobei ich mich so seltsam benahm, daß Freunde, unter denen ich mich eben auf dem Lande aufhielt, als die erste Nachricht hievon zu uns gelangte, mir nur spät, als die Revolution längst ausgebrochen war, gestanden, daß ich ihnen damals wie wahnsinnig vorgekommen sei. Ich verfolgte den Prozeß mit großer Aufmerksamkeit, bemühte mich in Sizilien um Nachrichten von Cagliostro und seiner Familie und verwandelte zuletzt, nach gewohnter Weise, um alle Betrachtungen loszuwerden, das ganze Ereignis unter dem Titel »Der Großkophta« in eine Oper, wozu der Gegenstand vielleicht besser als zu einem Schauspiele getaugt hätte. Kapellmeister Reichardt griff sogleich ein, komponierte mehreres einzelne, als: die Baßarie »Lasset Gelehrte sich zanken und streiten etc.«, »Geh, gehorche meinen Winken etc.«.
Diese reine Opernform, welche vielleicht die günstigste aller dramatischen bleibt, war mir so eigen und geläufig geworden, daß ich manchen Gegenstand darin behandelte. Ein Singspiel, »Die ungleichen Hausgenossen«, war schon ziemlich weit gediehen. Sieben handelnde Personen, die aus Familienverhältnis, Wahl, Zufall, Gewohnheit auf einem Schloß zusammen verweilten oder von Zeit zu Zeit sich daselbst versammelten, waren deshalb dem Ganzen vorteilhaft, weil sie die verschiedensten Charaktere bildeten, in Wollen und Können, Tun und Lassen völlig einander entgegen standen, entgegen wirkten und doch einander nicht loswerden konnten. Arien, Lieder, mehrstimmige Partien daraus verteilte ich nachher in meine lyrischen Sammlungen und machte dadurch jede Wiederaufnahme der Arbeit ganz unmöglich.
Gleich nach meiner Rückkunft aus Italien machte mir eine andere Arbeit viel Vergnügen. Seit Sternes unnachahmliche »Sentimentale Reise« den Ton gegeben und Nachahmer geweckt, waren Reisebeschreibungen fast durchgängig den Gefühlen und Ansichten des Reisenden gewidmet. Ich dagegen hatte die Maxime ergriffen, mich soviel als möglich zu verleugnen und das Objekt rein, als nur zu tun wäre, in mich auf zunehmen. Diesen Grundsatz befolgte ich getreulich, als ich dem römischen Karneval beiwohnte. Ausführlich ward ein Schema aller Vorkommenheiten aufgesetzt, auch fertigten gefällige Künstler charakteristische Maskenzeichnungen. Auf diese Vorarbeiten gründete ich meine Darstellung des »Römischen Karnevals«, welche, gut aufgenommen, geistreiche Menschen veranlaßte, auf ihren Reisen gleichfalls das Eigentümlichste der Völkerschaften und Verhältnisse klar und rein auszudrücken; wovon ich nur den talentvollen, früh verschiedenen Friedrich Schulz nennen und seine Beschreibung eines polnischen Reichstags in Erinnerung bringen will.
1790
Meine frühern Verhältnisse zur Universität Jena, wodurch wissenschaftliche Bemühungen angeregt und begünstigt worden, eilte ich sogleich wieder anzuknüpfen. Die dortigen Museen fernerhin unter Mitwirkung vorzüglicher sachkundiger Männer vermehrt aufzustellen, zu ordnen und zu erhalten war eine so angenehme als lehrreiche Beschäftigung, und ich fühlte mich beim Betrachten der Natur, beim Studium einer weitumhergreifenden Wissenschaft für den Mangel an Kunstleben einigermaßen entschädigt. »Die Metamorphose der Pflanzen« ward als Herzenserleichterung geschrieben. Indem ich sie abdrucken ließ, hoffte ich ein Specimen pro loco den Wissenden darzulegen. Ein botanischer Garten ward vorbereitet.
Malerische Farbengebung war zu gleicher Zeit mein Augenmerk, und als ich auf die ersten physischen Elemente dieser Lehre zurückging, entdeckte ich zu meinem großen Erstaunen: die Newtonische Hypothese sei falsch und nicht zu halten. Genaueres Untersuchen bestätigte mir nur meine Überzeugung, und so war mir abermals eine Entwickelungskrankheit eingeimpft, die auf Leben und Tätigkeit den größten Einfluß haben sollte.
Angenehme häuslich-gesellige Verhältnisse geben mir Mut und Stimmung, die »Römischen Elegien« auszuarbeiten und zu redigieren. Die »Venezianischen Epigramme« gewann ich unmittelbar darauf. Ein längerer Aufenthalt in der wunderbaren Wasserstadt, erst in Erwartung der von Rom zurückkehrenden Herzogin Amalia, sodann aber ein längeres Verweilen daselbst im Gefolge dieser alles um sich her, auswärts und zu Hause, belebenden Fürstin, brachten mir die größten Vorteile. Eine historische Übersicht der unschätzbaren venezianischen Schule ward mir anschaulich, als ich erst allein, sodann aber mit den römischen Freunden, Heinrich Meyer und Bury, nach Anleitung des höchst schätzbaren Werkes »Della pittura Veneziana«, 1771, von den damals noch unverrückten Kunstschätzen, insofern sie die Zeit verschont hatte und wie man sie zu erhalten und herzustellen suchte, vollständige Kenntnis nahm.
Die verehrte Fürstin mit dem ganzen Gefolge besuchte Mantua und ergötzte sich an dem Übermaß dortiger Kunstschätze. Meyer ging nach seinem Vaterlande, der Schweiz, Bury nach Rom zurück; die weitere Reise der Fürstin gab Genuß und Einsicht.
Kaum nach Hause gelangt, ward ich nach Schlesien gefordert, wo eine bewaffnete Stellung zweier großen Mächte den Kongreß von Reichenbach begünstigte. Erst gaben Kantonierungsquartiere Gelegenheit zu einigen Epigrammen, die hie und da eingeschaltet sind. In Breslau hingegen, wo ein soldatischer Hof und zugleich der Adel einer der ersten Provinzen des Königreichs glänzte, wo man die schönsten Regimenter ununterbrochen marschieren und manövrieren sah, beschäftigte mich unaufhörlich, so wunderlich es auch klingen mag, die vergleichende Anatomie, weshalb mitten in der bewegtesten Welt ich als Einsiedler in mir selbst abgeschlossen lebte. Dieser Teil des Naturstudiums war sonderbarlich angeregt worden. Als ich nämlich auf den Dünen des Lido, welche die venezianischen Lagunen von dem Adriatischen Meere sondern, mich oftmals erging, fand ich einen so glücklich geborstenen Schafschädel, der mir nicht allein jene große, früher von mir erkannte Wahrheit: die sämtlichen Schädelknochen seien aus verwandelten Wirbelknochen entstanden, abermals betätigte, sondern auch den Übergang innerlich ungeformter organischer Massen durch Aufschluß nach außen zu fortschreitender Veredelung höchster Bildung und Entwicklung in die vorzüglichsten Sinneswerkzeuge vor Augen stellte und zugleich meinen alten, durch Erfahrung bestärkten Glauben wieder auffrischte, welcher sich fest darauf begründet, daß die Natur kein Geheimnis habe, was sie nicht irgendwo dem aufmerksamen Beobachter nackt vor die Augen stellt.
Da ich nun aber einmal mitten in der bewegtesten Lebensumgebung zum Knochenbau zurückgekehrt war, so mußte meine Vorarbeit, die ich auf den Zwischenknochen vor Jahren verwendet, abermals rege werden. Loder, dessen unermüdliche Teilnahme und Einwirkung ich immerfort zu rühmen habe, gedenkt derselben in seinem »Anatomischen Handbuch« von 1788. Da aber die dazugehörige kleine Abhandlung, deutsch und lateinisch, noch unter meinen Papieren liegt, so erwähne ich kürzlich nur soviel: Ich war völlig überzeugt, ein allgemeiner, durch Metamorphose sich erhebender Typus gehe durch die sämtlichen organischen Geschöpfe durch, lasse sich in allen seinen Teilen auf gewissen mittlern Stufen gar wohl beobachten und müsse auch noch da anerkannt werden, wenn er sich auf der höchsten Stufe der Menschheit ins Verborgene bescheiden zurückzieht.
Hierauf waren alle meine Arbeiten, auch die in Breslau, gerichtet; die Aufgabe war indessen so groß, daß sie in einem zerstreuten Leben nicht gelöst werden konnte.
Eine Lustfahrt nach den Salinen von Wieliczka und ein bedeutender Gebirgs- und Landritt, über Adersbach, Glatz usw. unternommen, bereicherte mit Erfahrung und Begriffen. Einiges findet sich aufgezeichnet.
1791
Ein ruhiges, innerhalb des Hauses und der Stadt zugebrachtes Jahr! Die freigelegenste Wohnung, in welcher eine geräumige dunkle Kammer einzurichten war, auch die anstoßenden Gärten, woselbst im Freien Versuche jeder Art angestellt werden konnten, veranlaßten mich, den chromatischen Untersuchungen ernstlich nachzuhängen. Ich bearbeitete vorzüglich die prismatischen Erscheinungen, und indem ich die subjektiven derselben ins unendliche vermannigfaltigte, ward ich fähig, das erste Stück »Optischer Beiträge« herauszugeben, die mit schlechtem Dank und hohlen Redensarten der Schule beiseite geschoben wurden.
Damit ich aber doch von dichterischer und ästhetischer Seite nicht allzu kurz käme, übernahm ich mit Vergnügen die Leitung des Hoftheaters. Eine solche neue Einrichtung ward veranlaßt durch den Abzug der Gesellschaft Bellomos, welche seit 1784 in Weimar gespielt und angenehme Unterhaltung gegeben hatte. Sie war aus Oberdeutschland gekommen, und man hatte sich mit jenem Dialekt im Dialog, um des guten Gesangs willen, befreundet. Nun waren die Stellen der Abziehenden desto leichter zu ersetzen, weil man die Theater von ganz Deutschland zur Auswahl vor sich sah. Breslau und Hannover, Prag und Berlin sendeten uns tüchtige Mitglieder, die sich in kurzer Zeit ineinander einspielten und einsprachen und gleich von Anfang viele Zufriedenheit gewährten. Sodann blieben auch von jener abziehenden Gesellschaft verdienstvolle Individuen zurück, von welchen ich nur den unvergeßlichen Malcolmi nennen will. Kurz vor der Veränderung starb ein sehr schätzbarer Schauspieler, Neumann; er hinterließ uns eine vierzehnjährige Tochter, das liebenswürdigste, natürlichste Talent, das mich um Ausbildung anflehte.
Nur wenig Vorstellungen zum Eintritt wurden in Weimar gegeben. Die Gesellschaft hatte einen großen Vorteil, sommers in Lauchstädt zu spielen; ein neues Publikum, aus Fremden, aus dem gebildeten Teil der Nachbarschaft, den kenntnisreichen Gliedern einer nächstgelegenen Akademie und leidenschaftlich fordernden Jünglingen zusammengesetzt, sollten wir befriedigen. Neue Stücke wurden nicht eingelernt, aber die ältern durchgeübt, und so kehrte die Gesellschaft mit frischem Mute im Oktober nach Weimar zurück. Mit der größten Sorgfalt behandelte man nun die Stücke jeder Art; denn bei der neu zusammentretenden Gesellschaft mußte alles neu eingelernt werden.
