Drittes Buch

Erstes Kapitel

Die Verbindung einer Reisegesellschaft ist eine Art von Ehe, und man findet sich bei ihr auch leider, wie bei dieser, oft mehr aus Konvenienz als aus Harmonie zusammen, und die Folgen eines leichtsinnig eingegangenen Bundes sind hier und dorten gleich. Wilhelm hatte sich einen Lohnkutscher bis an einen gewissen Ort gedungen, und um die Kosten der Fuhre nicht allein zu bezahlen, noch drei Passagiers aufgerafft, die ebenden Weg gingen. Ein jeder hatte sein besonderes Interesse, wovon er den andern ausschließlich unterhielt und einigen Nutzen für sich zu ziehen hoffte. Der eine war ein Bergmeister, der andere ein Weinhändler, der dritte, noch der uneigennützigste, fand auf dem ganzen Wege nichts Merkwürdiges als Pferde und Mädchen. Wilhelm war wie versiegelt in ihrer Gesellschaft, besonders verdrossen ihn die unartigen Gespräche, die rohen und übertriebenen Forderungen in den Herbergen und die ewigen Händel mit dem Postillon, der darum um nichts geschwinder fuhr.

Sie hielten mittags in einem Wirtshause an, wo der Bergmeister einige seiner Leute, die er hierher bestellt hatte, vor der Türe mitten unter einem Truppe Bauern antraf.

Jede Gattung Menschen, die Uniform trägt, imponiert dem großen Haufen und weiß sich ihres Vorzugs meistens sehr gut zu bedienen. Die Bergleute hatten Zithern bei sich, spielten, sangen, indes die andern um sie herumstunden und die Mäuler aufsperrten. Die Gesellschaft drängte sich durch, und die Sänger verdoppelten ihre Bemühungen, da sie nun auf ein gutes Trinkgeld hoffen konnten. Nach Begrüßung ihres Vorgesetzten trugen sie mit ihren lebhaften und grellen Stimmen verschiedne artige Lieder vor. Auf einmal, da sie sahen, daß man Gefallen an ihrem Spiele hatte, erweiterten sie ihren Kreis, und einer trat mit einer Hacke auf und stellte, indes die andern ein Stück aufspielten, die Handlung des Schürfens vor. Es währte nicht lange, so trat ein Bauer aus der Menge und gab ihm pantomimisch drohend zu verstehn, daß er sich von hier hinwegbegeben solle. Die Gesellschaft war darüber verwundert und erkannte erst den zum Bauer verkleideten Bergmann, als er den Mund auftat und in einer Art von Rezitativ den andern schalt, daß er es wage, auf seinem Acker zu hantieren. Jener kam nicht aus der Fassung, sondern fing an, den Landmann zu belehren, daß er ein Recht dazu habe, und gab ihm die ersten Begriffe von dem Bergbaue. Der Bauer tat allerlei alberne Fragen, worüber die Zuschauer herzlich lachten. Der Bergmann suchte ihn zu rektifizieren und bewies ihm am Ende den Vorteil, der zuletzt auf ihn fließe, wenn die unterirdischen Schätze des Landes herausgewühlt würden. Der Bauer, der jenem zuerst mit Schlägen gedroht, wurde nach und nach besänftigt, und sie schieden als gute Freunde und besonders der Bergmann auf die honorabelste Art von der Welt aus diesem Streite.

Nachdem sie geendigt hatten, gab jeder, besonders Wilhelm, sein Trinkgeld gerne. Das Essen war bereit, und nach Tische entschlossen sie sich, da man dem Gebürge nahe war und die Fahrt langsam und beschwerlich ging, bis in das Nachtquartier zu Fuße zu gehen. Der Postillon beschrieb der Gesellschaft den Weg, und sie verlor sich bald auseinander, indem ein Teil voreilte und der andre zurückblieb.

Wilhelm war bald allein. Er durchstrich mit leisem Schritte Täler und Berge in der Empfindung des größten Vergnügens. Überhangende Felsen, rauschende Wasserbäche, bewachsene Wände, tiefe Gründe sah er zum ersten Male, und doch hatten seine frühsten Jugendträume schon um solche Gegenden geschwebt. Er war bei diesem Anblicke nun wieder verjüngt, alle erduldeten Schmerzen waren ganz aus seiner Seele weggewaschen, und mit jugendlicher Fröhlichkeit rezitierte er Stellen seiner ersten Dramen, Stellen anderer Dichter, besonders aus dem „Pastor fido“, die an diesen einsamen Plätzen scharenweise seinem Gedächtnisse zuflossen. Er belebte die Welt, die vor ihm lag, mit allen Gestalten der Vergangenheit, und jeder Schritt in die Zukunft war ihm voll Ahndung wichtiger Handlungen und merkwürdiger Begebenheiten.

Mehrere Menschen, die aufeinanderfolgend hinter ihm herkamen, an ihm mit einem Gruße vorbeigingen und den Weg in das Gebürg eilig fortsetzten, hatten ihn verschiedene Male unterbrochen, ohne daß er auf sie aufmerksam geworden wäre. Endlich gesellte sich ein Gesprächigerer zu ihm und erzählte die Ursache der starken Pilgrimschaft. „Zu Hochdorf“, sagte er, und dies war auch der Name des Nachtquartiers unserer Reisenden, „wird heute abend eine Komödie gegeben, wohin alles aus der Nachbarschaft eilt.“ – „Wie“, rief Wilhelm, „in diesen einsamen Gebürgen, zwischen diesen undurchdringlichen Wäldern hat die Schauspielkunst einen Weg gefunden und sich einen Tempel aufgebaut?“ – „Sie werden sich noch mehr wundern“, sagte der andre, „wenn Sie hören, durch wen es aufgeführt wird. Es ist eine große Wachstapetenfabrik an dem Orte, die viele Leute ernährt. Der Unternehmer, der sozusagen von aller menschlichen Gesellschaft entfernt lebt, weiß seine Maler und Arbeiter winters nicht besser zu beschäftigen, als daß er sie veranlaßt hat, Komödien zu spielen. Er leidet keine Karten unter ihnen und wünscht sie sonst von rohen Sitten abzuhalten. So bringen sie die langen Abende zu, und heute, da des Alten Geburtstag ist, geben sie ihm zu Ehren eine Festlichkeit.“

Bei dem Namen des Ortes und des Fabrikdirektors fiel ihm auf, daß er auch diesen Mann auf der Liste derjenigen habe, die ihm zu mahnen aufgetragen worden. „Da kommst du zur ungelegenen Stunde“, sagte er zu sich, „indem du dieser Leute Sorge erneuerst, die sie sich vielleicht einen Augenblick aus dem Sinne geschlagen hatten.“ Diese Betrachtung verdarb ihm den ganzen Überrest des Weges, und er nahte sich nicht ohne eine geheime, gutmütige Unruhe dem Hause. Die übrige Reisegesellschaft war schon vorher in dem Gasthofe angekommen und hatte sich, von der Neuheit des Schauspieles angezogen, einen Eingang verschafft, und Wilhelm wurde auch von dem Hausvater mit größter Freundlichkeit aufgenommen. Als er seinen Namen nannte, tat der Alte ganz verwundert und rief aus: „Ei, mein Herr, sind Sie der Sohn des braven Mannes, dem ich so viel Dank und auch bis jetzt noch Geld schuldig bin? Ihr Herr Vater hat so viel Geduld mit mir gehabt, daß ich ein Bösewicht sein müßte, wenn ich ihn nicht treulich und redlich bezahlte. Sie kommen eben zur rechten Zeit, um zu sehen, daß es mir Ernst ist. Ich habe seit einigen Jahren immer Aufschub gebeten, nun aber sind mir, Gott sei Dank, einige ansehnliche Schuldposten eingegangen, und ich habe eine Einteilung gemacht, wo Ihr Herr Vater nicht vergessen ist. Ich bin ihm noch hundert Dukaten schuldig; zweihundert Taler liegen gleich parat, und wegen des Überrestes wird er mir ja wohl bis die nächste Messe Kredit geben.“ Er rief seine Frau herbei, welche ebenso erfreut schien, den jungen Menschen zu sehn, versicherte, daß er seinem Vater gliche, und sehr bedauerte, daß sie ihn wegen vieler Fremden die Nacht nicht beherbergen könnte. Wilhelm produzierte seine Papiere und Vollmachten, der Alte führte ihn in sein Comptoir und zahlte ihm die zweihundert Taler auf der Stelle in Golde aus. „Wenn das so fortgeht“, dachte er bei sich selbst, „so hat Werner wohl recht, daß es leichter ist, als man denkt, die Menschen zu ihrer Schuldigkeit anzuhalten.“

Die Stunde des Schauspieles nahte herbei, als man auf einmal die traurige Nachricht brachte, der neue Pfarrer, der erst einige Monate angezogen war, habe das Schauspiel untersagen oder vielmehr ankündigen lassen, er könne nicht zugeben, daß in seiner Gemeinde Komödie gespielt würde, bis sie eine Erlaubnis von dem Amte vorzeigten. Man hatte ihm vergebens vorgestellt, der Amtmann wisse nur sehr wohl darum, sei öfters selbst in den Stücken gewesen, er werde gewiß nichts dagegen einzuwenden haben, man könne nur unter drei Stunden nicht hin- und herkommen; vergebens! er blieb auf seinem Kopfe, und die ganze Gesellschaft war in der größten Verlegenheit. Wilhelm übernahm es, ihn zu rektifizieren, ging zu ihm und hielt ihm die pathetischste Anrede. Der Geistliche war unbeweglich, und der junge Redner legte ihm Gründe aller Art vor; umsonst! denn jener blieb auf seiner Meinung und versicherte, daß er nicht abgehen könne noch wolle. Der unglückliche Abgesandte kehrte voll Zorn und Verdruß zurück, die ganze Gesellschaft war außer sich. Die Akteurs kamen angezogen herbeigelaufen und erzählten mit der größten Unruhe, daß Lampen und Lichter brennten und alles zum Winke bereit sei. Man schalt, man stampfte, man lief, man schrie. Als der Lärm am ärgsten wurde, kamen Pferde vor die Türe, und der Oberforstmeister mit einigen Jägern stieg ab. Er wunderte sich höchlich über die Verwirrung, in der er das Haus fand, und worüber man ihm fast die gewöhnliche Ehrerbietung zu bezeigen vergaß. Da er die Ursache davon hörte, rief er aus: „Der Pfaff will euch nicht spielen lassen! ei! Ich will ihm ein Wörtchen in das Ohr sagen, wir sind gute Freunde, er wird mir es gewiß zu Gefallen tun.“ Er ging auch wirklich zu ihm und kam bald mit der Erlaubnis zurück, sie sollten nur anfangen. Wilhelm wünschte bei sich selbst die Gründe zu wissen, womit dieser Kavalier den Geistlichen überredet hätte; „denn ich habe doch, wie mich dünkt“, sagte er zu sich selbst, „nichts vergessen, was ein vernünftiger Mensch bei dieser Gelegenheit sagen kann, und habe ihn nicht überzeugen können.“

Die Gesellschaft wurde nunmehro in das Schauspielhaus geführt, welches eine Scheune war, die gleich am Garten lag. Die innere Dekoration verwunderte jedermann, denn sie war artig, obgleich ohne sonderlichen Geschmack. Einer von den Malern, welche auf der Fabrik arbeiteten, hatte bei der Dresdner Oper handgelangt. Leinwand und Farben kosteten wenig, und ihre Mühe ward durch die Sache selbst belohnt. Ihr Stück, das sie halb von einer herumziehenden Truppe geborgt, halb nach ihrer eigenen Weise zurechtgestutzt hatten, so schlecht es war, unterhielt die Zuschauer. Die Intrige, daß zwei Liebhaber ein Mädchen ihrem Vormunde und wechselsweise sich selbst entreißen wollen, brachte allerlei interessante Situationen hervor und machte den Gang des Stückes lebhaft. „Ich sehe daraus“, sagte Wilhelm bei sich selbst, „daß die Alten recht haben, die behaupten, daß ein Stück, wenn es voller Handlung sei, auch ohne Sitten, ohne Schilderung wahrer Menschheit doch gefallen und ergötzen könne. Dies, sagen sie, seien die Anfänge des Theaters gewesen, und ich glaube es fast, da es auch die Anfänge des unsrigen sind. Der rohe Mensch ist zufrieden, wenn er nur etwas vorgehen sieht, der gebildete will empfinden, und Nachdenken ist nur dem ganz ausgebildeten angenehm.“

Aus seinen stillen Betrachtungen störte ihn der Tobaksdampf, der immer stärker und stärker wurde. Der Oberforstmeister hatte bald nach Anfange des Stücks seine Pfeife angezündet, und nach und nach nahmen sich mehrere diese Freiheit aus. Noch einen schlimmern Auftritt machten die großen Hunde dieses Herrn, die man zwar ausgesperrt hatte, die aber bald den Weg zu einer Hintertüre herein fanden, auf das Theater liefen, wider die Akteurs rannten und durch einen Sprung über das Orchester ihren Herrn im Parterre aufsuchten.

