Neuntes Buch

»Das Herz wird ferner öfters zum Vorteil verschiedener, besonders geselliger und feiner Tugenden gerührt und die zarteren Empfindungen werden in ihm erregt und entwickelt werden. Besonders werden sich viele Züge eindrücken, welche dem jungen Leser eine Einsicht in den verborgenern Winkel des menschlichen Herzens und seiner Leidenschaften geben, eine Kenntnis, die mehr als alles Latein und Griechisch wert ist, und von welcher Ovid ein gar vortrefflicher Meister war. Aber dies ist es noch nicht, warum man eigentlich der Jugend die alten Dichter, und also auch den Ovid, in die Hände gibt. Wir haben von dem gütigen Schöpfer eine Menge Seelenkräfte, welchen man ihre gehörige Kultur, und zwar in den ersten Jahren gleich, zu geben nicht verabsäumen muß, und die man doch weder mit Logik noch Metaphysik, Latein oder Griechisch kultivieren kann: wir haben eine Einbildungskraft, der wir, wofern sie sich nicht der ersten besten Vorstellungen selbst bemächtigen soll, die schicklichsten und schönsten Bilder vorlegen und dadurch das Gemüt gewöhnen und üben müssen, das Schöne überall und in der Natur selbst, unter seinen bestimmten, wahren und auch in den feineren Zügen zu erkennen und zu lieben. Wir haben eine Menge Begriffe und allgemeine Kenntnisse nötig, sowohl für die Wissenschaften als für das tägliche Leben, die sich in keinem Kompendio erlernen lassen. Unsere Empfindungen, Neigungen, Leidenschaften sollen mit Vorteil entwickelt und gereinigt werden.«

Diese bedeutende Stelle, welche sich in der »Allgemeinen deutschen Bibliothek« vorfand, war nicht die einzige in ihrer Art. Von gar vielen Seiten her offenbarten sich ähnliche Grundsätze und gleiche Gesinnungen. Sie machten auf uns rege Jünglinge sehr großen Eindruck, der um desto entschiedener wirkte, als er durch Wielands Beispiel noch verstärkt wurde: denn die Werke seiner zweiten, glänzenden Epoche bewiesen klärlich, daß er sich nach solchen Maximen gebildet hatte. Und was konnten wir mehr verlangen? Die Philosophie mit ihren abstrusen Forderungen war beseitigt, die alten Sprachen, deren Erlernung mit so viel Mühseligkeit verknüpft ist, sah man in den Hintergrund gerückt, die Kompendien, über deren Zulänglichkeit uns Hamlet schon ein bedenkliches Wort ins Ohr geraunt hatte, wurden immer verdächtiger, man wies uns auf die Betrachtung eines bewegten Lebens hin, das wir so gerne führten, und auf die Kenntnis der Leidenschaften, die wir in unserem Busen teils empfanden, teils ahndeten, und die, wenn man sie sonst gescholten hatte, uns nunmehr als etwas Wichtiges und Würdiges vorkommen mußten, weil sie der Hauptgegenstand unserer Studien sein sollten, und die Kenntnis derselben als das vorzüglichste Bildungsmittel unserer Geisteskräfte angerühmt ward. Überdies war eine solche Denkweise meiner eignen Überzeugung, ja meinem poetischen Tun und Treiben ganz angemessen. Ich fügte mich daher ohne Widerstreben, nachdem ich so manchen guten Vorsatz vereitelt, so manche redliche Hoffnung verschwinden sehn, in die Absicht meines Vaters, mich nach Straßburg zu schicken, wo man mir ein heiteres lustiges Leben versprach, indessen ich meine Studien weiter fortsetzen und am Ende promovieren sollte.

Im Frühjahr fühlte ich meine Gesundheit, noch mehr aber meinen jugendlichen Mut wieder hergestellt, und sehnte mich abermals aus meinem väterlichen Hause, obgleich aus ganz andern Ursachen als das erstemal: denn es waren mir diese hübschen Zimmer und Räume, wo ich so viel gelitten hatte, unerfreulich geworden, und mit dem Vater selbst konnte sich kein angenehmes Verhältnis anknüpfen; ich konnte ihm nicht ganz verzeihen, daß er, bei den Rezidiven meiner Krankheit und bei dem langsamen Genesen, mehr Ungeduld als billig sehen lassen, ja daß er, anstatt durch Nachsicht mich zu trösten, sich oft auf eine grausame Weise über das, was in keines Menschen Hand lag, geäußert, als wenn es nur vom Willen abhinge. Aber auch er ward auf mancherlei Weise durch mich verletzt und beleidigt.

Denn junge Leute bringen von Akademien allgemeine Begriffe zurück, welches zwar ganz recht und gut ist; allein weil sie sich darin sehr weise dünken, so legen sie solche als Maßstab an die vorkommenden Gegenstände, welche denn meistens dabei verlieren müssen. So hatte ich von der Baukunst, der Einrichtung und Verzierung der Häuser eine allgemeine Vorstellung gewonnen, und wendete diese nun unvorsichtig im Gespräch auf unser eigen Haus an. Mein Vater hatte die ganze Einrichtung ersonnen und den Bau mit großer Standhaftigkeit durchgeführt, und es ließ sich auch, insofern es eine Wohnung für ihn und seine Familie ausschließlich sein sollte, nichts dagegen einwenden; auch waren in diesem Sinne sehr viele Häuser von Frankfurt gebaut. Die Treppe ging frei hinauf und berührte große Vorsäle, die selbst recht gut hätten Zimmer sein können; wie wir denn auch die gute Jahreszeit immer daselbst zubrachten. Allein dieses anmutige heitere Dasein einer einzelnen Familie, diese Kommunikation von oben bis unten ward zur größten Unbequemlichkeit, sobald mehrere Partien das Haus bewohnten, wie wir bei Gelegenheit der französischen Einquartierung nur zu sehr erfahren hatten. Denn jene ängstliche Szene mit dem Königslieutenant wäre nicht vorgefallen, ja mein Vater hätte weniger von allen Unannehmlichkeiten empfunden, wenn unsere Treppe, nach der Leipziger Art, an die Seite gedrängt, und jedem Stockwerk eine abgeschlossene Türe zugeteilt gewesen wäre. Diese Bauart rühmte ich einst höchlich und setzte ihre Vorteile heraus, zeigte dem Vater die Möglichkeit, auch seine Treppe zu verlegen, worüber er in einen unglaublichen Zorn geriet, der um so heftiger war, als ich kurz vorher einige schnörkelhafte Spiegelrahmen getadelt und gewisse chinesische Tapeten verworfen hatte. Es gab eine Szene, welche, zwar wieder getuscht und ausgeglichen, doch meine Reise nach dem schönen Elsaß beschleunigte, die ich denn auch, auf der neu eingerichteten bequemen Diligence, ohne Aufenthalt und in kurzer Zeit vollbrachte.

Ich war im Wirtshaus »Zum Geist« abgestiegen und eilte sogleich, das sehnlichste Verlangen zu befriedigen und mich dem Münster zu nähern, welcher durch Mitreisende mir schon lange gezeigt und eine ganze Strecke her im Auge geblieben war. Als ich nun erst durch die schmale Gasse diesen Koloß gewahrte, sodann aber auf dem freilich sehr engen Platz allzu nah vor ihm stand, machte derselbe auf mich einen Eindruck ganz eigner Art, den ich aber, auf der Stelle zu entwickeln unfähig, für diesmal nur dunkel mit mir nahm, indem ich das Gebäude eilig bestieg, um nicht den schönen Augenblick einer hohen und heitern Sonne zu versäumen, welche mir das weite reiche Land auf einmal offenbaren sollte.

Und so sah ich denn von der Plattform die schöne Gegend vor mir, in welcher ich eine Zeitlang wohnen und hausen durfte: die ansehnliche Stadt, die weitumherliegenden, mit herrlichen dichten Bäumen besetzten und durchflochtenen Auen, diesen auffallenden Reichtum der Vegetation, der, dem Laufe des Rheins folgend, die Ufer, Inseln und Werder bezeichnet. Nicht weniger mit mannigfaltigem Grün geschmückt ist der von Süden herab sich ziehende flache Grund, welchen die Iller bewässert; selbst westwärts, nach dem Gebirge zu, finden sich manche Niederungen, die einen ebenso reizenden Anblick von Wald und Wiesenwuchs gewähren, so wie der nördliche mehr hügelige Teil von unendlichen kleinen Bächen durchschnitten ist, die überall ein schnelles Wachstum begünstigen. Denkt man sich nun zwischen diesen üppig ausgestreckten Matten, zwischen diesen fröhlich ausgesäeten Hainen alles zum Fruchtbau schickliche Land trefflich bearbeitet, grünend und reifend, und die besten und reichsten Stellen desselben durch Dörfer und Meierhöfe bezeichnet, und eine solche große und unübersehliche, wie ein neues Paradies für den Menschen recht vorbereitete Fläche näher und ferner von teils angebauten, teils waldbewachsenen Bergen begrenzt; so wird man das Entzücken begreifen, mit dem ich mein Schicksal segnete, das mir für einige Zeit einen so schönen Wohnplatz bestimmt hatte.

Ein solcher frischer Anblick in ein neues Land, in welchem wir uns eine Zeitlang aufhalten sollen, hat noch das Eigne, so Angenehme als Ahndungsvolle, daß das Ganze wie eine unbeschriebene Tafel vor uns liegt. Noch sind keine Leiden und Freuden, die sich auf uns beziehen, darauf verzeichnet; diese heitre, bunte, belebte Fläche ist noch stumm für uns; das Auge haftet nur an den Gegenständen, insofern sie an und für sich bedeutend sind, und noch haben weder Neigung noch Leidenschaft diese oder jene Stelle besonders herauszuheben; aber eine Ahndung dessen, was kommen wird, beunruhigt schon das junge Herz, und ein unbefriedigtes Bedürfnis fordert im stillen dasjenige, was kommen soll und mag, und welches auf alle Fälle, es sei nun Wohl oder Weh, unmerklich den Charakter der Gegend, in der wir uns befinden, annehmen wird.

Herabgestiegen von der Höhe, verweilte ich noch eine Zeitlang vor dem Angesicht des ehrwürdigen Gebäudes; aber was ich mir weder das erstemal noch in der nächsten Zeit ganz deutlich machen konnte, war, daß ich dieses Wunderwerk als ein Ungeheures gewahrte, das mich hätte erschrecken müssen, wenn es mir nicht zugleich als ein Geregeltes faßlich und als ein Ausgearbeitetes sogar angenehm vorgekommen wäre. Ich beschäftigte mich doch keineswegs, diesem Widerspruch nachzudenken, sondern ließ ein so erstaunliches Denkmal durch seine Gegenwart ruhig auf mich fortwirken.

Ich bezog ein kleines, aber wohlgelegenes und anmutiges Quartier an der Sommerseite des Fischmarkts, einer schönen langen Straße, wo immerwährende Bewegung jedem unbeschäftigten Augenblick zu Hülfe kam. Dann gab ich meine Empfehlungsschreiben ab, und fand unter meinen Gönnern einen Handelsmann, der mit seiner Familie jenen frommen, mir genugsam bekannten Gesinnungen ergeben war, ob er sich gleich, was den äußeren Gottesdienst betrifft, nicht von der Kirche getrennt hatte. Er war dabei ein verständiger Mann und keineswegs kopfhängerisch in seinem Tun und Lassen. Die Tischgesellschaft, die man mir und der man mich empfahl, war sehr angenehm und unterhaltend. Ein paar alte Jungfrauen hatten diese Pension schon lange mit Ordnung und gutem Erfolg geführt; es konnten ungefähr zehen Personen sein, ältere und jüngere. Von diesen letztern ist mir am gegenwärtigsten einer, genannt Meyer, von Lindau gebürtig. Man hätte ihn, seiner Gestalt und seinem Gesicht nach, für den schönsten Menschen halten können, wenn er nicht zugleich etwas Schlottriges in seinem ganzen Wesen gehabt hätte. Ebenso wurden seine herrlichen Naturgaben durch einen unglaublichen Leichtsinn, und sein köstliches Gemüt durch eine unbändige Liederlichkeit verunstaltet. Er hatte ein mehr rundes als ovales, offnes, frohes Gesicht; die Werkzeuge der Sinne, Augen, Nase, Mund, Ohren, konnte man reich nennen, sie zeugten von einer entschiedenen Fülle, ohne übertrieben groß zu sein. Der Mund besonders war allerliebst durch übergeschlagene Lippen, und seiner ganzen Physiognomie gab es einen eigenen Ausdruck, daß er ein Rätzel war, d.h. daß seine Augenbrauen über der Nase zusammenstießen, welches bei einem schönen Gesichte immer einen angenehmen Ausdruck von Sinnlichkeit hervorbringt. Durch Jovialität, Aufrichtigkeit und Gutmütigkeit machte er sich bei allen Menschen beliebt; sein Gedächtnis war unglaublich, die Aufmerksamkeit in den Kollegien kostete ihm nichts; er behielt alles, was er hörte, und war geistreich genug, an allem einiges Interesse zu finden, und um so leichter, da er Medizin studierte. Alle Eindrücke blieben ihm lebhaft, und sein Mutwille in Wiederholung der Kollegien und Nachäffen der Professoren ging manchmal so weit, daß, wenn er drei verschiedene Stunden des Morgens gehört hatte, er mittags bei Tische paragraphenweis, ja manchmal noch abgebrochener, die Professoren mit einander abwechseln ließ: welche buntscheckige Vorlesung uns oft unterhielt, oft aber auch beschwerlich fiel.

Die übrigen waren mehr oder weniger feine, gesetzte, ernsthafte Leute. Ein pensionierter Ludwigsritter befand sich unter denselben; doch waren Studierende die Überzahl, alle wirklich gut und wohlgesinnt, nur mußten sie ihr gewöhnliches Weindeputat nicht überschreiten. Daß dieses nicht leicht geschah, war die Sorge unseres Präsidenten, eines Doktor Salzmann. Schon in den Sechzigen, unverheuratet, hatte er diesen Mittagstisch seit vielen Jahren besucht und in Ordnung und Ansehen erhalten. Er besaß ein schönes Vermögen; in seinem Äußeren hielt er sich knapp und nett, ja er gehörte zu denen, die immer in Schuh und Strümpfen und den Hut unter dem Arm gehen. Den Hut aufzusetzen, war bei ihm eine außerordentliche Handlung. Einen Regenschirm führte er gewöhnlich mit sich, wohl eingedenk, daß die schönsten Sommertage oft Gewitter und Streifschauer über das Land bringen.

Mit diesem Manne beredete ich meinen Vorsatz, mich hier in Straßburg der Rechtswissenschaft ferner zu befleißigen, um baldmöglichst promovieren zu können. Da er von allem genau unterrichtet war, so befragte ich ihn über die Kollegia, die ich zu hören hätte, und was er allenfalls von der Sache denke? Darauf erwiderte er mir, daß es sich in Straßburg nicht etwa wie auf deutschen Akademien verhalte, wo man wohl Juristen im weiten und gelehrten Sinne zu bilden suche. Hier sei alles, dem Verhältnis gegen Frankreich gemäß, eigentlich auf das Praktische gerichtet und nach dem Sinne der Franzosen eingeleitet, welche gern bei dem Gegebnen verharren. Gewisse allgemeine Grundsätze, gewisse Vorkenntnisse suche man einem jeden beizubringen, man fasse sich so kurz wie möglich und überliefere nur das Notwendigste. Er machte mich darauf mit einem Manne bekannt, zu dem man, als Repetenten, ein großes Vertrauen hegte; welches dieser sich auch bei mir sehr bald zu erwerben wußte. Ich fing an, mit ihm zur Einleitung über Gegenstände der Rechtswissenschaft zu sprechen, und er wunderte sich nicht wenig über mein Schwadronieren: denn mehr, als ich in meiner bisherigen Darstellung aufzuführen Gelegenheit nahm, hatte ich bei meinem Aufenthalte in Leipzig an Einsicht in die Rechtserfordernisse gewonnen, obgleich mein ganzer Erwerb nur als ein allgemeiner enzyklopädischer Überblick, und nicht als eigentliche bestimmte Kenntnis gelten konnte. Das akademische Leben, wenn wir uns auch bei demselben des eigentlichen Fleißes nicht zu rühmen haben, gewährt doch in jeder Art von Ausbildung unendliche Vorteile, weil wir stets von Menschen umgeben sind, welche die Wissenschaft besitzen oder suchen, so daß wir aus einer solchen Atmosphäre, wenn auch unbewußt, immer einige Nahrung ziehen.

Mein Repetent, nachdem er mit meinem Umhervagieren im Diskurse einige Zeit Geduld gehabt, machte mir zuletzt begreiflich, daß ich vor allen Dingen meine nächste Absicht im Auge behalten müsse, die nämlich, mich examinieren zu lassen, zu promovieren und alsdann allenfalls in die Praxis überzugehen. »Um bei dem ersten stehen zu bleiben«, sagte er, »so wird die Sache keineswegs im Weiten gesucht. Es wird nicht nachgefragt, wie und wo ein Gesetz entsprungen, was die innere oder äußere Veranlassung dazu gegeben; man untersucht nicht, wie es sich durch Zeit und Gewohnheit abgeändert, so wenig als inwiefern es sich durch falsche Auslegung oder verkehrten Gerichtsbrauch vielleicht gar umgewendet. In solchen Forschungen bringen gelehrte Männer ganz eigens ihr Leben zu; wir aber fragen nach dem, was gegenwärtig besteht, dies prägen wir unserm Gedächtnis fest ein, daß es uns stets gegenwärtig sei, wenn wir uns dessen zu Nutz und Schutz unsrer Klienten bedienen wollen. So statten wir unsre jungen Leute fürs nächste Leben aus, und das Weitere findet sich nach Verhältnis ihrer Talente und ihrer Tätigkeit.« Er übergab mir hierauf seine Hefte, welche in Fragen und Antworten geschrieben waren und woraus ich mich sogleich ziemlich konnte examinieren lassen, weil Hoppes kleiner juristischer Katechismus mir noch vollkommen im Gedächtnis stand; das übrige supplierte ich mit einigem Fleiße und qualifizierte mich, wider meinen Willen, auf die leichteste Art zum Kandidaten.

Da mir aber auf diesem Wege jede eigne Tätigkeit in dem Studium abgeschnitten ward: denn ich hatte für nichts Positives einen Sinn, sondern wollte alles, wo nicht verständig, doch historisch erklärt haben; so fand ich für meine Kräfte einen größern Spielraum, den ich auf die wunderlichste Weise benutzte, indem ich einem Interesse nachgab, das mir zufällig von außen gebracht wurde.

Die meisten meiner Tischgenossen waren Mediziner. Diese sind, wie bekannt, die einzigen Studierenden, die sich von ihrer Wissenschaft, ihrem Metier, auch außer den Lehrstunden mit Lebhaftigkeit unterhalten. Es liegt dieses in der Natur der Sache. Die Gegenstände ihrer Bemühungen sind die sinnlichsten und zugleich die höchsten, die einfachsten und die kompliziertesten. Die Medizin beschäftigt den ganzen Menschen, weil sie sich mit dem ganzen Menschen beschäftigt. Alles, was der Jüngling lernt, deutet sogleich auf eine wichtige, zwar gefährliche, aber doch in manchem Sinn belohnende Praxis. Er wirft sich daher mit Leidenschaft auf das, was zu erkennen und zu tun ist, teils weil es ihn an sich interessiert, teils weil es ihm die frohe Aussicht von Selbständigkeit und Wohlhaben eröffnet.

Bei Tische also hörte ich nichts anderes als medizinische Gespräche, eben wie vormals in der Pension des Hofrats Ludwig. Auf Spaziergängen und bei Lustpartien kam auch nicht viel anderes zur Sprache: denn meine Tischgesellen, als gute Kumpane, waren mir auch Gesellen für die übrige Zeit geworden, und an sie schlossen sich jedesmal Gleichgesinnte und Gleiches Studierende von allen Seiten an. Die medizinische Fakultät glänzte überhaupt vor den übrigen, sowohl in Absicht auf die Berühmtheit der Lehrer als die Frequenz der Lernenden, und so zog mich der Strom dahin, um so leichter, als ich von allen diesen Dingen gerade so viel Kenntnis hatte, daß meine Wissenslust bald vermehrt und angefeuert werden konnte. Beim Eintritt des zweiten Semesters besuchte ich daher Chemie bei Spielmann, Anatomie bei Lobstein, und nahm mir vor, recht fleißig zu sein, weil ich bei unserer Sozietät, durch meine wunderlichen Vor- oder vielmehr Überkenntnisse, schon einiges Ansehen und Zutrauen erworben hatte.

Doch es war an dieser Zerstreuung und Zerstückelung meiner Studien nicht genug, sie sollten abermals bedeutend gestört werden: denn eine merkwürdige Staatsbegebenheit setzte alles in Bewegung und verschaffte uns eine ziemliche Reihe Feiertage. Marie Antoinette, Erzherzogin von Österreich, Königin von Frankreich, sollte auf ihrem Wege nach Paris über Straßburg gehen. Die Feierlichkeiten, durch welche das Volk aufmerksam gemacht wird, daß es Große in der Welt gibt, wurden emsig und häufig vorbereitet, und mir besonders war dabei das Gebäude merkwürdig, das zu ihrem Empfang und zur Übergabe in die Hände der Abgesandten ihres Gemahls auf einer Rheininsel zwischen den beiden Brücken aufgerichtet stand. Es war nur wenig über den Boden erhoben, hatte in der Mitte einen großen Saal, an beiden Seiten kleinere, dann folgten andere Zimmer, die sich noch etwas hinterwärts erstreckten; genug, es hätte, dauerhafter gebaut, gar wohl für ein Lusthaus hoher Personen gelten können. Was mich aber daran besonders interessierte, und weswegen ich manches Büsel (ein kleines damals kurrentes Silberstück) nicht schonte, um mir von dem Pförtner einen wiederholten Eintritt zu verschaffen, waren die gewirkten Tapeten, mit denen man das Ganze inwendig ausgeschlagen hatte. Hier sah ich zum erstenmal ein Exemplar jener nach Raffaels Kartonen gewirkten Teppiche, und dieser Anblick war für mich von ganz entschiedener Wirkung, indem ich das Rechte und Vollkommene, obgleich nur nachgebildet, in Masse kennen lernte. Ich ging und kam und kam und ging, und konnte mich nicht satt sehen; ja ein vergebliches Streben quälte mich, weil ich das, was mich so außerordentlich ansprach, auch gern begriffen hätte. Höchst erfreulich und erquicklich fand ich diese Nebensäle, desto schrecklicher aber den Hauptsaal. Diesen hatte man mit viel größern, glänzendern, reichern und von gedrängten Zieraten umgebenen Hautelissen behängt, die nach Gemälden neuerer Franzosen gewirkt waren.

Nun hätte ich mich wohl auch mit dieser Manier befreundet, weil meine Empfindung wie mein Urteil nicht leicht etwas völlig ausschloß; aber äußerst empörte mich der Gegenstand. Diese Bilder enthielten die Geschichte von Iason, Medea und Kreusa, und also ein Beispiel der unglücklichsten Heirat. Zur Linken des Throns sah man die mit dem grausamsten Tode ringende Braut, umgeben von jammervollen Teilnehmenden; zur Rechten entsetzte sich der Vater über die ermordeten Kinder zu seinen Füßen; während die Furie auf dem Drachenwagen in die Luft zog. Und damit ja dem Grausamen und Abscheulichen nicht auch ein Abgeschmacktes fehle, so ringelte sich, hinter dem roten Samt des goldgestickten Thronrückens, rechter Hand der weiße Schweif jenes Zauberstiers hervor, inzwischen die feuerspeiende Bestie selbst und der sie bekämpfende Iason von jener kostbaren Draperie gänzlich bedeckt waren.

Hier nun wurden alle Maximen, welche ich in Oesers Schule mir zu eigen gemacht, in meinem Busen rege. Daß man Christum und die Apostel in die Seitensäle eines Hochzeitgebäudes gebracht, war schon ohne Wahl und Einsicht geschehen, und ohne Zweifel hatte das Maß der Zimmer den königlichen Teppichverwahrer geleitet; allein das verzieh ich gern, weil es mir zu so großem Vorteil gereichte: nun aber ein Mißgriff wie der im großen Saale brachte mich ganz aus der Fassung, und ich forderte, lebhaft und heftig, meine Gefährten zu Zeugen auf eines solchen Verbrechens gegen Geschmack und Gefühl. – »Was!« rief ich aus, ohne mich um die Umstehenden zu bekümmern; »ist es erlaubt, einer jungen Königin das Beispiel der gräßlichsten Hochzeit, die vielleicht jemals vollzogen worden, bei dem ersten Schritt in ihr Land so unbesonnen vors Auge zu bringen! Gibt es denn unter den französischen Architekten, Dekorateuren, Tapezierern gar keinen Menschen, der begreift, daß Bilder etwas vorstellen, daß Bilder auf Sinn und Gefühl wirken, daß sie Eindrücke machen, daß sie Ahndungen erregen! Ist es doch nicht anders, als hätte man dieser schönen und, wie man hört, lebenslustigen Dame das abscheulichste Gespenst bis an die Grenze entgegengeschickt.« Ich weiß nicht, was ich noch alles weiter sagte, genug, meine Gefährten suchten mich zu beschwichtigen und aus dem Hause zu schaffen, damit es nicht Verdruß setzen möchte. Alsdann versicherten sie mir, es wäre nicht jedermanns Sache, Bedeutung in den Bildern zu suchen; ihnen wenigstens wäre nichts dabei eingefallen, und auf dergleichen Grillen würde die ganze Population Straßburgs und der Gegend, wie sie auch herbeiströmen sollte, so wenig als die Königin selbst mit ihrem Hofe jemals geraten.

Der schönen und vornehmen, so heitren als imposanten Miene dieser jungen Dame erinnere ich mich noch recht wohl. Sie schien in ihrem Glaswagen, uns allen vollkommen sichtbar, mit ihren Begleiterinnen in vertraulicher Unterhaltung über die Menge, die ihrem Zug entgegenströmte, zu scherzen. Abends zogen wir durch die Straßen, um die verschiedenen illuminierten Gebäude, besonders aber den brennenden Gipfel des Münsters zu sehen, an dem wir, sowohl in der Nähe als in der Ferne, unsere Augen nicht genugsam weiden konnten.

Die Königin verfolgte ihren Weg; das Landvolk verlief sich, und die Stadt war bald ruhig wie vorher. Vor Ankunft der Königin hatte man die ganz vernünftige Anordnung gemacht, daß sich keine mißgestalteten Personen, keine Krüppel und ekelhafte Kranke auf ihrem Wege zeigen sollten. Man scherzte hierüber, und ich machte ein kleines französisches Gedicht, worin ich die Ankunft Christi, welcher besonders der Kranken und Lahmen wegen auf der Welt zu wandeln schien, und die Ankunft der Königin, welche diese Unglücklichen verscheuchte, in Vergleichung brachte. Meine Freunde ließen es passieren; ein Franzose hingegen, der mit uns lebte, kritisierte sehr unbarmherzig Sprache und Versmaß, obgleich, wie es schien, nur allzu gründlich, und ich erinnere mich nicht, nachher je wieder ein französisches Gedicht gemacht zu haben.

Kaum erscholl aus der Hauptstadt die Nachricht von der glücklichen Ankunft der Königin, als eine Schreckenspost ihr folgte: bei dem festlichen Feuerwerke sei, durch ein Polizeiversehen, in einer von Baumaterialien versperrten Straße eine Unzahl Menschen mit Pferden und Wagen zu Grunde gegangen, und die Stadt bei diesen Hochzeitfeierlichkeiten in Trauer und Leid versetzt worden. Die Größe des Unglücks suchte man sowohl dem jungen königlichen Paare als der Welt zu verbergen, indem man die umgekommenen Personen heimlich begrub, so daß viele Familien nur durch das völlige Außenbleiben der Ihrigen überzeugt wurden, daß auch diese von dem schrecklichen Ereignis mit hingerafft seien. Daß mir lebhaft bei dieser Gelegenheit jene gräßlichen Bilder des Hauptsaales wieder vor die Seele traten, brauche ich kaum zu erwähnen: denn jedem ist bekannt, wie mächtig gewisse sittliche Eindrücke sind, wenn sie sich an sinnlichen gleichsam verkörpern.