Gar sehr begünstigte mich jene Neigung zur musikalischen Poesie. Ein unermüdlicher Konzertmeister, Kranz, und ein immer tätiger Theaterdichter, Vulpius, griffen lebhaft mit ein. Einer Unzahl italienischer und französischer Opern eilte man deutschen Text unterzulegen, auch gar manchen schon vorhandenen zu besserer Singbarkeit umzuschreiben. Die Partituren wurden durch ganz Deutschland verschickt. Fleiß und Lust, die man hiebei aufgewendet, obgleich das Andenken völlig verschwunden sein mag, haben nicht wenig zur Verbesserung deutscher Operntexte mitgewirkt.
Diese Bemühungen teilte der aus Italien mit gleicher Vorliebe zurückkehrende Freund von Einsiedel, und so waren wir von dieser Seite auf mehrere Jahre geborgen und versorgt, und da die Oper immer ein Publikum anzuziehen und zu ergötzen das sicherste und bequemste Mittel bleibt, so konnten wir, von dieser Seite beruhigt, dem rezitierenden Schauspiel desto reinere Aufmerksamkeit widmen. Nichts hinderte, dieses auf eine würdige Weise zu behandeln und von Grund aus zu beleben.
Bellomos Repertorium war schon von Bedeutung. Ein Direktor spielt alles, ohne zu prüfen; was fällt, hat doch einen Abend ausgefüllt, was bleibt, wird sorgfältig benutzt. Dittersdorfische Opern, Schauspiele aus Ifflands bester Zeit fanden wir und brachten sie nach. »Die theatralischen Abenteuer«, eine immer erfreuliche Oper, mit Cimarosas und Mozarts Musik, ward noch vor Ende des Jahrs gegeben; »König Johann« aber, von Shakespeare, war unser größter Gewinn. Christiane Neumann als Arthur, von mir unterrichtet, tat wundervolle Wirkung; alle die übrigen mit ihr in Harmonie zu bringen mußte meine Sorge sein. Und so verfuhr ich von vorneherein, daß ich in jedem Stück den Vorzüglichsten zu bemerken und ihm die andern anzunähern suchte.
1792
So war der Winter hingegangen, und das Schauspiel hatte schon einige Konsistenz gewonnen. Wiederholung früherer wertvoller und beliebter Stücke, Versuche mit aller Art von neueren gaben Unterhaltung und beschäftigten das Urteil des Publikums, welches denn die damals neuen Stücke aus Ifflands höchster Epoche mit Vergnügen anzuschauen sich gewöhnte. Auch Kotzebues Produktionen wurden sorgfältig aufgeführt und, insofern es möglich war, auf dem Repertorium erhalten.
Dittersdorfs Opern, dem singenden Schauspieler leicht, dem Publikum anmutig, wurden mit Aufmerksamkeit gegeben, Hagemeisteriche und Hagemeisterische Stücke, obgleich hohl, doch für den Augenblick Teilnahme erregend und Unterhaltung gewährend, nicht verschmäht. Bedeutendes aber geschah, als wir schon zu Anfange des Jahrs Mozarts »Don Juan« und bald darauf »Don Carlos« von Schiller aufführen konnten. Ein lebendiger Vorteil entsprang aus dem Beitritt des jungen Vohs zu unserm Theater. Er war von der Natur höchst begünstigt und erschien eigentlich jetzt erst als bedeutender Schauspieler.
Das Frühjahr belebte meine chromatischen Arbeiten, ich verfaßte das zweite Stück der »Optischen Beiträge« und gab es, von einer Tafel begleitet, heraus. In der Mitte des Sommers ward ich abermals ins Feld berufen, diesmal zu ernsteren Szenen. Ich eilte über Frankfurt, Mainz, Trier und Luxemburg nach Longwy, welches ich den 28. August schon eingenommen fand; von da zog ich mit bis Valmy sowie auch zurück bis Trier; sodann, um die unendliche Verwirrung der Heerstraße zu vermeiden, die Mosel herab nach Koblenz. Mancherlei Naturerfahrungen schlangen sich für den Aufmerksamen durch die bewegten Kriegsereignisse. Einige Teile von Fischers »Physikalischem Wörterbuche« begleiteten mich; manche Langweile stockender Tage betrog ich durch fortgesetzte chromatische Arbeiten, wozu mich die schönsten Erfahrungen in freier Welt aufregten, wie sie keine dunkle Kammer, kein Löchlein im Laden geben kann. Papiere, Akten und Zeichnungen darüber häuften sich.
Bei meinem Besuch in Mainz, Düsseldorf und Münster konnte ich bemerken, daß meine alten Freunde mich nicht recht wiedererkennen wollten, wovon uns in Hubers Schriften ein Wahrzeichen übriggeblieben, dessen psychische Entwicklung gegenwärtig nicht schwerfallen sollte.
1793
Eben dieser widerwärtigen Art, alles Sentimentale zu verschmähen, sich an die unvermeidliche Wirklichkeit halb verzweifelnd hinzugeben, begegnete gerade »Reineke Fuchs« als wünschenswertester Gegenstand für eine zwischen Übersetzung und Umarbeitung schwebende Behandlung. Meine dieser unheiligen Weltbibel gewidmete Arbeit gereichte mir zu Hause und auswärts zu Trost und Freude. Ich nahm sie mit zur Blockade von Mainz, der ich bis zum Ende der Belagerung beiwohnte; auch darf ich zu bemerken nicht vergessen, daß ich sie zugleich als Übung im Hexameter vornahm, den wir freilich damals nur dem Gehör nachbildeten. Voß, der die Sache verstand, wollte, solange Klopstock lebte, aus Pietät dem guten alten Herrn nicht ins Gesicht sagen, daß seine Hexameter schlecht seien; das mußten wir Jüngeren aber büßen, die wir von Jugend auf uns in jene Rhythmik eingeleiert hatten. Voß verleugnete selbst seine Übersetzung der »Odyssee«, die wir verehrten, fand an seiner »Luise« auszusetzen, nach der wir uns bildeten, und so wußten wir nicht, welchem Heiligen wir uns widmen sollten.
Auch die »Farbenlehre« begleitete mich wieder an den Rhein, und ich gewann in freier Luft, unter heiterm Himmel, immer freiere Ansichten über die mannigfaltigen Bedingungen, unter denen die Farbe erscheint.
Diese Mannigfaltigkeit, verglichen mit meiner beschränkten Fähigkeit des Gewahrwerdens, Auffassens, Ordnens und Verbindens, schien mir die Notwendigkeit einer Gesellschaft herbeizuführen. Eine solche dachte ich mir in allen ihren Gliedern, bezeichnete die verschiedenen Obliegenheiten und deutete zuletzt an, wie man, auf eine gleichwirkende Art handelnd, baldigst zum Zweck kommen müßte. Diesen Aufsatz legte ich meinem Schwager Schlosser vor, den ich nach der Übergabe von Mainz, dem siegreichen Heere weiter folgend, in Heidelberg sprach; ich ward aber gar unangenehm überrascht, als dieser alte Praktikus mich herzlich auslachte und versicherte: in der Welt überhaupt, besonders aber in dem lieben deutschen Vaterlande, sei an eine reine, gemeinsame Behandlung irgendeiner wissenschaftlichen Aufgabe nicht zu denken. Ich dagegen, obgleich auch nicht mehr jung, widersprach als ein Gläubiger, wogegen er mir manches umständlich voraussagte, welches ich damals verwarf, in der Folge aber, mehr als billig, probat gefunden habe.
Und so hielt ich für meine Person wenigstens mich immer fest an diese Studien wie an einem Balken im Schiffbruch; denn ich hatte nun zwei Jahre unmittelbar und persönlich das fürchterliche Zusammenbrechen aller Verhältnisse erlebt. Ein Tag im Hauptquartiere zu Hans und ein Tag in dem wiedereroberten Mainz waren Symbole der gleichzeitigen Weltgeschichte, wie sie es noch jetzt demjenigen bleiben, der sich synchronistisch jener Tage wieder zu erinnern sucht.
Einem tätigen, produktiven Geiste, einem wahrhaft vaterländisch gesinnten und einheimische Literatur befördernden Manne wird man es zugute halten, wenn ihn der Umsturz alles Vorhandenen schreckt, ohne daß die mindeste Ahnung zu ihm spräche, was denn Besseres, ja nur anderes daraus erfolgen solle. Man wird ihm beistimmen, wenn es ihn verdrießt, daß dergleichen Influenzen sich nach Deutschland erstrecken und verrückte, ja unwürdige Personen das Heft ergreifen. In diesem Sinne war »Der Bürgergeneral« geschrieben, ingleichen »Die Aufgeregten« entworfen, sodann die »Unterhaltungen der Ausgewanderten«. Alles Produktionen, die dem ersten Ursprung, ja sogar der Ausführung nach meist in dieses und das folgende Jahr gehören.
»Der Bürgergeneral« ward gegen Ende von 1793 in Weimar aufgeführt. Ein im Fach der Schnäpse höchst gewandter Schauspieler, Beck, war erst zu unserm Theater getreten, auf dessen Talent und Humor vertrauend ich eigentlich die Rolle schrieb.
Er und der Schauspieler Malcolmi gaben ihre Rollen aufs vollkommenste; das Stück ward wiederholt, aber die Urbilder dieser lustigen Gespenster waren zu furchtbar, als daß nicht selbst die Scheinbilder hätten beängstigen sollen.
Neu und frisch traten die Schauspieler Graff und Haide mit einiger Vorbildung zu unserm Vereine; die Eheleute Porth brachten uns eine liebenswürdige Tochter, die in muntern Rollen durchaus erfreulich wirkte und noch jetzt unter dem Namen Vohs bei allen Theaterfreunden geschätzt und beliebt ist.
1794
Von diesem Jahre durft ich hoffen, es werde mich gegen die vorigen, in welchen ich viel entbehrt und gelitten, durch mancherlei Tätigkeit zerstreuen, durch mancherlei Freundlichkeit erquicken; und ich bedurfte dessen gar sehr.
Denn persönlicher Zeuge höchst bedeutender und die Welt bedrohender Umwendungen gewesen zu sein, das größte Unglück, was Bürgern, Bauern und Soldaten begegnen kann, mit Augen gesehen, ja solche Zustände geteilt zu haben gab die traurigste Stimmung.
Doch wie sollte man sich erholen, da uns die ungeheuern Bewegungen innerhalb Frankreichs jeden Tag beängstigten und bedrohten. Im vorigen Jahre hatten wir den Tod des Königs und der Königin bedauert, in diesem das gleiche Schicksal der Prinzeß Elisabeth. Robespierres Greueltaten hatten die Welt erschreckt, und der Sinn für Freude war so verloren, daß niemand über dessen Untergang zu jauchzen sich getraute; am wenigsten, da die äußern Kriegstaten der im Innersten aufgeregten Nation unaufhaltsam vorwärtsdrängten, ringsumher die Welt erschütterten und alles Bestehende mit Umschwung, wo nicht mit Untergang bedrohten.
Indes lebte man doch in einer traumartigen, schüchternen Sicherheit im Norden und beschwichtigte die Furcht durch eine halbgegrundete Hoffnung auf das gute Verhältnis Preußens zu den Franzosen.