Zum Nachspiel hatten sie einen Glückwunsch zusammengestoppelt, ein schlechtes Porträt des Alten auf einen Altar gestellt und mit Kränzen behängt, dem sie in demutsvollen Stellungen huldigten. Das jüngste Kind trat wohlaufgeputzt hervor und hielt eine Rede in sehr mittelmäßigen Versen, welche die ganze Familie und sogar den Oberforstmeister, der sich dabei an seine Kinder erinnerte, zu Tränen bewegte. Wie mächtig sind Lokalumstände auf die Herzen der Menschen, und wie rührend ist eine Feierlichkeit, wenn sie auch nicht in dem besten Geschmacke angestellt ist!

 
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Zweites Kapitel

Nach einigen Tagereisen kam die Gesellschaft in eine mittelmäßige Stadt, wo ihre Verbindung aufhörte, ihr Fuhrmann wieder zurückging, wo sie ausruhen und ihre Geschäfte betreiben wollten.

Wilhelm gab seine Empfehlungsschreiben ab und mahnte mit ungleichem Erfolge mehrere Personen seines Verzeichnisses. Einige zahlten, einige entschuldigten sich, andere nahmen’s übel, andere leugneten. Nach seinem Auftrag sollte er gewisse Herrn verklagen, er mußte deswegen einen Advokaten aufsuchen und denselben instruieren. Diese Arbeit lag ihm so sauer auf, als man es sich nur denken kann, doch war er gewissenhaft und wollte es gerne recht machen.

Die Gesellschaft, in die er gezogen wurde, unterhielt ihn nicht besser. Gute Leute, die sechs Tage der Woche ordentlich hingingen, sich des Sonntags was Rechts zugute taten und außerdem jeden Abend mit Billard oder Lomber in einem geschloßnen Kränzchen zubrachten! Dies waren auch die Feierlichkeiten, womit sie ihn bewirteten, und man kann sagen, daß sie ihr Bestes dabei taten, ohne einen Augenblick zu zweifeln, ob ihr Gast sich ebensosehr in ihrer Gesellschaft als sie sich in der seinigen vergnügten. In seinem Wirtshause gefiel es ihm noch am besten, denn da ging es lustig zu und gab allerlei Veränderungen, die ihn interessierten. Eine große Gesellschaft von Seiltänzern, Springern, Gauklern, die einen starken Mann bei sich hatten, waren mit einer großen Anzahl Weiber und Kinder eingezogen und machten, indem sie sich auf eine öffentliche Erscheinung bereiteten, einen Unfug über den andern. Bald stritten sie sich mit dem Wirte, bald unter sich selbst, und wenn ihr Zank unleidlich war, so war das Bezeigen ihres Vergnügens ganz und gar unerträglich. Auf dem Markte sah er ein weitläufiges Gerüste aufgeschlagen, die Schwingbretter angebracht, die Pfosten zu dem Schlappseile befestigt und die Böcke zu dem straffen Seile zurechtegestellt. Den andern Morgen ging der Zug fort, durch den die Stadt von dem Schauspiele benachrichtigt werden sollte, das man ihr bereitete. Vorauf ein Tambour und der Entrepreneur zu Pferde, hinter ihm eine Tänzerin auf einem ähnlichen Gerippe mit einem Kinde vor sich, wohl mit Bändern und mit Flintern herausgeputzt, darauf Paar und Paar die übrige Truppe zu Füße, die Kinder in abenteuerlichen Stellungen auf ihren Schultern. Palliasso lief unter der andrängenden Menge drollig hin und her und teilte mit sehr begreiflichen Späßen, indem er bald ein Mädchen küßte, bald einen Knaben pritschte, seine Zettel aus und erweckte unter dem Volke eine unüberwindliche Begierde, ihn diesen Abend näher kennenzulernen. In den gedruckten Anzeigen waren die mannigfaltigen Künste der Gesellschaft, besonders eines Monsieur Narziß und einer Mademoiselle Landerinette herausgestrichen, welche beide als die Hauptpersonen des Stückes die Klugheit gehabt hatten, sich von dem Zuge zu enthalten, sich dadurch ein vornehmeres Ansehen au geben und größere Neugier zu erwecken. Der Abend kam herbei, Wilhelm wurde in ein Haus geführt, wo große Gesellschaft versammelt war, und um die angezeigte Stunde füllte sich bald der Platz mit Volk und die Fenster mit Leuten einiger Art.

Palliaß bereitete erst die Versammlung mit einigen Albernheiten, worüber die Zuschauer immer zu lachen pflegen, zur Aufmerksamkeit und zur guten Laune vor. Einige Kinder mit seltsamen Verrenkungen erregten bald Verwunderung, bald Grausen, bald Mitleiden, weit mehr Vergnügen aber der Anblick, wenn die rüstigen Springer bald hintereinander, bald alle zusammen vorwärts und rückwärts sich in der Luft überschlugen. Ein lautes Händeklatschen und Jauchzen erscholl aus der ganzen Versammlung. Nun wurde die Aufmerksamkeit auf einen andern Gegenstand gewendet, die Kinder eins nach dem andern mußten das Seil betreten, die ungeschicktesten zuerst, damit die Zeit ausgedehnet und die Schwierigkeit der Kunst sichtbar würde. Es zeigten sich auch einige von den Springern und eine erwachsene Frauensperson mit ziemlicher Geschicklichkeit; allein es war noch nicht Monsieur Narziß, noch nicht Mademoiselle Landerinette. Endlich traten auch diese aus einer Art von Zelt ausgespannter roter Vorhänge hervor und erfüllten durch ihre angenehme Gestalt und zierlichen Putz die bisher glücklich genährte Hoffnung der Zuschauer. Er, ein leichtes, munteres Bürschchen von mittlerer Größe, schwarzen Augen und sehr vielen Haaren, sie nicht weniger niedlich, doch stark gebildet, wechselten sich auf einem Seile mit leichten Bewegungen, kühnen Sprüngen und seltsamen Posituren ab. Ihre Leichtigkeit, seine Verwegenheit, die Präzision, womit beide ihre Kunststücke ausführten, erhöhete mit jedem Schritt und Sprung das allgemeine Vergnügen. Der Anstand, womit sie sich betrugen, die anscheinende Bemühung der andern um sie gab ihnen das Ansehen als Herrn und Meister der ganzen Truppe, eines Ranges, dessen sie jeder wert halten mußte. Die Begeisterung teilte sich vom Volke den Zuschauern in den Fenstern mit, die Damens sahen nach Narzissen, die Herren nach Landerinetten, das Volk jauchzte, und das feinere Publikum enthielt sich nicht des Klatschens, kaum daß man noch über Palliassen lachte. Die Freude und der Zauber ward so groß, daß jeder vergaß sich wegzuschleichen, als einige von der Truppe, um Geld zu sammeln, sich mit zinnernen Tellern durch die Menge drängten. „Sie haben ihre Sache gut gemacht“, sagte Wilhelm zu seinem Reisegefährten, der bei ihm am Fenster stund. „Mitunter“, versetzte der andre, „das Mädchen ist ein wackeres, frisches Ding.“ – „Sie haben alles gut gemacht“, sagte Wilhelm; „ich bewundre ihren Verstand, womit sie auch geringe Kunststückchen, nach und nach zur rechten Zeit angebracht, geltend m machen wußten, wie sie von den einfachsten, ja sogar von den Ungeschicklichkeiten ihrer Kinder anfingen und bis zu den zusammengesetztesten, künstlichsten ihrer Virtuosen fortfuhren.“ Der Gefährte war nicht Wilhelms Meinung, sondern versicherte vielmehr, es sei unerträgliches, langweiliges Zeug von Kleinigkeiten, die zu nichts nützten, als die Zeit zu verderben. „Sie hätten ihre guten Kunststücke nacheinander weg machen sollen, so wäre in einer Viertelstunde die Sache abgetan gewesen.“ – „Glauben Sie denn“, versetzte Wilhelm, „daß das Publikum und die Leute dabei ihren Vorteil finden? Ist’s nicht einem jeden darum zu tun, eine Zeitlang abwechselnd unterhalten zu werden, und diesen, ihre Kunststücke in dem vorteilhaftesten Lichte zu zeigen?“ – „Es ist ein Schlendrian und Handwerksgebrauch, ich habe es noch bei allen so gesehen.“ – „Es sei dem, wie ihm wolle“, sagte Wilhelm, „so hat die Natur und die Erfahrung sie die besten Regeln gelehrt, und wenn sie die einigen Tage, die sie hier bleiben, immer so stufenweise fortfahren und heben, wie ich überzeugt bin, ihre besten Stücke zuletzt auf, so müssen sie eine große Wirkung tun und viel Geld gewinnen, welchen Geist und welchen Geschmack ich manchem Schriftsteller wünschte.“ Der Fremde, dem mit solchen abstrakten Gesprächen nicht gedient war, fing an, die Reize Landerinettens durchzugehen, indes Wilhelm ihre Kunstfähigkeiten bestimmt auseinandersetzte.

Wilhelm hatte ganz recht gemutmaßet, denn den zweiten Tag war ihre ganze Kunst im Steigen. Die Anfänge, wenn ich so sagen darf, ließen sie ganz weg, doch ging alles in derselben Ordnung wie den vorigen Tag, sie machten einige neue, kompliziertere und gefährlicher scheinende Kunststücke mehr, die Späße des Palliaß waren dieselbigen, nur schienen sie immer mehr Wirkung zu tun, je mehr sie wiederholt wurden. Und wie uns ein denkender Mann gesagt, daß Übelstand ohne Schmerz, Größe ohne Stärke tiefe Quellen des Lächerlichen sind, so kann man hinzusetzen, daß vorsätzliche Ungeschicklichkeit, Ungeschicktes mit verborgener Kraft einen höchst komischen und angenehmen Eindruck machen.

Ebenso schnell stieg auch der Enthusiasmus für Herrn Narziß und Mamsell Landerinette, das Jauchzen, das Klatschen, das Bravorufen ward allgemein und immer allgemeiner, die Beutel taten sich auf, und die Einnahme war ansehnlich. Ein Fremder, der mit am Fenster war, bedaurte, daß ein gewisses Kind nicht mehr bei der Truppe sei, das verschiedene Kunststücke mit großer Geschicklichkeit und besonders den Eiertanz so schön, als er ihn niemals gesehen, ausgeführt hätte. Die Künstler verließen, da es Nacht werden wollte, das Gerüste und wurden von dem zudringenden Volke im Triumphe nach Hause gebracht.

Den dritten Tag, da die Anzahl der Menschen durch den Zulauf aus den benachbarten Ortschaften außerordentlich zugenommen hatte, rollte sich auch der Schneeball des Beifalls immer größer. Der Sprung über die Degen, durch das Faß mit den papiernen Böden, und was alles dazu gehört, brachte die Menge außer sich. Der starke Mann ließ zum allgemeinen Grausen, Entsetzen und Erstaunen, indem er sich mit dem Kopfe und den Füßen auf ein paar auseinandergeschobne Stühle legte, auf den hohlschwebenden Leib einen Amboß stellen und darauf von drei wackeren Schmiedegesellen ein Hufeisen fertig schmieden.

Die sogenannte Herkulesstärke, wo eine Reihe Männer sich andern auf die Schultern stellen und diesen wieder andre, so daß es zuletzt eine lebendige Pyramide wird, die ein Kind, auf dem Kopf stehend, gleichsam als ein Knopf und Wetterfahne schließt, war noch nie in diesen Gegenden gesehen worden und endigte würdig das ganze Schauspiel. Herr Narziß und Mamsell Landerinette ließen sich in Tragesesseln auf den Schultern der übrigen durch die vornehmsten Straßen der Stadt unter dem lauten Freudengeschreie des Volkes tragen. Man warf ihnen Bänder, Blumensträuße und seidene Schnupftücher zu und drängte sich, sie recht in das Gesicht zu fassen. Jedermann schien glücklich, sie anzusehen und von ihnen eines Anblickes gewürdiget zu werden.

Welcher Schriftsteller, welcher Schauspieler würde nicht glücklich sein, wenn er einen solchen allgemeinen Eindruck erregte, welche köstliche Empfindung müßte das werden, wenn man gute, edle, der Menschheit würdige Gefühle ebenso allgemein durch einen elektrischen Schlag ausbreiten und ein solches Entzücken dadurch unter den Menschen erregen könnte, wie diese Leute es durch ihre sichtbaren Stücke getan haben; wenn man dem Volke oder den Besten daraus das Mitgefühl alles Menschlichen geben und sie mit der Vorstellung des Glückes und Unglückes, der Weisheit und Torheit, des Unsinnes und der Albernheit entzünden und erschüttern und ihr stockendes Innere in Bewegung setzen könnte! Dann möchte vielleicht das vorgehen, was der alte Philosoph von dem Trauerspiele verspricht, daß es die Leidenschaften reinige. Mit solchen Gedanken unterhielt sich Wilhelm, als er nach Hause ging, nachdem er sich in der ganzen Gesellschaft vergebens nach einem Menschen umgesehen hatte, dem er diese Betrachtungen hätte mitteilen können.