Diese Begebenheit sollte jedoch auch die Meinigen durch eine Posse, die ich mir erlaubte, in Angst und Not versetzen. Unter uns jungen Leuten, die wir in Leipzig zusammen waren, hatte sich auch nachher ein gewisser Kitzel erhalten, einander etwas aufzubinden und wechselsweise zu mystifizieren. In solchem frevelhaften Mutwillen schrieb ich an einen Freund in Frankfurt (es war derselbe, der mein Gedicht an den Kuchenbäcker Hendel amplifiziert auf »Medon« angewendet und dessen allgemeine Verbreitung verursacht hatte) einen Brief von Versailles aus datiert, worin ich ihm meine glückliche Ankunft daselbst, meine Teilnahme an den Feierlichkeiten, und was dergleichen mehr war, vermeldete, ihm zugleich aber das strengste Stillschweigen gebot. Dabei muß ich noch bemerken, daß unsere kleine Leipziger Sozietät von jenem Streich an, der uns so manchen Verdruß gemacht, sich angewöhnt hatte, ihn von Zeit zu Zeit mit Mystifikationen zu verfolgen, und das um so mehr, da er der drolligste Mensch von der Welt war, und niemals liebenswürdiger, als wenn er den Irrtum entdeckte, in den man ihn vorsätzlich hineingeführt hatte. Kurz darauf, als ich diesen Brief geschrieben, machte ich eine kleine Reise und blieb wohl vierzehn Tage aus. Indessen war die Nachricht jenes Unglücks nach Frankfurt gekommen; mein Freund glaubte mich in Paris, und seine Neigung ließ ihn besorgen, ich sei in jenes Unglück mit verwickelt. Er erkundigte sich bei meinen Eltern und andern Personen, an die ich zu schreiben pflegte, ob keine Briefe angekommen, und weil eben jene Reise mich verhinderte, dergleichen abzulassen, so fehlten sie überall. Er ging in großer Angst umher und vertraute es zuletzt unsern nächsten Freunden, die sich nun in gleicher Sorge befanden. Glücklicherweise gelangte diese Vermutung nicht eher zu meinen Eltern, als bis ein Brief angekommen war, der meine Rückkehr nach Straßburg meldete. Meine jungen Freunde waren zufrieden, mich lebendig zu wissen, blieben aber völlig überzeugt, daß ich in der Zwischenzeit in Paris gewesen. Die herzlichen Nachrichten von den Sorgen, die sie um meinetwillen gehabt, rührten mich dermaßen, daß ich dergleichen Possen auf ewig verschwor, mir aber doch leider in der Folge manchmal etwas Ähnliches habe zu Schulden kommen lassen. Das wirkliche Leben verliert oft dergestalt seinen Glanz, daß man es manchmal mit dem Firnis der Fiktion wieder auffrischen muß.

Jener gewaltige Hof- und Prachtstrom war nunmehr vorübergeronnen und hatte mir keine andre Sehnsucht zurückgelassen, als nach jenen Raffaelschen Teppichen, welche ich gern jeden Tag und Stunde betrachtet, verehrt, ja angebetet hätte. Glücklicherweise gelang es meinen leidenschaftlichen Bemühungen, mehrere Personen von Bedeutung dafür zu interessieren, so daß sie erst so spät als möglich abgenommen und eingepackt wurden. Wir überließen uns nunmehr wieder unserm stillen gemächlichen Universitäts- und Gesellschaftsgang, und bei dem letzten blieb Aktuarius Salzmann, unser Tischpräsident, der allgemeine Pädagog. Sein Verstand, seine Nachgiebigkeit, seine Würde, die er bei allem Scherz und selbst manchmal bei kleinen Ausschweifungen, die er uns erlaubte, immer zu erhalten wußte, machten ihn der ganzen Gesellschaft lieb und wert, und ich wüßte nur wenige Fälle, wo er sein ernstliches Mißfallen bezeigt, oder mit Autorität zwischen kleine Händel und Streitigkeiten eingetreten wäre. Unter allen jedoch war ich derjenige, der sich am meisten an ihn anschloß, und er nicht weniger geneigt, sich mit mir zu unterhalten, weil er mich mannigfaltiger gebildet fand als die übrigen und nicht so einseitig im Urteil. Auch richtete ich mich im Äußern nach ihm, damit er mich für seinen Gesellen und Genossen öffentlich ohne Verlegenheit erklären konnte: denn ob er gleich nur eine Stelle bekleidete, die von geringem Einfluß zu sein scheint, so versah er sie doch auf eine Weise, die ihm zur größten Ehre gereichte. Er war Aktuarius beim Pupillenkollegium und hatte freilich daselbst, wie der perpetuierliche Sekretär einer Akademie, eigentlich das Heft in Händen. Indem er nun dieses Geschäft viele Jahre lang auf das genauste besorgte, so gab es keine Familie von der ersten bis zu der letzten, die ihm nicht Dank schuldig gewesen wäre; wie denn beinahe in der ganzen Staatsverwaltung kaum jemand mehr Segen oder Fluch ernten kann als einer, der für die Waisen sorgt, oder ihr Hab und Gut vergeudet, oder vergeuden läßt.

Die Straßburger sind leidenschaftliche Spaziergänger, und sie haben wohl recht, es zu sein. Man mag seine Schritte hinwenden, wohin man will, so findet man teils natürliche, teils in alten und neuern Zeiten künstlich angelegte Lustörter, einen wie den andern besucht und von einem heitern lustigen Völkchen genossen. Was aber hier den Anblick einer großen Masse Spazierender noch erfreulicher machte als an andern Orten, war die verschiedene Tracht des weiblichen Geschlechts. Die Mittelklasse der Bürgermädchen behielt noch die aufgewundenen, mit einer großen Nadel festgesteckten Zöpfe bei; nicht weniger eine gewisse knappe Kleidungsart, woran jede Schleppe ein Mißstand gewesen wäre; und was das Angenehme war, diese Tracht schnitt sich nicht mit den Ständen scharf ab: denn es gab noch einige wohlhabende vornehme Häuser, welche den Töchtern sich von diesem Kostüm zu entfernen nicht erlauben wollten. Die übrigen gingen französisch, und diese Partie machte jedes Jahr einige Proselyten. Salzmann hatte viel Bekanntschaften und überall Zutritt; eine große Annehmlichkeit für seinen Begleitenden, besonders im Sommer, weil man überall in Gärten nah und fern gute Aufnahme, gute Gesellschaft und Erfrischung fand, auch zugleich mehr als eine Einladung zu diesem oder jenem frohen Tage erhielt. In einem solchen Falle traf ich Gelegenheit, mich einer Familie, die ich erst zum zweiten Male besuchte, sehr schnell zu empfehlen. Wir waren eingeladen und stellten uns zur bestimmten Zeit ein. Die Gesellschaft war nicht groß, einige spielten und einige spazierten wie gewöhnlich. Späterhin, als es zu Tische gehen sollte, sah ich die Wirtin und ihre Schwester lebhaft und wie in einer besondern Verlegenheit mit einander sprechen. Ich begegnete ihnen eben und sagte: »Zwar habe ich kein Recht, meine Frauenzimmer, in Ihre Geheimnisse einzudringen; vielleicht bin ich aber imstande, einen guten Rat zu geben, oder wohl gar zu dienen.« Sie eröffneten mir hierauf ihre peinliche Lage: daß sie nämlich zwölf Personen zu Tische gebeten, und in diesem Augenblick sei ein Verwandter von der Reise zurückgekommen, der nun als der Dreizehnte, wo nicht sich selbst, doch gewiß einigen der Gäste ein fatales Memento mori werden würde. – »Der Sache ist sehr leicht abzuhelfen«, versetzte ich; »Sie erlauben mir, daß ich mich entferne und mir die Entschädigung vorbehalte.« Da es Personen von Ansehen und guter Lebensart waren, so wollten sie es keinesweges zugeben, sondern schickten in der Nachbarschaft umher, um den Vierzehnten aufzufinden. Ich ließ es geschehen, doch da ich den Bedienten unverrichteter Sache zur Gartentüre hereinkommen sah, entwischte ich, und brachte meinen Abend vergnügt unter den alten Linden der Wanzenau hin. Daß mir diese Entsagung reichlich vergolten worden, war wohl eine natürliche Folge.

Eine gewisse allgemeine Geselligkeit läßt sich ohne das Kartenspiel nicht mehr denken. Salzmann erneuerte die guten Lehren der Madame Böhme, und ich war um so folgsamer, als ich wirklich eingesehen hatte, daß man sich durch diese kleine Aufopferung, wenn es ja eine sein sollte, manches Vergnügen, ja sogar eine größere Freiheit in der Sozietät verschaffen könne, als man sonst genießen würde. Das alte eingeschlafene Piquet wurde daher hervorgesucht; ich lernte Whist, richtete mir nach Anleitung meines Mentors einen Spielbeutel ein, welcher unter allen Umständen unantastbar sein sollte; und nun fand ich Gelegenheit, mit meinem Freunde die meisten Abende in den besten Zirkeln zuzubringen, wo man mir meistens wohlwollte, und manche kleine Unregelmäßigkeit verzieh, auf die mich jedoch der Freund, wiewohl milde genug, aufmerksam zu machen pflegte.

Damit ich aber dabei symbolisch erführe, wie sehr man sich auch im Äußern in die Gesellschaft zu schicken und nach ihr zu richten hat, so ward ich zu etwas genötigt, welches mir das Unangenehmste von der Welt schien. Ich hatte zwar sehr schöne Haare, aber mein Straßburger Friseur versicherte mir sogleich, daß sie viel zu tief nach hinten hin verschnitten seien und daß es ihm unmöglich werde, daraus eine Frisur zu bilden, in welcher ich mich produzieren dürfe, weil nur wenig kurze und gekrauste Vorderhaare statuiert würden, alles übrige vom Scheitel an in den Zopf oder Haarbeutel gebunden werden müsse. Hierbei bleibe nun nichts übrig, als mir eine Haartour gefallen zu lassen, bis der natürliche Wachstum sich wieder nach den Erfordernissen der Zeit hergestellt habe. Er versprach mir, daß niemand diesen unschuldigen Betrug, gegen den ich mich erst sehr ernstlich wehrte, jemals bemerken solle, wenn ich mich sogleich dazu entschließen könnte. Er hielt Wort und ich galt immer für den bestfrisierten und bestbehaarten jungen Mann. Da ich aber vom frühen Morgen an so aufgestutzt und gepudert bleiben und mich zugleich in acht nehmen mußte, nicht durch Erhitzung und heftige Bewegung den falschen Schmuck zu verraten; so trug dieser Zwang wirklich viel bei, daß ich mich eine Zeitlang ruhiger und gesitteter benahm, mir angewöhnte, mit dem Hut unterm Arm und folglich auch in Schuh und Strümpfen zu gehen; doch durfte ich nicht versäumen, feinlederne Unterstrümpfe zu tragen, um mich gegen die Rheinschnacken zu sichern, welche sich an schönen Sommerabenden über die Auen und Gärten zu verbreiten pflegen. War mir nun unter diesen Umständen eine heftige körperliche Bewegung versagt, so entfalteten sich unsere geselligen Gespräche immer lebhafter und leidenschaftlicher, ja, sie waren die interessantesten, die ich bis dahin jemals geführt hatte.

Bei meiner Art zu empfinden und zu denken kostete es mich gar nichts, einen jeden gelten zu lassen für das, was er war, ja sogar für das, was er gelten wollte, und so machte die Offenheit eines frischen jugendlichen Mutes, der sich fast zum erstenmal in seiner vollen Blüte hervortat, mir sehr viele Freunde und Anhänger. Unsere Tischgesellschaft vermehrte sich wohl auf zwanzig Personen, und weil unser Salzmann bei seiner hergebrachten Methode beharrte; so blieb alles im alten Gange, ja die Unterhaltung ward beinahe schicklicher, indem sich ein jeder vor mehreren in acht zu nehmen hatte. Unter den neuen Ankömmlingen befand sich ein Mann, der mich besonders interessierte; er hieß Jung, und ist derselbe, der nachher unter dem Namen Stilling zuerst bekannt geworden. Seine Gestalt, ungeachtet einer veralteten Kleidungsart, hatte, bei einer gewissen Derbheit, etwas Zartes. Eine Haarbeutelperücke entstellte nicht sein bedeutendes und gefälliges Gesicht. Seine Stimme war sanft, ohne weich und schwach zu sein, ja sie wurde wohltönend und stark, sobald er in Eifer geriet, welches sehr leicht geschah. Wenn man ihn näher kennen lernte, so fand man an ihm einen gesunden Menschenverstand, der auf dem Gemüt ruhte, und sich deswegen von Neigungen und Leidenschaften bestimmen ließ, und aus eben diesem Gemüt entsprang ein Enthusiasmus für das Gute, Wahre, Rechte in möglichster Reinheit. Denn der Lebensgang dieses Mannes war sehr einfach gewesen und doch gedrängt an Begebenheiten und mannigfaltiger Tätigkeit. Das Element seiner Energie war ein unverwüstlicher Glaube an Gott und an eine unmittelbar von daher fließende Hülfe, die sich in einer ununterbrochenen Vorsorge und in einer unfehlbaren Rettung aus aller Not, von jedem Übel augenscheinlich bestätige. Jung hatte dergleichen Erfahrungen in seinem Leben so viele gemacht, sie hatten sich selbst in der neuern Zeit, in Straßburg, öfters wiederholt, so daß er mit der größten Freudigkeit ein zwar mäßiges aber doch sorgloses Leben führte und seinen Studien aufs ernstlichste oblag, wiewohl er auf kein sicheres Auskommen von einem Vierteljahre zum andern rechnen konnte. In seiner Jugend, auf dem Wege Kohlenbrenner zu werden, ergriff er das Schneiderhandwerk, und nachdem er sich nebenher von höheren Dingen selbst belehrt, so trieb ihn sein lehrlustiger Sinn zu einer Schulmeisterstelle. Dieser Versuch mißlang, und er kehrte zum Handwerk zurück, von dem er jedoch zu wiederholten Malen, weil jedermann für ihn leicht Zutrauen und Neigung faßte, abgerufen ward, um abermals eine Stelle als Hauslehrer zu übernehmen. Seine innerlichste und eigentlichste Bildung aber hatte er jener ausgebreiteten Menschenart zu danken, welche auf ihre eigne Hand ihr Heil suchten, und, indem sie sich durch Lesung der Schrift und wohlgemeinter Bücher, durch wechselseitiges Ermahnen und Bekennen zu erbauen trachteten, dadurch einen Grad von Kultur erhielten, der Bewunderung erregen mußte. Denn indem das Interesse, das sie stets begleitete und das sie in Gesellschaft unterhielt, auf dem einfachsten Grunde der Sittlichkeit, des Wohlwollens und Wohltuns ruhte, auch die Abweichungen, welche bei Menschen von so beschränkten Zuständen vorkommen können, von geringer Bedeutung sind, und daher ihr Gewissen meistens rein und ihr Geist gewöhnlich heiter blieb: so entstand keine künstliche, sondern eine wahrhaft natürliche Kultur, die noch darin vor andern den Vorzug hatte, daß sie allen Altern und Ständen gemäß und ihrer Natur nach allgemein gesellig war; deshalb auch diese Personen, in ihrem Kreise, wirklich beredt und fähig waren, über alle Herzensangelegenheiten, die zartesten und tüchtigsten, sich gehörig und gefällig auszudrücken. In demselben Falle nun war der gute Jung. Unter wenigen, wenn auch nicht gerade Gleichgesinnten, doch solchen, die sich seiner Denkweise nicht abgeneigt erklärten, fand man ihn nicht allein redselig, sondern beredt; besonders erzählte er seine Lebensgeschichte auf das anmutigste, und wußte dem Zuhörer alle Zustände deutlich und lebendig zu vergegenwärtigen. Ich trieb ihn, solche aufzuschreiben, und er versprach’s. Weil er aber in seiner Art sich zu äußern einem Nachtwandler glich, den man nicht anrufen darf, wenn er nicht von seiner Höhe herabfallen, einem sanften Strom, dem man nichts entgegenstellen darf, wenn er nicht brausen soll; so mußte er sich in größerer Gesellschaft oft unbehaglich fühlen. Sein Glaube duldete keinen Zweifel und seine Überzeugung keinen Spott. Und wenn er in freundlicher Mitteilung unerschöpflich war; so stockte gleich alles bei ihm, wenn er Widerspruch erlitt. Ich half ihm in solchen Fällen gewöhnlich über, wofür er mich mit aufrichtiger Neigung belohnte. Da mir seine Sinnesweise nichts Fremdes war und ich dieselbe vielmehr an meinen besten Freunden und Freundinnen schon genau hatte kennen lernen, sie mir auch in ihrer Natürlichkeit und Naivetät überhaupt wohl zusagte; so konnte er sich mit mir durchaus am besten finden. Die Richtung seines Geistes war mir angenehm, und seinen Wunderglauben, der ihm so wohl zustatten kam, ließ ich unangetastet. Auch Salzmann betrug sich schonend gegen ihn; schonend, sage ich, weil Salzmann, seinem Charakter, Wesen, Alter und Zuständen nach, auf der Seite der vernünftigen, oder vielmehr verständigen Christen stehen und halten mußte, deren Religion eigentlich auf der Rechtschaffenheit des Charakters und auf einer männlichen Selbständigkeit beruhte, und die sich daher nicht gern mit Empfindungen, die sie leicht ins Trübe, und Schwärmerei, die sie bald ins Dunkle hätte führen können, abgaben und vermengten. Auch diese Klasse war respektabel und zahlreich; alle ehrliche tüchtige Leute verstanden sich und waren von gleicher Überzeugung sowie von gleichem Lebensgang.

Lerse, ebenmäßig unser Tischgeselle, gehörte auch zu dieser Zahl; ein vollkommen rechtlicher und bei beschränkten Glücksgütern mäßiger und genauer junger Mann. Seine Lebens- und Haushaltungsweise war die knappste, die ich unter Studierenden je kannte. Er trug sich am saubersten von uns allen, und doch erschien er immer in denselben Kleidern; aber er behandelte auch seine Garderobe mit der größten Sorgfalt, er hielt seine Umgebung reinlich, und so verlangte er auch nach seinem Beispiel alles im gemeinen Leben. Es begegnete ihm nicht, daß er sich irgendwo angelehnt oder seinen Ellbogen auf den Tisch gestemmt hätte; niemals vergaß er, seine Serviette zu zeichnen, und der Magd geriet es immer zum Unheil, wenn die Stühle nicht höchst sauber gefunden wurden. Bei allem diesen hatte er nichts Steifes in seinem Äußeren. Er sprach treuherzig, bestimmt und trocken lebhaft, wobei ein leichter ironischer Scherz ihn gar wohl kleidete. An Gestalt war er gut gebildet, schlank und von ziemlicher Größe, sein Gesicht pockennarbig und unscheinbar, seine kleinen blauen Augen heiter und durchdringend. Wenn er uns nun von so mancher Seite zu hofmeistern Ursache hatte, so ließen wir ihn auch noch außerdem für unsern Fechtmeister gelten: denn er führte ein sehr gutes Rapier, und es schien ihm Spaß zu machen, bei dieser Gelegenheit alle Pedanterie dieses Metiers an uns auszuüben. Auch profitierten wir bei ihm wirklich und mußten ihm dankbar sein für manche gesellige Stunde, die er uns in guter Bewegung und Übung verbringen hieß.

Durch alle diese Eigenschaften qualifizierte sich nun Lerse völlig zu der Stelle eines Schieds- und Kampfrichters bei allen kleinen und größern Händeln, die in unserm Kreise, wiewohl selten, vorfielen, und welche Salzmann auf seine väterliche Art nicht beschwichtigen konnte. Ohne die äußeren Formen, welche auf Akademien so viel Unheil anrichten, stellten wir eine durch Umstände und guten Willen geschlossene Gesellschaft vor, die wohl mancher andere zufällig berühren, aber sich nicht in dieselbe eindrängen konnte. Bei Beurteilung nun innerer Verdrießlichkeiten zeigte Lerse stets die größte Unparteilichkeit, und wußte, wenn der Handel nicht mehr mit Worten und Erklärungen ausgemacht werden konnte, die zu erwartende Genugtuung auf ehrenvolle Weise ins Unschädliche zu leiten. Hiezu war wirklich kein Mensch geschickter als er; auch pflegte er oft zu sagen, da ihn der Himmel weder zu einem Kriegs- noch Liebeshelden bestimmt habe, so wolle er sich, im Romanen-und Fechtersinn, mit der Rolle des Sekundanten begnügen. Da er sich nun durchaus gleich blieb und als ein rechtes Muster einer guten und beständigen Sinnesart angesehen werden konnte; so prägte sich der Begriff von ihm so tief als liebenswürdig bei mir ein, und als ich den »Götz von Berlichingen« schrieb, fühlte ich mich veranlaßt, unserer Freundschaft ein Denkmal zu setzen und der wackern Figur, die sich auf so eine würdige Art zu subordinieren weiß, den Namen Franz Lerse zu geben.

Indes er nun mit seiner fortgesetzten humoristischen Trockenheit uns immer zu erinnern wußte, was man sich und andern schuldig sei, und wie man sich einzurichten habe, um mit den Menschen so lange als möglich in Frieden zu leben, und sich deshalb gegen sie in einige Positur zu setzen; so hatte ich innerlich und äußerlich mit ganz andern Verhältnissen und Gegnern zu kämpfen, indem ich mit mir selbst, mit den Gegenständen, ja mit den Elementen im Streit lag. Ich befand mich in einem Gesundheitszustand, der mich bei allem, was ich unternehmen wollte und sollte, hinreichend förderte; nur war mir noch eine gewisse Reizbarkeit übrig geblieben, die mich nicht immer im Gleichgewicht ließ. Ein starker Schall war mir zuwider, krankhafte Gegenstände erregten mir Ekel und Abscheu. Besonders aber ängstigte mich ein Schwindel, der mich jedesmal befiel, wenn ich von einer Höhe herunterblickte. Allen diesen Mängeln suchte ich abzuhelfen, und zwar, weil ich keine Zeit verlieren wollte, auf eine etwas heftige Weise. Abends beim Zapfenstreich ging ich neben der Menge Trommeln her, deren gewaltsame Wirbel und Schläge das Herz im Busen hätten zersprengen mögen. Ich erstieg ganz allein den höchsten Gipfel des Münsterturms, und saß in dem sogenannten Hals, unter dem Knopf oder der Krone, wie man’s nennt, wohl eine Viertelstunde lang, bis ich es wagte, wieder heraus in die freie Luft zu treten, wo man auf einer Platte, die kaum eine Elle ins Gevierte haben wird, ohne sich sonderlich anhalten zu können, stehend das unendliche Land vor sich sieht, indessen die nächsten Umgebungen und Zieraten die Kirche und alles, worauf und worüber man steht, verbergen. Es ist völlig, als wenn man sich auf einer Montgolfiere in die Luft erhoben sähe. Dergleichen Angst und Qual wiederholte ich so oft, bis der Eindruck mir ganz gleichgültig ward, und ich habe nachher bei Bergreisen und geologischen Studien, bei großen Bauten, wo ich mit den Zimmerleuten um die Wette über die freiliegenden Balken und über die Gesimse des Gebäudes herlief, ja in Rom, wo man eben dergleichen Wagstücke ausüben muß, um bedeutende Kunstwerke näher zu sehen, von jenen Vorübungen großen Vorteil gezogen. Die Anatomie war mir auch deshalb doppelt wert, weil sie mich den widerwärtigsten Anblick ertragen lehrte, indem sie meine Wißbegierde befriedigte. Und so besuchte ich auch das Klinikum des ältern Doktor Ehrmann, sowie die Lektionen der Entbindungskunst seines Sohns, in der doppelten Absicht, alle Zustände kennen zu lernen und mich von aller Apprehension gegen widerwärtige Dinge zu befreien. Ich habe es auch wirklich darin so weit gebracht, daß nichts dergleichen mich jemals aus der Fassung setzen konnte. Aber nicht allein gegen diese sinnlichen Eindrücke, sondern auch gegen die Anfechtungen der Einbildungskraft suchte ich mich zu stählen. Die ahndungs-und schauervollen Eindrücke der Finsternis, der Kirchhöfe, einsamer Örter, nächtlicher Kirchen und Kapellen und was hiemit verwandt sein mag, wußte ich mir ebenfalls gleichgültig zu machen; und auch darin brachte ich es so weit, daß mir Tag und Nacht und jedes Lokal völlig gleich war, ja daß, als in später Zeit mich die Lust ankam, wieder einmal in solcher Umgebung die angenehmen Schauer der Jugend zu fühlen, ich diese in mir kaum durch die seltsamsten und fürchterlichsten Bilder, die ich hervorrief, wieder einigermaßen erzwingen konnte.

Dieser Bemühung, mich von dem Drang und Druck des Allzuernsten und Mächtigen zu befreien, was in mir fortwaltete, und mir bald als Kraft bald als Schwäche erschien, kam durchaus jene freie, gesellige, bewegliche Lebensart zu Hülfe, welche mich immer mehr anzog, an die ich mich gewöhnte, und zuletzt derselben mit voller Freiheit genießen lernte. Es ist in der Welt nicht schwer zu bemerken, daß sich der Mensch am freisten und am völligsten von seinen Gebrechen los und ledig fühlt, wenn er sich die Mängel anderer vergegenwärtigt und sich darüber mit behaglichem Tadel verbreitet. Es ist schon eine ziemlich angenehme Empfindung, uns durch Mißbilligung und Mißreden über unsersgleichen hinauszusetzen, weswegen auch hierin die gute Gesellschaft, sie bestehe aus wenigen oder mehrern, sich am liebsten ergeht. Nichts aber gleicht der behaglichen Selbstgefälligkeit, wenn wir uns zu Richtern der Obern und Vorgesetzten, der Fürsten und Staatsmänner erheben, öffentliche Anstalten ungeschickt und zweckwidrig finden, nur die möglichen und wirklichen Hindernisse beachten, und weder die Größe der Intention noch die Mitwirkung anerkennen, die bei jedem Unternehmen von Zeit und Umständen zu erwarten ist.

Wer sich der Lage des französischen Reichs erinnert und sie aus späteren Schriften genau und umständlich kennt, wird sich leicht vergegenwärtigen, wie man damals in dem elsässischen Halbfrankreich über König und Minister, über Hof und Günstlinge sprach. Für meine Lust, mich zu unterrichten, waren es neue, und für Naseweisheit und jugendlichen Dünkel sehr willkommne Gegenstände; ich merkte mir alles genau, schrieb fleißig auf, und sehe jetzt an dem wenigen Übriggebliebenen, daß solche Nachrichten, wenngleich nur aus Fabeln und unzuverlässigen allgemeinen Gerüchten im Augenblick aufgefaßt, doch immer in der Folge einen gewissen Wert haben, weil sie dazu dienen, das endlich bekanntgewordene Geheime mit dem damals schon Aufgedeckten und Öffentlichen, das von Zeitgenossen richtig oder falsch Geurteilte mit den Überzeugungen der Nachwelt zusammenzuhalten und zu vergleichen.

Auffallend und uns Pflastertretern täglich vor Augen war das Projekt zu Verschönerung der Stadt, dessen Ausführung von den Rissen und Planen auf die seltsamste Weise in die Wirklichkeit überzugehen anfing. Intendant Gayot hatte sich vorgenommen, die winkligen und ungleichen Gassen Straßburgs umzuschaffen und eine wohl nach der Schnur geregelte, ansehnliche, schöne Stadt zu gründen. Blondel, ein Pariser Baumeister, zeichnete darauf einen Vorschlag, durch welchen hundertundvierzig Hausbesitzer an Raum gewannen, achtzig verloren und die übrigen in ihrem vorigen Zustande blieben. Dieser genehmigte, aber nicht auf einmal in Ausführung zu bringende Plan sollte nun durch die Zeit seiner Vollständigkeit entgegen wachsen, indessen die Stadt, wunderlich genug, zwischen Form und Unform schwankte. Sollte z.B. eine eingebogene Straßenseite gerad werden, so rückte der erste Baulustige auf die bestimmte Linie vor; vielleicht sein nächster Nachbar, vielleicht aber auch der dritte, vierte Besitzer von da, durch welche Vorsprünge die ungeschicktesten Vertiefungen als Vorhöfe der hinterliegenden Häuser zurückblieben. Gewalt wollte man nicht brauchen, aber ohne Nötigung wäre man gar nicht vorwärts gekommen, deswegen durfte niemand an seinem einmal verurteilten Hause etwas bessern oder herstellen, was sich auf die Straße bezog. Alle die seltsamen zufälligen Unschicklichkeiten gaben uns wandelnden Müßiggängern willkommensten Anlaß, unsern Spott zu üben, Vorschläge zu Beschleunigung der Vollendung nach Behrischens Art zu tun, und die Möglichkeit derselben immer zu bezweifeln, ob uns gleich manches neu entstehende schöne Gebäude hätte auf andere Gedanken bringen sollen. Inwieweit jener Vorsatz durch die lange Zeit begünstigt worden, wüßte ich nicht zu sagen.

Ein anderer Gegenstand, wovon sich die protestantischen Straßburger gern unterhielten, war die Vertreibung der Jesuiten. Diese Väter hatten, sobald als die Stadt den Franzosen zuteil geworden, sich gleichfalls eingefunden und um ein Domizilium nachgesucht. Bald breiteten sie sich aber aus und bauten ein herrliches Kollegium, das an den Münster dergestalt anstößt, daß das Hinterteil der Kirche ein Dritteil seiner Face bedeckt. Es sollte ein völliges Viereck werden und in der Mitte einen Garten haben; drei Seiten davon waren fertig geworden. Es ist von Steinen, solid, wie alle Gebäude dieser Väter. Daß die Protestanten von ihnen gedrängt, wo nicht bedrängt wurden, lag in dem Plane der Gesellschaft, welche die alte Religion in ihrem ganzen Umfange wieder herzustellen sich zur Pflicht machte. Ihr Fall erregte daher die größte Zufriedenheit des Gegenteils, und man sah nicht ohne Behagen, wie sie ihre Weine verkauften, ihre Bücher wegschafften und das Gebäude einem andern, vielleicht weniger tätigen Orden bestimmt ward. Wie froh sind die Menschen, wenn sie einen Widersacher, ja nur einen Hüter los sind, und die Herde bedenkt nicht, daß da, wo der Rüde fehlt, sie den Wölfen ausgesetzt ist.