Bei großen Begebenheiten, ja selbst in der äußersten Bedrängnis kann der Mensch nicht unterlassen, mit Waffen des Wortes und der Schrift zu kämpfen. So machte ein deutsches Heft großes Aufsehen: »Aufruf an alle Völker Europens«; es sprach den siedenden Haß gegen die Franzosen aus, in dem Augenblicke, da sich die ungebändigten Feinde mächtig gegen unsere Grenzen näherten. Um aber den Wechselstreit der Meinungen aufs höchste zu treiben, schlichen französische revolutionäre Lieder im stillen umher; sie gelangten auch zu mir durch Personen, denen man es nicht zugetraut hätte.
Der innere Zwiespalt der Deutschen in Absicht auf Verteidigung und Gegenwirkung zeigte sich offenbar im Gange der politischen Anstalten. Preußen, ohne sich über die Absicht näher auszusprechen, verlangte Verpflegung für seine Truppen; es erschien ein Aufgebot, niemand aber wollte geben noch sich gehörig waffnen und vorsehen. In Regensburg kam eine Union der Fürsten gegen Preußen zur Sprache, begünstigt von derjenigen Seite, welche Vergrößerungsabsichten in der einseitigen Friedensverhandlung vermutete. Minister von Hardenberg versuchte dagegen, die Reichsstände zugunsten seines Königs zu erregen, und man schwankte, in Hoffnung, einen Halbfreund der Franzosen zu gewinnen, auch wohl auf diese Seite. Wer sich indessen von den Zuständen Rechenschaft gab, mochte wohl im Innern sich gestehen, daß man sich mit eiteln Hoffnungen zwischen Furcht und Sorge nur hinhalte.
Die Österreicher zogen sich über den Rhein herüber, die Engländer in die Niederlande, der Feind nahm einen größern Raum ein und erwarb reichlichere Mittel. Die Nachrichten von Flüchtigen allerorten vermehrten sich, und es war keine Familie, kein Freundeskreis, der nicht in seinen Gliedern wäre beschädigt worden. Man sendete mir aus dem südlichen und westlichen Deutschland Schatzkästchen, Spartaler, Kostbarkeiten mancher Art zum treuen Aufbewahren, die mich als Zeugnisse großen Zutrauens erfreuten, während sie mir als Beweise einer beängstigten Nation traurig vor Augen standen.
Und so ruckten denn auch, insofern ich in Frankfurt angesessen war, die Besorglichkeiten immer näher und näher. Der schöne bürgerliche Besitz, dessen meine Mutter seit dem Ableben meines Vaters sich erfreute, ward ihr schon seit dem früheren Anfang der Feindseligkeiten zur Last, ohne daß sie sich es zu bekennen getraute, doch hatte ich bei meinem vorjährigen Besuch sie über ihren Zustand aufgeklärt und auf gemuntert, sich solcher Bürde zu entledigen. Aber gerade in dieser Zeit war unrätlich zu tun, was man für notwendig hielt.
Ein bei unsern Lebzeiten neuerbautes, bürgerlich bequemes und anständiges Haus, ein wohlversorgter Keller, Hausgerät aller Art und der Zeit nach von gutem Geschmack, Büchersammlungen, Gemälde, Kupferstiche und Landkarten, Altertümer, kleine Kunstwerke und Kuriositäten, gar manches Merkwürdige, das mein Vater aus Liebhaberei und Kenntnis bei guter Gelegenheit um sich versammelt hatte: es stand alles da und noch beisammen, es griff durch Ort und Stellung gar bequem und nutzhaft ineinander und hatte zusammen nur eigentlich seinen herkömmlichen Wert; dachte man sich, daß es sollte verteilt und zerstreut werden, so mußte man fürchten, es verschleudert und verloren zu sehen.
Auch merkte man bald, indem man sich mit Freunden beriet, mit Mäklern unterhandelte, daß in der jetzigen Zeit ein jeder Verkauf, selbst ein unvorteilhafter, sich verspäten müsse. Doch der Entschluß war einmal gefaßt, und die Aussicht auf eine lebenslängliche Miete in einem schön gelegenen, obgleich erst neu zu erbauenden Hause gab der Einbildungskraft meiner guten Mutter eine heitere Stimmung, die ihr manches Unangenehme der Gegenwart übertragen half.
Schwankende Gerüchte vom An- und Eindringen der Feinde verbreiteten schreckenvolle Unsicherheit. Handelsleute schafften ihre Waren fort, mehrere das beweglich Kostbare, und so wurden auch viele Personen aufgeregt, an sich selbst zu denken. Die Unbequemlichkeit einer Auswanderung und Ortsveränderung stritt mit der Furcht vor einer feindlichen Behandlung; auch ward mein Schwager Schlosser in diesem Strudel mit fortgerissen. Mehrmals bot ich meiner Mutter einen ruhigen Aufenthalt bei mir an, aber sie fühlte keine Sorge für ihre eigene Persönlichkeit; sie bestärkte sich in ihrem alttestamentlichen Glauben und, durch einige zur rechten Zeit ihr begegnende Stellen aus den Psalmen und Propheten, in der Neigung zur Vaterstadt, mit der sie ganz eigentlich zusammengewachsen war; weshalb sie denn auch nicht einmal einen Besuch zu mir unternehmen wollte.
Sie hatte ihr Bleiben an Ort und Stelle entschieden ausgesprochen, als Frau von Laroche sich bei Wieland anmeldete und ihn dadurch in die größte Verlegenheit setzte. Hier waren wir nun in dem Fall, ihm und uns einen Freundschaftsdienst zu erweisen. Angst und Sorge hatten wir schon genug, dazu aber noch obendrein die Wehklage zu erdulden schien ganz unmöglich. Gewandt in solchen Dingen, wußte meine Mutter, selbst so vieles ertragend, auch ihre Freundin zu beschwichtigen und sich dadurch unsern größten Dank zu verdienen.
Sömmerring mit seiner trefflichen Gattin hielt es in Frankfurt aus, die fortwährende Unruhe zu ertragen. Jacobi war aus Pempelfort nach Wandsbek geflüchtet, die Seinigen hatten andere Orte der Sicherheit gesucht. Max Jacobi war in meiner Nähe als der Medizin Beflissener in Jena.
Das Theater, wenn es mich auch nicht ergötzte, unterhielt mich doch in fortwährender Beschäftigung; ich betrachtete es als eine Lehranstalt zur Kunst mit Heiterkeit, ja als ein Symbol des Welt- und Geschäftslebens, wo es auch nicht immer sanft hergeht, und übertrug, was es Unerfreuliches haben mochte.
Schon zu Anfang des Jahres konnte »Die Zauberflöte« gegeben werden, bald darauf »Richard Löwenherz«, und dies wollte zu jener Zeit, unter den gegebenen Umständen schon etwas heißen. Dann kamen einige bedeutende Ifflandische Schauspiele an die Reihe, und unser Personal lernte sich immer besser und reiner in diese Vorträge finden. Das Repertorium war schon ansehnlich, daher denn kleinere Stücke, wenn sie sich auch nicht hielten, immer einigemal als Neuigkeit gelten konnten. Die Schauspielerin Beck, welche in diesem Jahre antrat, füllte das in Ifflandischen und Kotzebueschen Stücken wohlbedachte Fach gutmütiger und bösartiger Mütter, Schwestern, Tanten und Schließerinnen ganz vollkommen aus. Vohs hatte die höchst anmutige, zur Gurli geschaffene Porth geheiratet, und es blieb in dieser mittlern Region wenig zu wünschen übrig. Die Gesellschaft spielte den Sommer über einige Monate in Lauchstädt, daher man wie immer den doppelten Vorteil zog, daß eingelernte Stücke fortgeübt wurden, ohne dem weimarischen Publikum verdrießlich zu fallen.
Nunmehr gegen Jena und die dortigen Lehrbühnen die Aufmerksamkeit lenkend, erwähne ich folgendes:
Nach Reinholds Abgang, der mit Recht als ein großer Verlust für die Akademie erschien, war mit Kühnheit, ja Verwegenheit, an seine Stelle Fichte berufen worden, der in seinen Schriften sich mit Großheit, aber vielleicht nicht ganz gehörig über die wichtigsten Sitten- und Staatsgegenstände erklärt hatte. Es war eine der tüchtigsten Persönlichkeiten, die man je gesehen, und an seinen Gesinnungen in höherm Betracht nichts auszusetzen; aber wie hätte er mit der Welt, die er als seinen erschaffenen Besitz betrachtete, gleichen Schritt halten sollen?
Da man ihm die Stunden, die er zu öffentlichen Vorlesungen benutzen wollte, an Werkeltagen verkümmert hatte, so unternahm er sonntags Vorlesungen, deren Einleitung Hindernisse fand. Kleine und größere daraus entspringende Widerwärtigkeiten waren kaum, nicht ohne Unbequemlichkeit der obern Behörden, getuscht und geschlichtet, als uns dessen Äußerungen über Gott und göttliche Dinge, über die man freilich besser ein tiefes Stillschweigen beobachtet, von außen beschwerende Anregungen zuzogen. In Kursachsen wollte man von gewissen Stellen der Fichteschen Zeitschrift nicht das Beste denken, und freilich hatte man alle Mühe, dasjenige, was in Worten etwas stark verfaßt war, durch andere Worte leidlich auszulegen, zu mildern und, wo nicht geltend, doch verzeihlich zu machen.
Professor Göttling, der nach einer freisinnigen Bildung durch wissenschaftliche Reisen unter die allerersten zu zählen ist, die den allerdings hohen Begriff der neuern französischen Chemie in sich aufnahmen, trat mit der Entdeckung hervor, daß Phosphor auch in Stickluft brenne. Die deshalb entstehenden Hin – und Widerversuche beschäftigten uns eine Zeitlang.
Geheimerat Voigt, ein getreuer Mitarbeiter auch im mineralogischen Felde, kam von Karlsbad zurück und brachte sehr schöne Tungsteine, teils in größeren Massen, teils deutlich kristallisiert, womit wir späterhin, als dergleichen seltener vorkamen, gar manchen Liebhaber erfreuen konnten.
Alexander von Humboldt, längst erwartet, von Bayreuth ankommend, nötigte uns ins Allgemeinere der Naturwissenschaft. Sein älterer Bruder, gleichfalls in Jena gegenwärtig, ein klares Interesse nach allen Seiten hin richtend, teilte Streben, Forschen und Unterricht.
Zu bemerken ist, daß Hofrat Loder eben die Bänderlehre las, den höchst wichtigen Teil der Anatomie: denn was vermittelt wohl Muskeln und Knochen als die Bänder? Und doch ward durch eine besondere Verrücktheit der medizinischen Jugend gerade dieser Teil vernachlässigt. Wir Genannten, mit Freund Meyern, wandelten des Morgens im tiefsten Schnee, um in einem fast leeren anatomischen Auditorium diese wichtige Verknüpfung aufs deutlichste nach den genauesten Präparaten vorgetragen zu sehen.
Der treffliche, immerfort tätige, selbst die kleinsten Nachhülfen seines Bestrebens nicht verschmähende Batsch ward in diesem Jahre in einen mäßigen Teil des obern Fürstengartens zu Jena eingesetzt. Da aber ein dort angestellter, auf Nutzung angewiesener Hofgärtner im Hauptbesitz blieb, so gab es manche Unannehmlichkeiten, welche zu beseitigen man diesmal nur Plane für die Zukunft machen konnte.