 
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Drittes Kapitel

Als Wilhelm in den Gasthof kam, traf er Herrn Narziß auf dem Vorsaal stehend an und ersuchte ihn, einen Augenblick mit ihm auf die Stube zu kommen. Er fand an ihm einen guten, muntern Purschen, der mit großer Leichtigkeit und vielem Leichtsinne seine Schicksale erzählte und nichts weniger als Herr von der Truppe war. Als ihm Wilhelm zu seinem Sukzesse Glück wünschte, nahm er es mit ziemlicher Gleichgültigkeit auf. „Wir sind es gewohnt“, sagte er, „daß man über uns lacht und unsere Künste bewundert, aber wir werden durch einen außerordentlichen Beifall um nichts gebessert, denn der Entrepreneur zahlt bei guter wie bei schlechter Einnahme jedem seine bestimmte Gage fort.“ Wilhelm erkundigte sich nach verschiedenem, das der andre alles pünktlich beantwortete und zuletzt eilig tat und sich beurlaubte. „Wo wollen Sie denn so schnell hin, Monsieur Narziß,“ sagte Wilhelm. Der junge Mensch lächelte und gestand, seine Figur und Talente haben ihm einen Beifall zugezogen, an dem ihm mehr gelegen sei, er habe von einigen Frauenzimmern in der Stadt zärtliche Billetts erhalten und sei auf diesen Abend und diese Nacht dringend eingeladen. Er fuhr fort, mit der größten Aufrichtigkeit seine Abenteuer zu erzählen, und hätte Namen, Straßen und Häuser angezeigt, wenn nicht Wilhelm, der sich vor einer solchen Indiskretion entsetzte, es abgelehnt und ihn entlassen hätte.

Sein junger Reisegefährte hatte inzwischen Mamsell Landerinette unterhalten und gab bei dem Abendessen nicht undeutlich zu verstehen, mit was für Hoffnungen sie ihm geschmeichelt habe.

Es verstrichen noch einige Tage, die Wilhelm mit Einkassieren verschiedener Schuldposten zubrachte, und ob er gleich nicht mit Schärfe verfuhr, sehr gütig und nachsichtig war, so glückte es ihm doch, und er hätte mit dem, was er zu Hochstädt erhalten, beinahe funfzehnhundert Taler eingenommen. Davon Wernern in nächstem Briefe Nachricht zu geben und ihm den größten Teil zu überschicken, machte ihm eine außerordentliche Freude. Er empfahl sich auch einigen Handelsleuten, denen sein Wesen so wohl gefiel, daß sie Bestellungen machten, die er sorgfältig notierte. Endlich fand er vor gut, seine Reise weiter fortzusetzen, und weil hier seine Gesellschaft sich zerschlagen hatte, nahm er eine Postchaise, packte seinen Koffer auf und fuhr bei guter Zeit ab, um vor Nacht auf der nächsten Station anzulangen.

Die Zeit war ihm unter allerlei Gedanken verstrichen, die Nacht kam herbei, und er merkte, da der Postillon seinen Weg in dem Walde, in den sie geraten waren, bald hier- bald dorthin nahm, daß er den rechten möchte verloren haben. Er fand es auch wirklich so, als er sich darnach erkundigte, doch versicherte der Schwager, er könne nicht weit von dem Orte seiner Bestimmung ab sein. Es war tief in der Nacht, als sie bei einem Dorfe anlangten und sich um die Gegend erkundigten. Sie waren ganz und gar von der Straße abgekommen, und indem sie sich von ihr in einem fast rechten Winkel entfernt hatten, lag die Station, wo sie hin wollten, wohin noch überdies kein grader Weg ging, auf sechs Stunden ab, und Wilhelm verlangte, daß der Postillon die Nacht über hierbleiben und ihn des andern Morgens dorthin bringen sollte. Der Postillon bat dringend, daß er ihn gerade nach Hause wieder zurückkehren lassen möge, er sei noch neu im Dienst und habe, weil er die Pferde so abgetrieben, alles von seinem Herrn zu befürchten; er wolle sagen, daß er ihn auf die nächste Station geliefert, und hoffe mit dieser Lüge durchzukommen; dafür wolle er ihm gegen ein Billiges einen alten Reisewagen des Pfarrers und Bauernpferde verschaffen, um die er sich schon erkundigt; diese könnten ihn an den nächsten Ort, welches eine ansehnliche Landstadt sei und nur drei Stunden von hier liege, morgen früh beizeiten bringen, wo er alsdann wieder Postpferde nehmen und ohne Beschwerlichkeit in seine Route einfallen könnte. Der Wirt redete ihm selbst zu, und weil er gutmütig war, so ließ er es geschehen.

Des andern Morgens, als ihn sein neuer Fuhrmann gegen die Stadt brachte und er sie liegen sah, hörte er von demselben, daß eine starke Garnison drinne sei und daß man an den Toren scharf examiniere. „Es kommt mir immer wunderbar vor“, sagte Wilhelm bei sich selbst, „wenn ich meinen Namen angeben und mich Meister nennen soll. Ich täte wahrlich besser, mich Geselle zu heißen, denn ich fürchte immer, ich werde in dem Gesellenstande stecken bleiben. Ich werde es auch zum Scherze tun, besonders da ich niemanden kenne und niemanden zu besuchen habe. Der Namen ist nicht wohlklingend, aber bedeutend; übersetzt kläng er auch besser, doch wir wollen bei unsrer Muttersprache bleiben.“ Er kam unter das Tor und wurde so aufgeschrieben. Es war noch früh, als er vor dem Gasthofe anlangte, der Wirt sagte ihm, daß seine meisten Zimmer von einer Truppe Komödianten, die sich hier befinden, genommen seien, doch werde er noch ein ganz artiges Stübchen vor sich finden, das in den Garten gehe. „Muß mich denn das Schicksal“, rief Wilhelm heimlich aus, „immer zu diesen Leuten führen, mit denen ich doch keine Gemeinschaft haben will noch soll!“ Er antwortete dem Wirt, daß er kein Zimmer brauche, daß er nur einen Augenblick abtreten und alsdann Postpferde fordern wolle, um sogleich weiterzugehen.

An den Torpfosten war der gestrige Komödienzettel noch angeschlagen, und zu seiner größten Verwunderung fand er den Namen von Herrn und Frau Melina drauf. „Ich muß ihnen doch einen guten Morgen sagen“, dachte er, und indem kam ein junges Geschöpf die Treppe heruntergesprungen, das seine Aufmerksamkeit erregte. Ein kurzes Westchen mit geschlitzten spanischen Ärmeln und weiten Beinkleidern stund dem Kinde gar artig, lange, schwarze Haare hatte es in Locken und Zöpfe um den Kopf gewunden. Er sah es scharf an und konnte nicht gleich einig werden, ob er es für einen Knaben oder für ein Mädchen halten sollte, doch entschied er sich bald für das letztere und grüßte, als sie bei ihm vorbei kam, mit einem guten Morgen diese Erscheinung, fragte, ob etwa Herr und Frau Melina schon aufgestanden wären. Mit einem schwarzen, scharfen Seitenblick sah sie ihn an, indem sie an ihm vorbei und in die Küche lief, ohne zu antworten. Er schickte den Wirt hinauf und trat gleich nach ihm in die Stubentüre.

 
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Viertes Kapitel

Madame warf, indem er hereintrat, einen weißen Mantel um, ihre tiefe Nachtkleidung zu verbergen, der Gemahl zog seine heruntergefallene Strümpfe hinauf und die Nachtmütze vom Kopfe. Man wollte einen Stuhl frei machen, ihn dem Hereintretenden anzubieten, aber der Tisch, das Bett, selbst der Ofen und das Fenstergesimse faßten nichts mehr. Man war sehr vergnügt, sich wiederzufinden, und Madame Melina besonders verbarg nicht ihre Absicht auf Wilhelms Achtung, sie machte einigen Anspruch auf Witz, Poesie und was darzu noch weiter gehören mag. Sie war ehemals während ihres verlängerten ehelosen Standes das Orakel ihres kleinen Städtchens, und die Anmaßung, womit sie sich Wilhelmen gegenwärtig zeigte, ließ sie freilich in keinem so vorteilhaften Lichte sehen, als wie sie damals im Glanze des Unglückes erschien. Ihre Bemühungen ließen Wilhelm kalt, oder viel mehr, er bemerkte sie ganz und gar nicht. Man führte Beschwerde über die Direktrice, denn es war eine Frau, die diese Truppe zusammenhielt, man schalt sie als eine üble Wirtin, die in guten Zeiten nicht zurücklege, vielmehr mit einem von der Truppe, den sie sich zum Günstling ausersehen, alles vertue, und wenn denn schlimme Wochen einfielen, genötigt sei zu versetzen und ihren Akteurs das Versprochene dennoch nicht bezahlen könne. Ja sogar glaube man, sie habe noch außerdem Schulden, und es stehe nicht zum besten mit ihr, man müsse sich vorsehen.

Wilhelm erinnerte sich unter den Reden der sonderbaren Figur, die ihm begegnet war, und fragte nach ihr. „Wir wissen selbst nicht“, sagte Madame Melina, „was wir aus dem Kinde machen sollen. Vor ohngefähr vier Wochen war eine Gesellschaft Seiltänzer hier, die sehr künstliche Sachen zeigte. Unter andern war auch dieses Kind dabei, ein Mädchen, das alles recht gut ausführte, besonders tanzte sie den Fandango allerliebst und machte verschiedene andere Kunststücke mit vieler Geschicklichkeit und Anstand, doch war sie immer still, wenn man mit ihr sprach oder sie lobte oder sie um etwas fragte. Eines Tages kurz vor der Abreise hörten wir einen erschröcklichen Lärm unten im Hause. Der Herr von dieser Truppe schalt entsetzlich auf das Kind, das er zur Stube hinausgeworfen hatte und das in der Ecke des Saales unbeweglich stand. Er verlangte mit Heftigkeit etwas von ihm, das es, wie wir aber hörten, zu tun sich weigerte. Er holte darauf eine Peitsche und schlug unbarmherzig auf das Kind zu, es rührte sich nicht, verzog das Gesicht kaum, und es überfiel uns ein Mitleiden, daß wir herunterliefen und uns in die Sache mischten. Der ergrimmte Mann schalt nunmehr auf uns und schlug immer zu, bis er endlich, von uns aufgehalten, seinen Unwillen in einen ungeheuren Strom von Worten ausgoß. Er schrie, stampfte und schäumte, und soviel wir verstehen konnten, hatte das Kind sich geweigert zu tanzen und war weder mit Bitten noch mit Gewalt zu bewegen gewesen. Es sollte auf das Seil, es tat es nicht, viele hundert Menschen waren herbeigelaufen, den angekündigten Eiertanz zu sehen, man forderte ihn laut, aber vergebens. Der Unternehmer ward rasend, da das Publikum unwillig auseinanderging und unter diesem Vorwande nicht bezahlte. ,Ich schlage dich tot’, rief er aus, ,ich lasse dich auf der Straße liegen, du magst auf dem Miste sterben, du sollst von mir keinen Bissen mehr nehmen!’ Unsere Direktrice, die dabeistund und lange ein Aug auf das Kind gehabt hatte, weil das Mädchen, welche sonst die Fiamette in der ,Gouvernante’ spielte, ihr vor kurzem entführt worden war und uns auch ein Kammermädchen abging, wozu sie es zu brauchen glaubte, war gleich mit ihren gewöhnlichen Kunstgriffen hinter dem erzürnten Manne her und suchte ihn zu überreden, das beste sei, er gäbe das Kind weg. Sie erreichte auch ihre Absicht, und in der ersten Hitze überließ er das Geschöpf mit der Bedingung, daß man eine gewisse Summe für ihre Kleider bezahlen sollte, die ziemlich hoch angeschlagen waren. Madame de Retti, nicht faul, bezahlte das Geld auf der Stelle und nahm die Kleine mit auf ihre Stube. Es verging keine Stunde, als es den Seiltänzer reute und er das Kind wiederhaben wollte. Unsere Prinzipalin wehrte sich tapfer, sie drohte, daß, wenn er noch einen Augenblick drauf bestünde, so wollte sie seine Grausamkeit gegen das Kind bei dem Oberamtmann anzeigen, der ein sehr gerechter und strenger Mann sei, und er sollte gewiß nicht mit heiler Haut davonkommen; dadurch ließ er sich abschröcken, und nach einigem Wortwechsel blieb das Kind unser. Es hat uns aber schon hundertmal gereut, daß wir uns der Kreatur angenommen haben. Sie ist uns zu gar nichts nütze. Auswendig lernt sie sehr geschwind, spielt aber erbärmlich. Es ist nichts aus ihr zu bringen. Sie ist sehr dienstfertig, tut nur eben das nicht, was man von ihr verlangt; wir hätten sie hundertmal selbst prügeln mögen. Den ersten Morgen, als sie bei uns geschlafen hatte, kam sie in den Knabenkleidern, in denen Sie sie gesehen haben, hervor und ist bisher nicht zu bewegen gewesen, sie abzulegen. Als unsere Direktrice sie halb im Scherze und halb im Ernste fragte, wie sie nun das ausgelegte Geld wieder ersetzen wollte, antwortete sie: ,Ich will dienen!’ Und von der Zeit an leistet sie unverlangt der Direktrice und der ganzen Gesellschaft alle Dienste, auch die niedrigsten, mit einer Eile, einer Pünktlichkeit, mit einem guten Willen, der uns wieder mit ihrem halsstarrigen Wesen, mit ihren schlechten Talenten zum Theater aussöhnt.“ Wilhelm verlangte, sie näher zu sehen, und Melina ging, sie zu holen. „Du hast dem Herren“, sagte Frau Melina, als das Kind hereintrat, „diesen Morgen nicht gedankt.“ Es blieb an der Türe stehen, als wenn es gleich wieder hinausschlüpfen wollte, legte die rechte Hand vor die Brust und die linke vor die Stirne und bückte sich tief: „Tritt näher, liebe Kleine“, sagte Wilhelm. Sie sah ihn mit unsicherm Blick an und kam herbei.