Weil denn nun auch jede Stadt ihre Tragödie haben muß, wovor sich Kinder und Kindeskinder entsetzen, so ward in Straßburg oft des unglücklichen Prätors Klinglin gedacht, der, nachdem er die höchste Stufe irdischer Glückseligkeit erstiegen, Stadt und Land fast unumschränkt beherrscht und alles genossen, was Vermögen, Rang und Einfluß nur gewähren können, endlich die Hofgunst verloren habe, und wegen alles dessen, was man ihm bisher nachgesehen, zur Verantwortung gezogen worden, ja sogar in den Kerker gebracht, wo er, über siebenzig Jahre alt, eines zweideutigen Todes verblichen.

Diese und andere Geschichten wußte jener Ludwigsritter, unser Tischgenosse, mit Leidenschaft und Lebhaftigkeit zu erzählen, deswegen ich auch gern auf Spaziergängen mich zu ihm gesellte, anders als die übrigen die solchen Einladungen auswichen und mich mit ihm allein ließen. Da ich mich bei neuen Bekanntschaften meistenteils eine Zeitlang gehen ließ, ohne viel über sie, noch über die Wirkung zu denken, die sie auf mich ausübten, so merkte ich erst nach und nach, daß seine Erzählungen und Urteile mich mehr beunruhigten und verwirrten als unterrichteten und aufklärten. Ich wußte niemals, woran ich mit ihm war, obgleich das Rätsel sich leicht hätte entziffern lassen. Er gehörte zu den vielen, denen das Leben keine Resultate gibt, und die sich daher im einzelnen, vor wie nach, abmühen. Unglücklicherweise hatte er dabei eine entschiedne Lust, ja Leidenschaft zum Nachdenken, ohne zum Denken geschickt zu sein, und in solchen Menschen setzt sich leicht ein gewisser Begriff fest, den man als eine Gemütskrankheit ansehen kann. Auf eine solche fixe Ansicht kam auch er immer wieder zurück, und ward dadurch auf die Dauer höchst lästig. Er pflegte sich nämlich bitter über die Abnahme seines Gedächtnisses zu beklagen, besonders was die nächsten Ereignisse betraf, und behauptete, nach einer eignen Schlußfolge, alle Tugend komme von dem guten Gedächtnis her, alle Laster hingegen aus der Vergessenheit. Die Lehre wußte er mit vielem Scharfsinn durchzusetzen; wie sich denn alles behaupten läßt, wenn man sich erlaubt, die Worte ganz unbestimmt, bald in weiterem, bald engerm, in einem näher oder ferner verwandten Sinne zu gebrauchen und anzuwenden.

Die ersten Male unterhielt es wohl ihn zu hören, ja seine Suade setzte in Verwunderung. Man glaubte vor einem rednerischen Sophisten zu stehen, der, zu Scherz und Übung, den seltsamsten Dingen einen Schein zu verleihen weiß. Leider stumpfte sich dieser erste Eindruck nur allzu bald ab: denn am Ende jedes Gesprächs kam der Mann wieder auf dasselbe Thema, ich mochte mich auch anstellen, wie ich wollte. Er war bei älteren Begebenheiten nicht festzuhalten, ob sie ihn gleich selbst interessierten, ob er sie schon mit den kleinsten Umständen gegenwärtig hatte. Vielmehr ward er öfters, durch einen geringen Umstand, mitten aus einer weltgeschichtlichen Erzählung herausgerissen und auf seinen feindseligen Lieblingsgedanken hingestoßen.

Einer unserer nachmittägigen Spaziergänge war hierin besonders unglücklich; die Geschichte desselben stehe hier statt ähnlicher Fälle, welche den Leser ermüden, wo nicht gar betrüben könnten.

Auf dem Wege durch die Stadt begegnete uns eine bejahrte Bettlerin, die ihn, durch Bitten und Andringen, in seiner Erzählung störte. – »Pack dich, alte Hexe« sagte er, und ging vorüber. Sie rief ihm den bekannten Spruch hinterdrein, nur etwas verändert, da sie wohl bemerkte, daß der unfreundliche Mann selbst alt sei: »Wenn Ihr nicht alt werden wolltet, so hättet Ihr Euch in der Jugend sollen hängen lassen!« Er kehrte sich heftig herum, und ich fürchtete einen Auftritt. – »Hängen lassen!« rief er, »mich hängen lassen! Nein, das wäre nicht gegangen, dazu war ich ein zu braver Kerl; aber mich hängen, mich selbst aufhängen, das ist wahr, das hätte ich tun sollen; einen Schuß Pulver sollt’ ich an mich wenden, um nicht zu erleben, daß ich keinen mehr wert bin.« Die Frau stand wie versteinert, er aber fuhr fort: »Du hast eine große Wahrheit gesagt, Hexenmutter! und weil man dich noch nicht ersäuft oder verbrannt hat, so sollst du für dein Sprüchlein belohnt werden.« Er reichte ihr ein Büsel, das man nicht leicht an einen Bettler zu wenden pflegte.

Wir waren über die erste Rheinbrücke gekommen und gingen nach dem Wirtshause, wo wir einzukehren gedachten, und ich suchte ihn auf das vorige Gespräch zurückzuführen, als unerwartet auf dem angenehmen Fußpfad ein sehr hübsches Mädchen uns entgegen kam, vor uns stehen blieb, sich artig verneigte und ausrief: »Ei, ei, Herr Hauptmann, wohin?« und was man sonst bei solcher Gelegenheit zu sagen pflegt. – »Mademoiselle«, versetzte er, etwas verlegen, »ich weiß nicht ...« »Wie?« sagte sie, mit anmutiger Verwunderung, »vergessen Sie Ihre Freunde so bald?« Das Wort Vergessen machte ihn verdrießlich, er schüttelte den Kopf und erwiderte mürrisch genug: »Wahrhaftig, Mademoiselle, ich wüßte nicht!« – Nun versetzte sie mit einigem Humor, doch sehr gemäßigt: »Nehmen Sie sich in acht, Herr Hauptmann, ich dürfte Sie ein andermal auch verkennen!« Und so eilte sie an uns vorbei, stark zuschreitend, ohne sich umzusehen. Auf einmal schlug sich mein Weggesell mit den beiden Fäusten heftig vor den Kopf: »O ich Esel!« rief er aus; »ich alter Esel! da seht Ihr’s nun, ob ich recht habe oder nicht.« Und nun erging er sich auf eine sehr heftige Weise in seinem gewohnten Reden und Meinen, in welchem ihn dieser Fall nur noch mehr bestärkte. Ich kann und mag nicht wiederholen, was er für eine philippische Rede wider sich selbst hielt. Zuletzt wendete er sich zu mir und sagte: »Ich rufe Euch zum Zeugen an! Erinnert Ihr Euch jener Krämerin, an der Ecke, die weder jung noch hübsch ist? Jedesmal grüße ich sie, wenn wir vorbeigehen, und rede manchmal ein paar freundliche Worte mit ihr; und doch sind schon dreißig Jahre vorbei, daß sie mir günstig war. Nun aber, nicht vier Wochen, schwör’ ich, sind’s, da erzeigte sich dieses Mädchen gegen mich gefälliger als billig, und nun will ich sie nicht kennen und beleidige sie für ihre Artigkeit! Sage ich es nicht immer, Undank ist das größte Laster, und kein Mensch wäre undankbar, wenn er nicht vergeßlich wäre!«

Wir traten ins Wirtshaus, und nur die zechende, schwärmende Menge in den Vorsälen hemmte die Invektiven, die er gegen sich und seine Altersgenossen ausstieß. Er war still, und ich hoffte ihn begütigt, als wir in ein oberes Zimmer traten, wo wir einen jungen Mann allein auf und ab gehend fanden, den der Hauptmann mit Namen begrüßte. Es war mir angenehm, ihn kennen zu lernen: denn der alte Gesell hatte mir viel Gutes von ihm gesagt und mir erzählt, daß dieser, beim Kriegsbureau angestellt, ihm schon manchmal, wenn die Pensionen gestockt, uneigennützig sehr gute Dienste geleistet habe. Ich war froh, daß das Gespräch sich ins Allgemeine lenkte, und wir tranken eine Flasche Wein, indem wir es fortsetzten. Hier entwickelte sich aber zum Unglück ein anderer Fehler, den mein Ritter mit starrsinnigen Menschen gemein hatte. Denn wie er im ganzen von jenem fixen Begriff nicht loskommen konnte, ebensosehr hielt er an einem augenblicklichen unangenehmen Eindruck fest, und ließ seine Empfindungen dabei ohne Mäßigung abschnurren. Der letzte Verdruß über sich selbst war noch nicht verklungen, und nun trat abermals etwas Neues hinzu, freilich von ganz anderer Art. Er hatte nämlich nicht lange die Augen hin und her gewandt, so bemerkte er auf dem Tische eine doppelte Portion Kaffee und zwei Tassen; daneben mochte er auch, er, der selbst ein feiner Zeisig war, irgend sonst eine Andeutung aufgespürt haben, daß dieser junge Mann sich nicht eben immer so allein befunden. Und kaum war die Vermutung in ihm aufgestiegen und zur Wahrscheinlichkeit geworden, das hübsche Mädchen habe einen Besuch hier abgestattet; so gesellte sich zu jenem ersten Verdruß noch die wunderlichste Eifersucht, um ihn vollends zu verwirren.

Ehe ich nun irgend etwas ahnden konnte, denn ich hatte mich bisher ganz harmlos mit dem jungen Mann unterhalten, so fing der Hauptmann mit einem unangenehmen Ton, den ich an ihm wohl kannte, zu sticheln an, auf das Tassenpaar und auf dieses und jenes. Der Jüngere, betroffen, suchte heiter und verständig auszuweichen, wie es unter Menschen von Lebensart die Gewohnheit ist; allein der Alte fuhr fort schonungslos unartig zu sein, daß dem andern nichts übrig blieb, als Hut und Stock zu ergreifen und beim Abschiede eine ziemlich unzweideutige Ausforderung zurückzulassen. Nun brach die Furie des Hauptmanns und um desto heftiger los, als er in der Zwischenzeit noch eine Flasche Wein beinahe ganz allein ausgetrunken hatte. Er schlug mit der Faust auf den Tisch und rief mehr als einmal: »Den schlag’ ich tot.« Es war aber eigentlich so bös nicht gemeint, denn er gebrauchte diese Phrase mehrmals, wenn ihm jemand widerstand oder sonst mißfiel. Ebenso unerwartet verschlimmerte sich die Sache auf dem Rückweg: denn ich hatte die Unvorsichtigkeit, ihm seinen Undank gegen den jungen Mann vorzuhalten und ihn zu erinnern, wie sehr er mir die zuvorkommende Dienstfertigkeit dieses Angestellten gerühmt habe. Nein! solche Wut eines Menschen gegen sich selbst ist mir nie wieder vorgekommen; es war die leidenschaftlichste Schlußrede zu jenen Anfängen, wozu das hübsche Mädchen Anlaß gegeben hatte. Hier sah ich Reue und Buße bis zur Karikatur getrieben, und, wie alle Leidenschaft das Genie ersetzt, wirklich genialisch. Denn er nahm die sämtlichen Vorfallenheiten unserer Nachmittagswanderung wieder auf, benutzte sie rednerisch zur Selbstscheltung, ließ zuletzt die Hexe nochmals gegen sich auftreten, und verwirrte sich dergestalt, daß ich fürchten mußte, er werde sich in den Rhein stürzen. Wäre ich sicher gewesen, ihn, wie Mentor seinen Telemach, schnell wieder aufzufischen, so mochte er springen, und ich hätte ihn für diesmal abgekühlt nach Hause gebracht.

Ich vertraute sogleich die Sache Lersen, und wir gingen des andern Morgens zu dem jungen Manne, den mein Freund, mit seiner Trockenheit, zum Lachen brachte. Wir wurden eins, ein ungefähres Zusammentreffen einzuleiten, wo eine Ausgleichung vor sich gehen sollte. Das Lustigste dabei war, daß der Hauptmann auch diesmal seine Unart verschlafen hatte, und zur Begütigung des jungen Mannes, dem auch an keinen Händeln gelegen war, sich bereit finden ließ. Alles war an einem Morgen abgetan, und da die Begebenheit nicht ganz verschwiegen blieb, so entging ich nicht den Scherzen meiner Freunde, die mir aus eigner Erfahrung hätten voraussagen können, wie lästig mir gelegentlich die Freundschaft des Hauptmanns werden dürfte.

Indem ich nun aber darauf sinne, was wohl zunächst weiter mitzuteilen wäre, so kommt mir, durch ein seltsames Spiel der Erinnerung, das ehrwürdige Münstergebäude wieder in die Gedanken, dem ich gerade in jenen Tagen eine besondere Aufmerksamkeit widmete und welches überhaupt in der Stadt sowohl als auf dem Lande sich den Augen beständig darbietet.

Je mehr ich die Fassade desselben betrachtete, desto mehr bestärkte und entwickelte sich jener erste Eindruck, daß hier das Erhabene mit dem Gefälligen in Bund getreten sei. Soll das Ungeheuere, wenn es uns als Masse entgegentritt, nicht erschrecken, soll es nicht verwirren, wenn wir sein Einzelnes zu erforschen suchen: so muß es eine unnatürliche, scheinbar unmögliche Verbindung eingehen, es muß sich das Angenehme zugesellen. Da uns nun aber allein möglich wird, den Eindruck des Münsters auszusprechen, wenn wir uns jene beiden unverträglichen Eigenschaften vereinigt denken; so sehen wir schon hieraus, in welchem hohen Wert wir dieses alte Denkmal zu halten haben, und beginnen mit Ernst eine Darstellung, wie so widersprechende Elemente sich friedlich durchdringen und verbinden konnten.

Vor allem widmen wir unsere Betrachtungen, ohne noch an die Türme zu denken, allein der Fassade, die als ein aufrecht gestelltes längliches Viereck unsern Augen mächtig entgegnet. Nähern wir uns derselben in der Dämmerung, bei Mondschein, bei sternheller Nacht, wo die Teile mehr oder weniger undeutlich werden und zuletzt verschwinden; so sehen wir nur eine kolossale Wand, deren Höhe zur Breite ein wohltätiges Verhältnis hat. Betrachten wir sie bei Tage und abstrahieren durch Kraft unseres Geistes vom Einzelnen; so erkennen wir die Vorderseite eines Gebäudes, welche dessen innere Räume nicht allein zuschließt, sondern auch manches Danebenliegende verdeckt. Die Öffnungen dieser ungeheueren Fläche deuten auf innere Bedürfnisse, und nach diesen können wir sie sogleich in neun Felder abteilen. Die große Mitteltüre, die auf das Schiff der Kirche gerichtet ist, fällt uns zuerst in die Augen. Zu beiden Seiten derselben liegen zwei kleinere, den Kreuzgängen angehörig. Über der Haupttüre trifft unser Blick auf das radförmige Fenster, das in die Kirche und deren Gewölbe ein ahndungsvolles Licht verbreiten soll. An den Seiten zeigen sich zwei große senkrechte, länglich-viereckte Öffnungen, welche mit der mittelsten bedeutend kontrastieren und darauf hindeuten, daß sie zu der Base emporstrebender Türme gehören. In dem dritten Stockwerke reihen sich drei Öffnungen an einander, welche zu Glockenstühlen und sonstigen kirchlichen Bedürfnissen bestimmt sind. Zu oberst sieht man das Ganze durch die Balustrade der Galerie, anstatt eines Gesimses, horizontal abgeschlossen. Jene beschriebenen neun Räume werden durch vier vom Boden aufstrebende Pfeiler gestützt, eingefaßt und in drei große perpendikulare Abteilungen getrennt.

Wie man nun der ganzen Masse ein schönes Verhältnis der Höhe zur Breite nicht absprechen kann, so erhält sie auch durch diese Pfeiler, durch die schlanken Einteilungen dazwischen, im einzelnen etwas gleichmäßig Leichtes.

Verharren wir aber bei unserer Abstraktion und denken uns diese ungeheuere Wand ohne Zieraten mit festen Strebepfeilern, in derselben die nötigen Öffnungen, aber auch nur insofern sie das Bedürfnis fordert; gestehn wir auch diesen Hauptabteilungen gute Verhältnisse zu: so wird das Ganze zwar ernst und würdig, aber doch immer noch lästig unerfreulich und als zierdelos unkünstlich erscheinen. Denn ein Kunstwerk, dessen Ganzes in großen, einfachen, harmonischen Teilen begriffen wird, macht wohl einen edlen und würdigen Eindruck, aber der eigentliche Genuß, den das Gefallen erzeugt, kann nur bei Übereinstimmung aller entwickelten Einzelheiten stattfinden.

Hierin aber gerade befriedigt uns das Gebäude, das wir betrachten, im höchsten Grade: denn wir sehen alle und jede Zieraten jedem Teil, den sie schmücken, völlig angemessen, sie sind ihm untergeordnet, sie scheinen aus ihm entsprungen. Eine solche Mannigfaltigkeit gibt immer ein großes Behagen, indem sie sich aus dem Gehörigen herleitet und deshalb zugleich das Gefühl der Einheit erregt, und nur in solchem Falle wird die Ausführung als Gipfel der Kunst gepriesen.

Durch solche Mittel sollte nun eine feste Mauer, eine undurchdringliche Wand, die sich noch dazu als Base zweier himmelhohen Türme anzukündigen hatte, dem Auge zwar als auf sich selbst ruhend, in sich selbst bestehend, aber auch dabei leicht und zierlich erscheinen, und, obgleich tausendfach durchbrochen, den Begriff von unerschütterlicher Festigkeit geben.

Dieses Rätsel ist auf das glücklichste gelöst. Die Öffnungen der Mauer, die soliden Stellen derselben, die Pfeiler, jedes hat seinen besonderen Charakter, der aus der eignen Bestimmung hervortritt; dieser kommuniziert sich stufenweis den Unterabteilungen, daher alles im gemäßen Sinne verziert ist, das Große wie das Kleine sich an der rechten Stelle befindet, leicht gefaßt werden kann, und so das Angenehme im Ungeheueren sich darstellt. Ich erinnere nur an die perspektivisch in die Mauerdicke sich einsenkenden, bis ins Unendliche an ihren Pfeilern und Spitzbogen verzierten Türen, an das Fenster und dessen aus der runden Form entspringende Kunstrose, an das Profil ihrer Stäbe, sowie an die schlanken Rohrsäulen der perpendikularen Abteilungen. Man vergegenwärtige sich die stufenweis zurücktretenden Pfeiler, von schlanken, gleichfalls in die Höhe strebenden, zum Schutz der Heiligenbilder baldachinartig bestimmten, leichtsäuligen Spitzgebäudchen begleitet, und wie zuletzt jede Rippe, jeder Knopf als Blumenknauf und Blattreihe, oder als irgend ein anderes im Steinsinn umgeformtes Naturgebilde erscheint. Man vergleiche das Gebäude, wo nicht selbst, doch Abbildungen des Ganzen und des Einzelnen, zu Beurteilung und Belebung meiner Aussage. Sie könnte manchem übertrieben scheinen: denn ich selbst, zwar im ersten Anblicke zur Neigung gegen dieses Werk hingerissen, brauchte doch lange Zeit, mich mit seinem Wert innig bekannt zu machen.

Unter Tadlern der gotischen Baukunst aufgewachsen, nährte ich meine Abneigung gegen die vielfach überladenen, verworrenen Zieraten, die durch ihre Willkürlichkeit einen religios düsteren Charakter höchst widerwärtig machten; ich bestärkte mich in diesem Unwillen, da mir nur geistlose Werke dieser Art, an denen man weder gute Verhältnisse, noch eine reine Konsequenz gewahr wird, vors Gesicht gekommen waren. Hier aber glaubte ich eine neue Offenbarung zu erblicken, indem mir jenes Tadelnswerte keineswegs erschien, sondern vielmehr das Gegenteil davon sich aufdrang.

Wie ich nun aber immer länger sah und überlegte, glaubte ich über das Vorgesagte noch größere Verdienste zu entdecken. Herausgefunden war das richtige Verhältnis der größeren Abteilungen, die so sinnige als reiche Verzierung bis ins kleinste; nun aber erkannte ich noch die Verknüpfung dieser mannigfaltigen Zieraten unter einander, die Hinleitung von einem Hauptteile zum andern, die Verschränkung zwar gleichartiger, aber doch an Gestalt höchst abwechselnder Einzelnheiten, vom Heiligen bis zum Ungeheuer, vom Blatt bis zum Zacken. Je mehr ich untersuchte, desto mehr geriet ich in Erstaunen; je mehr ich mich mit Messen und Zeichnen unterhielt und abmüdete, desto mehr wuchs meine Anhänglichkeit, so daß ich viele Zeit darauf verwendete, teils das Vorhandene zu studieren, teils das Fehlende, Unvollendete, besonders der Türme, in Gedanken und auf dem Blatte wiederherzustellen.

Da ich nun an alter deutscher Stätte dieses Gebäude gegründet und in echter deutscher Zeit so weit gediehen fand, auch der Name des Meisters auf dem bescheidenen Grabstein gleichfalls vaterländischen Klanges und Ursprungs war; so wagte ich, die bisher verrufene Benennung gotische Bauart, aufgefordert durch den Wert dieses Kunstwerks, abzuändern und sie als deutsche Baukunst unserer Nation zu vindizieren, sodann aber verfehlte ich nicht, erst mündlich, und hernach in einem kleinen Aufsatz, D. M. Ervini a Steinbach gewidmet, meine patriotischen Gesinnungen an den Tag zu legen.

Gelangt meine biographische Erzählung zu der Epoche, in welcher gedachter Bogen im Druck erschien, den Herder sodann in sein Heft »Von deutscher Art und Kunst« aufnahm, so wird noch manches über diesen wichtigen Gegenstand zur Sprache kommen. Ehe ich mich aber diesmal von demselben abwende, so will ich die Gelegenheit benutzen, um das dem gegenwärtigen Bande vorgesetzte Motto bei denjenigen zu rechtfertigen, welche einigen Zweifel daran hegen sollten. Ich weiß zwar recht gut, daß gegen das brave und hoffnungsreiche altdeutsche Wort: »Was einer in der Jugend wünscht, hat er im Alter genug!« manche umgekehrte Erfahrung anzuführen, manches daran zu deuteln sein möchte; aber auch viel Günstiges spricht dafür, und ich erkläre, was ich dabei denke.

Unsere Wünsche sind Vorgefühle der Fähigkeiten, die in uns liegen, Vorboten desjenigen, was wir zu leisten imstande sein werden. Was wir können und möchten, stellt sich unserer Einbildungskraft außer uns und in der Zukunft dar; wir fühlen eine Sehnsucht nach dem, was wir schon im stillen besitzen. So verwandelt ein leidenschaftliches Vorausergreifen das wahrhaft Mögliche in ein erträumtes Wirkliche. Liegt nun eine solche Richtung entschieden in unserer Natur, so wird mit jedem Schritt unserer Entwickelung ein Teil des ersten Wunsches erfüllt, bei günstigen Umständen auf dem geraden Wege, bei ungünstigen auf einem Umwege, von dem wir immer wieder nach jenem einlenken. So sieht man Menschen durch Beharrlichkeit zu irdischen Gütern gelangen, sie umgeben sich mit Reichtum, Glanz und äußerer Ehre. Andere streben noch sicherer nach geistigen Vorteilen, erwerben sich eine klare Übersicht der Dinge, eine Beruhigung des Gemüts und eine Sicherheit für die Gegenwart und Zukunft.

Nun gibt es aber eine dritte Richtung, die aus beiden gemischt ist und deren Erfolg am sichersten gelingen muß. Wenn nämlich die Jugend des Menschen in eine prägnante Zeit trifft, wo das Hervorbringen das Zerstören überwiegt, und in ihm das Vorgefühl bei Zeiten erwacht, was eine solche Epoche fordre und verspreche; so wird er, durch äußere Anlässe zu tätiger Teilnahme gedrängt, bald da – bald dorthin greifen, und der Wunsch, nach vielen Seiten wirksam zu sein, wird in ihm lebendig werden. Nun gesellen sich aber zur menschlichen Beschränktheit noch so viele zufällige Hindernisse, daß hier ein Begonnenes liegen bleibt, dort ein Ergriffenes aus der Hand fällt, und ein Wunsch nach dem andern sich verzettelt. Waren aber diese Wünsche aus einem reinen Herzen entsprungen, dem Bedürfnis der Zeit gemäß; so darf man ruhig rechts und links liegen und fallen lassen, und kann versichert sein, daß nicht allein dieses wieder aufgefunden und aufgehoben werden muß, sondern daß auch noch gar manches Verwandte, das man nie berührt, ja woran man nie gedacht hat, zum Vorschein kommen werde. Sehen wir nun während unseres Lebensganges dasjenige von andern geleistet, wozu wir selbst früher einen Beruf fühlten, ihn aber, mit manchen andern, aufgeben mußten; dann tritt das schöne Gefühl ein, daß die Menschheit zusammen erst der wahre Mensch ist, und daß der Einzelne nur froh und glücklich sein kann, wenn er den Mut hat, sich im Ganzen zu fühlen.

Diese Betrachtung ist hier recht am Platze; denn wenn ich die Neigung bedenke, die mich zu jenen alten Bauwerken hinzog, wenn ich die Zeit berechne, die ich allein dem Straßburger Münster gewidmet, die Aufmerksamkeit, mit der ich späterhin den Dom zu Köln und den zu Freiburg betrachtet und den Wert dieser Gebäude immer mehr empfunden; so könnte ich mich tadeln, daß ich sie nachher ganz aus den Augen verloren, ja, durch eine entwickeltere Kunst angezogen, völlig im Hintergrunde gelassen. Sehe ich nun aber in der neusten Zeit die Aufmerksamkeit wieder auf jene Gegenstände hingelenkt, Neigung, ja Leidenschaft gegen sie hervortreten und blühen, sehe ich tüchtige junge Leute, von ihr ergriffen, Kräfte, Zeit, Sorgfalt, Vermögen diesen Denkmalen einer vergangenen Welt rücksichtslos widmen; so werde ich mit Vergnügen erinnert, daß das, was ich sonst wollte und wünschte, einen Wert hatte. Mit Zufriedenheit sehe ich, wie man nicht allein das von unsern Vorvordern Geleistete zu schätzen weiß, sondern wie man sogar aus vorhandenen unausgeführten Anfängen, wenigstens im Bilde, die erste Absicht darzustellen sucht, um uns dadurch mit dem Gedanken, welcher doch das Erste und Letzte alles Vornehmens bleibt, bekannt zu machen, und eine verworren scheinende Vergangenheit mit besonnenem Ernst aufzuklären und zu beleben strebt. Vorzüglich belobe ich hier den wackern Sulpiz Boisserée, der unermüdet beschäftigt ist, in einem prächtigen Kupferwerke, den Kölnischen Dom aufzustellen als Musterbild jener ungeheuren Konzeptionen, deren Sinn babylonisch in den Himmel strebte, und die zu den irdischen Mitteln dergestalt außer Verhältnis waren, daß sie notwendig in der Ausführung stocken mußten. Haben wir bisher gestaunt, daß solche Bauwerke nur so weit gediehen, so werden wir mit der größten Bewunderung erfahren, was eigentlich zu leisten die Absicht war.

Möchten doch literarisch-artistische Unternehmungen dieser Art durch alle, welche Kraft, Vermögen und Einfluß haben, gebührend befördert werden, damit uns die große und riesenmäßige Gesinnung unserer Vorfahren zur Anschauung gelange und wir uns einen Begriff machen können von dem, was sie wollen durften. Die hieraus entspringende Einsicht wird nicht unfruchtbar bleiben und das Urteil sich endlich einmal mit Gerechtigkeit an jenen Werken zu üben imstande sein. Ja, dieses wird auf das gründlichste geschehen, wenn unser tätiger junger Freund, außer der dem Kölnischen Dome gewidmeten Monographie, die Geschichte der Baukunst unserer Mittelzeit bis ins einzelne verfolgt. Wird ferner an den Tag gefördert, was irgend über werkmäßige Ausübung dieser Kunst zu erfahren ist, wird sie durch Vergleichung mit der griechisch-römischen und der orientalisch-ägypti schen in allen Grundzügen dargestellt; so kann in diesem Fache wenig zu tun übrig bleiben. Ich aber werde, wenn die Resultate solcher vaterländischen Bemühungen öffentlich vorliegen, so wie jetzt bei freundlichen Privatmitteilungen, mit wahrer Zufriedenheit jenes Wort im besten Sinne wiederholen können: »Was man in der Jugend wünscht, hat man im Alter genug.«

Kann man aber bei solchen Wirkungen, welche Jahrhunderten angehören, sich auf die Zeit verlassen und die Gelegenheit erharren; so gibt es dagegen andere Dinge, die in der Jugend, frisch, wie reife Früchte, weggenossen werden müssen. Es sei mir erlaubt, mit dieser raschen Wendung, des Tanzes zu erwähnen, an den das Ohr, so wie das Auge an den Münster, jeden Tag, jede Stunde in Straßburg, im Elsaß erinnert wird. Von früher Jugend an hatte mir und meiner Schwester der Vater selbst im Tanzen Unterricht gegeben, welches einen so ernsthaften Mann wunderlich genug hätte kleiden sollen; allein er ließ sich auch dabei nicht aus der Fassung bringen, unterwies uns auf das bestimmteste in den Positionen und Schritten, und als er uns weit genug gebracht hatte, um eine Menuett zu tanzen, so blies er auf einer Flûte-douce uns etwas Faßliches im Dreivierteltakt vor, und wir bewegten uns darnach, so gut wir konnten. Auf dem französischen Theater hatte ich gleich falls von Jugend auf, wo nicht Ballette, doch Solos und Pas-de-deux gesehn und mir davon mancherlei wunderliche Bewegungen der Füße und allerlei Sprünge gemerkt. Wenn wir nun der Menuett genug hatten, so ersuchte ich den Vater um andere Tanzmusiken, dergleichen die Notenbücher in ihren Giguen und Murkis reichlich darboten, und ich erfand mir sogleich die Schritte und übrigen Bewegungen dazu, indem der Takt meinen Gliedern ganz gemäß und mit denselben geboren war. Dies belustigte meinen Vater bis auf einen gewissen Grad, ja er machte sich und uns manchmal den Spaß, die Affen auf diese Weise tanzen zu lassen. Nach meinem Unfall mit Gretchen und während meines ganzen Aufenthalts in Leipzig kam ich nicht wieder auf den Plan; vielmehr weiß ich noch, daß, als man mich auf einem Balle zu einer Menuett nötigte, Takt und Bewegung aus meinen Gliedern gewichen schien, und ich mich weder der Schritte noch der Figuren mehr erinnerte; so daß ich mit Schimpf und Schanden bestanden wäre, wenn nicht der größere Teil der Zuschauer behauptet hätte, mein ungeschicktes Betragen sei bloßer Eigensinn, in der Absicht, den Frauenzimmern alle Lust zu benehmen, mich wider Willen aufzufordern und in ihre Reihen zu ziehen.