Auch in diesem Jahre, gleichsam zu guter Vorbedeutung, ward die Nachbarschaft des gedachten Gartens heiterer und freundlicher. Ein Teil der Stadtmauer war eingefallen, und um die Kosten der Wiederherstellung zu vermeiden, beschloß man die Ausfüllung des Grabens an dieser Stelle; dann sollte die gleiche Operation sich auf den übrigen Teil nach und nach erstrecken.
Gegen die großen, immer gesteigerten Forderungen der Chromatik fühlte ich mehr und mehr meine Unzulänglichkeit. Ich ließ daher nicht ab, fortwährend Gemütsfreunde heranzuziehen. Mit Schlossern gelang es mir nicht; denn selbst in den friedlichsten Zeiten würde er diesem Geschäft seine Aufmerksamkeit nicht zugewendet haben. Der sittliche Teil des menschlichen Wesens unterlag seinen Betrachtungen, und von dem Innern zu dem Äußern überzugehen ist schwerer, als man denkt. Sömmerring dagegen setzte seine Teilnahme durch alle die verworrenen Schicksale fort. Geistreich war sein Eingreifen, fördernd selbst sein Widerspruch, und wenn ich auf seine Mitteilungen recht aufmerkte, so sah ich immer weiter.
Von allen Unbilden dieses Jahres nahm die Natur ihrer Gewohnheit gemäß nicht die geringste Kenntnis. Alle Feldfrüchte gediehen herrlich, alles reifte einen Monat früher, alles Obst gelangte zur Vollkommenheit, Aprikosen und Pfirschen, Melonen und auch Kastanien boten sich dem Liebhaber reif und schmackhaft dar, und selbst in der Reihe vortrefflicher Weinjahre finden wir 1794 mit aufgezählt.
Von literarischen Arbeiten zu reden, so war der »Reineke Fuchs« nunmehr abgedruckt; allein die Unbilden, die aus Versendung der Freiexemplare sich immer hervortun, blieben auch diesmal nicht aus. So verdarb eine Zufälligkeit mir die frische Teilnahme meiner gothaischen Gönner und Freunde. Herzog Ernst hatte mir verschiedene physikalische Instrumente freundlichst geborgt, bei deren Rücksendung ich die Exemplare des Scherzgedichtes beipackte, ohne derselben in meinem Briefe zu erwähnen, ich weiß nicht, ob aus Übereilung oder eine Überraschung beabsichtigend. Genug, der mit solchen Geschäften Beauftragte des Fürsten war abwesend, und die Kiste blieb lange Zeit unausgepackt; ich aber, eine teilnehmende Erwiderung so werter und sonst so pünktlicher Freunde mehrere Wochen entbehrend, machte mir tausend Grillen, bis endlich nach Eröffnung der Kiste nur Entschuldigungen, Anklagen, Bedauernisse, wiederholt ausgedrückt, mir statt einer heitern Aufnahme unglücklicherweise zuteil wurden.
Von der beurteilenden Seite aber waren Vossens rhythmische Bemerkungen nicht tröstlich, und ich mußte nur zufrieden sein, daß mein gutes Verhältnis zu den Freunden nicht gestört wurde, anstatt daß es sich hätte erhöhen und beleben sollen. Doch setzte sich alles bald wieder ins gleiche: Prinz August fuhr mit seinen literarischen Scherzen fort, Herzog Ernst gewährte mir unausgesetzt ein wohlgegründetes Vertrauen, indem ich besonders seiner Kunstliebhaberei gar manche angenehme Besitzung zuführte. Auch Voß konnte mit mir zufrieden sein, indem ich, auf seine Bemerkungen achtend, mich in der Folge nachgiebig und bildsam erwies.
Der Abdruck des ersten Bandes von »Wilhelm Meister« war begonnen, der Entschluß, eine Arbeit, an der ich noch so viel zu erinnern hatte, für fertig zu erklären, war endlich gefaßt, und ich war froh, den Anfang aus den Augen zu haben, wenn mich schon die Fortsetzung sowie die Aussicht auf eine nunmehrige Beendigung höchlich bedrängte. Die Notwendigkeit aber ist der beste Ratgeber.
In England erschien eine Übersetzung der »Iphigenia«; Unger druckte sie nach; aber weder ein Exemplar des Originals noch der Kopie ist mir geblieben.
An dem Bergbaue zu Ilmenau hatten wir uns schon mehrere Jahre herumgequält; eine so wichtige Unternehmung isoliert zu wagen war nur einem jugendlichen, tätig-frohen Übermut zu verzeihen. Innerhalb eines großen, eingerichteten Bergwesens hätte sie sich fruchtbarer fortbilden können; allein mit beschränkten Mitteln, fremden, obgleich sehr tüchtigen, von Zeit zu Zeit herbeigerufenen Offizianten konnte man zwar ins klare kommen, dabei aber war die Ausführung weder umsichtig noch energisch genug, und das Werk, besonders bei einer ganz unerwarteten Naturbildung, mehr als einmal im Begriff zu stocken.
Ein ausgeschriebener Gewerkentag ward nicht ohne Sorge von mir, und selbst von meinem Kollegen, dem geschäftsgewandteren Geheimerat Voigt, mit einiger Bedenklichkeit bezogen; aber uns kam ein Sukkurs, von woher wir ihn niemals erwartet hätten. Der Zeitgeist, dem man soviel Gutes und soviel Böses nachzusagen hat, zeigte sich als unser Alliierter: Einige der Abgeordneten fanden gerade gelegen, eine Art von Konvent zu bilden und sich der Führung und der Leitung der Sache zu unterziehen. Anstatt daß wir Kommissarien also nötig gehabt hätten, die Litanei von Übeln, zu der wir uns schon vorbereitet hatten, demütig abzubeten, ward sogleich beschlossen, daß die Repräsentanten selbst sich Punkt für Punkt an Ort und Stelle aufzuklären und ohne Vorurteil in die Natur der Sache zu sehen sich bemühen sollten.
Wir traten gern in den Hintergrund, und von jener Seite war man nachsichtiger gegen die Mängel, die man selbst entdeckt hatte, zutraulicher auf die Hülfsmittel, die man selbst erfand, so daß zuletzt alles, wie wir es nur wünschen konnten, beschlossen wurde; und da es denn endlich an Gelde nicht fehlen durfte, um diese weisen Ratschläge ins Werk zu setzen, so wurden auch die nötigen Summen verwilligt, und alles ging mit Wohlgefallen auseinander.
Ein wundersamer, durch verwickelte Schicksale nicht ohne seine Schuld verarmter Mann hielt sich durch meine Unterstützung in Ilmenau unter fremdem Namen auf. Er war mir sehr nützlich, da er mir in Bergwerks- und Steuersachen durch unmittelbare Anschauung als gewandter, obgleich hypochondrischer Geschäftsmann mehreres überlieferte, was ich selbst nicht hätte bis auf den Grad einsehen und mir zu eigen machen können.
Durch meine vorjährige Reise an den Niederrhein hatte ich mich an Fritz Jacobi und die Fürstin Gallitzin mehr angenähert; doch blieb es immer ein wunderbares Verhältnis, dessen Art und Weise schwer auszusprechen und nur durch den Begriff der ganzen Klasse gebildeter, oder vielmehr der sich erst bildenden Deutschen einzusehen.
Dem besten Teil der Nation war ein Licht aufgegangen, das sie aus der öden, gehaltlosen, abhängigen Pedanterie als einem kümmerlichen Streben herauszuleiten versprach. Sehr viele waren zugleich von demselben Geist ergriffen, sie erkannten die gegenseitigen Verdienste, sie achteten einander, fühlten das Bedürfnis, sich zu verbinden, sie suchten, sie liebten sich, und dennoch konnte keine wahrhafte Einigung entstehen. Das allgemeine Interesse, sittlich, moralisch, war doch ein vages, unbestimmtes, und es fehlte im ganzen wie im einzelnen an Richtung zu besondern Tätigkeiten. Daher zerfiel der große unsichtbare Kreis in kleinere, meist lokale, die manches Löbliche erschufen und hervorbrachten; aber eigentlich isolierten sich die Bedeutenden immer mehr und mehr.
Es ist zwar dies die alte Geschichte, die sich bei Erneuerung und Belebung starrer, stockender Zustände gar oft ereignet hat, und mag also für ein literarisches Beispiel gelten dessen, was wir in der politischen und kirchlichen Geschichte so oft wiederholt sehen.
Die Hauptfiguren wirkten ihrem Geist, Sinn und Fähigkeit nach unbedingt; an sie schlossen sich andere, die sich zwar Kräfte fühlten, aber doch schon gesellig und untergeordnet zu wirken nicht abgeneigt waren.
Klopstock sei zuerst genannt. Geistig wendeten sich viele zu ihm; seine keusche, abgemessene, immer Ehrfurcht gebietende Persönlichkeit aber lockte zu keiner Annäherung. An Wieland schlossen sich gleichfalls wenige persönlich: das literarische Zutrauen aber war grenzenlos – das südliche Deutschland, besonders Wien, sind ihm ihre poetische und prosaische Kultur schuldig; unübersehbare Einsendungen jedoch brachten ihn oft zu heiterer Verzweiflung.
Herder wirkte später. Sein anziehendes Wesen sammelte nicht eigentlich eine Menge um ihn her, aber einzelne gestalteten sich an und um ihn, hielten an ihm fest und hatten zu ihrem größten Vorteile sich ihm ganz hingegeben. Und so hatten sich kleine Weltsysteme gebildet. Auch Gleim war ein Mittelpunkt, um den sich viele Talente versammelten. Mir wurden viele Sprudelköpfe zuteil, welche fast den Ehrennamen eines Genies zum Spitznamen herabgebracht hätten.
Aber bei allem diesen fand sich das Sonderbare, daß nicht nur jeder Häuptling, sondern auch jeder Angeordnete seine Selbständigkeit festhielt und andere deshalb an und nach sich in seine besonderen Gesinnungen heranzuziehen bemüht war: wodurch denn die seltsamsten Wirkungen und Gegenwirkungen sich hervortaten.
Und wie Lavater forderte, daß man sich nach seinem Beispiel mit Christo transsubstantiieren müsse, so verlangte Jacobi, daß man seine individuelle, tiefe, schwer zu definierende Denkweise in sich aufnehmen solle. Die Fürstin hatte in der katholischen Sinnesart, innerhalb der Ritualitäten der Kirche, die Möglichkeit gefunden, ihren edlen Zwecken gemäß zu leben und zu handeln. Diese beiden liebten mich wahrhaft und ließen mich im Augenblick gewähren, jedoch immer mit stiller, nicht ganz verheimlichter Hoffnung, mich ihren Gesinnungen völlig anzueignen; sie ließen sich daher manche von meinen Unarten gefallen, die ich oft aus Ungeduld und, um mir gegen sie Luft zu machen, vorsätzlich ausübte.
Im ganzen war jedoch jener Zustand eine aristokratische Anarchie, ungefähr wie der Konflikt jener eine bedeutende Selbständigkeit entweder schon besitzenden oder zu erringen strebenden Gewalten im Mittel alter. Auch war es eine Art Mittelalter, das einer höheren Kultur voranging, wie wir jetzt wohl übersehen, da uns mehrere Einblicke in diesen nicht zu beschreibenden, vielleicht für Nachlebende nicht zu fassenden Zustand eröffnet worden. Hamanns Briefe sind hiezu ein unschätzbares Archiv, zu welchem der Schlüssel im ganzen wohl möchte gefunden werden, für die einzelnen geheimen Fächer vielleicht nie.