„Wie nennst du dich? “ fragte er. „Sie heißen mich Mignon“, antwortete sie. „Wieviel Jahre hast du?“ – „Es hat sie niemand gezählt.“ – „Wer war dein Vater?“ – „Der große Teufel ist tot.“ Die letzten Worte erklärte man ihm, daß ein gewisser Springer, der vor kurzem gestorben und sich den großen Teufel nannte, für ihren Vater sei gehalten worden. Sie brachte ihre Antworten in einem gebrochenen Deutsch und mit einer Art vor, die Wilhelmen in Verwirrung setzte, dabei legte sie jedesmal die Hände an Brust und Haupt und neigte sich tief.

„Was soll nun diese Gebärde bedeuten“, sagte Frau Melina, „das ist wieder etwas Neues, so hat sie alle Tage etwas Sonderbares.“ Sie schwieg, und Wilhelm konnte sie nicht genug ansehen. Seine Augen und sein Herz wurden unwiderstehlich von dem geheimnisvollen Zustande dieses Wesens angezogen. Er schätzte sie zwölf bis dreizehn Jahre. Ihr Körper war gut gebaut, nur daß ihre Knöchel und Gelenke einen stärkern Wachstum versprachen oder einen zurückegehaltnen ankündigten. Ihre Bildung war nicht regelmäßig, aber auffallend, ihre Stirne kündigte ein Geheimnis an, ihre Nase war außerordentlich schön und der Mund, ob er schon ein wenig aufgeworfen war und sie manchmal mit demselben zuckte, doch noch immer treuherzig und reizend. Ihre Gesichtsfarbe war bräunlich, mit wenigem Rot ihre Wangen besprengt, überhaupt von der Schminke sehr verdorben, die sie auch jetzo nicht anders als mit dem größten Widerwillen auflegte. Wilhelm sah sie noch immer an und schwieg und vergaß der Gegenwärtigen über seiner Betrachtung. Frau Melina weckte ihn, indem sie dem Kinde ein Zeichen gab, das nach einem Bücklinge wie oben blitzschnell zur Türe hinausfuhr.

Wilhelm konnte diese Gestalt nunmehr nicht loswerden. Er hätte gerne immerfort gefragt und immerfort von ihr erzählen hören, als Frau Melina es nun für genug hielt und das Gespräch auf ihr eigen Talent, Spiel und Schicksal brachte.

 
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Fünftes Kapitel

Es war bald beschlossen, daß Wilhelm heute bleiben, die Bekanntschaft der Direktrice und der übrigen Gesellschaft machen, darauf diesen Abend die Komödie ansehen sollte; morgen früh beizeiten könne er abfahren. Die Reizung war zu groß, als daß er lange hätte widerstehen können, ob er gleich im Anfange einige Schwierigkeiten machte; denn er hatte Wernern versprochen, einen gewissen Tag in einer benannten Stadt zu sein. Dieser Termin ruckte heran; er hatte sich an dem letzten Orte schon länger, als er sollte, aufgehalten, durch den Irrtum des Postillons war er wieder verspätet worden. Des Gehorsames und der Ordnung von jeher gewohnt, hielt er Pflicht und Versprechen um seiner selbst willen heilig, weil er sich nur achtete, insofern er sie erfüllte. Doch seine Neigung überwog alles, er blieb mit dem festen Vorsatze, morgen ganz früh wegzureisen. Madame Melina bat ihn zu Tische, er lud sie nebst ihrem Manne auf sein Zimmer, bestellte das Essen, und als ihn der Wirt nach seinem Namen fragte, den er abends bei dem Kommandanten einzureichen verpflichtet war, gab er sich hier an, wie er sich im Tore genannt hatte, und bat seine Freunde, ihn auch so zu nennen und seinen bekannten Namen zu verschweigen. Bei Tische ging es sehr lustig zu. Madame tat alles mögliche, zu gefallen, ihr Ehegatte machte mitunter einen trocknen Spaß, und Wilhelmen, dem es zum ersten Male seit langer Zeit ganz frei ums Herz wurde, war offen, lebhaft und unterhielt sich mit vielem Feuer von seinen Materien. Man ließ sich den Wein, der durch einen Zufall gut war, schmecken und vergaß des Aufstehens.

Es fehlte Madame Melina nicht an einer Art von Verstand, nur war ihr Geist und Witz nicht ausgebildet. Sie fand manchmal das Gute, doch oft fiel sie aus dem Übertriebenen in das Gemeine. Die Epoche ihrer ersten, vorzüglichsten Bildung war in die Zeit der „bremischen Beiträge“ gefallen, sie hatte ihre Partie wider Gottscheden genommen und war auch meistens da stehengeblieben, außer daß Lessings Stücke, die von Zeit zu Zeit auf dem Theater erschienen, ihrem Geiste wieder eine andere Wendung gegeben hatten. In ihrem ledigen Stande war sie in Gelegenheitsgedichten und Madrigalen nicht unglücklich gewesen, und der Truppe hatte sie einige Prologe geschrieben und mit großem Beifall vorgebracht. Sie rezitierte ihrem Wirte einen und den andern, der daran lobte, was zu loben war. Keine fremde Sprache kannte sie, keine auswärtige Literatur, und also war ihr Kreis ziemlich enge. Er durfte noch viel enger sein, und Wilhelm hätte sie in seiner Unschuld für ein ausgebreitetes Genie gehalten, denn sie war das, was ich mit einem Worte eine Anempfinderin nennen möchte. Sie wußte jemanden, um dessen Achtung es ihr zu tun war, mit einer besondern Aufmerksamkeit zu schmeicheln, in seine Ideen, solang es reichte, einzugehen, sobald sie über ihren Horizont waren, mit Ekstase eine solche ihr neue Erscheinung aufzunehmen, sie verstand zu fragen, zu schweigen und, ob sie gleich kein tückisches Gemüt hatte, mit großer Vorsicht aufzupassen, wo des andern schwache Seite sein möchte. Tue man hinzu, daß sie, obgleich nicht mehr jung, doch wohl erhalten war, freundliche Augen und einen hübschen Mund hatte, wenn sie ihn nicht verzog, so wird man begreifen, daß unser Held sich in ihrer Gesellschaft ganz wohl befand.

Die Zeit zum Schauspiele kam herbei, ohne daß man die Direktrice gesprochen hatte. Man gab Holbergs „bramarbas“. Madame Melina beschwerte sich über die Rolle der Leonore, über das Platte und Geschmacklose des Stückes, an dem das Publikum einen großen Gefallen zeige. Man schied, und Wilhelm ging nach der Bude. Er fand gar bald die Akteurs, wie er sie zu sehen schon gewohnt war, meistens Leute, die noch in der extemporierten Komödie mitgespielt und sich an einen gewissen individuellen Schritt gewöhnt hatten, in welchem sie sich so sehr gefielen, daß sie auch dieses Stück gleichsam als ein Szenario ansahen und ihm mit Zusätzen und Possen eine noch breitere Gestalt gaben, als es von Natur hatte. Leonore war so artig, als sie heraustrat, ihren Freund sogleich mit den Augen aufzusuchen und einige von denen guten Lehren, über die er sich bei Tische ausgebreitet, sowohl bei dem Rezitieren als in ihren Gebärden nach bester Möglichkeit anzuwenden und zu benutzen. Dies gefiel ihm wohl, und ob sie gleich selten zum Vorscheine kam, vergaß er doch wie gewöhnlich aller übrigen und lobte sie sehr, indem er sie nach Hause führte, über ihr Spiel Anmerkungen machte und sie versicherte, daß sie es weit bringen würde, wenn sie aufmerksam auf sich selbst und auf die Kunst sein wollte. Dieser Diskurs ward auf ihrem Zimmer, wohin sie Wilhelm begleitete, fortgesetzt, man vergaß auch diesmal die Direktrice zu besuchen, wie man sich vorgesetzt hatte, und man bemerkte nicht eher, daß es spät war, als bis Herr Melina in das Zimmer trat. „Ach!“ rief sie aus, „wie glücklich wäre ich, wenn ich Ihres Unterrichtes genießen könnte! wie viel glücklicher, wenn Sie mich alle meine Rollen spielen sehen könnten! wie, wenn ich von Ihnen lernen könnte, sie zu spielen!“

Wilhelm zeigte sein Bedauern, man drang auf ihn, noch den morgenden Tag zuzugeben, wo nicht gespielt würde, wo nur frühmorgens eine Probe sei, in welcher er Madame de Retti kennenlernen und man sich übrigens den Tag auf das angenehmste unterhalten könne. Die beiden Eheleute wurden dringend, und sie besonders tat so artig, so halb vertraut und nahm es zuletzt als unmöglich an, daß sie jetzo von ihm Abschied nehmen könnte, daß es ihm auch ohnmöglich ward und er zu bleiben versprach.

Als er auf seine Stube kam und seine Sachen musterte, vermißte er die große lederne Brieftasche, worinnen er alle Dokumente und die zu seinem Geschäfte nötigen Papiere mit sich führte. Anfangs erschrak er, doch bald fiel ihm ein, daß er solche habe bei einem Freunde an dem Orte seines letzten Aufenthaltes stehenlassen. Dort waren noch einige Sachen zurückgeblieben, und er hatte gebeten, man möchte sie ihm nachschicken, wenn er seine Ankunft in einer bestimmten Stadt würde gemeldet haben. Er beruhigte sich deswegen bald und dachte, es mag alsdann alles miteinander kommen, der Aufenthalt kann so groß nicht sein.

Des andern Morgens stieg er früh auf, er fand das ganze Haus noch stille, nur Mignon war schon auf dem Gange. Er tat freundlich gegen das Kind, redete es an, fragte verschiedenes. Es sah ihm scharf in das Gesicht, antwortete aber auf keine Frage und bezeigte nicht die mindeste Rührung noch Neigung zu ihm. Es schien ganz gefühllos. Endlich griff er in die Tasche und reichte ihm ein Stück Geld; die Gesichtszüge der kleinen Kreatur wurden heiterer, sie schien zu zweifeln und zauderte, es zu nehmen; endlich da sie sah, daß es Ernst war, fuhr sie hastig zu und besah die Gabe mit einem sichtbaren Vergnügen in ihren Händen. Er gab nachher Frau Melina seine Verwunderung über die starke Neigung des Kindes zu dem Gelde zu erkennen. „Ich kann Ihnen dieses Phänomen erklären“, sagte sie. „Kurz nachdem die Prinzipalin dieses seltsame Geschöpf dem Seiltänzer abgenommen hatte, sagte sie einmal zu ihm: ,Nun bist du mein, du kannst dich nur gut aufführen.’ –, Ich bin dein’, versetzte Mignon, ,ich habe wohl gesehen, daß du mich gekauft hast, was hast du bezahlt?’ Die Prinzipalin sagte aus Scherz: ,Hundert Dukaten; wenn du mir sie wiedergibst, so sollst du frei sein und hingehen, wo du hin willst.’ Seit der Zeit merken wir, daß sie Geld sammelt, wir schenken ihr manchmal Pfenninge, und sie hat mir eine große Schachtel mit Kupfergelde aufzuheben gegeben, daß wir auf den Verdacht gekommen sind, sie sammle zu ihrer Ranzion, zumal da sie neulich fragte, wieviel Pfenninge auf einen Dukaten gingen.“

 
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Sechstes Kapitel

Um zehn Uhr fand sich Wilhelm auf dem Theater ein, und die ganze Truppe versammelte sich um ihn. Er sah sich um und suchte, ob er eine Gestalt fände, die ihn anzöge, und glaubte bald in diesem, bald in jenem Blicke Teilnehmung zu finden. Madame de Retti, die hereintrat, zog endlich allein seine Aufmerksamkeit auf sich. Ihr ganzes Wesen war männlich, ihr Gang und Betragen stolz, ohne beleidigend zu sein. Die andern stunden als ihre Hofleute um sie herum. Dem Fremden begegnete sie mit Freundlichkeit und Achtung. Während der Probe setzte sie sich zu dem Ankömmlinge, um ihn von theatralischen Angelegenheiten zu unterhalten. Dabei war sie unverwendet aufmerksam auf das Spiel der Akteurs. Den einen ermunterte sie durch einen Scherz, mit dem andern ging sie schon nicht so glimpflich um. Die Neulinge in der Kunst wies sie zurechte und den Eingebildeten sagte sie ein belehrend Wort, ohne sie zu beleidigen oder zu beschämen. In der Stille bedauerte sie gegen Wilhelmen, daß es so wenig Schauspielern Ernst sei, und besonders, daß man sie dahin nicht bringen könne, die Proben wichtig zu traktieren. Ihre Gesinnungen hierüber hörte unser Freund sehr gerne, weil es die seinigen waren. „Ein Schauspieler“, sagte er, „sollte nichts Angelegneres haben, als auf das pünktlichste zu memorieren. Schon bei der ersten Probe sollte er seine Rolle ganz auswendig wissen, um alsdann die vielerlei Schattierungen, die sie annimmt, sorgfältig zu studieren. Sein Gehen und Kommen, Bleiben und Stehen, sein Tun und Lassen und jede Gebärde sollte er in den verschiedenen Proben verschiedentlich durchdenken, um sich dadurch des Mechanischen zu versichern, daß er bei der Aufführung sich ganz seinem Herzen, seiner Laune und dem Glück überlassen könnte. Dadurch würde auch eine Mannigfaltigkeit in sein Spiel kommen, daß ein Stück bei mehreren Vorstellungen den Zuschauern immer neu bliebe. Wie verschieden kann der Sänger eine einzige haltende Note, einen einzigen Gang ausdrücken, ohne aus dem Charakter der Arie hinauszugehen, wenn er Methode hat und abwechselnde Manieren mit Geschmack anzuwenden weiß. Ebenso ist es auch mit den Rollen, wo ein eingeschränkter Akteur nur Ketten und Banden, ein kluger und gewandter Schauspieler aber eine freie Laufbahn erblickt.“