Während meines Aufenthalts in Frankfurt war ich von solchen Freuden ganz abgeschnitten; aber in Straßburg regte sich bald, mit der übrigen Lebenslust, die Taktfähigkeit meiner Glieder. An Sonn- und Werkeltagen schlenderte man keinen Lustort vorbei, ohne daselbst einen fröhlichen Haufen zum Tanze versammelt, und zwar meistens im Kreise drehend zu finden. Ingleichen waren auf den Landhäusern Privatbälle, und man sprach schon von den brillanten Redouten des zukommenden Winters. Hier wäre ich nun freilich nicht an meinem Platz und der Gesellschaft unnütz gewesen; da riet mir ein Freund, der sehr gut walzte, mich erst in minder guten Gesellschaften zu üben, damit ich hernach in der besten etwas gelten könnte. Er brachte mich zu einem Tanzmeister, der für geschickt bekannt war; dieser versprach mir, wenn ich nur einigermaßen die ersten Anfangsgründe wiederholt und mir zu eigen gemacht hätte, mich dann weiter zu leiten. Er war eine von den trockenen, gewandten französischen Naturen, und nahm mich freundlich auf. Ich zahlte ihm den Monat voraus, und erhielt zwölf Billette, gegen die er mir gewisse Stunden Unterricht zusagte. Der Mann war streng, genau, aber nicht pedantisch; und da ich schon einige Vorübung hatte, so machte ich es ihm bald zu Danke und erhielt seinen Beifall.

Den Unterricht dieses Lehrers erleichterte jedoch ein Umstand gar sehr: er hatte nämlich zwei Töchter, beide hübsch und noch unter zwanzig Jahren. Von Jugend auf in dieser Kunst unterrichtet, zeigten sie sich darin sehr gewandt und hätten als Moitié auch dem ungeschicktesten Scholaren bald zu einiger Bildung verhelfen können. Sie waren beide sehr artig, sprachen nur französisch, und ich nahm mich von meiner Seite zusammen, um vor ihnen nicht linkisch und lächerlich zu erscheinen. Ich hatte das Glück, daß auch sie mich lobten, immer willig waren, nach der kleinen Geige des Vaters eine Menuett zu tanzen, ja sogar, was ihnen freilich beschwerlicher ward, mir nach und nach das Walzen und Drehen einzulernen. Übrigens schien der Vater nicht viele Kunden zu haben, und sie führten ein einsames Leben. Deshalb ersuchten sie mich manchmal nach der Stunde, bei ihnen zu bleiben und die Zeit ein wenig zu verschwätzen; das ich denn auch ganz gerne tat, um so mehr, als die jüngere mir wohl gefiel und sie sich überhaupt sehr anständig betrugen. Ich las manchmal aus einem Roman etwas vor, und sie taten das gleiche. Die ältere, die so hübsch, vielleicht noch hübscher war als die zweite, mir aber nicht so gut wie diese zusagte, betrug sich durchaus gegen mich verbindlicher und in allem gefälliger. Sie war in der Stunde immer bei der Hand und zog sie manchmal in die Länge; daher ich mich einigemal verpflichtet glaubte, dem Vater zwei Billette anzubieten, die er jedoch nicht annahm. Die jüngere hingegen, ob sie gleich nicht unfreundlich gegen mich tat, war doch eher still für sich, und ließ sich durch den Vater herbeirufen, um die ältere abzulösen.

Die Ursache davon ward mir eines Abends deutlich. Denn als ich mit der ältesten, nach vollendetem Tanz, in das Wohnzimmer gehen wollte, hielt sie mich zurück und sagte: »Bleiben wir noch ein wenig hier; denn ich will es Ihnen nur gestehen, meine Schwester hat eine Kartenschlägerin bei sich, die ihr offenbaren soll, wie es mit einem auswärtigen Freund beschaffen ist, an dem ihr ganzes Herz hängt, auf den sie alle ihre Hoffnung gesetzt hat. Das meinige ist frei«, fuhr sie fort, »und ich werde mich gewöhnen müssen, es verschmäht zu sehen.« Ich sagte ihr darauf einige Artigkeiten, indem ich versetzte, daß sie sich, wie es damit stehe, am ersten überzeugen könne, wenn sie die weise Frau gleichfalls befragte; ich wolle es auch tun, denn ich hätte schon längst so etwas zu erfahren gewünscht, woran mir bisher der Glaube gefehlt habe. Sie tadelte mich deshalb und beteuerte, daß nichts in der Welt sichrer sei, als die Aussprüche dieses Orakels, nur müsse man es nicht aus Scherz und Frevel, sondern nur in wahren Anliegenheiten befragen. Ich nötigte sie jedoch zuletzt, mit mir in jenes Zimmer zu gehen, sobald sie sich versichert hatte, daß die Funktion vorbei sei. Wir fanden die Schwester sehr aufgeräumt, und auch gegen mich war sie zutulicher als sonst, scherzhaft und beinahe geistreich: denn da sie eines abwesenden Freundes sicher geworden zu sein schien, so mochte sie es für unverfänglich halten, mit einem gegenwärtigen Freund ihrer Schwester, denn dafür hielt sie mich, ein wenig artig zu tun.

Der Alten wurde nun geschmeichelt und ihr gute Bezahlung zugesagt, wenn sie der älteren Schwester und auch mir das Wahrhafte sagen wollte. Mit den gewöhnlichen Vorbereitungen und Zeremonien legte sie nun ihren Kram aus, und zwar, um der Schönen zuerst zu weissagen. Sie betrachtete die Lage der Karten sorgfältig, schien aber zu stocken und wollte mit der Sprache nicht heraus. – »Ich sehe schon«, sagte die jüngere, die mit der Auslegung einer solchen magischen Tafel schon näher bekannt war, »Ihr zaudert und wollt meiner Schwester nichts Unangenehmes eröffnen; aber das ist eine verwünschte Karte!« Die ältere wurde blaß, doch faßte sie sich und sagte: »So sprecht nur; es wird ja den Kopf nicht kosten!« Die Alte, nach einem tiefen Seufzer, zeigte ihr nun an, daß sie liebe, daß sie nicht geliebt werde, daß eine andere Person dazwischen stehe, und was dergleichen Dinge mehr waren. Man sah dem guten Mädchen die Verlegenheit an. Die Alte glaubte die Sache wieder etwas zu verbessern, indem sie auf Briefe und Geld Hoffnung machte. – »Briefe«, sagte das schöne Kind, »erwarte ich nicht, und Geld mag ich nicht. Wenn es wahr ist, wie Ihr sagt, daß ich liebe, so verdiene ich ein Herz, das mich wieder liebt.« – »Wir wollen sehen, ob es nicht besser wird«, versetzte die Alte, indem sie die Karten mischte und zum zweitenmal auflegte; allein es war vor unser aller Augen nur noch schlimmer geworden. Die Schöne stand nicht allein einsamer, sondern auch mit mancherlei Verdruß umgeben; der Freund war etwas weiter und die Zwischenfiguren näher gerückt. Die Alte wollte zum drittenmal auslegen, in Hoffnung einer bessern Ansicht; allein das schöne Kind hielt sich nicht länger, sie brach in unbändiges Weinen aus, ihr holder Busen bewegte sich auf eine gewaltsame Weise, sie wandte sich um und rannte zum Zimmer hinaus. Ich wußte nicht, was ich tun sollte. Die Neigung hielt mich bei der Gegenwärtigen, das Mitleid trieb mich zu jener; meine Lage war peinlich genug. – »Trösten Sie Lucinden«, sagte die jüngere, »gehen Sie ihr nach.« Ich zauderte; wie durfte ich sie trösten, ohne sie wenigstens einer Art von Neigung zu versichern, und konnte ich das wohl in einem solchen Augenblick auf eine kalte mäßige Weise! – »Lassen Sie uns zusammen gehn«, sagte ich zu Emilien. – »Ich weiß nicht, ob ihr meine Gegenwart wohl tun wird«, versetzte diese. Doch gingen wir, fanden aber die Tür verriegelt. Lucinde antwortete nicht, wir mochten pochen, rufen, bitten wie wir wollten. – »Wir müssen sie gewähren lassen«, sagte Emilie, »sie will nun nicht an ders!« Und wenn ich mir freilich ihr Wesen von unserer ersten Bekanntschaft an erinnerte, so hatte sie immer etwas Heftiges und Ungleiches, und ihre Neigung zu mir zeigte sie am meisten dadurch, daß sie ihre Unart nicht an mir bewies. Was wollte ich tun! Ich bezahlte die Alte reichlich für das Unheil, das sie gestiftet hatte, und wollte gehen, als Emilie sagte: »Ich bedinge mir, daß die Karte nun auch auf Sie geschlagen werde.« Die Alte war bereit. – »Lassen Sie mich nicht dabei sein!« rief ich, und eilte die Treppe hinunter.

Den andern Tag hatte ich nicht Mut hinzugehen. Den dritten ließ mir Emilie durch einen Knaben, der mir schon manche Botschaft von den Schwestern gebracht und Blumen und Früchte dagegen an sie getragen hatte, in aller Frühe sagen, ich möchte heute ja nicht fehlen. Ich kam zur gewöhnlichen Stunde und fand den Vater allein, der an meinen Tritten und Schritten, an meinem Gehen und Kommen, an meinem Tragen und Behaben noch manches ausbesserte und übrigens mit mir zufrieden schien. Die jüngste kam gegen das Ende der Stunde und tanzte mit mir eine sehr graziöse Menuett, in der sie sich außerordentlich angenehm bewegte, und der Vater versicherte, nicht leicht ein hübscheres und gewandteres Paar auf seinem Plane gesehen zu haben. Nach der Stunde ging ich wie gewöhnlich ins Wohnzimmer; der Vater ließ uns allein, ich vermißte Lucinden. – »Sie liegt im Bette«, sagte Emilie, »und ich sehe es gern: haben Sie deshalb keine Sorge. Ihre Seelenkrankheit lindert sich am ersten, wenn sie sich körperlich für krank hält; sterben mag sie nicht gern, und so tut sie alsdann, was wir wollen. Wir haben gewisse Hausmittel, die sie zu sich nimmt und ausruht; und so legen sich nach und nach die tobenden Wellen. Sie ist gar zu gut und liebenswürdig bei so einer eingebildeten Krankheit, und da sie sich im Grunde recht wohl befindet und nur von Leidenschaft angegriffen ist, so sinnt sie sich allerhand romanenhafte Todesarten aus, vor denen sie sich auf eine angenehme Weise fürchtet, wie Kinder, denen man von Gespenstern erzählt. So hat sie mir gestern abend noch mit großer Heftigkeit erklärt, daß sie diesmal gewiß sterben würde, und man sollte den undankbaren falschen Freund, der ihr erst so schön getan und sie nun so übel behandle, nur dann wieder zu ihr führen, wenn sie wirklich ganz nahe am Tode sei: sie wolle ihm recht bittre Vorwürfe machen und auch sogleich den Geist aufgeben.« – »Ich weiß mich nicht schuldig!« rief ich aus, »daß ich irgend eine Neigung zu ihr geäußert. Ich kenne jemand, der mir dieses Zeugnis am besten erteilen kann.« Emilie lächelte und versetzte: »Ich verstehe Sie, und wenn wir nicht klug und entschlossen sind, so kommen wir alle zusammen in eine üble Lage. Was werden Sie sagen, wenn ich Sie ersuche, Ihre Stunden nicht weiter fortzusetzen? Sie haben von dem letzten Monat allenfalls noch vier Billette, und mein Vater äußerte schon, daß er es unverantwortlich finde, Ihnen noch länger Geld abzunehmen: es müßte denn sein, daß Sie sich der Tanzkunst auf eine ernstlichere Weise widmen wollten; was ein junger Mann in der Welt brauchte, besäßen Sie nun.« – »Und diesen Rat, Ihr Haus zu meiden, geben Sie mir, Emilie?« versetzte ich. – »Eben ich«, sagte sie, »aber nicht aus mir selbst. Hören Sie nur. Als Sie vorgestern wegeilten, ließ ich die Karte auf Sie schlagen, und derselbe Ausspruch wiederholte sich dreimal und immer stärker. Sie waren umgeben von allerlei Gutem und Vergnüglichem, von Freunden und großen Herren, an Geld fehlte es auch nicht. Die Frauen hielten sich in einiger Entfernung. Meine arme Schwester besonders stand immer am weitesten; eine andere rückte Ihnen immer näher, kam aber nie an Ihre Seite: denn es stellte sich ein Dritter dazwischen. Ich will Ihnen nur gestehen, daß ich mich unter der zweiten Dame gedacht hatte, und nach diesem Bekenntnisse werden Sie meinen wohlmeinenden Rat am besten begreifen. Einem entfernten Freund habe ich mein Herz und meine Hand zugesagt, und bis jetzt liebt’ ich ihn über alles; doch es wäre möglich, daß Ihre Gegenwart mir bedeutender würde als bisher, und was würden Sie für einen Stand zwischen zwei Schwestern haben, davon Sie die eine durch Neigung und die andere durch Kälte unglücklich gemacht hätten, und alle diese Qual um nichts und auf kurze Zeit. Denn wenn wir nicht schon wüßten, wer Sie sind und was Sie zu hoffen haben, so hätte mir es die Karte aufs deutlichste vor Augen gestellt. Leben Sie wohl«, sagte sie, und reichte mir die Hand. Ich zauderte. – »Nun«, sagte sie, indem sie mich gegen die Türe führte, »damit es wirklich das letztemal sei, daß wir uns sprechen, so nehmen Sie, was ich Ihnen sonst versagen würde.« Sie fiel mir um den Hals und küßte mich aufs zärtlichste. Ich umfaßte sie und drückte sie an mich.

In diesem Augenblicke flog die Seitentür auf, und die Schwester sprang in einem leichten aber anständigen Nachtkleide hervor und rief: »Du sollst nicht allein von ihm Abschied nehmen!« Emilie ließ mich fahren, und Lucinde ergriff mich, schloß sich fest an mein Herz, drückte ihre schwarzen Locken an meine Wangen und blieb eine Zeitlang in dieser Lage. Und so fand ich mich denn in der Klemme zwischen beiden Schwestern, wie mir’s Emilie einen Augenblick vorher geweissagt hatte. Lucinde ließ mich los und sah mir ernst ins Gesicht. Ich wollte ihre Hand ergreifen und ihr etwas Freundliches sagen; allein sie wandte sich weg, ging mit starken Schritten einigemal im Zimmer auf und ab und warf sich dann in die Ecke des Sofas. Emilie trat zu ihr, ward aber sogleich weggewiesen, und hier entstand eine Szene, die mir noch in der Erinnerung peinlich ist, und die, ob sie gleich in der Wirklichkeit nichts Theatralisches hatte, sondern einer lebhaften jungen Französin ganz angemessen war, dennoch nur von einer guten empfindenden Schauspielerin auf dem Theater würdig wiederholt werden könnte.

Lucinde überhäufte ihre Schwester mit tausend Vorwürfen. »Es ist nicht das erste Herz«, rief sie aus, »das sich zu mir neigt, und das du mir entwendest. War es doch mit dem Abwesenden ebenso, der sich zuletzt unter meinen Augen mit dir verlobte. Ich mußte es ansehen, ich ertrug’s; ich weiß aber, wie viele tausend Tränen es mich gekostet hat. Diesen hast du mir nun auch weggefangen, ohne jenen fahren zu lassen, und wie viele verstehst du nicht auf einmal zu halten. Ich bin offen und gutmütig, und jedermann glaubt, mich bald zu kennen und mich vernachlässigen zu dürfen; du bist versteckt und still, und die Leute glauben wunder was hinter dir verborgen sei. Aber es ist nichts dahinter als ein kaltes, selbstisches Herz, das sich alles aufzuopfern weiß; das aber kennt niemand so leicht, weil es tief in deiner Brust verborgen liegt, so wenig als mein warmes treues Herz, das ich offen trage, wie mein Gesicht.«

Emilie schwieg und hatte sich neben ihre Schwester gesetzt, die sich im Reden immer mehr erhitzte, und sich über gewisse besondere Dinge herausließ, die mir zu wissen eigentlich nicht frommte. Emilie dagegen, die ihre Schwester zu begütigen suchte, gab mir hinterwärts ein Zeichen, daß ich mich entfernen sollte; aber wie Eifersucht und Argwohn mit tausend Augen sehen, so schien auch Lucinde es bemerkt zu haben. Sie sprang auf und ging auf mich los, aber nicht mit Heftigkeit. Sie stand vor mir und schien auf etwas zu sinnen. Drauf sagte sie: »Ich weiß, daß ich Sie verloren habe; ich mache keine weitern Ansprüche auf Sie. Aber du sollst ihn auch nicht haben, Schwester!« Sie faßte mich mit diesen Worten ganz eigentlich beim Kopf, indem sie mir mit beiden Händen in die Locken fuhr, mein Gesicht an das ihre drückte und mich zu wiederholten Malen auf den Mund küßte. »Nun«, rief sie aus, »fürchte meine Verwünschung. Unglück über Unglück für immer und immer auf diejenige, die zum ersten Male nach mir diese Lippen küßt! Wage es nun wieder mit ihm anzubinden; ich weiß, der Himmel erhört mich diesmal. Und Sie, mein Herr, eilen Sie nun, eilen Sie, was Sie können!«

Ich flog die Treppe hinunter mit dem festen Vorsatze, das Haus nie wieder zu betreten.

 
 * 

Zehntes Buch

Die deutschen Dichter, da sie nicht mehr als Gildeglieder für einen Mann standen, genossen in der bürgerlichen Welt nicht der mindesten Vorteile. Sie hatten weder Halt, Stand noch Ansehn, als insofern sonst ein Verhältnis ihnen günstig war, und es kam daher bloß auf den Zufall an, ob das Talent zu Ehren oder Schanden geboren sein sollte. Ein armer Erdensohn, im Gefühl von Geist und Fähigkeiten, mußte sich kümmerlich ins Leben hineinschleppen und die Gabe, die er allenfalls von den Musen erhalten hatte, von dem augenblicklichen Bedürfnis gedrängt, vergeuden. Das Gelegenheitsgedicht, die erste und echteste aller Dichtarten, ward verächtlich auf einen Grad, daß die Nation noch jetzt nicht zu einem Begriff des hohen Wertes desselben gelangen kann, und ein Poet, wenn er nicht gar den Weg Günthers einschlug, erschien in der Welt auf die traurigste Weise subordiniert, als Spaßmacher und Schmarutzer, so daß er sowohl auf dem Theater als auf der Lebensbühne eine Figur vorstellte, der man nach Belieben mitspielen konnte.

Gesellte sich hingegen die Muse zu Männern von Ansehen, so erhielten diese dadurch einen Glanz, der auf die Geberin zurückfiel. Lebensgewandte Edelleute, wie Hagedorn, stattliche Bürger, wie Brockes, entschiedene Gelehrte, wie Haller, erschienen unter den Ersten der Nation, den Vornehmsten und Geschütztesten gleich. Besonders wurden auch solche Personen verehrt, die, neben jenem angenehmen Talente, sich noch als emsige, treue Geschäftsmänner auszeichneten. Deshalb erfreuten sich Uz, Rabener, Weiße einer Achtung ganz eigner Art, weil man die heterogensten, selten mit einander verbundenen Eigenschaften hier vereint zu schätzen hatte.

Nun sollte aber die Zeit kommen, wo das Dichtergenie sich selbst gewahr würde, sich seine eignen Verhältnisse selbst schüfe und den Grund zu einer unabhängigen Würde zu legen verstünde. Alles traf in Klopstock zusammen, um eine solche Epoche zu begründen. Er war, von der sinnlichen wie von der sittlichen Seite betrachtet, ein reiner Jüngling. Ernst und gründlich erzogen, legt er, von Jugend an, einen großen Wert auf sich selbst und auf alles, was er tut, und indem er die Schritte seines Lebens bedächtig vorausmißt, wendet er sich, im Vorgefühl der ganzen Kraft seines Innern, gegen den höchsten denkbaren Gegenstand. Der Messias, ein Name, der unendliche Eigenschaften bezeichnet, sollte durch ihn aufs neue verherrlicht werden. Der Erlöser sollte der Held sein, den er, durch irdische Gemeinheit und Leiden, zu den höchsten himmlischen Triumphen zu begleiten gedachte. Alles, was Göttliches, Englisches, Menschliches in der jungen Seele lag, ward hier in Anspruch genommen. Er, an der Bibel erzogen und durch ihre Kraft genährt, lebt nun mit Erzvätern, Propheten und Vorläufern als Gegenwärtigen; doch alle sind seit Jahrhunderten nur dazu berufen, einen lichten Kreis um den einen zu ziehn, dessen Erniedrigung sie mit Staunen beschauen, und an dessen Verherrlichung sie glorreich teilnehmen sollen. Denn endlich, nach trüben und schrecklichen Stunden, wird der ewige Richter sein Antlitz entwölken, seinen Sohn und Mitgott wieder anerkennen, und dieser wird ihm dagegen die abgewendeten Menschen, ja sogar einen abgefallenen Geist wieder zuführen. Die lebendigen Himmel jauchzen in tausend Engelstimmen um den Thron, und ein Liebesglanz übergießt das Weltall, das seinen Blick kurz vorher auf eine greuliche Opferstätte gesammelt hielt. Der himmlische Friede, welchen Klopstock bei Konzeption und Ausführung dieses Gedichtes empfunden, teilt sich noch jetzt einem jeden mit, der die ersten zehn Gesänge liest, ohne die Forderungen bei sich laut werden zu lassen, auf die eine fortrückende Bildung nicht gerne Verzicht tut.

Die Würde des Gegenstands erhöhte dem Dichter das Gefühl eigner Persönlichkeit. Daß er selbst dereinst zu diesen Chören eintreten, daß der Gottmensch ihn auszeichnen, ihm von Angesicht zu Angesicht den Dank für seine Bemühungen abtragen würde, den ihm schon hier jedes gefühlvolle, fromme Herz, durch manche reine Zähre, lieblich genug entrichtet hatte: dies waren so unschuldige kindliche Gesinnungen und Hoffnungen, als sie nur ein wohlgeschaffenes Gemüt haben und hegen kann. So erwarb nun Klopstock das völlige Recht, sich als eine geheiligte Person anzusehn, und so befliß er sich auch in seinem Tun der aufmerksamsten Reinigkeit. Noch in spätem Alter beunruhigte es ihn ungemein, daß er seine erste Liebe einem Frauenzimmer zugewendet hatte, die ihn, da sie einen andern heiratete, in Ungewißheit ließ, ob sie ihn wirklich geliebt habe, ob sie seiner wert gewesen sei. Die Gesinnungen, die ihn mit Meta verbanden, diese innige ruhige Neigung, der kurze heilige Ehestand, des überbliebenen Gatten Abneigung vor einer zweiten Verbindung, alles ist von der Art, um sich desselben einst im Kreise der Seligen wohl wieder erinnern zu dürfen.

Dieses ehrenhafte Verfahren gegen sich selbst ward noch dadurch erhöht, daß er in dem wohlgesinnten Dänemark in dem Hause eines großen und, auch menschlich betrachtet, fürtrefflichen Staatsmanns eine Zeitlang wohl aufgenommen war. Hier, in einem höheren Kreise, der zwar in sich abgeschlossen, aber auch zugleich der äußeren Sitte, der Aufmerksamkeit gegen die Welt gewidmet war, entschied sich seine Richtung noch mehr. Ein gefaßtes Betragen, eine abgemessene Rede, ein Lakonismus, selbst wenn er offen und entscheidend sprach, gaben ihm durch sein ganzes Leben ein gewisses diplomatisches, ministerielles Ansehn, das mit jenen zarten Naturgesinnungen im Widerstreit zu liegen schien, obgleich beide aus einer Quelle entsprangen. Von allem diesen geben seine ersten Werke ein reines Ab- und Vorbild, und sie mußten daher einen unglaublichen Einfluß gewinnen. Daß er jedoch persönlich andere Strebende im Leben und Dichten gefördert, ist kaum als eine seiner entschiedenen Eigenschaften zur Sprache gekommen.

Aber eben ein solches Fördernis junger Leute im literarischen Tun und Treiben, eine Lust, hoffnungsvolle, vom Glück nicht begünstigte Menschen vorwärts zu bringen und ihnen den Weg zu erleichtern, hat einen deutschen Mann verherrlicht, der, in Absicht auf Würde, die er sich selbst gab, wohl als der Zweite, in Absicht aber auf lebendige Wirkung als der Erste genannt werden darf. Niemanden wird entgehen, daß hier Gleim gemeint sei. Im Besitz einer zwar dunkeln, aber einträglichen Stelle, wohnhaft an einem wohlgelegenen, nicht allzu großen, durch militärische, bürgerliche, literarische Betriebsamkeit belebten Orte, von wo die Einkünfte einer großen und reichen Stiftung ausgingen, nicht ohne daß ein Teil derselben zum Vorteil des Platzes zurückblieb, fühlte er einen lebhaften produktiven Trieb in sich, der jedoch bei aller Stärke ihm nicht ganz genügte, deswegen er sich einem andern, vielleicht mächtigern Triebe hingab, dem nämlich, andere etwas hervorbringen zu machen. Beide Tätigkeiten flochten sich während seines ganzen langen Lebens unablässig durch einander. Er hätte ebensowohl des Atemholens entbehrt als des Dichtens und Schenkens, und indem er bedürftigen Talenten aller Art über frühere oder spätere Verlegenheiten hinaus und dadurch wirklich der Literatur zu Ehren half, gewann er sich so viele Freunde, Schuldner und Abhängige, daß man ihm seine breite Poesie gerne gelten ließ, weil man ihm für die reichlichen Wohltaten nichts zu erwidern vermochte als Duldung seiner Gedichte.

Jener hohe Begriff nun, den sich beide Männer von ihrem Wert bilden durften, und wodurch andere veranlaßt wurden, sich auch für etwas zu halten, hat im öffentlichen und geheimen sehr große und schöne Wirkungen hervorgebracht. Allein dieses Bewußtsein, so ehrwürdig es ist, führte für sie selbst, für ihre Umgebungen, ihre Zeit ein eignes Übel herbei. Darf man beide Männer, nach ihren geistigen Wirkungen, unbedenklich groß nennen, so blieben sie gegen die Welt doch nur klein, und gegen ein bewegteres Leben betrachtet, waren ihre äußeren Verhältnisse nichtig. Der Tag ist lang und die Nacht dazu; man kann nicht immer dichten, tun oder geben; ihre Zeit konnte nicht ausgefüllt werden, wie die der Weltleute, Vornehmen und Reichen; sie legten daher auf ihre besondern engen Zustände einen zu hohen Wert, in ihr tägliches Tun und Treiben eine Wichtigkeit, die sie sich nur unter einander zugestehn mochten; sie freuten sich mehr als billig ihrer Scherze, die, wenn sie den Augenblick anmutig machten, doch in der Folge keineswegs für bedeutend gelten konnten. Sie empfingen von andern Lob und Ehre, wie sie verdienten, sie gaben solche zurück, wohl mit Maß, aber doch immer zu reichlich, und eben weil sie fühlten, daß ihre Neigung viel wert sei, so gefielen sie sich, dieselbe wiederholt auszudrücken, und schonten hierbei weder Papier noch Tinte. So entstanden jene Briefwechsel, über deren Gehaltsmangel die neuere Welt sich verwundert, der man nicht verargen kann, wenn sie kaum die Möglichkeit einsieht, wie vorzügliche Menschen sich an einer solchen Wechselnichtigkeit ergetzen konnten, wenn sie den Wunsch laut werden läßt, dergleichen Blätter möchten ungedruckt geblieben sein. Allein man lasse jene wenigen Bände doch immer neben viel andern auf dem Bücherbrette stehen, wenn man sich daran belehrt hat, daß der vorzüglichste Mensch auch nur vom Tage lebt und nur kümmerlichen Unterhalt genießt, wenn er sich zu sehr auf sich selbst zurückwirft und in die Fülle der äußeren Welt zu greifen versäumt, wo er allein Nahrung für sein Wachstum und zugleich einen Maßstab desselben finden kann.