Als Hausgenossen besaß ich nunmehr meinen ältesten römischen Freund, Heinrich Meyer. Erinnerung und Fortbildung italienischer Studien blieb tägliche Unterhaltung. Bei dem letzten Aufenthalt in Venedig hatten wir uns aufs neue von Grund aus verständigt und uns nur desto inniger verbunden.
Wie aber alles Bestreben, einen Gegenstand zu fassen, in der Entfernung vom Gegenstande sich nur verwirrt oder, wenn man zur Klarheit vorzudringen sucht, die Unzulänglichkeit der Erinnerung fühlbar macht und immerfort eine Rückkehr zur Quelle des Anschauens in der lebendigen Gegenwart fordert, so war es auch hier. Und wer, wenn er auch mit wenigerem Ernst in Italien gelebt, wünscht nicht immer, dorthin zurückzukehren!
Noch aber war der Zwiespalt, den das wissenschaftliche Bemühen in mein Dasein gebracht, keinesweges ausgeglichen: denn die Art, wie ich die Naturerfahrungen behandelte, schien die übrigen Seelenkräfte sämtlich für sich zu fordern.
In diesem Drange des Widerstreits übertraf alle meine Wünsche und Hoffnungen das auf einmal sich entwickelnde Verhältnis zu Schiller; von der ersten Annäherung an war es ein unaufhaltsames Fortschreiten philosophischer Ausbildung und ästhetischer Tätigkeit. Zum Behuf seiner »Horen« mußte ihm sehr angelegen sein, was ich im stillen gearbeitet, angefangen, unternommen, sämtlich zu kennen, neu anzuregen und zu benutzen; für mich war es ein neuer Frühling, in welchem alles froh nebeneinander keimte und aus aufgeschlossenen Samen und Zweigen hervorging. Die nunmehr gesammelten und geordneten beiderseitigen Briefe geben davon das unmittelbarste, reinste und vollständigste Zeugnis.
1795
Die »Horen« wurden ausgegeben, »Episteln«, »Elegien«, »Unterhaltungen der Ausgewanderten« von meiner Seite beigetragen. Außerdem überlegten und berieten wir gemeinsam den ganzen Inhalt dieser neuen Zeitschrift, die Verhältnisse der Mitarbeiter und was bei dergleichen Unternehmungen sonst vorkommen mag. Hiebei lernte ich Mitlebende kennen, ich ward mit Autoren und Produktionen bekannt, die mir sonst niemals einige Aufmerksamkeit abgewonnen hätten. Schiller war überhaupt weniger ausschließend als ich und mußte nachsichtig sein als Herausgeber.
Bei allem diesem konnt ich mich nicht enthalten, anfangs Juli nach Karlsbad zu gehen und über vier Wochen daselbst zu verweilen. In jüngern Jahren ist man ungeduldig bei den kleinsten Übeln, und Karlsbad war mir schon öfters heilsam gewesen. Vergebens aber hatt ich mancherlei Arbeiten mitgenommen, denn die auf gar vielfache Weise mich berührende große Masse von Menschen zerstreute, hinderte mich, gab mir freilich aber auch manche neue Aussicht auf Welt und Persönlichkeiten.
Kaum war ich zurück, als von Ilmenau die Nachricht einlief, ein bedeutender Stollenbruch habe dem dortigen Bergbau den Garaus gemacht. Ich eilte hin und sah nicht ohne Bedenken und Betrübnis ein Werk, worauf so viel Zeit, Kraft und Geld verwendet worden, in sich selbst erstickt und begraben.
Erheiternd war mir dagegen die Gesellschaft meines fünfjährigen Sohnes, der diese Gegend, an der ich mich nun seit zwanzig Jahren müde gesehen und gedacht, mit frischem kindlichem Sinn wieder auffaßte, alle Gegenstände, Verhältnisse, Tätigkeiten mit neuer Lebenslust ergriff und viel entschiedener, als mit Worten hätte geschehen können, durch die Tat aussprach: daß dem Abgestorbenen immer etwas Belebtes folge und der Anteil der Menschen an dieser Erde niemals erlöschen könne.
Von da ward ich nach Eisenach gefordert; der Hof weilte daselbst mit mehreren Fremden, besonders Emigrierten. Bedenkliche Kriegsbewegungen riefen jedermann zur Aufmerksamkeit: Die Österreicher waren sechzigtausend Mann über den Main gegangen, und es schien, als wenn in der Gegend von Frankfurt die Ereignisse lebhaft werden sollten. Einen Auftrag, der mich dem Kampfplatze genähert hätte, wußte ich abzulehnen; ich kannte das Kriegsunheil zu sehr, als daß ich es hätte aufsuchen sollen.
Hier begegnete mir ein Fall, an welchen ich öfters zu denken im Leben Ursache hatte. Graf Dumanoir, unter allen Emigrierten ohne Frage der am meisten Gebildete, von tüchtigem Charakter und reinem Menschenverstand, dessen Urteil ich meist unbefangen gefunden hatte – er begegnete mir in Eisenach vergnügt auf der Straße und erzählte, was in der Frankfurter Zeitung Günstiges für ihre Angelegenheiten stehe. Da ich doch auch den Gang des Weltwesens ziemlich vor mir im Sinne hatte, so stutzte ich, und es schien mir unbegreiflich, wie dergleichen sich sollte ereignet haben. Ich eilte daher, mir das Blatt zu verschaffen, und konnte beim Lesen und Wiederlesen nichts Ähnliches darin finden, bis ich zuletzt eine Stelle gewahrte, die man allenfalls auf diese Angelegenheit beziehen konnte, da sie denn aber gerade das Gegenteil würde bedeutet haben.
Früher hatte ich schon einmal ein Stärkeres, aber freilich auch von einem Emigrierten vernommen. Die Franzosen hatten sich bereits über der ganzen Oberfläche ihres Vaterlandes auf alle Weise gemordet; die Assignate waren zu Mandaten und diese wieder zu nichts geworden; von allem dem war umständlich und mit großem Bedauern die Rede, als ein Marquis mit einiger Beruhigung versetzte: dies sei zwar ein großes Unglück, nur befürchte er, es werde noch gar der bürgerliche Krieg ausbrechen und der Staatsbanquerutt unvermeidlich sein.
Wem dergleichen von Beurteilung unmittelbarer Lebensverhältnisse vorgekommen, der wird sich nicht mehr wundern, wenn ihm in Religion, Philosophie und Wissenschaft, wo des Menschen abgesondertes Innere in Anspruch genommen wird, ebensolche Verfinsterung des Urteils und der Meinung am hellen Mittag begegnet.
In derselben Zeit ging Freund Meyer nach Italien zurück; denn obgleich der Krieg in der Lombardei schon heftig geführt wurde, so war doch im übrigen alles noch unangetastet, und wir lebten im Wahn, die Jahre von 87 und 88 wiederholen zu können. Seine Entfernung beraubte mich alles Gesprächs über bildende Kunst, und selbst meine Vorbereitung, ihm zu folgen, führte mich auf andere Wege.
Ganz abgelenkt und zur Naturbetrachtung zurückgeführt ward ich, als gegen Ende des Jahrs die beiden Gebrüder von Humboldt in Jena erschienen. Sie nahmen beiderseits in diesem Augenblick an Naturwissenschaften großen Anteil, und ich konnte mich nicht enthalten, meine Ideen über vergleichende Anatomie und deren methodische Behandlung im Gespräch mitzuteilen. Da man meine Darstellungen zusammenhängend und ziemlich vollständig erachtete, ward ich dringend aufgefordert, sie zu Papier zu bringen, welches ich auch sogleich befolgte, indem ich an Max Jacobi das Grundschema einer vergleichenden Knochenlehre, gegenwärtig, wie es mir war, diktierte, den Freunden Gnüge tat und mir selbst einen Anhaltepunkt gewann, woran ich meine weiteren Betrachtungen knüpfen konnte.
Alexander von Humboldts Einwirkungen verlangen besonders behandelt zu werden. Seine Gegenwart in Jena fördert die vergleichende Anatomie; er und sein älterer Bruder bewegen mich, das noch vorhandene allgemeine Schema zu diktieren. Bei seinem Aufenthalt in Bayreuth ist mein briefliches Verhältnis zu ihm sehr interessant.
Gleichzeitig und verbunden mit ihm tritt Geheimerat Wolf von einer andern Seite, doch im allgemeinen Sinne mit in unsern Kreis.
Die Versendung der Freiexemplare von »Wilhelm Meisters« erstem Teil beschäftigte mich eine Weile. Die Beantwortung war nur teilweise erfreulich, im ganzen keineswegs förderlich; doch bleiben die Briefe, wie sie damals einlangten und noch vorhanden sind, immer bedeutend und belehrend. Herzog und Prinz von Gotha, Frau von Frankenberg daselbst, von Thümmel, meine Mutter, Sömmerring, Schlosser, von Humboldt, von Dalberg in Mannheim, Voß, die meisten, wenn man es genau nimmt, se defendendo, gegen die geheime Gewalt des Werkes sich in Positur setzend. Eine geistreiche geliebte Freundin aber brachte mich ganz besonders in Verzweiflung durch Ahnung manches Geheimnisses, Bestreben nach Enthüllung und ängstliche Deutelei, anstatt daß ich gewünscht hätte, man möchte die Sache nehmen, wie sie lag, und sich den faßlichen Sinn zueignen.
Indem nun Unger die Fortsetzung betrieb und den zweiten Band zu beschleunigen suchte, ergab sich ein widerwärtiges Verhältnis mit Kapellmeister Reichardt. Man war mit ihm, ungeachtet seiner vor – und zudringlichen Natur, in Rücksicht auf sein bedeutendes Talent in gutem Vernehmen gestanden; er war der erste, der mit Ernst und Stetigkeit meine lyrischen Arbeiten durch Musik ins Allgemeine förderte, und ohnehin lag es in meiner Art, aus herkömmlicher Dankbarkeit unbequeme Menschen fortzudulden, wenn sie mir es nicht gar zu arg machten, alsdann aber meist mit Ungestüm ein solches Verhältnis abzubrechen. Nun hatte sich Reichardt mit Wut und Ingrimm in die Revolution geworfen; ich aber, die greulichen unaufhaltsamen Folgen solcher gewalttätig aufgelösten Zustände mit Augen schauend und zugleich ein ähnliches Geheimtreiben im Vaterlande durch und durch blickend, hielt ein für allemal am Bestehenden fest, an dessen Verbesserung, Belebung und Richtung zum Sinnigen, Verständigen ich mein Leben lang bewußt und unbewußt gewirkt hatte, und konnte und wollte diese Gesinnung nicht verhehlen.
Reichardt hatte auch die Lieder zum »Wilhelm Meister« mit Glück zu komponieren angefangen, wie denn immer noch seine Melodie zu »Kennst du das Land« als vorzüglich bewundert wird. Unger teilte ihm die Lieder der folgenden Bände mit, und so war er von der musikalischen Seite unser Freund, von der politischen unser Widersacher, daher sich im stillen ein Bruch vorbereitete, der zuletzt unaufhaltsam an den Tag kam.