Madame de Retti war sehr erfreut, die guten Lehren, welche sie so oft ihren Schauspielern und meist vergebens geprediget, aus dem Munde des Dritten zu hören. Das Gespräch wurde lebhafter, und Wilhelm war schon von ihren großen theatralischen Einsichten ganz bezaubert. Man vergaß der Probierenden zu nicht geringem Verdrusse der Madame Melina, die sich unter ihnen befand und die Aufmerksamkeit ihres neuen Freundes von sich abgelenkt sah. Wilhelm war nunmehro ganz in seinem Elemente und fast das erstemal in seinem Leben im Gespräch über seine Lieblingsmaterie mit einer Person, die darinne weit bekannter war als er, die durch ihre Erfahrung das bestätigen, ausbreiten, berichtigen konnte, was er sich in seinem Winkel ausgedacht hatte. Wie vergnügt war er, wenn er mit ihr zusammentraf, wie aufmerksam, wenn ihm etwas Neues aufstieß, und wie sorgfältig im Fragen und im Zergliedern, wenn sie mit ihm nicht einer Meinung war! Sie berief sich im Gespräche auf verschiedene Stücke, die er von ihr und ihrer Truppe sollte aufführen sehen.

Seine Zweifel waren geschwinder als gestern gehoben, er versprach, noch einige Tage dazubleiben, und überlegte bei sich selbst, seine Reise sei ja ohnedies willkürlich und eine Woche auf oder ab würde an denen Schuldforderungen, die nunmehro schon Jahre stehen, nicht viel verschlimmern. Er überließ sich ganz seiner Neigung, und in der Gesellschaft beider Frauen, mit Gesprächen, Lesen, Rezitieren, mit dem Besuche des Schauspieles und der Unterhaltung darüber verstrich eine Woche und noch eine, ehe er es bemerkte.

Ehe der Mensch sich einer Leidenschaft überläßt, schaudert er einen Augenblick davor wie vor einem fremden Elemente; doch kaum hat er sich ihr ergeben, so wird er, wie der Schwimmer von dem Wasser, angenehm umfaßt und getragen, er befindet sich in dem neuen Zustande wohl und gedenkt nie eher an den festen Boden, bis ihn die Kräfte verlassen oder der Krampf ihm droht, ihn unter die Wellen zu ziehen.

Auch ward ihm Mignons Gestalt und Wesen immer reizender. In allem seinem Tun und Lassen hatte das Kind etwas Sonderbares. Es ging die Treppe weder auf noch ab, sondern es sprang, es stieg auf den Geländern der Gänge weg, und ehe man sich’s versah, saß es oben auf dem Schranke und blieb eine ganze Weile ruhig. Auch hatte Wilhelm bemerkt, daß es für jeden eine besondere Art von Gruß hatte, und seit einiger Zeit grüßte sie ihn mit beiden über die Brust geschlagnen Armen. Manche Tage antwortete sie mehr auf verschiedene Fragen und immer sonderbar; doch konnte man nicht unterscheiden, ob es Witz oder Mangel des Ausdruckes war, indem sie ein gar gebrochenes, mit Französisch und Italienisch durchflochtenes Deutsch sprach. In seinen Diensten war es unermüdet, früh mit der Sonne auf; abends verlor es sich zeitig, und Wilhelm erfuhr erst spät, daß es in einer Dachkammer auf der nackten Erde schlafe und durch nichts zu bewegen sei, ein Bett oder einen Strohsack anzunehmen. Er fand sie oft, daß sie sich wusch, und sie war immer reinlich gekleidet, obgleich fast alles doppelt und dreifach an ihr geflickt war.

Man sagte ihm auch, daß sie alle Morgen ganz frühe in die Messe ging, und da er nach einem sehr frühen Spaziergang, den er gemacht hatte, bei der Kirche vorbeiging und hineintrat, so fand er sie in einer Ecke bei der Kirchtüre mit ihrem Rosenkranze knien und sehr andächtig beten. Sie bemerkte ihn nicht, er ging nach Hause und machte sich tausend Gedanken über diese Gestalt und konnte sich nichts Bestimmtes dabei denken.

 
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Siebentes Kapitel

Da man zusammen in einem Hause wohnte und Gelegenheit hatte, sich jederzeit zu sehen, wurde man bald vertrauter, und die beiden Frauens nahmen Wilhelmen in die Mitte, jede suchte ihn anzuziehen, jede fand ihn angenehm, und daß man spürte, er habe Geld und sei nicht karg, sprach sehr mit zu seiner Empfehlung. Er, ohne daß die mindeste Zärtlichkeit sich in seine Empfindung gemischt hätte, befand sich zwischen beiden Weibern sehr behaglich. Madame de Retti erweiterte seinen Geist und vermehrte seine Kenntnisse, indem sie ihm von sich, ihren Talenten, Unternehmungen und Schicksalen sprach. Madame Melina zog ihn an, indem sie von ihm zu lernen und sich nach ihm zu bilden suchte. Jene erwarb sich unmerklich eine Gewalt über ihn durch ihren entschiedenen und herrischen Charakter, diese durch ihre Gefälligkeit und Nachgiebigkeit, so daß er bald allein von beider Willen abhing und ihm beider Gesellschaft höchst notwendig wurde. Es währte nicht lang, so wurde man bekannter und vertrauter. Wilhelm verschwieg Madame Melina seine Leidenschaft zu Marianen nicht und fand in einer schmerzhaften Wiederholung seiner Geschichte das größte Vergnügen. Der Prinzipalin entdeckte er die Geheimnisse seiner Autorversuche, rezitierte ihr Stellen aus seinen Stücken, die von ihr mit großem Lobe und mit vorteilhaften Vergleichungen aufgenommen wurden. Dagegen hatten sie ihm nichts als ihre Finanzgeheimnisse zu entdecken, dabei jene ganz aufrichtig zu Werke ging, diese aber nicht mehr offenbarte, als sie glaubte, daß rätlich sei.

Sie hatten sich oft und so weitläufig über das Geistreiche und Vortreffliche der Kunst unterhalten, und in der Ausführung blieben sie leider immer weit zurück. Der Mißstand schlechter und ungehöriger Kleider fiel Wilhelmen, der sehr viel auf das Kostüm hielt, am meisten auf. Madame Melina zuckte die Achseln und gestand ihm, daß ihre besten Sachen, und zwar für eine Kleinigkeit von funfzig Talern, versetzt seien, wovon die Juden ihr nur zur Not manchmal zu einem Abend der Aufführung ein Stück wieder verabfolgen ließen, welches sie teuer bezahlen müsse. Kaum erfuhr dies Wilhelm, als er mit sich zu Rate ging, und er fand gar bald Anlaß und Ursache genug, diese Summe an seine gute Freundin zu borgen, besonders da er durch ihr Versprechen, ihn auf das baldigste wieder zu bezahlen, gesichert ward.

Der Pfandinhalter wurde herbeigerufen, es fanden sich auch noch einige Sachen des Herrn Gemahls dabei, es waren Interessen zu berichtigen, so daß es sich über siebenzig Taler belief, die er jedoch gerne hinzahlte. Diese großmütige Handlung blieb, wie natürlich, nicht verschwiegen, und Madame de Retti fand es bequem, auch von diesen Gesinnungen Vorteil zu ziehen. Denn wie wir schon oben gehört haben, stand es wirklich mit ihr auf dem schlimmsten. Sie hatte auf ihrer ganzen Fahrt durch die Welt mit allen ihren Talenten wenig erobert und nichts gespart. Was sie an großen Orten zu Zeiten des Glückes erworben hatte, ging auch sogleich in lustigem Leben wieder fort. Ihr unruhiger Charakter ließ sie von glücklichen Umständen wenig Vorteil ziehen, und ihr herrschsüchtiges und unbiegsames Wesen konnte sich in bösen Zeiten zum Nachgeben und zur Gefälligkeit nicht herabstimmen. Sie hungerte oft als Prinzipalin, wo sie als untergebene Aktrice einer andern Truppe ein reichliches Auskommen hätte finden können.

Man sprach von verschiedenen Trauerspielen und andern wichtigen Stücken, die man dem neuen Gaste zu Ehren gern gegeben hätte. Man ließ ihn merken, daß er sowohl Kenner als Liebhaber und Beschützer des Theaters sei; man wiederholte es von allen Seiten und wußte es so zu bringen und zu legen, daß er sich endlich entschloß, auch hier der bedrängten Schauspielkunst, die er so oft in Prologen durch den Apollo hatte beschützen sehen, in eigener Person zu Hülfe zu kommen. Er sagte sich vor, daß er auf das Geld, welches er einkassieret, auch wieder einiges Recht habe, um es gelegentlich anzuwenden, daß es doch nur wie verloren Geld sei, daß er auf seiner Reise wieder sparen wolle und daß es ja auch hier sicher genug stehe, indem man ihm die ganze Garderobe zu verschreiben versprach. Es wurde ihm nunmehro ganz leicht, seiner bedrängten Freundin dreihundert Taler zuzusagen und letzt vierhundert Taler auszuzahlen. Herr Melina, der zuerst von diesem Handel abzuraten schien, übernahm nunmehro die Legalität desselben, ließ einen Notarius kommen und die Verschreibung in bester Form ausfertigen. Dadurch wurden die gefangenen Helden und Sultanen befreit, die reichen Kleider los, es kam ein Leben unter die Truppe, die Abwechselung ihrer Stücke zog Zuschauer herbei, die Einnahme war stärker als jemals, Wilhelm schoß noch einiges Geld zu, um die alten Dekorationen aufzufrischen, man faßte neuen Mut; Madame de Retti, indem sie ihren heimlichen Gläubigern hier und da etwas abtragen konnte, erhielt wieder Kredit, man aß, man trank, lebte herrlich und in Freuden, versicherte und schwur, daß man in dieser Jahreszeit – der Frühling war schon weit vorgerückt – noch niemals eine so glückliche Theaterepoche erlebt habe.

 
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Achtes Kapitel

Am allerlustigsten ging es zu, wenn Wilhelm sie einlud und auf seine Kosten traktierte; da zeigten sie sich so fröhlich und guten Mutes, als wenn sie den Mangel nicht kennten oder nie zu befürchten hätten. Eines Tages, als sie bei einer solchen Mahlzeit saßen, fiel es ihnen ein, die Charaktere verschiedener Personen nachzuahmen, und ein jeder wählte sich etwas Besonderes. Der eine stellte einen Betrunkenen vor, der andere einen pommerischen Edelmann, einer einen niedersächsischen Schiffer, der andre einen Juden, und als Wilhelm und Madame Melina nichts für sich finden konnten, weil sie in der Nachahmung nicht sehr geübt waren, so sagte Madame de Retti scherzend: „Sie können nur die Verliebten spielen, denn dies ist wohl das allgemeinste Talent.“ Sie selbst machte, indem sie einen runden Strohdeckel statt des Hütchens sich auf den Kopf band, eine Tirolerin auf das artigste, welches um so angenehmer auffiel, als ihre neckischen Einfälle und ihr drolliges Wesen mit der Hoheit, die man sonst an ihr gewohnt war, einen gefälligen Kontrast machten. Sie hatten angenommen, als wären sie eine Gesellschaft, die sich auf dem Postwagen zusammengefunden, im Wirtshause gegenwärtig abgestiegen und im Begriffe sei, bald wieder fortzufahren. Ein jeder spannte seine Einbildungskraft an, aus den gemeinen Vorfällen, die solchen Gesellschaften zu begegnen pflegen, die merkwürdigsten und komischsten Situationen herauszuziehen und sie mit mehr oder weniger Geschmack anzuknüpfen und auszuführen. Man beschwerte sich, man schraubte einander, Vorwürfe, Drohungen, lustige Aussichten und was nur erdenklich war, wurden in Bewegung gebracht, daß Wilhelm zuletzt, dem seine Rolle ohnedem diesmal nicht sehr natürlich war, als Zuschauer herzlich lachte und der Prinzipalin versicherte, daß ihn lange kein Stück so wohl unterhalten habe.