Die Tätigkeit jener Männer stand in ihrer schönsten Blüte, als wir jungen Leute uns auch in unserem Kreise zu regen anfingen, und ich war so ziemlich auf dem Wege, mit jüngeren Freunden, wo nicht auch mit älteren Personen, in so ein solches wechselseitiges Schönetun, Geltenlassen, Heben und Tragen zu geraten. In meiner Sphäre konnte das, was ich hervorbrachte, immer für gut gehalten werden. Frauenzimmer, Freunde, Gönner werden nicht schlecht finden, was man ihnen zu Liebe unternimmt und dichtet; aus solchen Verbindlichkeiten entspringt zuletzt der Ausdruck eines leeren Behagens an einander, in dessen Phrasen sich ein Charakter leicht verliert, wenn er nicht von Zeit zu Zeit zu höherer Tüchtigkeit gestählt wird.

Und so hatte ich von Glück zu sagen, daß, durch eine unerwartete Bekanntschaft, alles, was in mir von Selbstgefälligkeit, Bespiegelungslust, Eitelkeit, Stolz und Hochmut ruhen oder wirken mochte, einer sehr harten Prüfung ausgesetzt ward, die in ihrer Art einzig, der Zeit keineswegs gemäß, und nur desto eindringender und empfindlicher war.

Denn das bedeutendste Ereignis, was die wichtigsten Folgen für mich haben sollte, war die Bekanntschaft und die daran sich knüpfende nähere Verbindung mit Herder. Er hatte den Prinzen von Holstein- Eutin, der sich in traurigen Gemütszuständen befand, auf Reisen begleitet und war mit ihm bis Straßburg gekommen. Unsere Sozietät, sobald sie seine Gegenwart vernahm, trug ein großes Verlangen sich ihm zu nähern, und mir begegnete dies Glück zuerst ganz unvermutet und zufällig. Ich war nämlich in den Gasthof »Zum Geist« gegangen, ich weiß nicht welchen bedeutenden Fremden aufzusuchen. Gleich unten an der Treppe fand ich einen Mann, der eben auch hinaufzusteigen im Begriff war, und den ich für einen Geistlichen halten konnte. Sein gepudertes Haar war in eine runde Locke aufgesteckt, das schwarze Kleid bezeichnete ihn gleichfalls, mehr noch aber ein langer, schwarzer, seidner Mantel, dessen Ende er zusammengenommen und in die Tasche gesteckt hatte. Dieses einigermaßen auffallende, aber doch im ganzen galante und gefällige Wesen, wovon ich schon hatte sprechen hören, ließ mich keineswegs zweifeln, daß er der berühmte Ankömmling sei, und meine Anrede mußte ihn sogleich überzeugen, daß ich ihn kenne. Er fragte nach meinem Namen, der ihm von keiner Bedeutung sein konnte; allein meine Offenheit schien ihm zu gefallen indem er sie mit großer Freundlichkeit erwiderte, und, als wir die Treppe hinaufstiegen, sich sogleich zu einer lebhaften Mitteilung bereit finden ließ. Es ist mir entfallen, wen wir damals besuchten; genug, beim Scheiden bat ich mir die Erlaubnis aus, ihn bei sich zu sehen, die er mir denn auch freundlich genug erteilte. Ich versäumte nicht, mich dieser Vergünstigung wiederholt zu bedienen, und ward immer mehr von ihm angezogen. Er hatte etwas Weiches in seinem Betragen, das sehr schicklich und anständig war, ohne daß es eigentlich adrett gewesen wäre. Ein rundes Gesicht, eine bedeutende Stirn, eine etwas stumpfe Nase, einen etwas aufgeworfenen, aber höchst individuell angenehmen, liebenswürdigen Mund. Unter schwarzen Augenbrauen ein Paar kohlschwarze Augen, die ihre Wirkung nicht verfehlten, obgleich das eine rot und entzündet zu sein pflegte. Durch mannigfaltige Fragen suchte er sich mit mir und meinem Zustande bekannt zu machen, und seine Anziehungskraft wirkte immer stärker auf mich. Ich war überhaupt sehr zutraulicher Natur, und vor ihm besonders hatte ich gar kein Geheimnis. Es währte jedoch nicht lange, als der abstoßende Puls seines Wesens eintrat und mich in nicht geringes Mißbehagen versetzte. Ich erzählte ihm mancherlei von meinen Jugendbeschäftigungen und Liebhabereien, unter andern von einer Siegelsammlung, die ich hauptsächlich durch des korrespondenzreichen Hausfreundes Teilnahme zusammengebracht. Ich hatte sie nach dem Staatskalender eingerichtet, und war bei dieser Gelegenheit mit sämtlichen Potentaten, größern und geringern Mächten und Gewalten, bis auf den Adel herunter wohl bekannt geworden, und meinem Gedächtnis waren diese heraldischen Zeichen gar oft, und vorzüglich bei der Krönungsfeierlichkeit, zustatten gekommen. Ich sprach von diesen Dingen mit einiger Behaglichkeit; allein er war anderer Meinung, verwarf nicht allein dieses ganze Interesse, sondern wußte es mir auch lächerlich zu machen, ja beinahe zu verleiden.

Von diesem seinem Widersprechungsgeiste sollte ich noch gar manches ausstehen: denn er entschloß sich, teils weil er sich vom Prinzen abzusondern gedachte, teils eines Augenübels wegen, in Straßburg zu verweilen. Dieses Übel ist eins der beschwerlichsten und unangenehmsten, und um desto lästiger, als es nur durch eine schmerzliche, höchst verdrießliche und unsichere Operation geheilt werden kann. Das Tränensäckchen nämlich ist nach unten zu verschlossen, so daß die darin enthaltene Feuchtigkeit nicht nach der Nase hin und um so weniger abfließen kann, als auch dem benachbarten Knochen die Öffnung fehlt, wodurch diese Sekretion naturgemäß erfolgen sollte. Der Boden des Säckchens muß daher aufgeschnitten und der Knochen durchbohrt werden; da denn ein Pferdehaar durch den Tränenpunkt, ferner durch das eröffnete Säckchen und durch den damit in Verbindung gesetzten neuen Kanal gezogen und täglich hin und wider bewegt wird, um die Kommunikation zwischen beiden Teilen herzustellen, welches alles nicht getan noch erreicht werden kann, wenn nicht erst in jener Gegend äußerlich ein Einschnitt gemacht worden.

Herder war nun, vom Prinzen getrennt, in ein eignes Quartier gezogen, der Entschluß war gefaßt, sich durch Lobstein operieren zu lassen. Hier kamen mir jene Übungen gut zustatten, durch die ich meine Empfindlichkeit abzustumpfen versucht hatte; ich konnte der Operation beiwohnen und einem so werten Manne auf mancherlei Weise dienstlich und behülflich sein. Hier fand ich nun alle Ursache, seine große Standhaftigkeit und Geduld zu bewundern: denn weder bei den vielfachen chirurgischen Verwundungen, noch bei dem oftmals wiederholten schmerzlichen Verbande bewies er sich im mindesten verdrießlich, und er schien derjenige von uns zu sein, der am wenigsten litt; aber in der Zwischenzeit hatten wir freilich den Wechsel seiner Laune vielfach zu ertragen. Ich sage wir: denn es war außer mir ein behaglicher Russe, namens Pegelow, meistens um ihn. Dieser war ein früherer Bekannter von Herder in Riga gewesen, und suchte sich, obgleich kein Jüngling mehr, noch in der Chirurgie unter Lobsteins Anleitung zu vervollkommnen. Herder konnte allerliebst einnehmend und geistreich sein, aber ebenso leicht eine verdrießliche Seite hervorkehren. Dieses Anziehen und Abstoßen haben zwar alle Menschen ihrer Natur nach, einige mehr, einige weniger, einige in langsamern, andere in schnelleren Pulsen; wenige können ihre Eigenheiten hierin wirklich bezwingen, viele zum Schein. Was Herdern betrifft, so schrieb sich das Übergewicht seines widersprechenden, bittern, bissigen Humors gewiß von seinem Übel und den daraus entspringenden Leiden her. Dieser Fall kommt im Leben öfters vor, und man beachtet nicht genug die moralische Wirkung krankhafter Zustände, und beurteilt daher manche Charaktere sehr ungerecht, weil man alle Menschen für gesund nimmt und von ihnen verlangt, daß sie sich auch in solcher Maße betragen sollen.

Die ganze Zeit dieser Kur besuchte ich Herdern morgens und abends; ich blieb auch wohl ganze Tage bei ihm und gewöhnte mich in kurzem um so mehr an sein Schelten und Tadeln, als ich seine schönen und großen Eigenschaften, seine ausgebreiteten Kenntnisse, seine tiefen Einsichten täglich mehr schätzen lernte. Die Einwirkung dieses gutmütigen Polterers war groß und bedeutend. Er hatte fünf Jahre mehr als ich, welches in jüngeren Tagen schon einen großen Unterschied macht; und da ich ihn für das anerkannte, was er war, da ich dasjenige zu schätzen suchte, was er schon geleistet hatte, so mußte er eine große Superiorität über mich gewinnen. Aber behaglich war der Zustand nicht: denn ältere Personen, mit denen ich bis herumgegangen, hatten mich mit Schonung zu bilden gesucht, vielleicht auch durch Nachgiebigkeit verzogen; von Herdern aber konnte man niemals eine Billigung erwarten, man mochte sich anstellen wie man wollte. Indem nun also auf der einen Seite meine große Neigung und Verehrung für ihn, und auf der andern das Mißbehagen, das er in mir erweckte, beständig mit einander im Streit lagen; so entstand ein Zwiespalt in mir, der erste in seiner Art, den ich in meinem Leben empfunden hatte. Da seine Gespräche jederzeit bedeutend waren, er mochte fragen, antworten oder sich sonst auf eine Weise mitteilen; so mußte er mich zu neuen Ansichten täglich, ja stündlich befördern. In Leipzig hatte ich mir eher ein enges und abgezirkeltes Wesen angewöhnt, und meine allgemeinen Kenntnisse der deutschen Literatur konnten durch meinen Frankfurter Zustand nicht erweitert werden; ja mich hatten jene mystisch-religiösen chemischen Beschäftigungen in dunkle Regionen geführt, und was seit einigen Jahren in der weiten literarischen Welt vorgegangen, war mir meistens fremd geblieben. Nun wurde ich auf einmal durch Herder mit allem neuen Streben und mit allen den Richtungen bekannt, welche dasselbe zu nehmen schien. Er selbst hatte sich schon genugsam berühmt gemacht, und durch seine »Fragmente«, die »Kritischen Wälder« und anderes unmittelbar an die Seite der vorzüglichsten Männer gesetzt, welche seit längerer Zeit die Augen des Vaterlands auf sich zogen. Was in einem solchen Geiste für eine Bewegung, was in einer solchen Natur für eine Gärung müsse gewesen sein, läßt sich weder fassen noch darstellen. Groß aber war gewiß das eingehüllte Streben, wie man leicht eingestehn wird, wenn man bedenkt, wie viele Jahre nachher, und was er alles gewirkt und geleistet hat.

Wir hatten nicht lange auf diese Weise zusammengelebt, als er mir vertraute, daß er sich um den Preis, welcher auf die beste Schrift über den Ursprung der Sprachen von Berlin ausgesetzt war, mit zu bewerben gedenke. Seine Arbeit war schon ihrer Vollendung nahe, und wie er eine sehr reinliche Hand schrieb, so konnte er mir bald ein lesbares Manuskript heftweise mitteilen. Ich hatte über solche Gegenstände niemals nachgedacht, ich war noch zu sehr in der Mitte der Dinge befangen, als daß ich hätte an Anfang und Ende denken sollen. Auch schien mir die Frage einigermaßen müßig: denn wenn Gott den Menschen als Menschen erschaffen hatte, so war ihm ja so gut die Sprache als der aufrechte Gang anerschaffen; so gut er gleich merken mußte, daß er gehen und greifen könne, so gut mußte er auch gewahr werden, daß er mit der Kehle zu singen, und diese Töne durch Zunge, Gaumen und Lippen noch auf verschiedene Weise zu modifizieren vermöge. War der Mensch göttlichen Ursprungs, so war es ja auch die Sprache selbst, und war der Mensch, in dem Umkreis der Natur betrachtet, ein natürliches Wesen, so war die Sprache gleichfalls natürlich. Diese beiden Dinge konnte ich wie Seel’ und Leib niemals auseinander bringen. Süßmilch, bei einem kruden Realismus doch etwas phantastisch gesinnt, hatte sich für den göttlichen Ursprung entschieden, das heißt, daß Gott den Schulmeister bei den ersten Menschen gespielt habe. Herders Abhandlung ging darauf hinaus, zu zeigen, wie der Mensch als Mensch wohl aus eignen Kräften zu einer Sprache gelangen könne und müsse. Ich las die Abhandlung mit großem Vergnügen und zu meiner besondern Kräftigung; allein ich stand nicht hoch genug, weder im Wissen noch im Denken, um ein Urteil darüber zu begründen. Ich bezeigte dem Verfasser daher meinen Beifall, indem ich nur wenige Bemerkungen, die aus meiner Sinnesweise herflossen, hinzufügte. Eins aber wurde wie das andre aufgenommen; man wurde gescholten und getadelt, man mochte nun bedingt oder unbedingt zustimmen. Der dicke Chirurgus hatte weniger Geduld als ich; er lehnte die Mitteilung dieser Preisschrift humoristisch ab, und versicherte, daß er gar nicht eingerichtet sei, über so abstrakte Materien zu denken. Er drang vielmehr aufs L’hombre, welches wir gewöhnlich abends zusammen spielten.

Bei einer so verdrießlichen und schmerzhaften Kur verlor unser Herder nicht an seiner Lebhaftigkeit; sie ward aber immer weniger wohltätig. Er konnte nicht ein Billett schreiben, um etwas zu verlangen, das nicht mit irgend einer Verhöhnung gewürzt gewesen wäre. So schrieb er mir zum Beispiel einmal:

Wenn des Brutus Briefe dir sind in Ciceros Briefen,

Dir, den die Tröster der Schulen von wohlgehobelten Brettern,

Prachtgerüstete, trösten, doch mehr von außen als innen,

Der von Göttern du stammst, von Goten oder vom Kote,

Goethe, sende mir sie.

Es war freilich nicht fein, daß er sich mit meinem Namen diesen Spaß erlaubte: denn der Eigenname eines Menschen ist nicht etwa wie ein Mantel, der bloß um ihn her hängt und an dem man allenfalls noch zupfen und zerren kann, sondern ein vollkommen passendes Kleid, ja wie die Haut selbst ihm über und über angewachsen, an der man nicht schaben und schinden darf, ohne ihn selbst zu verletzen.

Der erste Vorwurf hingegen war gegründeter. Ich hatte nämlich die von Langern eingetauschten Autoren, und dazu noch verschiedene schöne Ausgaben aus meines Vaters Sammlung, mit nach Straßburg genommen und sie auf einem reinlichen Bücherbrett aufgestellt, mit dem besten Willen, sie zu benutzen. Wie sollte aber die Zeit zureichen, die ich in hunderterlei Tätigkeiten zersplitterte. Herder, der auf Bücher höchst aufmerksam war, weil er deren jeden Augenblick bedurfte, gewahrte beim ersten Besuch meine schöne Sammlung, aber auch bald, daß ich mich derselben gar nicht bediente; deswegen er, als der größte Feind alles Scheins und aller Ostentation, bei Gelegenheit mich damit aufzuziehen pflegte.

Noch ein anderes Spottgedicht fällt mir ein, das er mir abends nachsendete, als ich ihm von der Dresdner Galerie viel erzählt hatte. Freilich war ich in den höhern Sinn der italienischen Schule nicht eingedrungen, aber Dominico Feti, ein trefflicher Künstler, wiewohl Humorist und also nicht vom ersten Range, hatte mich sehr angesprochen. Geistliche Gegenstände mußten gemalt werden. Er hielt sich an die neutestamentlichen Parabeln und stellte sie gern dar, mit viel Eigenheit, Geschmack und guter Laune. Er führte sie dadurch ganz ans gemeine Leben heran, und die so geistreichen als naiven Einzelheiten seiner Kompositionen, durch einen freien Pinsel empfohlen, hatten sich mir lebendig eingedrückt. Über diesen meinen kindlichen Kunstenthusiasmus spottete Herder folgendergestalt:

Aus Sympathie

Behagt mir besonders ein Meister,

Dominico Feti heißt er.

Der parodiert die biblische Parabel

So hübsch zu einer Narrenfabel,

Aus Sympathie. – Du närrische Parabel!

Dergleichen mehr oder weniger heitre oder abstruse, muntre oder bittre Späße könnte ich noch manche anführen. Sie verdrossen mich nicht, waren mir aber unbequem. Da ich jedoch alles, was zu meiner Bildung beitrug, höchlich zu schätzen wußte, und ich ja mehrmals frühere Meinungen und Neigungen aufgegeben hatte; so fand ich mich gar bald darein und suchte nur, so viel mir auf meinem damaligen Standpunkt möglich war, gerechten Tadel von ungerechten Invektiven zu unterscheiden. Und so war denn auch kein Tag, der nicht auf das fruchtbarste lehrreich für mich gewesen wäre.

Ich ward mit der Poesie von einer ganz andern Seite, in einem andern Sinne bekannt als bisher, und zwar in einem solchen, der mir sehr zusagte. Die hebräische Dichtkunst, welche er nach seinem Vorgänger Lowth geistreich behandelte, die Volkspoesie, deren Überlieferungen im Elsaß aufzusuchen er uns antrieb, die ältesten Urkunden als Poesie gaben das Zeugnis, daß die Dichtkunst überhaupt eine Welt-und Völkergabe sei, nicht ein Privaterbteil einiger feinen gebildeten Männer. Ich verschlang das alles, und je heftiger ich im Empfangen, desto freigebiger war er im Geben, und wir brachten die interessantesten Stunden zusammen zu. Meine übrigen angefangenen Naturstudien suchte ich fortzusetzen, und da man immer Zeit genug hat, wenn man sie gut anwenden will; so gelang mir mitunter das Doppelte und Dreifache. Was die Fülle dieser wenigen Wochen betrifft, welche wir zusammen lebten, kann ich wohl sagen, daß alles, was Herder nachher allmählich ausgeführt hat, im Keim angedeutet ward, und daß ich dadurch in die glückliche Lage geriet, alles, was ich bisher gedacht, gelernt, mir zugeeignet hatte, zu komplettieren, an ein Höheres anzuknüpfen, zu erweitern. Wäre Herder methodischer gewesen, so hätte ich auch für eine dauerhafte Richtung meiner Bildung die köstlichste Anleitung gefunden; aber er war mehr geneigt zu prüfen und anzuregen, als zu führen und zu leiten. So machte er mich zuerst mit Hamanns Schriften bekannt, auf die er einen sehr großen Wert setzte. Anstatt mich aber über dieselben zu belehren und mir den Hang und Gang dieses außerordentlichen Geistes begreiflich zu machen; so diente es ihm gewöhnlich nur zur Belustigung, wenn ich mich, um zu dem Verständnis solcher sibyllischen Blätter zu gelangen, freilich wunderlich genug gebärdete. Indessen fühlte ich wohl, daß mir in Hamanns Schriften etwas zusagte, dem ich mich überließ, ohne zu wissen, woher es komme und wohin es führe.

Nachdem die Kur länger als billig gedauert, Lobstein in seiner Behandlung zu schwanken und sich zu wiederholen anfing, so daß die Sache kein Ende nehmen wollte, auch Pegelow mir schon heimlich anvertraut hatte, daß wohl schwerlich ein guter Ausgang zu hoffen sei; so trübte sich das ganze Verhältnis: Herder ward ungeduldig und mißmutig, es wollte ihm nicht gelingen, seine Tätigkeit wie bisher fortzusetzen, und er mußte sich um so mehr einschränken, als man die Schuld des mißratenen chirurgischen Unternehmens auf Herders allzu große geistige Anstrengung und seinen ununterbrochenen lebhaften, ja lustigen Umgang mit uns zu schieben anfing. Genug, nach so viel Qual und Leiden wollte die künstliche Tränenrinne sich nicht bilden und die beabsichtigte Kommunikation nicht zustande kommen. Man sah sich genötigt, damit das Übel nicht ärger würde, die Wunde zugehn zu lassen. Wenn man nun bei der Operation Herders Standhaftigkeit unter solchen Schmerzen bewundern mußte, so hatte seine melancholische, ja grimmige Resignation in den Gedanken, zeitlebens einen solchen Makel tragen zu müssen, etwas wahrhaft Erhabenes, wodurch er sich die Verehrung derer, die ihn schauten und liebten, für immer zu eigen machte. Dieses Übel, das ein so bedeutendes Angesicht entstellte, mußte ihm um so ärgerlicher sein, als er ein vorzügliches Frauenzimmer in Darmstadt kennen gelernt und sich ihre Neigung erworben hatte. Hauptsächlich in diesem Sinne mochte er sich jener Kur unterwerfen, um bei der Rückreise freier, fröhlicher, wohlgebildeter vor seine Halbverlobte zu treten, und sich gewisser und unverbrüchlicher mit ihr zu verbinden. Er eilte jedoch, sobald als möglich von Straßburg wegzukommen, und weil sein bisheriger Aufenthalt so kostbar als unangenehm gewesen, erborgte ich eine Summe Geldes für ihn, die er auf einen bestimmten Termin zu erstatten versprach. Die Zeit verstrich, ohne daß das Geld ankam. Mein Gläubiger mahnte mich zwar nicht, aber ich war doch mehrere Wochen in Verlegenheit. Endlich kam Brief und Geld, und auch hier verleugnete er sich nicht: denn anstatt eines Dankes, einer Entschuldigung enthielt sein Schreiben lauter spöttliche Dinge in Knittelversen, die einen andern irre, oder gar abwendig gemacht hätten; mich aber rührte das nicht weiter, da ich von seinem Wert einen so großen und mächtigen Begriff gefaßt hatte, der alles Widerwärtige verschlang, was ihm hätte schaden können.

Man soll jedoch von eignen und fremden Fehlern niemals, am wenigsten öffentlich reden, wenn man nicht dadurch etwas Nützliches zu bewirken denkt; deshalb will ich hier gewisse zudringende Bemerkungen einschalten.

Dank und Undank gehören zu denen in der moralischen Welt jeden Augenblick hervortretenden Ereignissen, worüber die Menschen sich unter einander niemals beruhigen können. Ich pflege einen Unterschied zu machen zwischen Nichtdankbarkeit, Undank und Widerwillen gegen den Dank. Jene erste ist dem Menschen angeboren, ja anerschaffen: denn sie entspringt aus einer glücklichen, leichtsinnigen Vergessenheit des Widerwärtigen wie des Erfreulichen, wodurch ganz allein die Fortsetzung des Lebens möglich wird. Der Mensch bedarf so unendlich vieler äußeren Vor- und Mitwirkungen zu einem leidlichen Dasein, daß, wenn er der Sonne und der Erde, Gott und der Natur, Vorvordern und Eltern, Freunden und Gesellen immer den gebührenden Dank abtragen wollte, ihm weder Zeit noch Gefühl übrig bliebe, um neue Wohltaten zu empfangen und zu genießen. Läßt nun freilich der natürliche Mensch jenen Leichtsinn in und über sich walten, so nimmt eine kalte Gleichgültigkeit immer mehr überhand, und man sieht den Wohltäter zuletzt als einen Fremden an, zu dessen Schaden man allenfalls, wenn es uns nützlich wäre, auch etwas unternehmen dürfte. Dies allein kann eigentlich Undank genannt werden, der aus der Roheit entspringt, worin die ungebildete Natur sich am Ende notwendig verlieren muß. Widerwille gegen das Danken jedoch, Erwiderung einer Wohltat durch unmutiges und verdrießliches Wesen ist sehr selten und kommt nur bei vorzüglichen Menschen vor: solchen, die mit großen Anlagen und dem Vorgefühl derselben, in einem niederen Stande oder in einer hülflosen Lage geboren, sich von Jugend auf Schritt vor Schritt durchdrängen und von allen Orten her Hülfe und Beistand annehmen müssen, die ihnen denn manchmal durch Plumpheit der Wohltäter vergällt und widerwärtig werden, indem das, was sie empfangen, irdisch und das, was sie dagegen leisten, höherer Art ist, so daß eine eigentliche Kompensation nicht gedacht werden kann. Lessing hat bei dem schönen Bewußtsein, das ihm, in seiner besten Lebenszeit, über irdische Dinge zuteil ward, sich hierüber einmal derb aber heiter ausgesprochen. Herder hingegen vergällte sich und andern immerfort die schönsten Tage, da er jenen Unmut, der ihn in der Jugend notwendig ergriffen hatte, in der Folgezeit durch Geisteskraft nicht zu mäßigen wußte.

Diese Forderung kann man gar wohl an sich machen: denn der Bildungsfähigkeit eines Menschen kommt das Licht der Natur, welches immer tätig ist, ihn über seine Zustände aufzuklären, auch hier gar freundlich zustatten; und überhaupt sollte man in manchen sittlichen Bildungsfällen die Mängel nicht zu schwer nehmen, und sich nicht nach allzu ernsten weitliegenden Mitteln umsehen, da sich gewisse Fehler sehr leicht, ja spielend abtun lassen. So können wir zum Beispiel die Dankbarkeit in uns durch bloße Gewohnheit erregen, lebendig erhalten, ja zum Bedürfnis machen.

In einem biographischen Versuch ziemt es wohl, von sich selbst zu reden. Ich bin von Natur so wenig dankbar als irgend ein Mensch, und beim Vergessen empfangenes Guten konnte das heftige Gefühl eines augenblicklichen Mißverhältnisses mich sehr leicht zum Undank verleiten.

Diesem zu begegnen, gewöhnte ich mich zuvörderst, bei allem, was ich besitze, mich gern zu erinnern, wie ich dazu gelangt, von wem ich es erhalten, es sei durch Geschenk, Tausch oder Kauf, oder auf irgend eine andre Art. Ich habe mich gewöhnt, beim Vorzeigen meiner Sammlungen der Personen zu gedenken, durch deren Vermittelung ich das einzelne erhielt, ja der Gelegenheit, dem Zufall, der entferntesten Veranlassung und Mitwirkung, wodurch mir Dinge geworden, die mir lieb und wert sind, Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Das, was uns umgibt, erhält dadurch ein Leben, wir sehen es in geistiger, liebevoller, genetischer Verknüpfung, und durch das Vergegenwärtigen vergangener Zustände wird das augenblickliche Dasein erhöht und bereichert, die Urheber der Gaben steigen wiederholt vor der Einbildungskraft hervor, man verknüpft mit ihrem Bilde eine angenehme Erinnerung, macht sich den Undank unmöglich und ein gelegentliches Erwidern leicht und wünschenswert. Zugleich wird man auf die Betrachtung desjenigen geführt, was nicht sinnlicher Besitz ist, und man rekapituliert gar gern, woher sich unsere höheren Güter schreiben und datieren.

Ehe ich nun von jenem für mich so bedeutenden und folgereichen Verhältnisse zu Herdern den Blick hinwegwende, finde ich noch einiges nachzubringen. Es war nichts natürlicher, als daß ich nach und nach in Mitteilung dessen, was bisher zu meiner Bildung beigetragen, besonders aber solcher Dinge, die mich noch in dem Augenblicke ernstlich beschäftigten, gegen Herdern immer karger und karger ward. Er hatte mir den Spaß an so manchem, was ich früher geliebt, verdorben und mich besonders wegen der Freude, die ich an Ovids »Metamorphosen« gehabt, aufs strengste getadelt. Ich mochte meinen Liebling in Schutz nehmen wie ich wollte, ich mochte sagen, daß für eine jugendliche Phantasie nichts erfreulicher sein könne, als in jenen heitern und herrlichen Gegenden mit Göttern und Halbgöttern zu verweilen und ein Zeuge ihres Tuns und ihrer Leidenschaften zu sein; ich mochte jenes oben erwähnte Gutachten eines ernsthaften Mannes umständlich beibringen und solches durch meine eigne Erfahrung bekräftigen: das alles sollte nicht gelten, es sollte sich keine eigentliche unmittelbare Wahrheit in diesen Gedichten finden; hier sei weder Griechenland noch Italien, weder eine Urwelt noch eine gebildete, alles vielmehr sei Nachahmung des schon Dagewesenen und eine manierierte Darstellung, wie sie sich nur von einem Überkultivierten erwarten lasse. Und wenn ich denn zuletzt behaupten wollte: was ein vorzügliches Individuum hervorbringe, sei doch auch Natur, und unter allen Völkern, frühern und spätern, sei doch immer nur der Dichter Dichter gewesen; so wurde mir dies nun gar nicht gut gehalten, und ich mußte manches deswegen ausstehen, ja mein Ovid war mir beinah dadurch verleidet: denn es ist keine Neigung, keine Gewohnheit so stark, daß sie gegen die Mißreden vorzüglicher Menschen, in die man Vertrauen setzt, auf die Länge sich erhalten könnte. Immer bleibt etwas hängen, und wenn man nicht unbedingt lieben darf, sieht es mit der Liebe schon mißlich aus.