Über das Verhältnis zu Jacobi habe ich hiernächst Besseres zu sagen, ob es gleich auch auf keinem sichern Fundament gebaut war. Lieben und Dulden und von jener Seite Hoffnung, eine Sinnesveränderung in mir zu bewirken, drücken es am kürzesten aus. Er war, vom Rheine wegwandernd, nach Holstein gezogen und hatte die freundlichste Aufnahme zu Emkendorf in der Familie des Grafen Reventlow gefunden; er meldete mir sein Behagen an den dortigen Zuständen aufs reizendste, beschrieb verschiedene Familienfeste zur Feier seines Geburtstags und des Grafen anmutig und umständlich, worauf denn auch eine wiederholte dringende Einladung dorthin erfolgte.
Dergleichen Mummereien innerhalb eines einfachen Familienzustandes waren mir immer widerwärtig, die Aussicht darauf stieß mich mehr ab, als daß sie mich angezogen hätte; mehr aber noch hielt mich das Gefühl zurück, daß man meine menschliche und dichterische Freiheit durch gewisse konventionelle Sittlichkeiten zu beschränken gedachte, und ich fühlte mich hierin so fest, daß ich der dringenden Anforderung, einen Sohn, der in der Nähe studiert und promoviert hatte, dorthin zu geleiten, keineswegs Folge leistete, sondern auf meiner Weigerung standhaft verharrte.
Auch seine Briefe über »Wilhelm Meister« waren nicht einladend; dem Freunde selbst sowie seiner vornehmen Umgebung erschien das Reale, noch dazu eines niedern Kreises, nicht erbaulich; an der Sittlichkeit hatten die Damen gar manches auszusetzen, und nur ein einziger tüchtiger, überschauender Weltmann, Graf Bernstorff, nahm die Partei des bedrängten Buches. Um so weniger konnte der Autor Lust empfinden, solche Lektionen persönlich einzunehmen und sich zwischen eine wohlwollende, liebenswürdige Pedanterie und den Teetisch geklemmt zu sehen.
Von der Fürstin Gallitzin erinnere ich mich nicht etwas über »Wilhelm Meister« vernommen zu haben, aber in diesem Jahre klärte sich eine Verwirrung auf, welche Jacobi zwischen uns gewirkt hatte, ich weiß nicht, ob aus leichtsinnigem Scherz oder Vorsatz; es war aber nicht löblich, und wäre die Fürstin nicht so reiner Natur gewesen, so hätte sich früh oder spät eine unerfreuliche Scheidung ergeben. Auch sie war von Münster vor den Franzosen geflohen; ihr großer, durch Religion gestärkter Charakter hielt sich aufrecht, und da eine ruhige Tätigkeit sie überallhin begleitete, blieb sie mit mir in wohlwollender Verbindung, und ich war froh, in jenen verworrenen Zeiten ihren Empfehlungen gemäß manches Gute zu stiften.
Wilhelm von Humboldts Teilnahme war indes fruchtbarer; aus seinen Briefen geht eine klare Einsicht in das Wollen und Vollbringen hervor, daß ein wahres Fördernis daraus erfolgen mußte.
Schillers Teilnahme nenne ich zuletzt, sie war die innigste und höchste; da jedoch seine Briefe hierüber noch vorhanden sind, so darf ich weiter nichts sagen, als daß die Bekanntmachung derselben wohl eins der schönsten Geschenke sein möchte, die man einem gebildeten Publikum bringen kann.
Das Theater war ganz an mich gewiesen; was ich im ganzen übersah und leitete, ward durch Kirms ausgeführt; Vulpius, dem es zu diesem Geschäft an Talent nicht fehlte, griff ein mit zweckmäßiger Tätigkeit. Was im Laufe dieses Jahrs geleistet wurde, ist ungefähr folgendes:
Die »Zauberflöte« gewährte noch immer ihren früheren Einfluß, und die Opern zogen mehr an als alles übrige. »Don Juan«, »Doktor und Apotheker«, »Cosa Rara« »Das Sonnenfest der Brahminen« befriedigten das Publikum. Lessings Werke tauchten von Zeit zu Zeit auf, doch waren eigentlich Schröderische, Ifflandische, Kotzebuesche Stücke an der Tagesordnung. Auch Hagemann und Großmann galten etwas. »Abällino« ward den Schillerischen Stücken ziemlich gleichgestellt; unsere Bemühung aber, alles und jedes zur Erscheinung zu bringen, zeigte sich daran vorzüglich, daß wir ein Stück von Maier, den »Sturm von Boxberg«, aufzuführen unternahmen, freilich mit wenig Glück; indessen hatte man doch ein solches merkwürdiges Stück gesehen und sein Dasein wo nicht beurteilt, doch empfunden.
Daß unsere Schauspieler in Lauchstädt, Erfurt, Rudolstadt von dem verschiedensten Publikum mit Freuden aufgenommen, durch Enthusiasmus belebt und durch gute Behandlung in der Achtung gegen sich selbst gesteigert wurden, gereichte nicht zum geringen Vorteil unserer Bühne und zur Anfrischung einer Tätigkeit, die, wenn man dasselbe Publikum immer vor sich sieht, dessen Charakter, dessen Urteilsweise man kennt, gar bald zu erschlaffen pflegt.
Wenden sich nun meine Gedanken von diesen kleinen, in Vergleich mit dem Weltwesen höchst unwichtigen Verhältnissen zu diesem, so muß mir jener Bauer einfallen, den ich bei der Belagerung von Mainz im Bereich der Kanonen hinter einem auf Rädern vor sich hingeschobenen Schanzkorbe seine Feldarbeit verrichten sah. Der einzelne beschränkte Mensch gibt seine nächsten Zustände nicht auf, wie auch das große Ganze sich verhalten möge.
Nun verlauteten die Baseler Friedenspräliminarien, und ein Schein von Hoffnung ging dem nördlichen Deutschland auf. Preußen machte Frieden, Österreich setzte den Krieg fort, und nun fühlten wir uns in neuer Sorge befangen: denn Kursachsen verweigerte den Beitritt zu einem besondern Frieden. Unsere Geschäftsmänner und Diplomaten bewegten sich nun nach Dresden, und unser gnädigster Herr, anregend alle und tätig vor allen, begab sich nach Dessau. Inzwischen hörte man von Bewegungen unter den Schweizer Landleuten, besonders am oberen Züricher See; ein deshalb eingeleiteter Prozeß regte den Widerstreit der Gesinnungen noch mehr auf; doch bald ward unsere Teilnahme schon wieder in die Nähe gerufen. Das rechte Mainufer schien abermals unsicher, man fürchtete sogar für unsere Gegenden, eine Demarkationslinie kam zur Sprache; doppelt und dreifach traten Zweifel und Sorge hervor.
Clerfait tritt auf, wir halten uns an Kursachsen; nun werden aber schon Vorbereitungen und Anstalten gefordert, und als man Kriegssteuern ausschreiben muß, kommt man endlich auf den glücklichen Gedanken, auch den Geist, an den man bisher nicht gedacht hatte, kontribuabel zu machen; doch verlangte man nur von ihm ein Don gratuit.
In dem Laufe dieser Jahre hatte meine Mutter den wohlbestellten Weinkeller, die in manchen Fächern wohlausgerüstete Bibliothek, eine Gemäldesammlung, das Beste damaliger Künstler enthaltend, und was sonst nicht alles verkauft, und ich sah, indem sie dabei nur eine Bürde los zu sein froh war, die ernste Umgebung meines Vaters zerstückt und verschleudert. Es war auf meinen Antrieb geschehen, niemand konnte damals dem andern raten noch helfen. Zuletzt blieb das Haus noch übrig; dies wurde endlich auch verkauft und die Meubels, die sie nicht mitnehmen wollte, zum Abschluß in einer Auktion vergeudet. Die Aussicht auf ein neues, lustiges Quartier an der Hauptwache realisierte sich, und dieser Wechsel gewährte zur Zeit, da nach vorüberfliegender Friedenshoffnung neue Sorge wieder eintrat, ihr eine zerstreuende Beschäftigung.
Als bedeutendes und für die Folge fruchtbares Familienereignis habe ich zu bemerken, daß Nicolovius, zu Eutin wohnhaft, meine Nichte heiratete, die Tochter Schlossers und meiner Schwester.
Außer den gedachten Unbilden brachte der Versuch, entschiedene Idealisten mit den höchst realen akademischen Verhältnissen in Verbindung zu setzen, fortdauernde Verdrießlichkeiten. Fichtens Absicht, sonntags zu lesen und seine von mehreren Seiten gehinderte Tätigkeit frei zu machen, mußte den Widerstand seiner Kollegen höchst unangenehm empfinden, bis sich denn gar zuletzt ein Studentenhaufen vors Haus zu treten erkühnte und ihm die Fenster einwarf: die unangenehmste Weise, von dem Dasein eines Nicht-Ichs überzeugt zu werden.
Aber nicht seine Persönlichkeit allein, auch die eines andern machte den Unter- und Oberbehörden viel zu schaffen. Er hatte einen denkenden jungen Mann namens Weißhuhn nach Jena berufen, einen Gehülfen und Mitarbeiter an ihm hoffend; allein dieser wich bald in einigen Dingen, das heißt für einen Philosophen in allen, von ihm ab, und ein reines Zusammensein war gar bald gestört, ob wir gleich zu den »Horen« dessen Teilnahme nicht verschmähten.
Dieser Wackere, mit den äußeren Dingen noch weniger als Fichte sich ins Gleichgewicht zu setzen fähig, erlebte bald mit Prorektor und Gerichten die unangenehmsten persönlichen Händel; es ging auf Injurienprozesse hinaus, welche zu beschwichtigen man von oben her die eigentliche Lebensweisheit hereinbringen mußte.
Wenn uns nun die Philosophen kaum beizulegende Händel von Zeit zu Zeit erneuerten, so nahmen wir jeder günstigen Gelegenheit wahr, um die Angelegenheiten der Naturfreunde zu befördern. Der geistig strebende und unaufhaltsam vordringende Batsch war denn im Wirklichen doch schrittweis zufriedenzustellen; er empfand seine Lage, kannte die Mittel, die uns zu Gebote standen, und beschied sich in billigen Dingen. Daher gereichte es uns zur Freude, ihm in dem fürstlichen Garten einen festeren Fuß zu verschaffen; ein Glashaus, hinreichend für den Anfang, ward nach seinen Angaben errichtet, wobei die Aussicht auf fernere Begünstigung sich von selbst hervortat.
Für einen Teil der jenaischen Bürgerschaft ward auch gerade in dieser Zeit ein bedeutendes Geschäft beendigt. Man hatte, den alten Arm der Saale oberhalb der Rasenmühle, der durch mehrere Krümmungen die schönsten Wiesen des rechten Ufers in Kiesbette des linken verwandelte, ins Trockne zu legen, einen Durchstich angeordnet und den Fluß in gerader Linie abwärtszuführen unternommen. Schon einige Jahre dauerte die Bemühung, welche endlich gelang und den anstoßenden Bürgern, gegen geringe frühere Beiträge, ihre verlornen Räume wiedergab, indem ihnen die alte Saale und die indes zu nutzbaren Weidichten herangewachsenen Kiesräume zugemessen und sie auf diese Weise über ihre Erwartung befriedigt wurden; weshalb sie auch eine seltene Dankbarkeit gegen die Vorgesetzten des Geschäftes ausdrückten.
Unzufriedene machte man jedoch auch bei dieser Gelegenheit: denn auch solche Anlieger, die im Unglauben auf den Erfolg des Geschäftes die früheren geringen Beiträge verweigert hatten, verlangten ihren Teil an dem eroberten Boden wo nicht als Recht, doch als Gunst, die aber hier nicht statthaben konnte, indem herrschaftliche Kasse für ein bedeutendes Opfer einige Entschädigung an dem errungenen Boden zu fordern hatte.