„Wie leid ist es mir“, sagte sie, „daß wir um das Extemporieren gebracht sind, es hat mich hundertmal gereut, daß ich selbst mit schuld daran gewesen; nicht daß man hätte die alten Unschicklichkeiten beibehalten und gute Stücke nicht darneben aufführen sollen. Wenn man nur einmal die Woche extemporiert hätte, so wäre der Akteur in der Übung, das Publikum in dem Geschmack an dieser Art geblieben, und man hätte mancherlei Nutzen herausziehen können, denn das Extemporieren war die Schule und der Probierstein des Akteurs. Es kam nicht darauf an, eine Rolle auswendig zu lernen und sich einzubilden, daß man sie spielen könne, sondern der Geist, die lebhafte Einbildung, die Gewandtheit, die Kenntnis des Theaters, die Gegenwart des Geistes zeigte sich mit jedem Schritt auf das klärste; der Schauspieler war durch die Not gezwungen, sich mit allen Ressourcen, die das Theater anbietet, bekannt zu machen, er wurde darauf recht einheimisch, wie der Fisch im Wasser, und ein Dichter, der Gabe genug gehabt hätte, diese Werkzeuge zu brauchen, würde auch auf das Publikum einen großen Effekt gemacht haben. Allein ich ließ mich leider von den Kunstrichtern hinreißen, und weil ich selbst ernsthaft war, an Possen und Schwänken keinen Gefallen hatte und mich glücklich fand, eine, Chimène, Rodogune, Zaire, Mérope vorzustellen, hielt ich mich und meine Truppe für zu vornehm, als daß ich die Zuschauer wie bisher belustigen sollte. Ich verbannte den Hanswurst, begrub den Harlekin, und wenn diesen durch die Umstände erlaubt gewesen wäre, ein eigenes Theater zu errichten, so hätten sie mich als eine Königin, die ihren Minister und General zu Zeit der Not abdankt und darüber schwachen und platten Widersächern in die Hände fällt, gar trefflich parodieren können. Und welcher deutsche Schriftsteller hat uns bisher für das, was wir hingegeben, entschädigt? Wenn wir die Übersetzung der Molièrischen Stücke nicht gehabt hätten, wir hätten uns nicht zu retten gewußt, da unsere besten Originalschauspiele das Unglück haben, nicht theatralisch zu sein.“

Wilhelm versetzte eins und das andere dagegen, als sie dem Akteur, der den Juden vorstellte und gegen ihr über saß, zurief: „Nicht wahr, Alter, wenn wir Verstand und Glück genug gehabt hätten, unsern Plan zu rechter Zeit auszuführen, so hätten wir den Deutschen ein treffliches Geschenk machen können, das der Grund eines Nationaltheaters geworden wäre und von den besten Köpfen hätte benutzt und verfeinert werden können. Wir sprachen oft über die Vorteile der italienischen Masken, über das Interesse, daß jeder einen bestimmten Charakter, Heimat und Sprache hat, über die Bequemlichkeit, daß ein Akteur sich in eine einzelne Personnage recht hineinstudieren kann und alsdann, wenn er geistreich immer in gleichem Charakter handelt, statt das Publikum zu ermüden, jederzeit gewiß ist, es zu entzücken. Wir dachten auch etwas auf deutsche Weise in dieser Art hervorzubringen; unser Hanswurst war ein Salzburger, unsern Landjunker wollten wir aus Pommern nehmen, unsern Doktor aus Schwaben, unser Alter sollte ein niedersächsischer Handelsmann sein, wir wollten ihm eine Art von Matrosen als Diener geben, unsere Verliebten sollten Hochdeutsch sprechen und aus Obersachsen sein, und die schöne Leonore oder wie wir sie nennen wollten, sollte ein Leipziger Stubenmädchen als Kolumbine bei sich haben. Wir wollten den Schauplatz in Häfen, Handelsstädte, auf große Messen verlegen, um diese Leute alle geschickt zusammenzubringen. Wir wollten selbst einen reisenden Arlekin, Pantalon, Brighella aufführen und durch diese Kontraste unsere Stücke noch mannigfaltiger und reizender machen. Unser Einfall war nur obenhin. Wie vieles hätte man durch Zeit und Muße dazugewinnen können! Ein jeder neuer Akteur, der zur Truppe gekommen wäre, brachte vielleicht wieder einen neuen Einfall, eine auffallende Nachahmung irgendeiner Landesart mit, wie wir denn auch besonders die Juden nicht vergessen hatten. Manche Menschen haben Scherze, die ihrem Individuo besonders wohl anstehen. Die Figuren hätten auch durch irgendeinen Fehler, Stottern, Hinken oder was man gewollt hätte, noch eine nähere charakteristische Bestimmung erhalten, und wir glaubten wenigstens damals, wir müßten viel Glück damit machen. Aber leider schlugen unsere Versuche fehl, die wir zum Trutz der Puristen, mit denen wir uns wieder entzweit hatten, dem Publiko vortrugen. Man nahm die Besten gegen uns ein, und die ersten Versuche, die vor einigen Jahren gewiß Beifall erhalten hätten, fielen gänzlich, Sie leisteten auch das nicht, was wir im Sinne hatten; die Akteurs waren aus der Übung, es fehlte uns an Leuten, die Charaktere mannigfaltig zu machen, und wir mußten uns eben zurückeziehen, unser Vorhaben aufgeben und dem Strome folgen, in dem wir noch schwimmen. Ich bin nun überzeugt, daß man ohne ein Wunder diese Epoche nicht wieder zurückebringen kann. Wir sind wie Leute, die auf einen unbequemen oder schlechten Weg geraten, aber bei dem allen nun einmal zu weit vorwärts sind, um zurückezukehren und den andern von Anfange betreten zu können.“

Sie wollte noch verschiedenes hinzufügen, als sie draußen einen großen Lärmen hörten, kurz darauf Mignon zur Türe hineinstürzte und eine fremde Mannsperson ihr drohend folgte.

„Wenn diese Kreatur Ihnen gehört“, sagte der Unbekannte, „so strafen Sie solche über ihre Ungezogenheit in meiner Gegenwart ab. Sie hat mir ins Gesicht geschlagen, daß mir noch die Ohren sumsen und der Backen brennt.“ – „Wie kommst du dazu, Mignon.“ fragte Wilhelm. Mignon, der sich hinter Wilhelms Stuhl ganz ruhig hingestellt hatte, antwortete: „Ich habe Hände, ich habe Nägel, ich habe Zähne, er soll mich nicht küssen.“ – „Wie“, rief Wilhelm aus, „mein Herr? also sind Sie wohl der angreifende Teil? Was berechtigt Sie, von dem Kinde zu fordern, was unschicklich ist?“ – „Ich werde wahrhaftig“, antwortete der Fremde, „mit einer solchen Kreatur keine große Umstände machen sollen. Ich wollte sie küssen, und sie hat sich impertinent aufgeführt, ich verlange Satisfaktion.“ – „Mein Herr“, versetzte Wilhelm, dem der Trutz des Fremden das Blut in Bewegung brachte, „Sie würden am besten tun, das Kind um Verzeihung zu bitten und ihm für die Lektion zu danken, und so bleibt der Vorteil immer noch auf Ihrer Seite.“ Darauf versetzte der Fremde stolz und drohend: „Wenn Sie mir versagen, was Sie mir schuldig sind, so will ich dem ungezogenen Ding mit der Peitsche schon Sitten lehren, wo ich sie finde.“ – „Mein Herr.“, rief Wilhelm aus, indem er aufsprang und ihm die Augen für Zorne funkelten, „und ich schwöre, daß ich dem Hals und Beine brechen will, der dem Kinde ein Haar krümmt.“ Er wollte noch mehr sagen, aber der Zorn verhinderte ihn, und er hätte, um ihn auszulassen, wahrscheinlich den Fremden zur Türe hinausgeschmissen, welches die erste Gewalttätigkeit gewesen wäre, welcher er sich in seinem Leben schuldig gemacht, wenn ihn nicht Madame Melina heimlich bei dem Rockzipfel gefaßt und ihn gegen sich gezogen hätte.

Der Fremde stutzte über diese Begegnung, und da es die übrige Gesellschaft merkte, wurde auch ihr Mut lebendig, und sie fielen alle, besonders die Frau Prinzipalin, mit unfreundlichen Worten über ihn her, daß er vor das rätlichste hielt, sich zurückezuziehen und mit heimlichem Brummen und Drohen die Gesellschaft zu verlassen. Man hielt sich über ihn, da er weg war, auf, besonders wurde über seinen linken feuerroten Backen gescherzt, Mignon gelobt, Wilhelm ließ noch ein paar Flaschen Wein bringen, man ward munter, lustig und vertraut.

Des Abends saß Wilhelm in seiner Stube und schrieb; es klopfte an seiner Türe, und Mignon trat herein mit einem Kästchen unter dem Arme. „Was bringst du mir?“ rief Wilhelm ihr entgegen. Mignon hatte die rechte Hand auf das Herz gelegt und machte, indem er den rechten Fuß hinter den linken brachte und beinah mit dem Knie die Erde berührte, eine Art von spanischem Kompliment mit der größten Ernsthaftigkeit. Eine gleiche Verbeugung folgte mitten in der Stube, und endlich, als er gegen Wilhelmen herankam, kniete er ganz auf das rechte Knie nieder, stellte die Schachtel auf den Boden, faßte Wilhelms Füße und küßte sie mit großem Eifer, doch ohne eine anscheinende Bewegung des Herzens, ohne einen Ausdruck von Rührung oder Zärtlichkeit. Wilhelm, der nicht wußte, was er daraus machen sollte, wollte sie aufheben, allein Mignon widerstand und sagte in einem sehr feierlichen Tone: „Herr, ich bin dein Sklave, kaufe mich von meiner Frau, daß ich dir alleine zuhöre.“ Sie nahm hierauf das Kästchen von dem Boden und erklärte ihm, so gut sie konnte, daß dieses ihr Erspartes sei, um sich loszukaufen; sie bat ihn, es anzunehmen, und, weil er reich sei, das, was an hundert Dukaten fehlte, zuzulegen, sie wollte es ihm reichlich wieder einbringen und ihn bis an seinen Tod nicht verlassen. Sie brachte das alles mit großer Feierlichkeit, Ernst und Ehrfurcht vor, so daß Wilhelm bis in das Innerste seiner Seele bewegt ward und ihr nicht antworten konnte. Sie kramte darauf ihre Barschaft aus, deren Anblick Wilhelm ein freundliches Lächeln abzwang. Alle Sorten waren abgesondert und in Röllchen und Papierchen verteilt. Sie hatte sich für Silber und Kupfer besondere Kerbhölzchen gemacht und auf die verschiedenen Seiten die verschiedenen Sorten mit abwechselnden Zeichen eingeschnitten. Unbekannte und einzelne Münzen hatte sie am untersten Ende der Stäbchen wieder besonders angemerkt und legte nach diesem wunderbaren Sortenzettel ihrem Herrn und Beschützer ihre Schätze vor. Wilhelm merkte wohl, daß der Vorfall von diesem Mittag einen tiefen Eindruck auf sie gemacht hatte. Er suchte sie zu beruhigen, indem er versprach, ihr Geld aufzuheben und für sie zu sorgen, und bemühte sich vergebens, ihr begreiflich zu machen, daß er sie nicht bei sich behalten und mitnehmen könne. Sie verließ ihn, indem sie rückwärts zur Türe ging mit ebenden Verbeugungen, mit denen sie gekommen war, und grüßte von der Zeit an, wo sie ihm begegnete oder zu ihm trat, ihn jederzeit auf diese Weise, indem sie sich in einiger Entfernung hielt.

 
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Neuntes Kapitel

Nach und nach hatte Madame de Retti ihrem theatralischen Gast und Freunde alle Stücke gespielt, worauf sie sich etwas zugute tat, und hatte an manchen Stellen den jungen Kenner überrascht und in Erstaunen gebracht. Die übrigen von der Truppe taten auch ihr möglichstes, besonders da der Beifall des Publikums immer zunahm und eine bessere Zirkulation des Geldes den Kreislauf ihres stockenden Humors völlig wieder herstellte.

Nun fing endlich Wilhelm an, ernstlich an seine Abreise zu gedenken, welche ihm ein guter, warnender Geist manchmal in Erinnerung gebracht hatte.

Die meisten übersetzten Trauerspiele, welche Madame de Retti aufführen ließ, waren, wie jedermann weiß, in schlechte Alexandriner geschmiedet, sie beklagte sich öfters darüber, und Wilhelm übersetzte ihr zuliebe einige starke Stellen in gute Verse, die ihr besonders wohl gefielen, daß sie solche oft mit großem Vergnügen rezitierte. An ruhigen Abenden hatte er manchmal etwas von seinen Arbeiten vorgelesen, die großen Beifall erhielten. Er führte sie sorgfältiger als jene Briefschaften im Grunde seines Koffers mit sich; nur das Trauerspiel „belsazar“ hatte er vorzutragen noch keine Stimmung gefunden. Er hatte es immer aufgeschoben, und nunmehro wollte er es ihnen zum Abschiedschmause geben. Er nahm es hervor, sah es an, korrigierte noch ein und den andern schwerfälligen Vers, und ob er es gleich im ganzen nicht billigte, so gefiel es ihm doch meistenteils, da er es wieder durchlas.