Am sorgfältigsten verbarg ich ihm das Interesse an gewissen Gegenständen, die sich bei mir eingewurzelt hatten und sich nach und nach zu poetischen Gestalten ausbilden wollten. Es war Götz von Berlichingen und Faust. Die Lebensbeschreibung des erstern hatte mich im Innersten ergriffen. Die Gestalt eines rohen, wohlmeinenden Selbsthelfers in wilder anarchischer Zeit erregte meinen tiefsten Anteil. Die bedeutende Puppenspielfabel des andern klang und summte gar vieltönig in mir wider. Auch ich hatte mich in allem Wissen umhergetrieben und war früh genug auf die Eitelkeit desselben hingewiesen worden. Ich hatte es auch im Leben auf allerlei Weise versucht, und war immer unbefriedigter und gequälter zurückgekommen. Nun trug ich diese Dinge, sowie manche andre, mit mir herum und ergetzte mich daran in einsamen Stunden, ohne jedoch etwas davon aufzuschreiben. Am meisten aber verbarg ich vor Herdern meine mystisch-kabbalistische Chemie und was sich darauf bezog, ob ich mich gleich noch sehr gern heimlich beschäftigte, sie konsequenter auszubilden, als man sie mir überliefert hatte. Von poetischen Arbeiten glaube ich ihm »Die Mitschuldigen« vorgelegt zu haben, doch erinnere ich mich nicht, daß mir irgend eine Zurechtweisung oder Aufmunterung von seiner Seite hierüber zuteil geworden wäre. Aber bei diesem allen blieb er, der er war; was von ihm ausging, wirkte, wenn auch nicht erfreulich, doch bedeutend; ja seine Handschrift sogar übte auf mich eine magische Gewalt aus. Ich erinnere mich nicht, daß ich eins seiner Blätter, ja nur ein Couvert von seiner Hand, zerrissen oder verschleudert hätte; dennoch ist mir, bei den so mannigfaltigen Ort- und Zeitwechseln, kein Dokument jener wunderbaren, ahndungsvollen und glücklichen Tage übrig geblieben.

Daß übrigens Herders Anziehungskraft sich so gut auf andre als auf mich wirksam erwies, würde ich kaum erwähnen, hätte ich nicht zu bemerken, daß sie sich besonders auf Jung, genannt Stilling, erstreckt habe. Das treue redliche Streben dieses Mannes mußte jeden, der nur irgend Gemüt hatte, höchlich interessieren, und seine Empfänglichkeit jeden, der etwas mitzuteilen imstande war, zur Offenheit reizen. Auch betrug sich Herder gegen ihn nachsichtiger als gegen uns andre: denn seine Gegenwirkung schien jederzeit mit der Wirkung, die auf ihn geschah, im Verhältnis zu stehn. Jungs Umschränktheit war von so viel gutem Willen, sein Vordringen von so viel Sanftheit und Ernst begleitet, daß ein Verständiger gewiß nicht hart gegen ihn sein, und ein Wohlwollender ihn nicht verhöhnen noch zum besten haben konnte. Auch war Jung durch Herdern dergestalt exaltiert, daß er sich in allem seinen Tun gestärkt und gefördert fühlte, ja seine Neigung gegen mich schien in eben diesem Maße abzunehmen; doch blieben wir immer gute Gesellen, wir trugen einander vor wie nach und erzeigten uns wechselseitig die freundlichsten Dienste.

Entfernen wir uns jedoch nunmehr von der freundschaftlichen Krankenstube und von den allgemeinen Betrachtungen, welche eher auf Krankheit als auf Gesundheit des Geistes deuten; begeben wir uns in die freie Luft, auf den hohen und breiten Altan des Münsters, als wäre die Zeit noch da, wo wir junge Gesellen uns öfters dorthin auf den Abend beschieden, um mit gefüllten Römern die scheidende Sonne zu begrüßen. Hier verlor sich alles Gespräch in die Betrachtung der Gegend, alsdann wurde die Schärfe der Augen geprüft, und jeder bestrebte sich, die entferntesten Gegenstände gewahr zu werden, ja deutlich zu unterscheiden. Gute Fernröhre wurden zu Hülfe genommen, und ein Freund nach dem andern bezeichnete genau die Stelle, die ihm die liebste und werteste geworden; und schon fehlte es auch mir nicht an einem solchen Plätzchen, das, ob es gleich nicht bedeutend in der Landschaft hervortrat, mich doch mehr als alles andere mit einem lieblichen Zauber an sich zog. Bei solchen Gelegenheiten ward nun durch Erzählung die Einbildungskraft angeregt und manche kleine Reise verabredet, ja oft aus dem Stegreife unternommen, von denen ich nur eine statt vieler umständlich erzählen will, da sie in manchem Sinne für mich folgereich gewesen.

Mit zwei werten Freunden und Tischgenossen, Engelbach und Weyland, beide aus dem untern Elsaß gebürtig, begab ich mich zu Pferde nach Zabern, wo uns, bei schönem Wetter, der kleine freundliche Ort gar anmutig anlachte. Der Anblick des bischöflichen Schlosses erregte unsere Bewunderung; eines neuen Stalles Weitläuftigkeit, Größe und Pracht zeugten von dem übrigen Wohlbehagen des Besitzers. Die Herrlichkeit der Treppe überraschte uns, die Zimmer und Säle betraten wir mit Ehrfurcht, nur kontrastierte die Person des Kardinals, ein kleiner zusammengefallener Mann, den wir speisen sahen. Der Blick in den Garten ist herrlich, und ein Kanal, drei Viertelstunden lang, schnurgerade auf die Mitte des Schlosses gerichtet, gibt einen hohen Begriff von dem Sinn und den Kräften der vorigen Besitzer. Wir spazierten daran hin und wider und genossen mancher Partien dieses schön gelegenen Ganzen, zu Ende der herrlichen Elsasser Ebene, am Fuße der Vogesen.

Nachdem wir uns nun an diesem geistlichen Vorposten einer königlichen Macht erfreut, und es uns in seiner Region wohl sein lassen, gelangten wir früh den andern Morgen zu einem öffentlichen Werk, das höchst würdig den Eingang in ein mächtiges Königreich eröffnet. Von der aufgehenden Sonne beschienen, erhob sich vor uns die berühmte Zaberner Steige, ein Werk von unüberdenklicher Arbeit. Schlangenweis, über die fürchterlichsten Felsen aufgemauert, führt eine Chaussee, für drei Wagen neben einander breit genug, so leise bergauf, daß man es kaum empfindet. Die Härte und Glätte des Wegs, die geplatteten Erhöhungen an beiden Seiten für die Fußgänger, die steinernen Rinnen zum Ableiten der Bergwasser, alles ist so reinlich als künstlich und dauerhaft hergerichtet, daß es einen genügenden Anblick gewährt. So gelangt man allmählich nach Pfalzburg, einer neueren Festung. Sie liegt auf einem mäßigen Hügel; die Werke sind elegant auf schwärzlichen Felsen von gleichem Gestein erbaut, die mit Kalk weiß ausgestrichenen Fugen bezeichnen genau die Größe der Quadern und geben von der reinlichen Arbeit ein auffallendes Zeugnis. Den Ort selbst fanden wir, wie sich’s für eine Festung geziemt, regelmäßig, von Steinen gebaut, die Kirche geschmackvoll. Als wir durch die Straßen wandelten – es war Sonntags früh um neun –, hörten wir Musik; man walzte schon im Wirtshause nach Herzenslust, und da sich die Einwohner durch die große Teurung, ja durch die drohende Hungersnot in ihrem Vergnügen nicht irre machen ließen, so ward auch unser jugendlicher Frohsinn keineswegs getrübt, als uns der Bäcker einiges Brot auf die Reise versagte und uns in den Gasthof verwies, wo wir es allenfalls an Ort und Stelle verzehren dürften.

Sehr gern ritten wir nun wieder die Steige hinab, um dieses architektonische Wunder zum zweiten Male anzustaunen, und uns der erquickenden Aussicht über das Elsaß nochmals zu erfreuen. Wir gelangten bald nach Buchsweiler, wo uns Freund Weyland eine gute Aufnahme vorbereitet hatte. Dem frischen jugendlichen Sinne ist der Zustand einer kleinen Stadt sehr gemäß; die Familienverhältnisse sind näher und fühlbarer, das Hauswesen, das zwischen läßlicher Amtsbeschäftigung, städtischem Gewerb, Feld- und Gartenbau mit mäßiger Tätigkeit sich hin und wider bewegt, lädt uns ein zu freundlicher Teilnahme, die Geselligkeit ist notwendig, und der Fremde befindet sich in den beschränkten Kreisen sehr angenehm, wenn ihn nicht etwa die Mißhelligkeiten der Einwohner, die an solchen Orten fühlbarer sind, irgendwo berühren. Dieses Städtchen war der Hauptplatz der Grafschaft Hanau-Lichtenberg, dem Landgrafen von Darmstadt unter französischer Hoheit gehörig. Eine daselbst angestellte Regierung und Kammer machten den Ort zum bedeutenden Mittelpunkt eines sehr schönen und wünschenswerten fürstlichen Besitzes. Wir vergaßen leicht die ungleichen Straßen, die unregelmäßige Bauart des Orts, wenn wir heraustraten, um das alte Schloß und die an einem Hügel vortrefflich angelegten Gärten zu beschauen. Mancherlei Lustwäldchen, eine zahme und wilde Fasanerie und die Reste mancher ähnlichen Anstalten zeigten, wie angenehm diese kleine Residenz ehemals müsse gewesen sein.

Doch alle diese Betrachtungen übertraf der Anblick, wenn man von dem nahgelegenen Bastberg die völlig paradiesische Gegend überschaute. Diese Höhe, ganz aus verschiedenen Muscheln zusammengehäuft, machte mich zum ersten Male auf solche Dokumente der Vorwelt aufmerksam; ich hatte sie noch niemals in so großer Masse beisammen gesehn. Doch wendete sich der schaulustige Blick bald ausschließlich in die Gegend. Man steht auf dem letzten Vorgebirge nach dem Lande zu; gegen Norden liegt eine fruchtbare, mit kleinen Wäldchen durchzogene Fläche, von einem ernsten Gebirge begrenzt, das sich gegen Abend nach Zabern hin erstreckt, wo man den bischöflichen Palast und die eine Stunde davon liegende Abtei St. Johann deutlich erkennen mag. Von da verfolgt das Auge die immer mehr schwindende Bergkette der Vogesen bis nach Süden hin. Wendet man sich gegen Nordost, so sieht man das Schloß Lichtenberg auf einem Felsen, und gegen Südost hat das Auge die unendliche Fläche des Elsasses zu durchforschen, die sich in immer mehr abduftenden Landschaftsgründen dem Gesicht entzieht, bis zuletzt die schwäbischen Gebirge schattenweis in den Horizont verfließen.

Schon bei meinen wenigen Wanderungen durch die Welt hatte ich bemerkt, wie bedeutend es sei, sich auf Reisen nach dem Laufe der Wasser zu erkundigen, ja bei dem kleinsten Bache zu fragen, wohin er denn eigentlich laufe. Man erlangt dadurch eine Übersicht von jeder Flußregion, in der man eben befangen ist, einen Begriff von den Höhen und Tiefen, die auf einander Bezug haben, und windet sich am sichersten an diesen Leitfäden, welche sowohl dem Anschauen als dem Gedächtnis zu Hülfe kommen, aus geologischem und politischem Ländergewirre. In dieser Betrachtung nahm ich feierlichen Abschied von dem teuren Elsaß, da wir uns den andern Morgen nach Lothringen zu wenden gedachten.

Der Abend ging hin in vertraulichen Gesprächen, wo man sich über eine unerfreuliche Gegenwart durch Erinnerung an eine bessere Vergangenheit zu erheitern suchte. Vor allem andern war hier, wie im ganzen Ländchen, der Name des letzten Grafen Reinhard von Hanau in Segen, dessen großer Verstand und Tüchtigkeit in allem seinen Tun und Lassen hervortrat, und von dessen Dasein noch manches schöne Denkmal übrig geblieben war. Solche Männer haben den Vorzug, doppelte Wohltäter zu sein, einmal für die Gegenwart, die sie beglücken, und sodann für die Zukunft, deren Gefühl und Mut sie nähren und aufrecht erhalten.

Als wir nun uns nordwestwärts in das Gebirg wendeten und bei Lützelstein, einem alten Bergschloß in einer sehr hügelvollen Gegend, vorbeizogen, und in die Region der Saar und Mosel hinabstiegen, fing der Himmel an sich zu trüben, als wollte er uns den Zustand des rauheren Westreiches noch fühlbarer machen. Das Tal der Saar, wo wir zuerst Bockenheim, einen kleinen Ort, antrafen, und gegenüber Neusaarwerden, gut gebaut, mit einem Lustschloß, erblickten, ist zu beiden Seiten von Bergen begleitet, die traurig heißen könnten, wenn nicht an ihrem Fuß eine unendliche Folge von Wiesen und Matten, die Hohnau genannt, sich bis Saaralben und weiter hin unübersehlich erstreckte. Große Gebäude eines ehmaligen Gestütes der Herzoge von Lothringen ziehen hier den Blick an; sie dienen gegenwärtig, zu solchen Zwecken freilich sehr wohl gelegen, als Meierei. Wir gelangten über Saargemünd nach Saarbrück, und diese kleine Residenz war ein lichter Punkt im einem so felsig waldigen Lande. Die Stadt, klein und hüglig, aber durch den letzten Fürsten wohl ausgeziert, macht sogleich einen angenehmen Eindruck, weil die Häuser alle grauweiß angestrichen sind und die verschiedene Höhe derselben einen mannigfaltigen Anblick gewährt. Mitten auf einem schönen mit ansehnlichen Gebäuden umgebenen Platze steht die lutherische Kirche, in einem kleinen, aber dem Ganzen entsprechenden Maßstabe. Die Vorderseite des Schlosses liegt mit der Stadt auf ebenem Boden, die Hinterseite dagegen am Abhange eines steilen Felsens. Diesen hat man nicht allein terrassenweis abgearbeitet, um bequem in das Tal zu gelangen, sondern man hat sich auch unten einen länglich-viereckten Gartenplatz, durch Verdrängung des Flusses an der einen und durch Abschroten des Felsens an der andern Seite, verschafft, worauf denn dieser ganze Raum erst mit Erde ausgefüllt und bepflanzt worden. Die Zeit dieser Unternehmung fiel in die Epoche, da man bei Gartenanlagen den Architekten zu Rate zog, wie man gegenwärtig das Auge des Landschaftsmalers zu Hülfe nimmt. Die ganze Einrichtung des Schlosses, das Kostbare und Angenehme, das Reiche und Zierliche deuteten auf einen lebenslustigen Besitzer, wie der verstorbene Fürst gewesen war; der gegenwärtige befand sich nicht am Orte. Präsident von Günderode empfing uns aufs verbindlichste und bewirtete uns drei Tage besser, als wir es erwarten durften. Ich benutzte die mancherlei Bekanntschaften, zu denen wir gelangten, um mich vielseitig zu unterrichten. Das genußreiche Leben des vorigen Fürsten gab Stoff genug zur Unterhaltung, nicht weniger die mannigfaltigen Anstalten, die er getroffen, um Vorteile, die ihm die Natur seines Landes darbot, zu benutzen. Hier wurde ich nun eigentlich in das Interesse der Berggegenden eingeweiht, und die Lust zu ökonomischen und technischen Betrachtungen, welche mich einen großen Teil meines Lebens beschäftigt haben, zuerst erregt. Wir hörten von den reichen Dudweiler Steinkohlengruben, von Eisen- und Alaunwerken, ja sogar von einem brennenden Berge, und rüsteten uns, diese Wunder in der Nähe zu beschauen.

Nun zogen wir durch waldige Gebirge, die demjenigen, der aus einem herrlichen fruchtbaren Lande kommt, wüst und traurig erscheinen müssen, und die nur durch den innern Gehalt ihres Schoßes uns anziehen können. Kurz hinter einander wurden wir mit einem einfachen und einem komplizierten Maschinenwerke bekannt, mit einer Sensenschmiede und einem Drahtzug. Wenn man sich an jener schon erfreut, daß sie sich an die Stelle gemeiner Hände setzt, so kann man diesen nicht genug bewundern, indem er in einem höheren organischen Sinne wirkt, von dem Verstand und Bewußtsein kaum zu trennen sind. In der Alaunhütte erkundigten wir uns genau nach der Gewinnung und Reinigung dieses so nötigen Materials, und als wir große Haufen eines weißen, fetten, lockeren, erdigen Wesens bemerkten und dessen Nutzen erforschten, antworteten die Arbeiter lächelnd, es sei der Schaum, der sich beim Alaunsieden obenauf werfe, und den Herr Stauf sammeln lasse, weil er denselben gleichfalls hoffe zu Gute zu machen. – »Lebt Herr Stauf noch?« rief mein Begleiter verwundert aus. Man bejahte es und versicherte, daß wir, nach unserm Reiseplan, nicht weit von seiner einsamen Wohnung vorbeikommen würden.

Unser Weg ging nunmehr an den Rinnen hinauf, in welchen das Alaunwasser heruntergeleitet wird, und an dem vornehmsten Stollen vorbei, den sie die Landgrube nennen, woraus die berühmten Dudweiler Steinkohlen gezogen werden. Sie haben, wenn sie trocken sind, die blaue Farbe eines dunkel angelaufenen Stahls, und die schönste Irisfolge spielt bei jeder Bewegung über die Oberfläche hin. Die finsteren Stollenschlünde zogen uns jedoch um so weniger an, als der Gehalt derselben reichlich um uns her ausgeschüttet lag. Nun gelangten wir zu offnen Gruben, in welchen die gerösteten Alaunschiefer ausgelaugt werden, und bald darauf überraschte uns, obgleich vorbereitet, ein seltsames Begegnis. Wir traten in eine Klamme und fanden uns in der Region des brennenden Berges. Ein starker Schwefelgeruch umzog uns; die eine Seite der Hohle war nahezu glühend, mit rötlichem, weißgebrannten Stein bedeckt; ein dicker Dampf stieg aus den Klunsen hervor, und man fühlte die Hitze des Bodens auch durch die starken Sohlen. Ein so zufälliges Ereignis, denn man weiß nicht, wie diese Strecke sich entzündete, gewährt der Alaunfabrikation den großen Vorteil, daß die Schiefer, woraus die Oberfläche des Berges besteht, vollkommen geröstet daliegen und nur kurz und gut ausgelaugt werden dürfen. Die ganze Klamme war entstanden, daß man nach und nach die kalzinierten Schiefer abgeräumt und verbraucht hatte. Wir kletterten aus die ser Tiefe hervor und waren auf dem Gipfel des Berges. Ein anmutiger Buchenwald umgab den Platz, der auf die Hohle folgte und sich ihr zu beiden Seiten verbreitete. Mehrere Bäume standen schon verdorrt, andere welkten in der Nähe von andern, die, noch ganz frisch, jene Glut nicht ahndeten, welche sich auch ihren Wurzeln bedrohend näherte.

Auf dem Platze dampften verschiedene Öffnungen, andere hatten schon ausgeraucht, und so glomm dieses Feuer bereits zehen Jahre durch alte verbrochene Stollen und Schächte, mit welchen der Berg unterminiert ist. Es mag sich auch auf Klüften durch frische Kohlenlager durchziehn: denn einige hundert Schritte weiter in den Wald gedachte man bedeutende Merkmale von ergiebigen Steinkohlen zu verfolgen; man war aber nicht weit gelangt, als ein starker Dampf den Arbeitern entgegendrang und sie vertrieb. Die Öffnung ward wieder zugeworfen; allein wir fanden die Stelle noch rauchend, als wir daran vorbei den Weg zur Residenz unseres einsiedlerischen Chemikers verfolgten. Sie liegt zwischen Bergen und Wäldern; die Täler nehmen daselbst sehr mannigfaltige und angenehme Krümmungen, rings umher ist der Boden schwarz und kohlenartig, die Lager gehen häufig zu Tage aus. Ein Kohlenphilosoph – Philosophus per ignem, wie man sonst sagte – hätte sich wohl nicht schicklicher ansiedeln können.

Wir traten vor ein kleines, zur Wohnung nicht übel dienliches Haus und fanden Herrn Stauf, der meinen Freund sogleich erkannte und mit Klagen über die neue Regierung empfing. Freilich konnten wir aus seinen Reden vermerken, daß das Alaunwerk, sowie manche andre wohlgemeinte Anstalt, wegen äußerer, vielleicht auch innerer Umstände die Unkosten nicht trage, und was dergleichen mehr war. Er gehörte unter die Chemiker jener Zeit, die, bei einem innigen Gefühl dessen, was mit Naturprodukten alles zu leisten wäre, sich in einer abstrusen Betrachtung von Kleinigkeiten und Nebensachen gefielen, und, bei unzulänglichen Kenntnissen, nicht fertig genug dasjenige zu leisten verstanden, woraus eigentlich ökonomischer und merkantilischer Vorteil zu ziehn ist. So lag der Nutzen, den er sich von jenem Schaum versprach, sehr im weiten; so zeigte er nichts als einen Kuchen Salmiak, den ihm der brennende Berg geliefert hatte.

Bereitwillig und froh, seine Klagen einem menschlichen Ohre mitzuteilen, schleppte sich das hagere abgelebte Männchen in einem Schuh und einem Pantoffel, mit herabhängenden, vergebens wiederholt von ihm heraufgezogenen Strümpfen, den Berg hinauf, wo die Harzhütte steht, die er selbst errichtet hat und nun mit großem Leidwesen verfallen sieht. Hier fand sich eine zusammenhangende Ofenreihe, wo Steinkohlen abgeschwefelt und zum Gebrauch bei Eisenwerken tauglich gemacht werden sollten; allein zu gleicher Zeit wollte man Öl und Harz auch zu Gute machen, ja sogar den Ruß nicht missen, und so unterlag den vielfachen Absichten alles zusammen. Bei Lebzeiten des vorigen Fürsten trieb man das Geschäft aus Liebhaberei, auf Hoffnung; jetzt fragte man nach dem unmittelbaren Nutzen, der nicht nachzuweisen war.

Nachdem wir unsern Adepten seiner Einsamkeit überlassen, eilten wir – denn es war schon spät geworden – der Friedrichsthaler Glashütte zu, wo wir eine der wichtigsten und wunderbarsten Werktätigkeiten des menschlichen Kunstgeschickes im Vorübergehen kennen lernten.

Doch fast mehr als diese bedeutenden Erfahrungen interessierten uns junge Bursche einige lustige Abenteuer, und bei einbrechender Finsternis, ohnweit Neukirch, ein überraschendes Feuerwerk. Denn wie vor einigen Nächten, an den Ufern der Saar, leuchtende Wolken Johanniswürmer zwischen Fels und Busch um uns schwebten, so spielten uns nun die funkenwerfenden Essen ihr lustiges Feuerwerk entgegen. Wir betraten bei tiefer Nacht die im Talgrunde liegenden Schmelzhütten, und vergnügten uns an dem seltsamen Halbdunkel dieser Bretterhöhlen, die nur durch des glühenden Ofens geringe Öffnung kümmerlich erleuchtet werden. Das Geräusch des Wassers und der von ihm getriebenen Blasbälge, das fürchterliche Sausen und Pfeifen des Windstroms, der, in das geschmolzene Erz wütend, die Ohren betäubt und die Sinne verwirrt, trieb uns endlich hinweg, um in Neukirch einzukehren, das an dem Berg hinaufgebaut ist.

Aber ungeachtet aller Mannigfaltigkeit und Unruhe des Tags konnte ich hier noch keine Rast finden. Ich überließ meinen Freund einem glücklichen Schlafe und suchte das höher gelegene Jagdschloß. Es blickt weit über Berg und Wälder hin, deren Umrisse nur an dem heitern Nachthimmel zu erkennen, deren Seiten und Tiefen aber meinem Blick undurchdringlich waren. So leer als einsam stand das wohlerhaltene Gebäude; kein Kastellan, kein Jäger war zu finden. Ich saß vor den großen Glastüren auf den Stufen, die um die ganze Terrasse hergehn. Hier, mitten im Gebirg, über einer waldbewachsenen finsteren Erde, die gegen den heitern Horizont einer Sommernacht nur noch finsterer erschien, das brennende Sterngewölbe über mir, saß ich an der verlassenen Stätte lange mit mir selbst und glaubte niemals eine solche Einsamkeit empfunden zu haben. Wie lieblich überraschte mich daher aus der Ferne der Ton von ein paar Waldhörnern, der auf einmal wie ein Balsamduft die ruhige Atmosphäre belebte. Da erwachte in mir das Bild eines holden Wesens, das vor den bunten Gestalten dieser Reisetage in den Hintergrund gewichen war, es enthüllte sich immer mehr und mehr, und trieb mich von meinem Platze nach der Herberge, wo ich Anstalten traf, mit dem frühsten abzureisen.

Der Rückweg wurde nicht benutzt wie der Herweg. So eilten wir durch Zweibrücken, das, als eine schöne und merkwürdige Residenz, wohl auch unsere Aufmerksamkeit verdient hätte. Wir warfen einen Blick auf das große, einfache Schloß, auf die weitläuftigen, regelmäßig mit Lindenstämmen bepflanzten, zum Dressieren der Parforcepferde wohleingerichteten Esplanaden, auf die großen Ställe, auf die Bürgerhäuser, welche der Fürst baute, um sie ausspielen zu lassen. Alles dieses, sowie Kleidung und Betragen der Einwohner, besonders der Frauen und Mädchen, deutete auf ein Verhältnis in die Ferne, und machte den Bezug auf Paris anschaulich, dem alles Überrheinische seit geraumer Zeit sich nicht entziehen konnte. Wir besuchten auch den vor der Stadt liegenden herzoglichen Keller, der weitläuftig ist, mit großen und künstlichen Fässern versehen. Wir zogen weiter und fanden das Land zuletzt wie im Saarbrückischen. Zwischen wilden und rauhen Bergen wenig Dörfer; man verlernt hier, sich nach Getreide umzusehn. Den Hornbach zur Seite stiegen wir nach Bitsch, das an dem bedeutenden Platze liegt, wo die Gewässer sich scheiden, und ein Teil in die Saar, ein Teil dem Rheine zufällt; diese letztern sollten uns bald nach sich ziehn. Doch konnten wir dem Städtchen Bitsch, das sich sehr malerisch um einen Berg herumschlingt, und der oben liegenden Festung unsere Aufmerksamkeit nicht versagen. Diese ist teils auf Felsen gebaut, teils in Felsen gehauen. Die unterirdischen Räume sind besonders merkwürdig; hier ist nicht allein hinreichender Platz zum Aufenthalt einer Menge Menschen und Vieh, sondern man trifft sogar große Gewölbe zum Exerzieren, eine Mühle, eine Kapelle und was man unter der Erde sonst fordern könnte, wenn die Oberfläche beunruhigt würde.

Den hinabstürzenden Bächen folgten wir nunmehr durchs Bärental. Die dicken Wälder auf beiden Höhen sind unbenutzt. Hier faulen Stämme zu Tausenden über einander, und junge Sprößlinge keimen in Unzahl auf halbvermoderten Vorfahren. Hier kam uns durch Gespräche einiger Fußbegleiter der Name von Dietrich wieder in die Ohren, den wir schon öfter in diesen Waldgegenden ehrenvoll hatten aussprechen hören. Die Tätigkeit und Gewandtheit dieses Mannes, sein Reichtum, die Benutzung und Anwendung desselben, alles erschien im Gleichgewicht, er konnte sich mit Recht des Erworbenen erfreuen, das er vermehrte, und das Verdiente genießen, das er sicherte. Je mehr ich die Welt sah, je mehr erfreute ich mich, außer den allgemein berühmten Namen, auch besonders an denen, die in einzelnen Gegenden mit Achtung und Liebe genannt wurden; und so erfuhr ich auch hier bei einiger Nachfrage gar leicht, daß von Dietrich früher als andre sich der Gebirgsschätze, des Eisens, der Kohlen und des Holzes, mit gutem Erfolg zu bedienen gewußt und sich zu einem immer wachsenden Wohlhaben herangearbeitet habe.

Niederbronn, wohin wir gelangten, war ein neues Zeugnis hiervon. Er hatte diesen kleinen Ort den Grafen von Leiningen und andern Teilbesitzern abgekauft, um in der Gegend bedeutende Eisenwerke einzurichten.

Hier in diesen von den Römern schon angelegten Bädern umspülte mich der Geist des Altertums, dessen ehrwürdige Trümmer in Resten von Basreliefs und Inschriften, Säulenknäufen und -schäften mir aus Bauerhöfen, zwischen wirtschaftlichem Wust und Geräte, gar wundersam entgegenleuchteten.

So verehrte ich auch, als wir die nahe gelegene Wasenburg bestiegen, an der großen Felsmasse, die den Grund der einen Seite ausmacht, eine gut erhaltene Inschrift, die dem Merkur ein dankbares Gelübd abstattet. Die Burg selbst liegt auf dem letzten Berge von Bitsch her gegen das Land zu. Es sind die Ruinen eines deutschen, auf römische Reste gebauten Schlosses. Von dem Turm übersah man abermals das ganze Elsaß, und des Münsters deutliche Spitze bezeichnete die Lage von Straßburg. Zunächst jedoch verbreitete sich der große Hagenauer Forst, und die Türme dieser Stadt ragten dahinter ganz deutlich hervor. Dorthin wurde ich gezogen. Wir ritten durch Reichshofen, wo von Dietrich ein bedeutendes Schloß erbauen ließ, und nachdem wir, von den Hügeln bei Niedermodern, den angenehmen Lauf des Moderflüßchens am Hagenauer Wald her betrachtet hatten, ließ ich meinen Freund bei einer lächerlichen Steinkohlengrubenvisitation, die zu Dudweiler freilich etwas ernsthafter würde gewesen sein, und ritt durch Hagenau, auf Richtwegen, welche mir die Neigung schon andeutete, nach dem geliebten Sesenheim.