Dreier Werke von ganz verschiedener Art, welche jedoch in diesem Jahr das größte Aufsehen erregten, muß ich noch gedenken. »Dumouriez’ Leben« ließ uns in die besondern Vorfallenheiten, wovon uns das Allgemeine leider genugsam bekannt war, tiefer hineinsehen, manche Charaktere wurden uns aufgeschlossen, und der Mann, der uns immer viel Anteil abgewonnen hatte, erschien uns klärer und im günstigen Lichte. Geistreiche Frauenzimmer, die denn doch immer irgendwo Neigung unterzubringen genötigt sind und den Tageshelden wie billig am meisten begünstigen, erquickten und erbauten sich an diesem Werke, das ich sorgfältig studierte, um die Epoche seiner Großtaten, von denen ich persönlich Zeuge gewesen, mir bis ins einzeln Geheime genau zu vergegenwärtigen. Dabei erfreute ich mich denn, daß sein Vortrag mit meinen Erfahrungen und Bemerkungen vollkommen übereinstimmte.
Das zweite, dem allgemeinen Bemerken sich aufdringende Werk waren Baldes Gedichte, welche nach Herders Übersetzung, jedoch mit Verheimlichung des eigentlichen Autors, ans Licht kamen und sich der schönsten Wirkung erfreuten.
Von reichem Zeitgehalt, mit deutschen Gesinnungen ausgesprochen, wären sie immer willkommen gewesen; kriegerisch verworrene Zeitläufte aber, die sich in allen Jahrhunderten gleichen, fanden in diesem dichterischen Spiegel ihr Bild wieder, und man empfand als wie von gestern, was unsere Urvorfahren gequält und geängstigt hatte.
Einen ganz andern Kreis bildete sich das dritte Werk. Lichtenbergs »Hogarth« und das Interesse daran war eigentlich ein gemachtes: denn wie hätte der Deutsche, in dessen einfachem, reinen Zustande sehr selten solche exzentrische Fratzen vorkommen, hieran sich wahrhaft vergnügen können? Nur die Tradition, die einen von seiner Nation hochgefeierten Namen auch auf dem Kontinent hatte geltend gemacht, nur die Seltenheit, seine wunderlichen Darstellungen vollständig zu besitzen, und die Bequemlichkeit, zu Betrachtung und Bewunderung seiner Werke weder Kunstkenntnis noch höheren Sinnes zu bedürfen, sondern allein bösen Willen und Verachtung der Menschheit mitbringen zu können, erleichterte die Verbreitung ganz besonders, vorzüglich aber, daß Hogarths Witz auch Lichtenbergs Witzeleien den Weg gebahnt hatte.
Junge Männer, die von Kindheit auf, seit beinahe zwanzig Jahren, an meiner Seite heraufgewachsen, sahen sich nunmehr in der Welt um, und die von ihnen mir zugehenden Nachrichten mußten mir Freude machen, da ich sie mit Verstand und Tatkraft auf ihrer Bahn weiterschreiten sah. Friedrich von Stein hielt sich in England auf und gewann daselbst für seinen technischen Sinn viele Vorteile. August von Herder schrieb aus Neufchâtel, wo er sich auf seine übrigen Lebenszwecke vorzubereiten dachte.
Mehrere Emigrierte waren bei Hof und in der Gesellschaft wohl aufgenommen, allein nicht alle begnügten sich mit diesen sozialen Vorteilen. Manche von ihnen hegten die Absicht, hier wie an andern Orten durch eine löbliche Tätigkeit ihren Lebensunterhalt zu gewinnen. Ein wackerer Mann, schon vorgerückt in Jahren, mit Namen von Wendel, brachte zur Sprache, daß in llmenau bei einem gesellschaftlichen Hammerwerke der herzoglichen Kammer einige Anteile zustanden. Freilich wurde dieses Werk auf eine sonderbare Weise benutzt, indem die Hammermeister in einem gewissen Turnus arbeiteten, jeder für sich, so gut er vermochte, um es nach kurzer Frist seinem Nachfolger abermals auf dessen eigne Rechnung zu überlassen. Eine solche Einrichtung läßt sich nur in einem altherkömmlichen Zustande denken, und ein höher gesinnter, an eine freiere Tätigkeit gewöhnter Mann konnte sich hierin nicht finden, ob man ihm gleich die herrschaftlichen Anteile für ein mäßiges Pachtgeld überließ, das man vielleicht nie eingefordert hätte. Sein ordnungsliebender, ins Ganze rege Geist suchte durch erweiterte Plane seine Unzufriedenheit zu beschwichtigen; bald sollte man mehrere Teile, bald das Ganze zu akquirieren suchen: beides war unmöglich, da sich die mäßige Existenz einiger ruhigen Familien auf dieses Geschäft gründete.
Nach etwas anderem war nun der Geist gerichtet; man baute einen Reverberierofen, um altes Eisen zu schmelzen und eine Gußanstalt ins Werk zu richten. Man versprach sich große Wirkung von der aufwärts konzentrierten Glut; aber sie war groß über alle Erwartung: denn das Ofengewölbe schmolz zusammen, indem das Eisen zum Fluß kam. Noch manches andere ward unternommen ohne glücklichen Erfolg; der gute Mann, endlich empfindend, daß er gänzlich aus seinem Elemente entfallen sei, geriet in Verzweiflung, nahm eine übergroße Gabe Opium zu sich, die, wenn nicht auf der Stelle, doch in ihren Folgen seinem Leben ein Ende machte. Freilich war sein Unglück so groß, daß weder die Teilnahme des Fürsten noch die wohlwollende Tätigkeit der beauftragten Räte ihn wiederherzustellen vermochte. Weit entfernt von seinem Vaterlande, in einem stillen Winkel des Thüringer Waldes, fiel auch er, ein Opfer der grenzenlosen Umwälzung.
Von Personen, deren Schicksalen und Verhältnissen bemerke folgendes:
Schlosser wandert aus und begibt sich, da man nicht an jedem Asyl verzweifeln konnte, nach Ansbach und hat die Absicht, daselbst zu verbleiben.
Herder fühlt sich von einiger Entfernung, die sich nach und nach hervortut, betroffen, ohne daß dem daraus entstehenden Mißgefühl wäre zu helfen gewesen. Seine Abneigung gegen die Kantische Philosophie und daher auch gegen die Akademie Jena hatte sich immer gesteigert, während ich mit beiden durch das Verhältnis zu Schiller immer mehr zusammenwuchs. Daher war jeder Versuch, das alte Verhältnis herzustellen, fruchtlos, um so mehr, als Wieland die neuere Lehre selbst in der Person seines Schwiegersohns verwünschte und als Latitudinarier sehr übel empfand, daß man Pflicht und Recht durch Vernunft, so wie es hieß, fixieren und allem humoristisch-poetischen Schwanken ein Ende zu machen drohte.
Traurig aber war mir ein Schreiben des höchst bedeutenden Karl von Moser. Ich hatte ihn früher auf dem Gipfel ministerieller Machtvollkommenheit gesehen, wo er, den Ehekontrakt zwischen unserm teuren fürstlichen Ehepaar aufzusetzen, nach Karlsruhe berufen ward, zu einer Zeit, wo er mir manche Gefälligkeit erwies, ja einen Freund durch entschiedene Kraft und Einfluß vom Untergang errettete. Dieser war nun seit zwanzig Jahren nach und nach in seinen Vermögensumständen dergestalt zurückgekommen, daß er auf einem alten Bergschlosse Zwingenberg ein kümmerliches Leben führte. Nun wollte er sich auch einer feinen Gemäldesammlung entäußern, die er zu besserer Zeit mit Geschmack um sich versammelt hatte; er verlangte meine Mitwirkung, und ich konnte sein zartes, dringendes Verlangen leider nur mit einem freundlichhöflichen Brief erwidern. Hierauf ist die Antwort eines geistreichen, bedrängten und zugleich in sein Schicksal ergebenen Mannes von der Art, daß sie mich noch jetzt wie damals rührt, da ich in meinem Bereich kein Mittel sah, solchem Bedürfnisse abzuhelfen.
Anatomie und Physiologie verlor ich dieses Jahr fast nicht aus den Augen. Hofrat Loder demonstrierte das menschliche Gehirn einem kleinen Freundeszirkel, hergebrachterweise, in Schichten von oben herein, mit seiner ihn auszeichnenden Klarheit. Die Camperschen Arbeiten wurden mit demselben durchgesehen und durchgedacht.
Sömmerrings Versuch, dem eigentlichen Sitz der Seele näher nachzuspüren, veranlaßte nicht wenige Beobachtung, Nachdenken und Prüfung.
Brandis in Braunschweig zeigte sich in Naturbetrachtungen geistreich und belebend; auch er, wie wir, versuchte sich an den schwersten Problemen.
Seit jener Epoche, wo man sich in Deutschland über den Mißbrauch der Genialität zu beklagen anfing, drängten sich freilich von Zeit zu Zeit auffallend verrückte Menschen heran. Da nun ihr Bestreben in einer dunkeln, düstern Region versierte und gewöhnlich die Energie des Handelns ein günstiges Vorurteil und die Hoffnung erregt, sie werde sich von einiger Vernünftigkeit wenigstens im Verfolg doch leiten lassen, so versagte man solchen Personen seinen Anteil nicht, bis sie denn zuletzt entweder selbst verzweifelten oder uns zur Verzweiflung brachten.
Ein solcher war von Bielefeld, der sich den Cimbrier nannte, eine physisch glühende Natur, mit einer gewissen Einbildungskraft begabt, die aber ganz in hohlen Räumen sich erging. Klopstocks Patriotismus und Messianismus hatten ihn ganz erfüllt, ihm Gestalten und Gesinnungen geliefert, mit denen er denn nach wilder und wüster Weise gutherzig gebarte. Sein großes Geschäft war ein Gedicht vom Jüngsten Tage, wo sich denn wohl begreifen läßt, daß ich solchen apokalyptischen Ereignissen, energumenisch vorgetragen, keinen besonderen Geschmack abgewinnen konnte. Ich suchte ihn abzulehnen, da er, jede Warnung ausschlagend, auf seinen seltsamen Wegen verharrte. So trieb er es in Jena eine Zeitlang zu Beängstigung guter, vernünftiger Gesellen und wohlwollender Gönner, bis er endlich bei immer vermehrtem Wahnsinn sich zum Fenster herausstürzte und seinem unglücklichen Leben dadurch ein Ende machte.
Auch taten sich in Staatsverhältnissen hiernächst die Folgen einer jugendlichen Gutmütigkeit hervor, die ein bedeutendes Vertrauen auf einen Unwürdigen niedergelegt hatte. Die deshalb entstandenen Prozesse wurden diesseits von einsichtsvollen Männern mit großer Gewandtheit einem glücklichen Ausgang entgegengeführt. Indessen beunruhigte eine solche Bewegung unsre geselligen Kreise, indem nahverwandte, sonst tüchtig denkende, auch uns verbundene Personen Ungerechtigkeit und Härte sahen, wo wir nur eine stetige Verfolgung eines unerläßlichen Rechtsgangs zu erblicken glaubten. Die freundlichsten, zartesten Reklamationen von jener Seite hinderten zwar den Geschäftsgang nicht, allein bedauerlich war es, die schönsten Verhältnisse beinahe zerstört zu sehen.