Als er damit beschäftigt war, trat Mignon herein. Das Kind bediente ihn als seinen Herrn nunmehr regelmäßig, ob es gleich die andern nicht vernachlässigte. Es trat zu ihm und sagte: „Deine Weste ist blau, du liebst das Blau, ich will deine Farbe tragen.“ – „Gerne“, versetzte Wilhelm, „ich werde dich darum nur lieber sehen“, und schenkte ihm ein blau und weißes seidenes Halstuch. „Du gutes Kind“, dachte er bei sich selbst, „was wird aus dir werden, wie kann ich für dich sorgen, als daß ich dich deiner Frau auf das dringendste empfehle. Wärst du ein Knabe, so solltest du gewiß mit mir reisen, und ich wollte dich pflegen und dich erziehen, so gut ich könnte.“ Er ging in der Stube auf und ab, dachte dem Schicksale des Kindes nach und fühlte in einem Augenblicke, daß er es verlassen müsse und daß er es nicht verlassen könne.

Er nahm sein Manuskript und ging zu Madame de Retti hinüber, wohin er eine Schale Punsch bestellt hatte und wo er die Auswahl der Akteurs zusammen fand. „Ich weiß nicht“, sagte er, „ob Sie gestimmt sind, ein Stück anzuhören, das vielleicht hie und da zu geistlich ist?“

Sie versicherten alle, daß sie sehr aufmerksam sein würden, ob es gleich nicht durchaus wahr sein mochte, indem einige lieber in der Karte gespielt, andere lieber geschwätzt hätten. Er fing an zu lesen, und es wird um der Folge willen nötig sein, daß wir etwas von dem Inhalte erwähnen.

Der König, sein Charakter, Leben und Wesen ist uns schon im vorigen Buche bekannt geworden. An seinem Hofe hielt sich eine Prinzessin auf mit Namen Kandate, deren Vater von Nebukadnezarn seines Reiches entsetzt worden war. Sie hegte einen heimlichen unversöhnlichen Haß gegen des Überwinders Sohn und sann auf Gelegenheit, sich und den Geist ihres Vaters zu rächen, ja, wenn es möglich wäre, ihren Zustand mit dem Throne zu vertauschen.

Eron, ihr Freund, ein Herr vom alten Hofe, dem es unerträglich fällt, vom jungen Könige vernachlässiget zu werden, der, um zu seinem vorigen Einflusse zu gelangen, alles auf das Spiel setzt, hat mit der Prinzessin eine Verschwörung angezettelt, sie haben sich mit dem medischen Könige Darius in eine Unterhandlung eingelassen und dieser versprochen, ihr Rückhalt, wenn es fehlschlüge, zu sein. Darius selbst hat auf Babylon einen Anschlag; er kommt in fremder Gestalt an Hof und erscheint vor Belsazarn als ein medischer Feldherr; bei den Verschwornen zeigt er sich an als des Geheimnisses kundig, doch auch diese erkennen in ihm den König nicht. In der Nacht, die vor Belsazars Geburtstag hergeht, der zur Ausführung des Vorhabens bestimmt ist, versammeln sich die Verschwornen nach und nach in einer Halle des Palastes, und der Gegenstand der Handlung entwickelt sich allmählich. Der Anschlag Erons ist, die Prinzessin auf den Thron zu heben und sie mit dem Könige der Meder zu vermählen. Der verstellte Darius gibt als Abgesandter Hoffnung dazu, jedoch kein festes Versprechen. Die Prinzessin empfindet, ohne seinen hohen Stand zu vermuten, eine Neigung zu dem verkappten Heiden und wünscht mit ihm den Thron von Babel zu besitzen. Aber ganz andere Wünsche, ganz andere Sorgen nährt die Brust des Fürsten. Sosehr er wünscht, das Reich einem unwürdigen Könige zu entreißen, so widrig ist ihm die Verräterei, die ihm darzu die Hände bietet. Und, o sonderbares Schicksal! es mischt sich auch hier die Liebe hinein. Die Gemahlin Belsazars, Nitokris, hat sein Herz gerührt, er brennt für sie mit der stärksten Leidenschaft und fürchtet, daß sie dem Mörder ihres Gemahles ihr Herz und ihre Hand nie gönnen werde. Er sucht die Verschwornen durch allerlei Vorstellungen zu bereden, ihr Unternehmen noch einige Zeit aufzuschieben, und sie gehen zu großem Verdrusse des Erons unschlüssig auseinander.

Wilhelm, der das Stück fast auswendig wußte, las es sehr gut und mit vielen Nuancen des Ausdruckes. Ein jeder Zuhörer suchte sich schon in Gedanken eine Person aus, die er vorzustellen gedachte, ein jeder pries den jungen Schriftsteller und trank seine Gesundheit in einem Glase Punsch. Die Prinzipalin war von der Rolle der Prinzeß, als wenn sie ihr zur Ehre geschrieben sei, ganz entzückt, bat sich einen Augenblick das Manuskript aus und las sogleich einige stolze, unruhige, herrische Stellen.

Wilhelm, der ein so großes Vergnügen empfand, als etwa ein Schiffbaumeister fühlen mag, wenn er sein erstes großes Fahrzeug von dem Stapel in das Wasser läßt und es zum erstenmal vor seinen Augen schwimmen sieht, erhöhte seine Geister durch den feurigen Trank, fing den zweiten Akt an, dessen ersten Monolog wir in dem vorigen Buche gesehen haben.

Der junge König, des festen Entschlusses, seinen Geburtstag mit der Verehrung der Götter und der Betrachtung über sich selbst anzufangen, will nach Danielen schicken, um sich mit ihm zu unterhalten. Ein Hofmann, der dazwischen kommt, zerstreut ihn, und er übergibt sich dem Strome der für ihn zubereiteten Feste. Kaum daß er die Glückwünsche seiner Gemahlin anhören mag, deren Gegenwart ihm lästig ist, weil er wohl fühlt, er begegne ihr, der zartesten, liebenswürdigsten Fürstin, nicht wie er sollte. Der Monolog trägt ihre stillen Klagen vor, in denen sie Darius unterbricht. Diese letzte Szene wurde nicht mit dem Beifalle aufgenommen, den sie verdiente, denn sie war für diese Zuhörer zu fein angelegt. Der junge Held zeigt seine Leidenschaft, indem er sie zu verbergen sucht, und die Empfindungen der Königin für ihn bleiben verborgen, ob sie gleich mit offenem, guten Herzen spricht. Auch nach vollendetem zweiten Akte wiederholte man allgemeine Lobeserhebungen, auf die sich ein älterer und mit dem Publiko näher bekannter Dichter weniger als unser Freund zugute getan hätte.

Die erste Schale Punsch war leer, man bestellte eine zweite, und der Wirt, der schon darauf vorbereitet war, brachte sie sogleich. Mit noch mehr Begeisterung fing man an, den dritten Akt zu lesen und zu hören. Die Königin vertraut in einem Gespräche mit Danielen dem weisen Manne ihr ganzes feines Herze; die stille Duldsamkeit ihres Schicksales, die innere Sicherheit ihres guten Wesens machen ihre Gestalt höchst liebenswürdig. Man sieht den Darius neben ihrem Gemahle, die Erscheinung des jungen Helden macht ihr einen glücklichen Eindruck, und die Empfindung seiner Würde leuchtet wie ein sanfter Schein über der trüben Dämmerung ihres Zustandes. Sie fühlt nichts Arges in dieser angenehmen Empfindung, und Daniel ist weise genug, sie nicht zu stören. Eine Hofdame der Königin tritt hinzu und erzählt den Gang des Festes bis zu dem Augenblicke. Der König tritt herein, umgeben von den Großen seines Reiches, die ihm ihre Glückwünsche bringen, die Königin und Daniel fügen die ihrigen hinzu. Man erhebt sich zu dem Gastmahle, und Nitokris entschuldigt sich, nicht dabeizusein. Es wird ihr leicht zugestanden, und so schließt sich der dritte Akt.

Die Betrachtung, ob man hätte einen der vier großen Propheten auf das Theater bringen sollen, wurde reiflich durchgedacht, und diese kritischen Überlegungen verminderten ein wenig den guten Eindruck dieses Aufzuges.

Zu Anfange des vierten erscheint Eron mit einem Verschwornen höchst verdrießlich, daß eine so kostbare Gelegenheit, ihr Vorhaben auszuführen, ihnen entschlüpfen soll. Er fängt an, dem medischen Abgesandten zu mißtrauen, und möchte wohl gar vermuten, daß dieser andere geheime Absichten habe, vielleicht seinen König ohne ihre Beihülfe auf den Thron zu setzen und die Prinzessin ganz und gar auszuschließen. Er entdeckt ihr, die vor Verdruß über das unsinnige Schwelgen von der Tafel aufgestanden und herbeikömmt, seine Vermutung. Sie beschließen, ihren Anschlag hinter dem medischen Fürsten auszuführen, ein wachsames Auge auf ihn zu haben und ihn allenfalls, bis die Tat vorüber, selbst gefangenzunehmen. Darius tritt eben zu ihnen mit einer lebhaften Beschreibung des wüsten Unsinnes der Tafel, wovon er unvermerkt sich entfernt hat. Er erzählt, daß eben die güldnen und silbernen Geschirre, die dem Gotte der Juden geweiht seien, herbeigeholt werden und man dem König göttliche Ehre erzeige. Eron verläßt sie, mit einem Winke an die Prinzessin, des Fremden Gesinnungen zu erforschen. Ihre Unterhaltung läuft sehr kalt ab; Eron kommt zurück, erzählt die schröckliche Geschichte des erschienenen Wunders und dringt auf die Vollbringung der Tat, da die Götter selbst ein Zeichen geben. Darius sucht vergebene Ausflüchte.

Zu Anfange des fünften Aktes erscheint der niedergeschlagene König, den die Deutung der geheimnisvollen Worte schröckt; sein berauschter Geist sieht überall Schröcknisse, und nur seine Gemahlin steht ihm in diesem traurigen Zustande bei. Nach einer rührenden Szene verläßt er sie und wird in dem Augenblicke von den Verschwornen ermordet.

Die Prinzessin tritt auf, maßt sich des Reiches an, läßt die Königin bewachen. Sie befiehlt, den bisher gefangengehaltenen Fremden wieder freizugeben; Darius, der seine Wache überwältigt hat, kommet selbst, an der Spitze medischer Soldaten, die durch einen geheimen Weg in die Stadt gedrungen, herein, entdeckt sich, zeigt sich als Herrn, die Verschwornen fallen ihm zu, er überläßt der Prinzessin einen königlichen Anteil von Gütern und Reichtümern und tröstet die betrübte Königin auf eine so gute Art, daß den Zuschauern Hoffnung genug zu seinem künftigen Glücke übrigbleibt, obgleich der Vorhang fällt.

Nun ging es an ein Schwätzen, an ein Schreien, ein jeder redete nur von sich selbst, und keiner hörte sich selbst vor dem andren. Das Stück müsse gespielt werden, waren sie alle laut einig.

Wilhelm, der sie alle entzündet sah, war höchst ergötzt, so viele Menschen durch das Feuer seiner Dichtkunst angeflammt zu haben. Er glaubte, was in ihm loderte, auf ihnen verbreitet zu sehen, er fühlte sie wie sich und mit sich über das Gemeine erhöht. Er sprach Worte voll Geistes, voll Adel und Liebe.

Der sorgfältige Wirt hatte indes ihre Schale nie leer werden lassen, und es schmeckte den Gästen immer besser. Sie jauchzten ihren Beifall laut, und ihre Freude ward immer ungezogener. Sie tranken Wilhelms Gesundheit hoch und schrien, daß es ihm zum Abscheu klang und seine durch manches Glas Punsch und die Rezitation des Stückes erhöheten Geister gewaltsam und unbehäglich niedergedrückt wurden. Der Lärm wurde immer ärger, sie wiederholten die Gesundheit des Dichters und der Kunst und schwuren, daß nach solch einem Feste niemand wert sei, aus diesen Gläsern und Gefäßen zu trinken, sie schmissen mit Gewalt die Stengelkelche an die Decke; die Prinzipalin wehrte vergebens. Sie zerschlugen den Punschnapf, und die Neige floß herunter. Die Gläser, die nicht entzweigehen wollten, wurden gewaltsam gegen die Wände geschmissen und fuhren zurückprallend mit den zerschinetternden Fensterscheiben klingend auf die Straße. Ein und der andere lag überfüllt in der Ecke, andere taumelten, alle rasten, man sang, man heulte, und Wilhelm, nachdem er den Wirt herbeigerufen, schlich sich mit einer verworrenen, höchst unangenehmen Empfindung in sein Zimmer.

 
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Zehntes Kapitel

Den Sonntagmorgen, der auf diese wüste Nacht folgte, hatte Wilhelm größtenteils verschlafen, und er fand sich bei dem Erwachens verstimmt. Sein Vorsatz, abends, wenn die Vorlesung vorbei wäre, noch einzupacken, endlich an Wernern zu schreiben, Postpferde zu bestellen und heute frühe abzufahren, war unerfüllt geblieben. Er zog sich an und dachte nach, was er tun sollte. Mignon kam herein, brachte wie gewöhnlich Wasser und fragte, was er befehle. Der Anblick des Kindes ermunterte ihn, denn es hatte sein weiß und blau seidenes Halstuch umgebunden, hatte sich bei den Komödiantinnen verschiedene Läppchen blauen Taft zusammengebettelt und sie als Aufschläge und Kragen an sein Westchen mit Geschicklichkeit angeheftet, daß es ganz artig ließ. Sie brachte ein Kompliment von der Prinzipalin, die sich das gestrige Stück nur auf diesen Morgen ausbat. Er schickte es mit der Versicherung, daß er bald nachfolgen würde.