Denn jene sämtlichen Aussichten in eine wilde Gebirgsgegend und sodann wieder in ein heiteres, fruchtbares, fröhliches Land konnten meinen innern Blick nicht fesseln, der auf einen liebenswürdigen anziehenden Gegenstand gerichtet war. Auch diesmal erschien mir der Herweg reizender als der Hinweg, weil er mich wieder in die Nähe eines Frauenzimmers brachte, der ich von Herzen ergeben war und welche so viel Achtung als Liebe verdiente. Mir sei jedoch, ehe ich meine Freunde zu ihrer ländlichen Wohnung führe, vergönnt, eines Umstandes zu erwähnen, der sehr viel beitrug, meine Neigung und die Zufriedenheit, welche sie mir gewährte, zu beleben und zu erhöhen.

Wie sehr ich in der neuern Literatur zurück sein mußte, läßt sich aus der Lebensart schließen, die ich in Frankfurt geführt, aus den Studien, denen ich mich gewidmet hatte, und mein Aufenthalt in Straßburg konnte mich darin nicht fördern. Nun kam Herder und brachte neben seinen großen Kenntnissen noch manche Hülfsmittel und überdies auch neuere Schriften mit. Unter diesen kündigte er uns den »Landpriester von Wakefield« als ein fürtreffliches Werk an, von dem er uns die deutsche Übersetzung durch selbsteigne Vorlesung bekannt machen wolle.

Seine Art zu lesen war ganz eigen; wer ihn predigen gehört hat, wird sich davon einen Begriff machen können. Er trug alles, und so auch diesen Roman, ernst und schlicht vor; völlig entfernt von aller dramatisch-mimischen Darstellung, vermied er sogar jene Mannigfaltigkeit, die bei einem epischen Vortrag nicht allein erlaubt ist, sondern wohl gefordert wird: eine geringe Abwechselung des Tons, wenn verschiedene Personen sprechen, wodurch das, was eine jede sagt, herausgehoben und der Handelnde von dem Erzählenden abgesondert wird. Ohne monoton zu sein, ließ Herder alles in einem Ton hinter einander folgen, eben als wenn nichts gegenwärtig, sondern alles nur historisch wäre, als wenn die Schatten dieser poetischen Wesen nicht lebhaft vor ihm wirkten, sondern nur sanft vorübergleiteten. Doch hatte diese Art des Vortrags, aus seinem Munde, einen unendlichen Reiz: denn weil er alles aufs tiefste empfand, und die Mannigfaltigkeit eines solchen Werks hochzuschätzen wußte, so trat das ganze Verdienst einer Produktion rein und um so deutlicher hervor, als man nicht durch scharf ausgesprochene Einzelnheiten gestört und aus der Empfindung gerissen wurde, welche das Ganze gewähren sollte.

Ein protestantischer Landgeistlicher ist vielleicht der schönste Gegenstand einer modernen Idylle; er erscheint, wie Melchisedek, als Priester und König in einer Person. An den unschuldigsten Zustand, der sich auf Erden denken läßt, an den des Ackermanns, ist er meistens durch gleiche Beschäftigung, sowie durch gleiche Familienverhältnisse geknüpft; er ist Vater, Hausherr, Landmann und so vollkommen ein Glied der Gemeine. Auf diesem reinen, schönen, irdischen Grunde ruht sein höherer Beruf; ihm ist übergeben, die Menschen ins Leben zu führen, für ihre geistige Erziehung zu sorgen, sie bei allen Hauptepochen ihres Daseins zu segnen, sie zu belehren, zu kräftigen, zu trösten, und, wenn der Trost für die Gegenwart nicht ausreicht, die Hoffnung einer glücklicheren Zukunft heranzurufen und zu verbürgen. Denke man sich einen solchen Mann, mit rein menschlichen Gesinnungen, stark genug, um unter keinen Umständen davon zu weichen, und schon dadurch über die Menge erhaben, von der man Reinheit und Festigkeit nicht erwarten kann; gebe man ihm die zu seinem Amte nötigen Kenntnisse, sowie eine heitere, gleiche Tätigkeit, wel che sogar leidenschaftlich ist, indem sie keinen Augenblick versäumt, das Gute zu wirken – und man wird ihn wohl ausgestattet haben. Zugleich aber füge man die nötige Beschränktheit hinzu, daß er nicht allein in einem kleinen Kreise verharren, sondern auch allenfalls in einen kleineren übergehen möge; man verleihe ihm Gutmütigkeit, Versöhnlichkeit, Standhaftigkeit und was sonst noch aus einem entschiedenen Charakter Löbliches hervorspringt, und über dies alles eine heitere Nachgiebigkeit und lächelnde Duldung eigner und fremder Fehler: so hat man das Bild unseres trefflichen Wakefield so ziemlich beisammen.

Die Darstellung dieses Charakters auf seinem Lebensgange durch Freuden und Leiden, das immer wachsende Interesse der Fabel, durch Verbindung des ganz Natürlichen mit dem Sonderbaren und Seltsamen, macht diesen Roman zu einem der besten, die je geschrieben worden; der noch überdies den großen Vorzug hat, daß er ganz sittlich, ja im reinen Sinne christlich ist, die Belohnung des guten Willens, des Beharrens bei dem Rechten darstellt, das unbedingte Zutrauen auf Gott bestätigt und den endlichen Triumph des Guten über das Böse beglaubigt; und dies alles ohne eine Spur von Frömmelei oder Pedantismus. Vor beiden hatte den Verfasser der hohe Sinn bewahrt, der sich hier durchgängig als Ironie zeigt, wodurch dieses Werkchen uns ebenso weise als liebenswürdig entgegenkommen muß. Der Verfasser, Doktor Goldsmith, hat ohne Frage große Einsicht in die moralische Welt, in ihren Wert und in ihre Gebrechen; aber zugleich mag er nur dankbar anerkennen, daß er ein Engländer ist, und die Vorteile, die ihm sein Land, seine Nation darbietet, hoch anrechnen. Die Familie, mit deren Schilderung er sich beschäftigt, steht auf einer der letzten Stufen des bürgerlichen Behagens, und doch kommt sie mit dem Höchsten in Berührung; ihr enger Kreis, der sich noch mehr verengt, greift, durch den natürlichen und bürgerlichen Lauf der Dinge, in die große Welt mit ein; auf der reichen bewegten Woge des englischen Lebens schwimmt dieser kleine Kahn, und in Wohl und Weh hat er Schaden oder Hülfe von der ungeheueren Flotte zu erwarten, die um ihn hersegelt.

Ich kann voraussetzen, daß meine Leser dieses Werk kennen und im Gedächtnis haben; wer es zuerst hier nennen hört, sowie der, welcher aufgeregt wird, es wieder zu lesen, beide werden mir danken. Für jene bemerke ich nur im Vorübergehn, daß des Landgeistlichen Hausfrau von der tätigen, guten Art ist, die es sich und den Ihrigen an nichts fehlen läßt, aber auch dafür auf sich und die Ihrigen etwas einbildisch ist. Zwei Töchter, Olivie, schön und mehr nach außen, Sophie, reizend und mehr nach innen gesinnt; einen fleißigen, dem Vater nacheifernden etwas herben Sohn, Moses, will ich zu nennen nicht unterlassen.

Wenn Herder bei seiner Vorlesung eines Fehlers beschuldigt werden konnte, so war es der Ungeduld; er wartete nicht ab, bis der Zuhörer einen gewissen Teil des Verlaufs vernommen und gefaßt hätte, um richtig dabei empfinden und gehörig denken zu können: voreilig wollte er sogleich Wirkungen sehen, und doch war er auch mit diesen unzufrieden, wenn sie hervortraten. Er tadelte das Übermaß von Gefühl, das bei mir von Schritt zu Schritt mehr überfloß. Ich empfand als Mensch, als junger Mensch; mir war alles lebendig, wahr, gegenwärtig. Er, der bloß Gehalt und Form beachtete, sah freilich wohl, daß ich vom Stoff überwältigt ward, und das wollte er nicht gelten lassen. Pegelows Reflexionen zunächst, die nicht von den feinsten waren, wurden noch übler aufgenommen; besonders aber erzürnte er sich über unsern Mangel an Scharfsinn, daß wir die Kontraste, deren sich der Verfasser oft bedient, nicht voraussahen, uns davon rühren und hinreißen ließen, ohne den öfters wiederkehrenden Kunstgriff zu merken. Daß wir aber gleich zu Anfang, wo Burchell, indem er bei einer Erzählung aus der dritten Person in die erste übergeht, sich zu verraten im Begriff ist, daß wir nicht gleich eingesehn oder wenigstens gemutmaßt hatten, daß er der Lord, von dem er spricht, selbst sei, verzieh er uns nicht, und als wir zuletzt, bei Entdeckung und Verwandlung des armen kümmerlichen Wanderers in einen reichen, mächtigen Herrn, uns kindlich freuten, rief er erst jene Stelle zurück, die wir nach der Absicht des Autors überhört hatten, und hielt über unsern Stumpfsinn eine gewaltige Strafpredigt. Man sieht hieraus, daß er das Werk bloß als Kunstprodukt ansah und von uns das gleiche verlangte, die wir noch in jenen Zuständen wandelten, wo es wohl erlaubt ist, Kunstwerke wie Naturerzeugnisse auf sich wirken zu lassen.

Ich ließ mich durch Herders Invektiven keineswegs irre machen; wie denn junge Leute das Glück oder Unglück haben, daß, wenn einmal etwas auf sie gewirkt hat, diese Wirkung in ihnen selbst verarbeitet werden muß, woraus denn manches Gute, sowie manches Unheil entsteht. Gedachtes Werk hatte bei mir einen großen Eindruck zurückgelassen, von dem ich mir selbst nicht Rechenschaft geben konnte; eigentlich fühlte ich mich aber in Übereinstimmung mit jener ironischen Gesinnung, die sich über die Gegenstände, über Glück und Unglück, Gutes und Böses, Tod und Leben erhebt, und so zum Besitz einer wahrhaft poetischen Welt gelangt. Freilich konnte dieses nur später bei mir zum Bewußtsein kommen, genug, es machte mir für den Augenblick viel zu schaffen; keineswegs aber hätte ich erwartet, alsobald aus dieser fingierten Welt in eine ähnliche wirkliche versetzt zu werden.

Mein Tischgenosse Weyland, der sein stilles fleißiges Leben dadurch erheiterte, daß er, aus dem Elsaß gebürtig, bei Freunden und Verwandten in der Gegend von Zeit zu Zeit einsprach, leistete mir auf meinen kleinen Exkursionen manchen Dienst, indem er mich in verschiedenen Ortschaften und Familien teils persönlich, teils durch Empfehlungen einführte. Dieser hatte mir öfters von einem Landgeistlichen gesprochen, der nahe bei Drusenheim, sechs Stunden von Straßburg, im Besitz einer guten Pfarre mit einer verständigen Frau und ein paar liebenswürdigen Töchtern lebe. Die Gastfreiheit und Anmut dieses Hauses ward immer dabei höchlich gerühmt. So viel bedurfte es kaum, um einen jungen Ritter anzureizen, der sich schon angewöhnt hatte, alle abzumüßigenden Tage und Stunden zu Pferde und in freier Luft zuzubringen. Also entschlossen wir uns auch zu dieser Partie, wobei mir mein Freund versprechen mußte, daß er bei der Einführung weder Gutes noch Böses von mir sagen, überhaupt aber mich gleichgültig behandeln wolle, sogar erlauben, wo nicht schlecht, doch etwas ärmlich und nachlässig gekleidet zu erscheinen. Er willigte darein und versprach sich selbst einigen Spaß davon.

Es ist eine verzeihliche Grille bedeutender Menschen, gelegentlich einmal äußere Vorzüge ins Verborgene zu stellen, um den eignen innern menschlichen Gehalt desto reiner wirken zu lassen; deswegen hat das Inkognito der Fürsten und die daraus entspringenden Abenteuer immer etwas höchst Angenehmes: es erscheinen verkleidete Gottheiten, die alles Gute, was man ihrer Persönlichkeit erweist, doppelt hoch anrechnen dürfen und im Fall sind, das Unerfreuliche entweder leicht zu nehmen oder ihm ausweichen zu können. Daß Jupiter bei Philemon und Baucis, Heinrich der Vierte, nach einer Jagdpartie, unter seinen Bauern sich in ihrem Inkognito wohlgefallen, ist ganz der Natur gemäß, und man mag es gern; daß aber ein junger Mensch ohne Bedeutung und Namen sich einfallen läßt, aus dem Inkognito einiges Vergnügen zu ziehen, möchte mancher für einen unverzeihlichen Hochmut auslegen. Da aber hier die Rede nicht ist von Gesinnungen und Handlungen, inwiefern sie lobens- oder tadelnswürdig, sondern wiefern sie sich offenbaren und ereignen können; so wollen wir für diesmal, unserer Unterhaltung zu Liebe, dem Jüngling seinen Dünkel verzeihen, um so mehr, als ich hier anführen muß, daß von Jugend auf in mir eine Lust mich zu verkleiden selbst durch den ernsten Vater erregt worden.

Auch diesmal hatte ich mich, teils durch eigne ältere, teils durch einige geborgte Kleidungsstücke und durch die Art, die Haare zu kämmen, wo nicht entstellt, doch wenigstens so wunderlich zugestutzt, daß mein Freund unterwegs sich des Lachens nicht erwehren konnte, besonders wenn ich Haltung und Gebärde solcher Figuren, wenn sie zu Pferde sitzen, und die man lateinische Reiter nennt, vollkommen nachzuahmen wußte. Die schöne Chaussee, das herrlichste Wetter und die Nähe des Rheins gaben uns den besten Humor. In Drusenheim hielten wir einen Augenblick an, er, um sich nett zu machen, und ich, um mir meine Rolle zurückzurufen, aus der ich gelegentlich zu fallen fürchtete. Die Gegend hier hat den Charakter des ganz freien ebenen Elsasses. Wir ritten einen anmutigen Fußpfad über Wiesen, gelangten bald nach Sesenheim, ließen unsere Pferde im Wirtshause und gingen gelassen nach dem Pfarrhofe. – »Laß dich«, sagte Weyland, indem er mir das Haus von weitem zeigte, »nicht irren, daß es einem alten und schlechten Bauerhause ähnlich sieht; inwendig ist es desto jünger.« Wir traten in den Hof; das Ganze gefiel mir wohl: denn es hatte gerade das, was man malerisch nennt, und was mich in der niederländischen Kunst so zauberisch angesprochen hatte. Jene Wirkung war gewaltig sichtbar, welche die Zeit über alles Menschenwerk ausübt. Haus und Scheune und Stall befanden sich in dem Zustande des Verfalls gerade auf dem Punkte, wo man unschlüssig, zwischen Erhalten und Neuaufrichten zweifelhaft, das eine unterläßt, ohne zu dem andern gelangen zu können.

Alles war still und menschenleer, wie im Dorfe so im Hofe. Wir fanden den Vater, einen kleinen, in sich gekehrten aber doch freundlichen Mann, ganz allein: denn die Familie war auf dem Felde. Er hieß uns willkommen, bot uns eine Erfrischung an, die wir ablehnten. Mein Freund eilte die Frauenzimmer aufzusuchen, und ich blieb mit unserem Wirt allein. – »Sie wundern sich vielleicht«, sagte er, »daß Sie mich in einem reichen Dorfe und bei einer einträglichen Stelle so schlecht quartiert finden; das kommt aber«, fuhr er fort, »von der Unentschlossenheit. Schon lange ist mir’s von der Gemeine, ja von den oberen Stellen zugesagt, daß das Haus neu aufgerichtet werden soll; mehrere Risse sind schon gemacht, geprüft, verändert, keiner ganz verworfen und keiner ausgeführt worden. Es hat so viele Jahre gedauert, daß ich mich vor Ungeduld kaum zu fassen weiß.« – Ich erwiderte ihm, was ich für schicklich hielt, um seine Hoffnung zu nähren und ihn aufzumuntern, daß er die Sache stärker betreiben möchte. Er fuhr darauf fort, mit Vertrauen die Personen zu schildern, von denen solche Sachen abhingen, und obgleich er kein sonderlicher Charakterzeichner war, so konnte ich doch recht gut begreifen, wie das ganze Geschäft stocken mußte. Die Zutraulichkeit des Mannes hatte was Eignes; er sprach zu mir, als wenn er mich zehen Jahre gekannt hätte, ohne daß irgend etwas in seinem Blick gewesen wäre, woraus ich einige Aufmerksamkeit auf mich hätte mutmaßen können. Endlich trat mein Freund mit der Mutter herein. Diese schien mich mit ganz andern Augen anzusehn. Ihr Gesicht war regelmäßig und der Ausdruck desselben verständig; sie mußte in ihrer Jugend schön gewesen sein. Ihre Gestalt war lang und hager, doch nicht mehr, als solchen Jahren geziemt; sie hatte vom Rücken her noch ein ganz jugendliches, angenehmes Ansehen. Die älteste Tochter kam darauf lebhaft hereingestürmt; sie fragte nach Friedriken, so wie die andern beiden auch nach ihr gefragt hatten. Der Vater versicherte, sie nicht gesehen zu haben, seitdem alle drei fortgegangen. Die Tochter fuhr wieder zur Türe hinaus, um die Schwester zu suchen; die Mutter brachte uns einige Erfrischungen, und Weyland setzte mit den beiden Gatten das Gespräch fort, das sich auf lauter bewußte Personen und Verhältnisse bezog, wie es zu geschehn pflegt, wenn Bekannte nach einiger Zeit zusammenkommen, von den Gliedern eines großen Zirkels Erkundigung einziehn und sich wechselsweise berichten. Ich hörte zu und erfuhr nunmehr, wie viel ich mir von diesem Kreise zu versprechen hatte.

Die älteste Tochter kam wieder hastig in die Stube, unruhig, ihre Schwester nicht gefunden zu haben. Man war besorgt um sie und schalt auf diese oder jene böse Gewohnheit; nur der Vater sagte ganz ruhig: »Laßt sie immer gehn, sie kommt schon wieder!« In diesem Augenblick trat sie wirklich in die Türe; und da ging fürwahr an diesem ländlichen Himmel ein allerliebster Stern auf. Beide Töchter trugen sich noch deutsch, wie man es zu nennen pflegte, und diese fast verdrängte Nationaltracht kleidete Friedriken besonders gut. Ein kurzes weißes rundes Röckchen mit einer Falbel, nicht länger, als daß die nettesten Füßchen bis an die Knöchel sichtbar blieben; ein knappes weißes Mieder und eine schwarze Taffetschürze – so stand sie auf der Grenze zwischen Bäuerin und Städterin. Schlank und leicht, als wenn sie nichts an sich zu tragen hätte, schritt sie, und beinahe schien für die gewaltigen blonden Zöpfe des niedlichen Köpfchens der Hals zu zart. Aus heiteren blauen Augen blickte sie sehr deutlich umher, und das artige Stumpfnäschen forschte so frei in die Luft, als wenn es in der Welt keine Sorge geben könnte; der Strohhut hing ihr am Arm, und so hatte ich das Vergnügen, sie beim ersten Blick auf einmal in ihrer ganzen Anmut und Lieblichkeit zu sehn und zu erkennen.

Ich fing nun an, meine Rolle mit Mäßigung zu spielen, halb beschämt, so gute Menschen zum besten zu haben, die zu beobachten es mir nicht an Zeit fehlte: denn die Mädchen setzten jenes Gespräch fort und zwar mit Leidenschaft und Laune. Sämtliche Nachbarn und Verwandte wurden abermals vorgeführt, und es erschien meiner Einbildungskraft ein solcher Schwarm von Onkeln und Tanten, Vettern, Basen, Kommenden, Gehenden, Gevattern und Gästen, daß ich in der belebtesten Welt zu hausen glaubte. Alle Familienglieder hatten einige Worte mit mir gesprochen, die Mutter betrachtete mich jedesmal, so oft sie kam oder ging, aber Friedrike ließ sich zuerst mit mir in ein Gespräch ein, und indem ich umherliegende Noten aufnahm und durchsah, fragte sie, ob ich auch spiele? Als ich es bejahte, ersuchte sie mich, etwas vorzutragen; aber der Vater ließ mich nicht dazu kommen: denn er behauptete es sei schicklich, dem Gaste zuerst mit irgend einem Musikstück oder einem Liede zu dienen.

Sie spielten verschiedenes mit einiger Fertigkeit, in der Art, wie man es auf dem Lande zu hören pflegt, und zwar auf einem Klavier, das der Schulmeister schon längst hätte stimmen sollen, wenn er Zeit gehabt hätte. Nun sollte sie auch ein Lied singen, ein gewisses zärtlich-trauriges; das gelang ihr nun gar nicht. Sie stand auf und sagte lächelnd, oder vielmehr mit dem auf ihrem Gesicht immerfort ruhenden Zuge von heiterer Freude: »Wenn ich schlecht singe, so kann ich die Schuld nicht auf das Klavier und den Schulmeister werfen; lassen Sie uns aber nur hinauskommen, dann sollen Sie meine Elsasser- und Schweizerliedchen hören, die klingen schon besser.«

Beim Abendessen beschäftigte mich eine Vorstellung, die mich schon früher überfallen hatte, dergestalt, daß ich nachdenklich und stumm wurde, obgleich die Lebhaftigkeit der älteren Schwester und die Anmut der jüngern mich oft genug aus meinen Betrachtungen schüttelten. Meine Verwunderung war über allen Ausdruck, mich so ganz leibhaftig in der Wakefieldschen Familie zu finden. Der Vater konnte freilich nicht mit jenem trefflichen Manne verglichen werden; allein wo gäbe es auch seinesgleichen! Dagegen stellte sich alle Würde, welche jenem Ehegatten eigen ist, hier in der Gattin dar. Man konnte sie nicht ansehen, ohne sie zugleich zu ehren und zu scheuen. Man bemerkte bei ihr die Folgen einer guten Erziehung; ihr Betragen war ruhig, frei, heiter und einladend.

Hatte die ältere Tochter nicht die gerühmte Schönheit Oliviens, so war sie doch wohlgebaut, lebhaft und eher heftig; sie zeigte sich überall tätig und ging der Mutter in allem an Handen. Friedriken an die Stelle von Primrosens Sophie zu setzen, war nicht schwer: denn von jener ist wenig gesagt, man gibt nur zu, daß sie liebenswürdig sei; diese war es wirklich. Wie nun dasselbe Geschäft, derselbe Zustand überall, wo er vorkommen mag, ähnliche, wo nicht gleiche Wirkungen hervorbringt; so kam auch hier manches zur Sprache, es geschah gar manches, was in der Wakefieldschen Familie sich auch schon ereignet hatte. Als nun aber gar zuletzt ein längst angekündigter und von dem Vater mit Ungeduld erwarteter jüngerer Sohn ins Zimmer sprang und sich dreust zu uns setzte, indem er von den Gästen wenig Notiz nahm, so enthielt ich mich kaum auszurufen: »Moses, bist du auch da!«

Die Unterhaltung bei Tische erweiterte die Ansicht jenes Land- und Familienkreises, indem von mancherlei lustigen Begebenheiten, die bald da bald dort vorgefallen, die Rede war. Friedrike, die neben mir saß, nahm daher Gelegenheit, mir verschiedene Ortschaften zu beschreiben, die es wohl zu besuchen der Mühe wert sei. Da immer ein Geschichtchen das andere hervorruft, so konnte ich nun auch mich desto besser in das Gespräch mischen und ähnliche Begebenheiten erzählen, und weil hiebei ein guter Landwein keineswegs geschont wurde, so stand ich in Gefahr, aus meiner Rolle zu fallen, weshalb der vorsichtigere Freund den schönen Mondschein zum Vorwand nahm und auf einen Spaziergang antrug, welcher denn auch sogleich beliebt wurde. Er bot der Ältesten den Arm, ich der Jüngsten, und so zogen wir durch die weiten Fluren, mehr den Himmel über uns zum Gegenstand habend, als die Erde, die sich neben uns in der Breite verlor. Friedrikens Reden jedoch hatten nichts Mondscheinhaftes; durch die Klarheit, womit sie sprach, machte sie die Nacht zum Tage, und es war nichts darin, was eine Empfindung angedeutet oder erweckt hätte, nur bezogen sich ihre Äußerungen mehr als bisher auf mich, indem sie sowohl ihren Zustand als die Gegend und ihre Bekannten mir von der Seite vorstellte, wiefern ich sie würde kennen lernen: denn sie hoffe, setzte sie hinzu daß ich keine Ausnahme machen und sie wieder besuchen würde, wie jeder Fremde gern getan, der einmal bei ihnen eingekehrt sei.

Es war mir sehr angenehm, stillschweigend der Schilderung zuzuhören, die sie von der kleinen Welt machte, in der sie sich bewegte, und von denen Menschen, die sie besonders schätzte. Sie brachte mir dadurch einen klaren und zugleich so liebenswürdigen Begriff von ihrem Zustande bei, der sehr wunderlich auf mich wirkte: denn ich empfand auf einmal einen tiefen Verdruß, nicht früher mit ihr gelebt zu haben, und zugleich ein recht peinliches, neidisches Gefühl gegen alle, welche das Glück gehabt hatten, sie bisher zu umgeben. Ich paßte sogleich, als wenn ich ein Recht dazu gehabt hätte, genau auf alle ihre Schilderungen von Männern, sie mochten unter den Namen von Nachbarn, Vettern oder Gevattern auftreten, und lenkte bald da- bald dorthin meine Vermutung; allein wie hätte ich etwas entdecken sollen in der völligen Unbekanntschaft aller Verhältnisse. Sie wurde zuletzt immer redseliger und ich immer stiller. Es hörte sich ihr gar so gut zu, und da ich nur ihre Stimme vernahm, ihre Gesichtsbildung aber sowie die übrige Welt in Dämmerung schwebte, so war es mir, als ob ich in ihr Herz sähe, das ich höchst rein finden mußte, da es sich in so unbefangener Geschwätzigkeit vor mir eröffnete.

Als mein Gefährte mit mir in das für uns zubereitete Gastzimmer gelangte, brach er sogleich mit Selbstgefälligkeit in behaglichen Scherz aus und tat sich viel darauf zugute, mich mit der Ähnlichkeit der Primrosischen Familie so sehr überrascht zu haben. Ich stimmte mit ein, indem ich mich dankbar erwies. – »Fürwahr!« rief er aus, »das Märchen ist ganz beisammen. Diese Familie vergleicht sich jener sehr gut, und der verkappte Herr da mag sich die Ehre antun, für Herrn Burchell gelten zu wollen; ferner, weil wir im gemeinen Leben die Bösewichter nicht so nötig haben als in Romanen, so will ich für diesmal die Rolle des Neffen übernehmen, und mich besser aufführen als er.« Ich verließ jedoch sogleich dieses Gespräch, so angenehm es mir auch sein mochte, und fragte ihn vor allen Dingen auf sein Gewissen, ob er mich wirklich nicht verraten habe. Er beteuerte »Nein!« und ich durfte ihm glauben. Sie hätten sich vielmehr, sagte er, nach dem lustigen Tischgesellen erkundigt, der in Straßburg mit ihm in einer Pension speise und von dem man ihnen allerlei verkehrtes Zeug erzählt habe. Ich schritt nun zu andern Fragen: ob sie geliebt habe? ob sie liebe? ob sie versprochen sei? Er verneinte das alles. – »Fürwahr!« versetzte ich, »eine solche Heiterkeit von Natur aus ist mir unbegreiflich. Hätte sie geliebt und verloren und sich wieder gefaßt, oder wäre sie Braut, in beiden Fällen wollte ich es gelten lassen.«

So schwatzten wir zusammen tief in die Nacht, und ich war schon wieder munter, als es tagte. Das Verlangen, sie wieder zu sehen, schien unüberwindlich; allein indem ich mich anzog, erschrak ich über die verwünschte Garderobe, die ich mir so freventlich ausgesucht hatte. Je weiter ich kam, meine Kleidungsstücke anzulegen, desto niederträchtiger erschien ich mir: denn alles war ja auf diesen Effekt berechnet. Mit meinen Haaren wäre ich allenfalls noch fertig geworden; aber wie ich mich zuletzt in den geborgten, abgetragenen grauen Rock einzwängte und die kurzen Ärmel mir das abgeschmackteste Ansehen gaben, fiel ich desto entschiedener in Verzweiflung, als ich mich in einem kleinen Spiegel nur teilweise betrachten konnte; da denn immer ein Teil lächerlicher aussah als der andre.

Über dieser Toilette war mein Freund aufgewacht und blickte, mit der Zufriedenheit eines guten Gewissens und im Gefühl einer freudigen Hoffnung für den Tag, aus der gestopften seidenen Decke. Ich hatte schon seine hübschen Kleider, wie sie über den Stuhl hingen, längst beneidet, und wäre er von meiner Taille gewesen, ich hätte sie ihm vor den Augen weggetragen, mich draußen umgezogen und ihm meine verwünschte Hülle, in den Garten eilend, zurückgelassen; er hätte guten Humor genug gehabt, sich in meine Kleider zu stecken, und das Märchen wäre bei frühem Morgen zu einem lustigen Ende gelangt. Daran war aber nun gar nicht zu denken, so wenig als wie an irgend eine schickliche Vermittelung. In der Figur, in der mich mein Freund für einen zwar fleißigen und geschickten aber armen Studiosen der Theologie ausgeben konnte, wieder vor Friedriken hinzutreten, die gestern abend an mein verkleidetes Selbst so freundlich gesprochen hatte, das war mir ganz unmöglich. Ärgerlich und sinnend stand ich da und bot all mein Erfindungsvermögen auf; allein es verließ mich. Als nun aber gar der behaglich Ausgestreckte, nachdem er mich eine Weile fixiert hatte, auf einmal in ein lautes Lachen ausbrach und ausrief: »Nein! es ist wahr, du siehst ganz verwünscht aus!«, versetzte ich heftig: »Und ich weiß, was ich tue, leb wohl und entschuldige mich!« – »Bist du toll!« rief er, indem er aus dem Bette sprang und mich aufhalten wollte. Ich war aber schon zur Türe hinaus, die Treppe hinunter, aus Haus und Hof, nach der Schenke; im Nu war mein Pferd gesattelt, und ich eilte in rasendem Unmut galoppierend nach Drusenheim, den Ort hindurch und immer weiter.