1796
Die weimarische Bühne war nun schon so besetzt und befestigt, daß es in diesem Jahre keiner neuen Schauspieler bedurfte. Zum größten Vorteil derselben trat Iffland im März und April vierzehnmal auf. Außer einem solchen belehrenden, hinreißenden, unschätzbaren Beispiele wurden diese Vorstellungen bedeutender Stücke Grund eines dauerhaften Repertoriums und ein Anlaß, das Wünschenswerte näher zu kennen. Schiller, der an dem Vorhandenen immer festhielt, redigierte zu diesem Zweck den »Egmont«, der zum Schluß der Ifflandischen Gastrollen gegeben ward, ungefähr wie er noch auf deutschen Bühnen vorgestellt wird.
Überhaupt finden sich hier, rücksichtlich auf das deutsche Theater, die merkwürdigsten Anfänge. Schiller, der schon in seinem »Carlos« sich einer gewissen Mäßigkeit befliß und durch Redaktion dieses Stücks fürs Theater zu einer beschränkteren Form gewöhnte, hatte nun den Gegenstand von »Wallenstein« aufgefaßt und den grenzenlosen Stoff in der »Geschichte des Dreißigjährigen Kriegs« dergestalt behandelt, daß er sich als Herrn dieser Masse gar wohl empfinden mochte. Aber eben durch diese Fülle ward eine strengere Behandlung peinlich, wovon ich Zeuge sein konnte, weil er sich über alles, was er dichterisch vorhatte, mit andern gern besprach und, was zu tun sein mochte, hin und wider überlegte.
Bei dem unablässigen Tun und Treiben, was zwischen uns stattfand, bei der entschiedenen Lust, das Theater kräftig zu beleben, ward ich angeregt, den »Faust« wieder hervorzunehmen; allein, was ich auch tat, ich entfernte ihn mehr vom Theater, als daß ich ihn herangebracht hätte.
Die »Horen« gingen indessen fort, mein Anteil blieb derselbige; doch hatte Schillers grenzenlose Tätigkeit den Gedanken eines Musenalmanachs gefaßt, einer poetischen Sammlung, die jener meist prosaischen vorteilhaft zur Seite stehen könnte. Auch hier war ihm das Zutrauen seiner Landsleute günstig. Die guten, strebsamen Köpfe neigten sich zu ihm. Er schickte sich übrigens trefflich zu einem solchen Redakteur; den innern Wert eines Gedichts übersah er gleich, und wenn der Verfasser sich zu weitläuftig ausgetan hatte oder nicht endigen konnte, wußte er das Überflüssige schnell auszusondern. Ich sah ihn wohl ein Gedicht auf ein Dritteil Strophen reduzieren, wodurch es wirklich brauchbar ward, ja bedeutend.
Ich selbst ward seiner Aufmunterung viel schuldig, wovon die »Horen« und Almanache vollgültiges Zeugnis abgeben. »Alexis und Dora«, »Braut von Korinth«, »Gott und Bajadere« wurden hier ausgeführt oder entworfen. Die »Xenien«, die aus unschuldigen, ja gleichgültigen Anfängen sich nach und nach, zum Herbsten und Schärfsten hinaufsteigerten, unterhielten uns viele Monate und machten, als der Almanach erschien, noch in diesem Jahre die größte Bewegung und Erschütterung in der deutschen Literatur. Sie wurden, als höchster Mißbrauch der Preßfreiheit, von dem Publikum verdammt. Die Wirkung aber bleibt unberechenbar.
Einer höchst lieb und werten, aber auch schwer lastenden Bürde entledigte ich mich gegen Ende Augusts. Die Reinschrift des letzten Buches von »Wilhelm Meister« ging endlich ab an den Verleger. Seit sechs Jahren hatte ich Ernst gemacht, diese frühe Konzeption auszubilden, zurechtzustellen und dem Drucke nach und nach zu übergeben. Es bleibt daher dieses eine der inkalkulabelsten Produktionen, man mag sie im ganzen oder in ihren Teilen betrachten; ja um sie zu beurteilen, fehlt mir beinahe selbst der Maßstab.
Kaum aber hatte ich mich durch sukzessive Herausgabe davon befreit, als ich mir eine neue Last auflegte, die jedoch leichter zu tragen oder vielmehr keine Last war, weil sie gewisse Vorstellungen, Gefühle, Begriffe der Zeit auszusprechen Gelegenheit gab. Der Plan von »Hermann und Dorothea« war gleichzeitig mit den Tagesläuften ausgedacht und ent wickelt, die Ausführung ward während des Septembers begonnen und vollbracht, so daß sie Freunden schon produziert werden konnte. Mit Leichtigkeit und Behagen war das Gedicht geschrieben, und es teilte diese Empfindungen mit. Mich selbst hatte Gegenstand und Ausführung dergestalt durchdrungen, daß ich das Gedicht niemals ohne große Rührung vorlesen konnte, und dieselbe Wirkung ist mir seit so viel Jahren noch immer geblieben.
Freund Meyer schrieb fleißig aus Italien gewichtige Blätter. Meine Vorbereitung, ihm zu folgen, nötigte mich zu mannigfaltigen Studien, deren Aktenstücke mir noch gegenwärtig vielen Nutzen bringen. Als ich mich in die Kunstgeschichte von Florenz einarbeitete, ward mir Cellini wichtig, und ich faßte, um mich dort recht einzubürgern, gern den Entschluß, seine Selbstbiographie zu übersetzen, besonders weil sie Schillern zu den »Horen« brauchbar schien.
Auch die Naturwissenschaften gingen nicht leer aus. Den Sommer über fand ich die schönste Gelegenheit, Pflanzen unter farbigen Gläsern und ganz im Finstern zu erziehen sowie die Metamorphose der Insekten in ihren Einzelnheiten zu verfolgen.
Galvanismus und Chemismus drängten sich auf; die Chromatik ward zwischen allem durch getrieben; und um mir den großen Vorteil der Vergegenwärtigung zu gewähren, fand sich eine edle Gesellschaft, welche Vorträge dieser Art gern anhören mochte.
Im Auswärtigen beharrt Kursachsen auf seiner Anhänglichkeit an Kaiser und Reich und will in diesem Sinne sein Kontingent marschieren lassen. Auch unsere Mannschaft rüstet sich; die Kosten hierzu geben manches zu bedenken.
Im großen Weltwesen ereignet sich, daß die hinterbliebene Tochter Ludwigs XVI., Prinzessin Marie Theresie Charlotte, bisher in den Händen der Republikaner, gegen gefangene französische Generale ausgewechselt wird, ingleichen daß der Papst seinen Waffenstillstand teuer erkauft.
Die Österreicher gehen über die Lahn zurück, bestehen bei Annäherung der Franzosen auf dem Besitz von Frankfurt, die Stadt wird bombardiert, die Judengasse zum Teil verbrannt, sonst wenig geschadet, worauf denn die Übergabe erfolgt. Meine gute Mutter in ihrem schönen neuen Quartiere an der Hauptwache hat gerade, die Zeil hinaufschauend, den bedrohten und beschädigten Teil vor Augen; sie rettet ihre Habseligkeiten in feuerfeste Keller und flüchtet über die freigelassene Mainbrücke nach Offenbach. Ihr Brief deshalb verdient beigelegt zu werden.
Der Kurfürst von Mainz geht nach Heiligenstadt, der Aufenthalt des Landgrafen von Darmstadt bleibt einige Zeit unbekannt, die Frankfurter flüchten, meine Mutter hält aus. Wir leben in einer eingeschläferten Furchtsamkeit. In den Rhein – und Maingegenden fortwährende Unruhen und Flucht. Frau von Coudenhoven verweilt in Eisenach, und so durch Flüchtlinge, Briefe, Boten, Stafetten strömt der Kriegsalarm ein und das andere Mal bis zu uns; doch bestätigt sich nach und nach die Hoffnung, daß wir in dem Augenblicke nichts zu fürchten haben, und wir halten uns für geborgen.
Der König von Preußen, bei einiger Veranlassung, schreibt von Pyrmont an den Herzog, mit diplomatischer Gewandtheit den Beitritt zur Neutralität vorbereitend und den Schritt erleichternd. Furcht, Sorge, Verwirrung dauert fort; endlich erklärt sich Kursachsen zur Neutralität, erst vorläufig, dann entschieden; die Verhandlungen deshalb mit Preußen werden auch uns bekannt.
Doch kaum scheinen wir durch solche Sicherheit beruhigt, so gewinnen die Österreicher abermals die Oberhand. Moreau zieht sich zurück, alle königisch Gesinnten bedauern die Übereilung, zu der man sich hatte hinreißen lassen; die Gerüchte vermehren sich zum Nachteil der Franzosen, Moreau wird zur Seite verfolgt und beobachtet, schon sagt man ihn eingeschlossen; auch Jourdan zieht sich zurück, und man ist in Verzweiflung, daß man sich allzu frühzeitig gerettet habe.
Eine Gesellschaft hochgebildeter Männer, welche sich jeden Freitag bei mir versammelten, bestätigte sich mehr und mehr. Ich las einen Gesang der »Ilias« von Voß, erwarb mir Beifall, dem Gedicht hohen Anteil, rühmliches Anerkennen dem Übersetzer. Ein jedes Mitglied gab von seinen Geschäften, Arbeiten, Liebhaberein beliebige Kenntnis, mit freimütigem Anteil aufgenommen. Dr. Buchholz fuhr fort, die neusten physischchemischen Erfahrungen mit Gewandtheit und Glück vorzulegen. Nichts war ausgeschlossen, und das Gefühl der Teilhaber, welches Fremde sogar in sich aufnahmen, hielt von selbst alles ab, was einigermaßen hätte lästig sein können. Akademische Lehrer gesellten sich hinzu, und wie fruchtbar diese Anstalt selbst für die Universität geworden, geht aus dem einzigen Beispiel schon genugsam hervor, daß der Herzog, der in einer solchen Sitzung eine Vorlesung des Dr. Christian Wilhelm Hufeland angehört, sogleich beschloß, ihm eine Professur in Jena zu erteilen, wo derselbe sich durch mannigfache Tätigkeit zu einem immer zunehmenden Wirkungskreise vorzubereiten wußte.
Diese Sozietät war in dem Grade reguliert, daß meine Abwesenheit zu keiner Störung Anlaß gab, vielmehr übernahm Geheimerat Voigt die Leitung, und wir hatten uns mehrere Jahre der Folgen einer gemeinsam geregelten Tätigkeit zu erfreuen.
Und so sahen wir denn auch unsern trefflichen Batsch dieses Jahr in tätiger Zufriedenheit. Der edle, reine, aus sich selbst arbeitende Mann bedurfte, gleich einer saftigen Pflanze, weder vieles Erdreich noch starke Bewässerung, da er die Fähigkeit besaß, aus der Atmosphäre sich die besten Nahrungsstoffe zuzueignen.
Von diesem schönen stillen Wirken zeugen noch heut seine Schreiben und Berichte, wie er sich an seinem mäßigen Glashause begnügt und durch das allgemeine Zutrauen gleichzeitiger Naturforscher die Achtung seiner Sozietät wachsen und ihren Besitz sich erweitern sieht; wie er denn auch bei solchen Gelegenheiten seine Vorsätze vertraulich mitteilte, nicht weniger seine Hoffnungen mit bescheidener Zuversicht vortrug.