Da ich mich nun in Sicherheit glaubte, ritt ich langsamer und fühlte nun erst, wie unendlich ungern ich mich entfernte. Ich ergab mich aber in mein Schicksal, vergegenwärtigte mir den Spaziergang von gestern abend mit der größten Ruhe und nährte die stille Hoffnung, sie bald wieder zu sehn. Doch verwandelte sich dieses stille Gefühl bald wieder in Ungeduld, und nun beschloß ich, schnell in die Stadt zu reiten, mich umzuziehen, ein gutes frisches Pferd zu nehmen; da ich denn wohl allenfalls, wie mir die Leidenschaft vorspiegelte, noch vor Tische, oder, wie es wahrscheinlicher war, zum Nachtische oder gegen Abend gewiß wieder eintreffen und meine Vergebung erbitten konnte.

Eben wollte ich meinem Pferde die Sporen geben, um diesen Vorsatz auszuführen, als mir ein anderer und, wie mich deuchte, sehr glücklicher Gedanke durch den Geist fuhr. Schon gestern hatte ich im Gasthofe zu Drusenheim einen sehr sauber gekleideten Wirtssohn bemerkt, der auch heute früh, mit ländlichen Anordnungen beschäftigt, mich aus seinem Hofe begrüßte. Er war von meiner Gestalt und hatte mich flüchtig an mich selbst erinnert. Gedacht, getan! Mein Pferd war kaum umgewendet, so befand ich mich in Drusenheim; ich brachte es in den Stall und machte dem Burschen kurz und gut den Vorschlag: er solle mir seine Kleider borgen, weil ich in Sesenheim etwas Lustiges vorhabe. Da brauchte ich nicht auszureden; er nahm den Vorschlag mit Freuden an und lobte mich, daß ich den Mamsells einen Spaß machen wolle; sie wären so brav und gut, besonders Mamsell Rikchen, und auch die Eltern sähen gerne, daß es immer lustig und vergnügt zuginge. Er betrachtete mich aufmerksam, und da er mich nach meinem Aufzug für einen armen Schlucker halten mochte, so sagte er: »Wenn Sie sich insinuieren wollen, so ist das der rechte Weg.« Wir waren indessen schon weit in unserer Umkleidung gekommen, und eigentlich sollte er mir seine Festtagskleider gegen die meinigen nicht anvertrauen; doch er war treuherzig und hatte ja mein Pferd im Stalle. Ich stand bald und recht schmuck da, warf mich in die Brust, und mein Freund schien sein Ebenbild mit Behaglichkeit zu betrachten. – »Topp, Herr Bruder!« sagte er, indem er mir die Hand hinreichte, in die ich wacker einschlug, »komme Er meinem Mädel nicht zu nah, sie möchte sich vergreifen.«

Meine Haare, die nunmehr wieder ihren völligen Wuchs hatten, konnte ich ohngefähr wie die seinigen scheiteln, und da ich ihn wiederholt betrachtete, so fand ich’s lustig, seine dichteren Augenbrauen mit einem gebrannten Korkstöpsel mäßig nachzuahmen und sie in der Mitte näher zusammenzuziehen, um mich bei meinem rätselhaften Vornehmen auch äußerlich zum Rätsel zu bilden. »Habt Ihr nun«, sagte ich, als er mir den bebänderten Hut reichte, »nicht irgend etwas in der Pfarre auszurichten, daß ich mich auf eine natürliche Weise dort anmelden könnte?« – »Gut!« versetzte er, »aber da müssen Sie noch zwei Stunden warten. Bei uns ist eine Wöchnerin; ich will mich erbieten, den Kuchen der Frau Pfarrin zu bringen, den mögen Sie dann hinübertragen. Hoffart muß Not leiden, und der Spaß denn auch.« – Ich entschloß mich zu warten, aber diese zwei Stunden wurden mir unendlich lang, und ich verging vor Ungeduld, als die dritte verfloß, ehe der Kuchen aus dem Ofen kam. Ich empfing ihn endlich ganz warm, und eilte, bei dem schönsten Sonnenschein, mit meinem Kreditiv davon, noch eine Strecke von meinem Ebenbild begleitet, welches gegen Abend nachzukommen und mir meine Kleider zu bringen versprach, die ich aber lebhaft ablehnte und mir vorbehielt, ihm die seinigen wieder zuzustellen.

Ich war nicht weit mit meiner Gabe gesprungen, die ich in einer sauberen zusammengeknüpften Serviette trug, als ich in der Ferne meinen Freund mit den beiden Frauenzimmern mir entgegen kommen sah. Mein Herz war beklommen, wie sich’s eigentlich unter dieser Jacke nicht ziemte. Ich blieb stehen, holte Atem und suchte zu überlegen, was ich beginnen solle; und nun bemerkte ich erst, daß das Terrain mir sehr zustatten kam: denn sie gingen auf der andern Seite des Baches, der, sowie die Wiesenstreifen, durch die er hinlief, zwei Fußpfade ziemlich auseinander hielt. Als sie gegen mir über waren, rief Friedrike, die mich schon lange gewahrt hatte: »George, was bringst du?« Ich war klug genug, das Gesicht mit dem Hute, den ich abnahm, zu bedecken, indem ich die beladene Serviette hoch in die Höhe hielt. – »Ein Kindtaufkuchen!« rief sie dagegen; »wie geht’s der Schwester?« – »Guet«, sagte ich, indem ich, wo nicht elsassisch, doch fremd zu reden suchte. – »Trag ihn nach Hause!« sagte die Älteste, »und wenn du die Mutter nicht findest, gib ihn der Magd; aber wart auf uns, wir kommen bald wieder, hörst du!« – Ich eilte meinen Pfad hin, im Frohgefühl der besten Hoffnung, daß alles gut ablaufen müsse, da der Anfang glücklich war, und hatte bald die Pfarrwohnung erreicht. Ich fand niemand weder im Haus noch in der Küche; den Herrn, den ich beschäftigt in der Studierstube vermuten konnte, wollte ich nicht aufregen, ich setzte mich deshalb auf die Bank vor der Türe, den Kuchen neben mich und drückte den Hut ins Gesicht.

Ich erinnere mich nicht leicht einer angenehmern Empfindung. Hier an dieser Schwelle wieder zu sitzen, über die ich vor kurzem in Verzweiflung hinausgestolpert war; sie schon wieder gesehn, ihre liebe Stimme schon wieder gehört zu haben, kurz nachdem mein Unmut mir eine lange Trennung vorgespiegelt hatte; jeden Augenblick sie selbst und eine Entdeckung zu erwarten, vor der mir das Herz klopfte, und doch, in diesem zweideutigen Falle, eine Entdeckung ohne Beschämung; dann, gleich zum Eintritt einen so lustigen Streich, als keiner derjenigen, die gestern belacht worden waren! Liebe und Not sind doch die besten Meister, hier wirkten sie zusammen, und der Lehrling war ihrer nicht unwert geblieben.

Die Magd kam aber aus der Scheune getreten. – »Nun! sind die Kuchen geraten?« rief sie mich an; »wie geht’s der Schwester?« – »Alles guet«, sagte ich und deutete auf den Kuchen, ohne aufzusehen. Sie faßte die Serviette und murrte »Nun, was hast du heute wieder? hat Bärbchen wieder einmal einen andern angesehn? Laß es uns nicht entgelten! Das wird eine saubere Ehe werden, wenn’s so fortgeht.« Da sie ziemlich laut sprach, kam der Pfarrer ans Fenster und fragte, was es gebe? Sie bedeutete ihn; ich stand auf und kehrte mich nach ihm zu, doch hielt ich den Hut wieder übers Gesicht. Als er etwas Freundliches gesprochen und mich zu bleiben geheißen hatte, ging ich nach dem Garten und wollte eben hineintreten, als die Pfarrin, die zum Hoftore hereinkam, mich anrief. Da mir die Sonne gerade ins Gesicht schien, so bediente ich mich abermals des Vorteils, den mir der Hut gewährte, grüßte sie mit einem Scharrfuß, sie aber ging in das Haus, nachdem sie mir zugesprochen hatte, ich möchte nicht weggehen, ohne etwas genossen zu haben. Ich ging nunmehr in dem Garten auf und ab; alles hatte bisher den besten Erfolg gehabt, doch holte ich tief Atem, wenn ich dachte, daß die jungen Leute nun bald herankommen würden. Aber unvermutet trat die Mutter zu mir und wollte eben eine Frage an mich tun, als sie mir ins Gesicht sah, das ich nicht mehr verbergen konnte, und ihr das Wort im Munde stockte. – »Ich suchte Georgen«, sagte sie nach einer Pause, »und wen finde ich! Sind Sie es, junger Herr? wie viel Gestalten haben Sie denn?« – »Im Ernst nur eine«, versetzte ich, »zum Scherz, so viel Sie wollen.« – »Den will ich nicht verderben«, lächelte sie; »gehen Sie hinten zum Garten hinaus und auf der Wiese hin, bis es Mittag schlägt, dann kehren Sie zurück, und ich will den Spaß schon eingeleitet haben.« Ich tat’s; allein da ich aus den Hecken der Dorfgärten heraus war und die Wiesen hingehen wollte, kamen gerade einige Landleute den Fußpfad her, die mich in Verlegenheit setzten. Ich lenkte deshalb nach einem Wäldchen, das ganz nah eine Erderhöhung bekrönte, um mich darin bis zur bestimmten Zeit zu verbergen. Doch wie wunderlich ward mir zu Mute, als ich hineintrat: denn es zeigte sich mir ein reinlicher Platz mit Bänken, von deren jeder man eine hübsche Aussicht in die Gegend gewann. Hier war das Dorf und der Kirchturm, hier Drusenheim und dahinter die waldigen Rheininseln, gegenüber die Vogesischen Gebirge und zuletzt der Straßburger Münster. Diese verschiedenen himmelhellen Gemälde waren durch buschige Rahmen eingefaßt, so daß man nichts Erfreulicheres und Angenehmeres sehen konnte. Ich setzte mich auf eine der Bänke und bemerkte an dem stärksten Baum ein kleines längliches Brett mit der Inschrift: Friedrikens Ruhe. Es fiel mir nicht ein, daß ich gekommen sein könnte, diese Ruhe zu stören: denn eine aufkeimende Leidenschaft hat das Schöne, daß, wie sie sich ihres Ursprungs unbewußt ist, sie auch keinen Gedanken eines Endes haben und, wie sie sich froh und heiter fühlt, nicht ahnden kann, daß sie wohl auch Unheil stiften dürfte.

Kaum hatte ich Zeit gehabt mich umzusehn, und verlor mich eben in süße Träumereien, als ich jemand kommen hörte; es war Friedrike selbst. – »George, was machst du hier?« rief sie von weitem. – »Nicht George!« rief ich, indem ich ihr entgegenlief; »aber einer, der tausendmal um Verzeihung bittet.« Sie betrachtete mich mit Erstaunen, nahm sich aber gleich zusammen und sagte nach einem tieferen Atemholen: »Garstiger Mensch, wie erschrecken Sie mich!« – »Die erste Maske hat mich in die zweite getrieben«, rief ich aus; »jene wäre unverzeihlich gewesen, wenn ich nur einigermaßen gewußt hätte, zu wem ich ging, diese vergeben Sie gewiß: denn es ist die Gestalt von Menschen, denen Sie so freundlich begegnen.« – Ihre bläßlichen Wangen hatten sich mit dem schönsten Rosenrote gefärbt. – »Schlimmer sollen Sie’s wenigstens nicht haben als George! Aber lassen Sie uns sitzen! Ich gestehe es, der Schreck ist mir in die Glieder gefahren.« – Ich setzte mich zu ihr, äußerst bewegt. – »Wir wissen alles bis heute früh durch Ihren Freund«, sagte sie, »nun erzählen Sie mir das Weitere.« Ich ließ mir das nicht zweimal sagen, sondern beschrieb ihr meinen Abscheu vor der gestrigen Figur, mein Fortstürmen aus dem Hause so komisch, daß sie herzlich und anmutig lachte; dann ließ ich das übrige folgen, mit aller Bescheidenheit zwar, doch leidenschaftlich genug, daß es gar wohl für eine Liebeserklärung in historischer Form hätte gelten können. Das Vergnügen, sie wieder zu finden, feierte ich zuletzt mit einem Kusse auf ihre Hand, die sie in den meinigen ließ. Hatte sie bei dem gestrigen Mondscheingang die Unkosten des Gesprächs übernommen, so erstattete ich die Schuld nun reichlich von meiner Seite. Das Vergnügen, sie wiederzusehen und ihr alles sagen zu können, was ich gestern zurückhielt, war so groß, daß ich in meiner Redseligkeit nicht bemerkte, wie sie selbst nachdenkend und schweigend war. Sie holte einigemal tief Atem, und ich bat sie aber- und abermal um Verzeihung wegen des Schrecks, den ich ihr verursacht hatte. Wie lange wir mögen gesessen haben, weiß ich nicht; aber auf einmal hörten wir »Rikchen! Rikchen!« rufen. Es war die Stimme der Schwester. – »Das wird eine schöne Geschichte geben«, sagte das liebe Mädchen, zu ihrer völligen Heiterkeit wiederhergestellt. »Sie kommt an meiner Seite her«, fügte sie hinzu, indem sie sich verbog, mich halb zu verbergen: »Wenden Sie sich weg, damit man Sie nicht gleich erkennt.« Die Schwester trat in den Platz, aber nicht allein, Weyland ging mit ihr, und beide, da sie uns erblickten, blieben wie versteinert.

Wenn wir auf einmal aus einem ruhigen Dache eine Flamme gewaltsam ausbrechen sähen, oder einem Ungeheuer begegneten, dessen Mißgestalt zugleich empörend und fürchterlich wäre, so würden wir von keinem so grimmigen Entsetzen befallen werden als dasjenige ist, das uns ergreift, wenn wir etwas unerwartet mit Augen sehen, das wir moralisch unmöglich glaubten. – »Was heißt das?« rief jene mit der Hastigkeit eines Erschrockenen; »was ist das? du mit Georgen! Hand in Hand! Wie begreif’ ich das?« – »Liebe Schwester«, versetzte Friedrike ganz bedenklich, »der arme Mensch, er bittet mir was ab, er hat dir auch was abzubitten, du mußt ihm aber zum voraus verzeihen.« – »Ich verstehe nicht, ich begreife nicht«, sagte die Schwester, indem sie den Kopf schüttelte und Weylanden ansah, der, nach seiner stillen Art, ganz ruhig dastand und die Szene ohne irgend eine Äußerung betrachtete. Friedrike stand auf und zog mich nach sich. »Nicht gezaudert!« rief sie, »Pardon gebeten und gegeben!« »Nun ja!« sagte ich, indem ich der ältesten ziemlich nahe trat; »Pardon habe ich vonnöten!« Sie fuhr zurück, tat einen lauten Schrei und wurde rot über und über; dann warf sie sich aufs Gras, lachte überlaut und wollte sich gar nicht zufrieden geben. Weyland lächelte behaglich und rief: »Du bist ein exzellenter Junge!« Dann schüttelte er meine Hand in der seinigen. Gewöhnlich war er mit Liebkosungen nicht freigebig, aber sein Händedruck hatte etwas Herzliches und Belebendes; doch war er auch mit diesem sparsam.

Nach einiger Erholung und Sammlung traten wir unsern Rückweg nach dem Dorfe an. Unterwegs erfuhr ich, wie dieses wunderbare Zusammentreffen veranlaßt worden. Friedrike hatte sich von dem Spaziergange zuletzt abgesondert, um auf ihrem Plätzchen noch einen Augenblick vor Tische zu ruhen, und als jene beiden nach Hause gekommen, hatte die Mutter sie abgeschickt, Friedriken eiligst zu holen, weil das Mittagsessen bereit sei.

Die Schwester zeigte den ausgelassensten Humor, und als sie erfuhr, daß die Mutter das Geheimnis schon entdeckt habe, rief sie aus: »Nun ist noch übrig, daß Vater, Bruder, Knecht und Magd gleichfalls angeführt werden.« Als wir uns an dem Gartenzaun befanden, mußte Friedrike mit dem Freund voraus nach dem Hause gehen. Die Magd war im Hausgarten beschäftigt, und Olivie (so mag auch hier die ältere Schwester heißen) rief ihr zu: »Warte, ich habe dir was zu sagen!« Mich ließ sie an der Hecke stehen und ging zu dem Mädchen. Ich sah, daß sie sehr ernsthaft sprachen. Olivie bildete ihr ein, George habe sich mit Bärben überworfen und schiene Lust zu haben, sie zu heiraten. Das gefiel der Dirne nicht übel; nun ward ich gerufen und sollte das Gesagte bekräftigen. Das hübsche derbe Kind senkte die Augen nieder und blieb so, bis ich ganz nahe vor ihr stand. Als sie aber auf einmal das fremde Gesicht erblickte, tat auch sie einen lauten Schrei und lief davon. Olivie hieß mich ihr nachlaufen und sie festhalten, daß sie nicht ins Haus geriet und Lärm machte; sie aber wolle selbst hingehen und sehen, wie es mit dem Vater stehe. Unterwegs traf Olivie auf den Knecht, welcher der Magd gut war; ich hatte indessen das Mädchen ereilt und hielt sie fest. – »Denk einmal! welch ein Glück«, rief Olivie, »mit Bärben ist’s aus, und George heiratet Liesen.« – »Das habe ich lange gedacht«, sagte der gute Kerl, und blieb verdrießlich stehen.

Ich hatte dem Mädchen begreiflich gemacht, daß es nur darauf ankomme, den Papa anzuführen. Wir gingen auf den Burschen los, der sich umkehrte und sich zu entfernen suchte; aber Liese holte ihn herbei, und auch er machte, indem er enttäuscht ward, die wunderlichsten Gebärden. Wir gingen zusammen nach dem Hause. Der Tisch war gedeckt und der Vater schon im Zimmer. Olivie, die mich hinter sich hielt, trat an die Schwelle und sagte: »Vater, es ist dir doch recht, daß George heute mit uns ißt? Du mußt ihm aber erlauben, daß er den Hut aufbehält.« – »Meinetwegen!« sagte der Alte, »aber warum so was Ungewöhnliches? Hat er sich beschädigt?« Sie zog mich vor, wie ich stand und den Hut aufhatte. »Nein!« sagte sie, indem sie mich in die Stube führte, »aber er hat eine Vogelhecke darunter, die möchten hervorfliegen und einen verteufelten Spuk machen: denn es sind lauter lose Vögel.« Der Vater ließ sich den Scherz gefallen, ohne daß er recht wußte, was es heißen sollte. In dem Augenblick nahm sie mir den Hut ab, machte einen Scharrfuß und verlangte von mir das gleiche. Der Alte sah mich an, erkannte mich, kam aber nicht aus seiner priesterlichen Fassung. »Ei ei! Herr Kandidat!« rief er aus, indem er einen drohenden Finger aufhob, »Sie haben geschwind umgesattelt, und ich verliere über Nacht einen Gehülfen, der mir erst gestern so treulich zusagte, manchmal die Wochenkanzel für mich zu besteigen.« Darauf lachte er von Herzen, hieß mich willkommen, und wir setzten uns zu Tische. Moses kam um vieles später; denn er hatte sich, als der verzogene Jüngste, angewöhnt, die Mittagsglocke zu verhören. Außerdem gab er wenig acht auf die Gesellschaft, auch kaum, wenn er widersprach. Man hatte mich, um ihn sicherer zu machen, nicht zwischen die Schwestern, sondern an das Ende des Tisches gesetzt, wo George manchmal zu sitzen pflegte. Als er, mir im Rücken, zur Tür hereingekommen war, schlug er mir derb auf die Achsel und sagte: »George, gesegnete Mahlzeit!« – »Schönen Dank, Junker!« erwiderte ich. – Die fremde Stimme, das fremde Gesicht erschreckten ihn. – »Was sagst du?« rief Olivie, »sieht er seinem Bruder nicht recht ähnlich?« – »Jawohl, von hinten«, versetzte Moses, der sich gleich wieder zu fassen wußte, »wie allen Leuten.« Er sah mich gar nicht wieder an und beschäftigte sich bloß, die Gerichte, die er nachzuholen hatte, eifrig hinunterzuschlingen. Dann beliebte es ihm auch, gelegentlich aufzustehen und sich in Hof und Garten etwas zu schaffen zu machen. Zum Nachtische trat der wahrhafte George herein und belebte die ganze Szene noch mehr. Man wollte ihn wegen seiner Eifersucht aufziehen und nicht billigen, daß er sich an mir einen Rival geschaffen hätte; allein er war bescheiden und gewandt genug und mischte auf eine halb dusselige Weise sich, seine Braut, sein Ebenbild und die Mamsells dergestalt durcheinander, daß man zuletzt nicht mehr wußte, von wem die Rede war, und daß man ihn das Glas Wein und ein Stück von seinem eignen Kuchen in Ruhe gar zu gern verzehren ließ.

Nach Tische war die Rede, daß man spazieren gehen wolle; welches doch in meinen Bauerkleidern nicht wohl anging. Die Frauenzimmer aber hatten schon heute früh, als sie erfuhren, wer so übereilt fortgelaufen war, sich erinnert, daß eine schöne Pekesche eines Vettern im Schrank hänge, mit der er, bei seinem Hiersein, auf die Jagd zu gehen pflege. Allein ich lehnte es ab, äußerlich zwar mit allerlei Späßen, aber innerlich mit dem eitlen Gefühl, daß ich den guten Eindruck, den ich als Bauer gemacht, nicht wieder durch den Vetter zerstören wolle. Der Vater hatte sich entfernt, sein Mittagsschläfchen zu halten, die Mutter war in der Haushaltung beschäftigt wie immer. Der Freund aber tat den Vorschlag, ich solle etwas erzählen, worein ich sogleich willigte. Wir begaben uns in eine geräumige Laube, und ich trug ein Märchen vor, das ich hernach unter dem Titel »Die neue Melusine« aufgeschrieben habe. Es verhält sich zum »Neuen Paris« wie ungefähr der Jüngling zum Knaben, und ich würde es hier einrücken, wenn ich nicht der ländlichen Wirklichkeit und Einfalt, die uns hier gefällig umgibt, durch wunderliche Spiele der Phantasie zu schaden fürchtete. Genug, mir gelang, was den Erfinder und Erzähler solcher Produktionen belohnt, die Neugierde zu erregen, die Aufmerksamkeit zu fesseln, zu voreiliger Auflösung undurchdringlicher Rätsel zu reizen, die Erwartungen zu täuschen, durch das Seltsamere, das an die Stelle des Seltsamen tritt, zu verwirren, Mitleid und Furcht zu erregen, besorgt zu machen, zu rühren und endlich durch Umwendung eines scheinbaren Ernstes in geistreichen und heitern Scherz das Gemüt zu befriedigen, der Einbildungskraft Stoff zu neuen Bildern und dem Verstande zu fernerm Nachdenken zu hinterlassen.

Sollte jemand künftig dieses Märchen gedruckt lesen und zweifeln, ob es eine solche Wirkung habe hervorbringen können; so bedenke derselbe, daß der Mensch eigentlich nur berufen ist, in der Gegenwart zu wirken. Schreiben ist ein Mißbrauch der Sprache, stille für sich lesen ein trauriges Surrogat der Rede. Der Mensch wirkt alles, was er vermag, auf den Menschen durch seine Persönlichkeit, die Jugend am stärksten auf die Jugend, und hier entspringen auch die reinsten Wirkungen. Diese sind es, welche die Welt beleben und weder moralisch noch physisch aussterben lassen. Mir war von meinem Vater eine gewisse lehrhafte Redseligkeit angeerbt; von meiner Mutter die Gabe, alles, was die Einbildungskraft hervorbringen, fassen kann, heiter und kräftig darzustellen, bekannte Märchen aufzufrischen, andere zu erfinden und zu erzählen, ja im Erzählen zu erfinden. Durch jene väterliche Mitgift wurde ich der Gesellschaft mehrenteils unbequem: denn wer mag gern die Meinungen und Gesinnungen des andern hören, besonders eines Jünglings, dessen Urteil, bei lückenhafter Erfahrung, immer unzulänglich erscheint. Meine Mutter hingegen hatte mich zur gesellschaftlichen Unterhaltung eigentlich recht ausgestattet. Das leerste Märchen hat für die Einbildungskraft schon einen hohen Reiz, und der geringste Gehalt wird vom Verstande dankbar aufgenommen.

Durch solche Darstellungen, die mich gar nichts kosteten, machte ich mich bei Kindern beliebt, erregte und ergetzte die Jugend und zog die Aufmerksamkeit älterer Personen auf mich. Nur mußte ich in der Sozietät, wie sie gewöhnlich ist, solche Übungen gar bald einstellen, und ich habe nur zu sehr an Lebensgenuß und freier Geistesförderung dadurch verloren; doch begleiteten mich jene beiden elterlichen Gaben durchs ganze Leben, mit einer dritten verbunden, mit dem Bedürfnis, mich figürlich und gleichnisweise auszudrücken. In Rücksicht dieser Eigenschaften, welche der so einsichtige als geistreiche Doktor Gall, nach seiner Lehre, an mir anerkannte, beteuerte derselbe, ich sei eigentlich zum Volksredner geboren. Über diese Eröffnung erschrak ich nicht wenig: denn hätte sie wirklich Grund, so wäre, da sich bei meiner Nation nichts zu reden fand, alles übrige, was ich vornehmen konnte, leider ein verfehlter Beruf gewesen.

 
 * 

Sämtliche Werke
titlepage.htm
inhalt.htm
1DRAMEN.htm
101laune.htm
102mitschuldigen.htm
103goetz.htm
103goetz2.htm
104fastnachtsspiel.htm
105jahrmarktsfest.htm
106hanswurst.htm
129satyros.htm
107goetterhelden.htm
108clavigo.htm
109egmont.htm
110erwin.htm
126claudine.htm
111geschwister.htm
112stella.htm
113triumph.htm
114proserpina.htm
115iphigenie.htm
116torquato.htm
117faustfr.htm
118grosscophta.htm
119buergergeneral.htm
128aufgeregten.htm
127epimenides.htm
120fausti.htm
120fausti2.htm
121mahomet.htm
122natuerliche.htm
123pandora.htm
124faustii.htm
124faustii2.htm
124faustii3.htm
124fausti4i.htm
125prometheus.htm
2ROMANE.htm
201werther.htm
202wmtheatralische.htm
202wmtheatralische2.htm
203wmlehrjahre.htm
203wmlehrjahre2.htm
203wmlehrjahre3.htm
203wmlehrjahre4.htm
203wmlehrjahre5.htm
203wmlehrjahre6.htm
203wmlehrjahre7.htm
203wmlehrjahre8.htm
204wmwanderjahre.htm
204wmwanderjahre2.htm
204wmwanderjahre3.htm
204wmwanderjahre4.htm
204wmwanderjahre5.htm
204wmwanderjahre6.htm
205wahlverwandt.htm
205wahlverwandt2.htm
205wahlverwandt3.htm
205wahlverwandt4.htm
3ERZAEHLUNGEN.htm
301unterhaltungen.htm
302novelle.htm
303ausderschweiz.htm
4VERSEPEN.htm
401reineke.htm
401reineke2.htm
402hermann.htm
5EPIGRAMME.htm
501venezianische.htm
502xenien.htm
6GEDICHTSAMMLUNGEN.htm
601roemische.htm
602westoestlicher.htm
7LYRIK.htm
701lyrik.htm
701lyrik2.htm
701lyrik3.htm
701lyrik4.htm
8AUFZEICHNUNGEN.htm
801maximen.htm
801maximen2.htm
9NATURWISSENSCHAFT.htm
901geologie.htm
902morphologie.htm
903farbenlehre.htm
903farbenlehre2.htm
903farbenlehre3.htm
903farbenlehre4.htm
903farbenlehre5.htm
903farbenlehre6.htm
903farbenlehre7.htm
903farbenlehre8.htm
903farbenlehre9.htm
904theoretische.htm
904theoretische2.htm
904theoretische3.htm
904theoretische4.htm
0AUTOBIOGRAPHISCHES.htm
001ausmeinemleben.htm
001ausmeinemleben2.htm
001ausmeinemleben3.htm
001ausmeinemleben4.htm
001ausmeinemleben5.htm
001ausmeinemleben6.htm
001ausmeinemleben7.htm
001ausmeinemleben8.htm
001ausmeinemleben9.htm
001ausmeinemleben10.htm
002italienische.htm
002italienische2.htm
002italienische3.htm
002italienische4.htm
002italienische5.htm
002italienische6.htm
002italienische7.htm
002italienische8.htm
003sanktrochus.htm
004campagne.htm
004campagne2.htm
004campagne3.htm
005belagerung.htm
006ahreshefte.htm
006ahreshefte2.htm
006ahreshefte3.htm
006ahreshefte4.htm
006ahreshefte5.htm
007briefei.htm
007briefei2.htm
007briefei3.htm
007briefei4.htm
007briefei5.htm
007briefei6.htm
008briefeii.htm
008briefeii2.htm
008briefeii3.htm
008briefeii4.htm
008briefeii5.htm
008briefeii6.htm
7registerc.htm
7registera.htm