Als er hinüberkam, fand er Madame Melina und de Retti beide beschäftigt, sich das Stück, besonders die Szenen der Prinzessin und Königin, vorzulesen. „Wir müssen es spielen“, rief ihm die Prinzipalin entgegen, „Sie müssen es uns lassen,“ Madame Melina schickte ihren besten Blick nach ihm und bat auf das freundlichste. Es war das erstemal, daß die beiden Frauen ganz einig waren. Die Prinzipalin fühlte sich schon ganz in der Rolle der Prinzessin, Madame Melina wünschte sehnlich, die junge Königin zu spielen. Man schlug einen jungen, hübschen Menschen, der sich zu bilden anfing, zum Belsazar vor. Ein gewandter alter Akteur sollte den Eron machen, Daniel ward Herrn Melina zuteil, zur Hofdame fand sich auch eine Aktrice, und die übrigen Rollen waren unbedeutend; außer der Rolle des Darius, wozu Madame de Retti ganz zuletzt und gleichsam mit Scham ihren Liebling, Herrn Bendel, in Vorschlag brachte.

Dieser Mensch, den wir, wenn wir es nicht für unanständig und ein Wortspiel dem guten Geschmacke ungenießbar hielten, kurz und gut Herr Bengel nennen und seinen Charakter und Wesen dadurch mit einem Worte bezeichnen würden, war eine ungeschickte, breite Figur ohne den mindesten Anstand, ohne Gefühl. Er hatte nicht nur keine Eigenschaften des Akteurs, sondern er hatte auch alle Fehler, die einen Schauspieler verwerflich machen. Nur eins zu bedenken, so nudelte er mit der Sprache, wenn wir mit diesem Ausdrucke einen näselnden und durch eine unbehülfliche Zunge schlecht artikulierten Ton bezeichnen dürfen. Kleine Augen, dicke Lippen, kurze Arme, eine breite Brust und Rücken; genug, er hatte vor den Augen seiner Frauen Gnade gefunden. Wir haben uns bisher gehütet, dieser leidigen Figur anders als nur im Vorbeigehen zu erwähnen, und tun es auch hier wider Willen, besonders da er zu großem Verdrusse unsers Helden zum Vorschein kommt.

Der betroffene Schriftsteller wandt verschiedenes gegen diese Person ein, jedoch mit Mäßigung, weil er das Verhältnis kannte, allein er wurde widerlegt, und leider widerlegte ihn die Unmöglichkeit, denn es war niemand bei der Truppe, der diese Rolle besser als er ausgeführt hätte. Man meinte, daß er doch den Grafen Essex mit Beifall gespielt; nur war leider dieser Graf Essex, worin ihn Wilhelm wohl gesehen hatte, ein schwerer Stein auf des jungen Autors Herz.

Man redete so lang und so viel, daß endlich Wilhelm, der alte Hoffer, es doch wieder möglich dachte, daß der Schauspieler durch Fleiß und Mühe bei dieser Rolle sich wieder verbessern könnte, und idealisierte ihn schon in seinem Geiste. Endlich gab er nach, und es ward beschlossen, so bald als möglich an das Werk zu gehen.

Man hatte bei dieser Gelegenheit die ganze Truppe durchgegangen und auch von Mignon und von der Ungeschicklichkeit des Kindes, irgend etwas zu repräsentieren, gesprochen. Wilhelm hatte sie in einigen Stücken gesehen, wo sie kleine Rollen so trocken, so steif und, wenn man sagen soll, eigentlich gar nicht spielte. Sie sagte ihre Lektion her und machte, daß sie fortkam. Er nahm sie zu sich und ließ sie manchmal rezitieren, aber auch da war er auf keine Weise mit ihr zufrieden. Wenn er sie bat, sich anzugreifen, so war ihr Ausdruck auf gemeinen und bedeutenden Stellen gleich angespannt, sie sprach alles mit einer phantastischen Erhebung, und wenn er das Natürliche von ihr verlangte, wenn er sie bat, ihm nur nachzusprechen, begriff sie niemals, was und wie er es wollte.

Dagegen hörte er sie einsmals auf einer Zither klimpern, die mit unter dem Theaterhausrat war. Er sorgte davor, daß sie ordentlich bezogen wurde, und Mignon fing an, in abgebrochenen Zeiten darauf allerlei zu spielen und zu phantasieren, immer, wie gewöhnlich, in wunderbaren Stellungen. Bald saß sie auf der obersten Sprosse einer Leiter mit übereinandergeschlagenen Füßen wie die Türken auf ihren Teppichen, bald spazierte sie auf den Dachrinnen der Hofgebäude, und der klagende Ton ihrer Saiten, zu dem sich auch manchmal eine angenehme, obgleich etwas rauhe Stimme gesellte, machte alle Menschen aufmerksam, staunen und stutzen. Einige verglichen sie einem Affen, andere anderen fremden Tieren, und darinne kamen sie überein, daß etwas Sonderbares, Fremdes und Abenteuerliches in dem Kinde stecke. Man konnte nicht verstehen, was sie sang, es waren immer dieselben oder doch sehr ähnlichen Melodien, die sie nach ihren Empfindungen, Gedanken, Situationen und Grillen verschiedentlich zu modifizieren schien. Nachts setzte sie sich auf Wilhelms Schwelle oder auf den Ast eines Baumes, der unter seinem Fenster stand, und sang auf das anmutigste. Wenn er sich hinter den Scheiben blicken ließ oder sich in der Stube bewegte, war sie weg. Sie hatte sich ihm so notwendig gemacht, daß er morgens nicht ruhen konnte, bis er sie sah, und nachts spät rief er meistens noch nach einem Glas Wasser, um ihr eine gute Nacht zu wünschen. Wenn er seiner Neigung gefolgt hätte, würde er sie als seine Tochter behandelt und sich sie ganz und gar zugeeignet haben.

 
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Elftes Kapitel

Die Rollen wurden ausgeschrieben und gelernt. Ein jeder nahm mehr oder weniger Wilhelms guten Rat an, las mit ihm in seiner Gegenwart die Szenen, selbst die Direktrice hörte auf seine Erinnerungen. Man befliß sich einer wahren, gefühlten, starken Deklamation. In kurzer Zeit ward durch diese Einigkeit eine solche Harmonie in das Stück gebracht, daß auch selbst die Proben angenehm und gut zu hören waren. Madame Melina gab sich die größte Mühe, und Wilhelm versäumte nicht, sie in dem Eifer zu unterstützen. Sie konnte ihre Rolle in wenig Tagen auswendig; Wilhelm mußte sie ihr stellenweise vorsagen, sie szenenweise mit ihr spielen, und sie kam dem rechten Ausdrucke ziemlich nahe. Nur freilich war die stille Reinheit, die sanfte Höhe, die innerliche Zärtlichkeit der Königin nicht in ihrem Charakter; es war ein gewisser Ton, eine gewisse gesetzte Rührung, die sie nicht ausdrücken konnte, doch blieb es schon immer sehr viel, und Wilhelm ward täglich zufriedner.

Mit dieser Übereinstimmung der Akteurs untereinander und mit dem Stücke machte die Roheit, die Unart und Albernheit des Mosje Bendels den allerschlimmsten Kontrast. Er war von Natur einbildisch und hatte eine große Meinung von seinem Spiele; diesmal aber war er doppelt und dreifach ungezogen, weil er auf Wilhelmen, für den die Direktrice so viele Achtung bezeigte, eine grimmige und unbändige Eifersucht empfand, die sich manchmal auf eine ungezogene Art und besonders bei dem Lernen und Probieren des Stückes zeigte. Da der leidige Mensch alle Tage trank und kaum des Morgens nüchtern war, so wurde dadurch seine schlechte und wüste Aufführung nur immer unleidlicher. In seinem Verdrusse schüttete er noch mehr Wein in sich und wurde bei seiner übervollblütigen Konstitution etlichemal auf dem Theater von einer Art von Schwindel überfallen, daß man ihn nach Hause bringen und ihm zur Ader lassen mußte. So störete er den Frieden, die Ordnung und die Annehmlichkeit der studierenden und probierenden Gesellschaft, die sich lange nicht so angenehm und einig gefühlt hatte und die bei der Aussicht einer reichlichen Einnahme, die ihr dieses Stück verschaffen sollte, doppelten und dreifachen Eifer zeigte.

Wilhelm machte indessen eine neue Bekanntschaft. In dem Schauspiele hatte er einigemal neben einem Offiziere gesessen und gefunden, daß er mit gutem Geschmacke von den Stücken und den Akteurs urteilte. Er war bisher aus Langerweile manchmal auf die Promenade gegangen, wo dieser Mann gewöhnlich zu ihm trat und sich mit ihm von literarischen Angelegenheiten unterhielt. Mit größter Verwunderung und Anteil fragte er endlich Wilhelmen, ob es wahr sei, daß bald ein Stück von ihm selbst würde aufgeführet werden. Wilhelm gestund es, und jener bezeugte eine freundliche Teilnehmung. Der Offizier war eine von den guten Seelen, die an dem, was andern widerfährt und was andere leisten, einen herzlichen Anteil zu nehmen von der Natur gestimmt sind. Sein Stand, der ihn zu einem harten, trotzigen Geschäfte verdammte, hatte ihn, indem er ihn mit einer rauhen Schale umzog, in sich noch weicher gemacht. In einem strengen Dienste, wo alles seit Jahren in der bestimmtesten Ordnung ging, wo alles abgemessen, die eherne Notwendigkeit allein die Göttin war, der man opferte, wo die Gerechtigkeit zur Härte und Grausamkeit ward und der Begriff von Mensch und Menschheit gänzlich verschwand, war seine gute Seele, die in einem freien und willkürlichen Leben ihre Schönheit würde gezeigt und ihre Existenz würde gefunden haben, gänzlich verdruckt, seine Gefühle abgestumpft und fast zugrunde gerichtet worden. Das unschuldige Vergnügen, das ihm übrigblieb, war die aufkeimende deutsche Literatur. Er war darinne bis auf jede Kleinigkeit bekannt, es wußte, was wir hatten und nicht hatten, er hoffte, er wünschte, und ob er gleich einige fremde Sprachen besaß und ihre besten Schriftsteller las, so gab er doch in seinem Herzen dem engen Haushalte seines Vaterlandes vor jenen Reichtümern den Vorzug, indem er sich ihnen näher fühlte. Er war auf so eine gute Weise parteiisch und versprach sich alles, was er nicht vorzeigen konnte, von dem nächsten Geschlechte. Man konnte ihn einen wahren Patrioten nennen, einen von denen, die in der Stille zur Aufnahme und Aufmunterung der Wissenschaften bei uns, ohne es zu wissen und zu wollen, so vieles beigetragen haben.

Sie gingen manchmal zusammen auf das Billard, manchmal spazieren und wurden einander wechselsweise gar vieles. Wilhelm, der außer dem dramatischen Fache nicht sehr bewandert war, wurde durch ihn in die weiteren Kreise der schönen Literatur hinausgeführt, und es verging kein Tag ohne Nutzen und ohne die Freude einer neuen geistigen Bekanntschaft

Als Herr von C. das Trauerspiel seines jungen Freundes durchlas, war er entzückt und erstaunt. Er gab ihm vor allen, die in deutschen Versen abgefaßt und bekannt waren, den Vorzug und bat ihn, ja auf dem Wege fortzufahren, und wünschte ihm nur mehr Welt- und Menschenkenntnis, um seinen Stücken den echten Wert und das rechte Gepräge geben zu können. „Dieses Stück“, sagte er, „so wohl es mir gefällt, ist nur von innen heraus geschrieben, es ist ein einziger Mensch, der fühlt und handelt. Man sieht, daß der Autor sein eignes Herz kennt, aber er kennt die Menschen nicht.“ Wilhelm gab dies gern und noch mehr zu, schüttete das Kind mit dem Bade aus, ließ sich aber doch ganz gerne widerlegen, als der Offizier den eigentlichen Wert des Stückes mit Kenntnis und Verstand bestimmte.

 
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Zwölftes Kapitel

Madame Melina ließ unsern jungen Dichter nun gar nicht los. Sie war klug genug zu sehen, wie vielerlei Vorteile sie von ihm ziehen könne. Im Trauerspiele hatte man sie bisher mit Gleichgültigkeit aufgenommen, sie hoffte, diesmal glücklicher zu sein. Er probierte gewöhnlich mit ihr alle Tage, und sie schien von der Art, wie er den Darius machte, ganz entzückt.

Mignon setzte sich meistenteils in eine Ecke, wenn sie rezitierten, und war überhaupt immer gegenwärtig, wenn Wilhelm las oder deklamierte, verließ ihn nicht mit den Augen und schien sich selbst zu vergessen. Sie verlangte manchmal von Wilhelm eine Lektion zum Auswendiglernen, die er ihr denn auch, meistenteils aus seinen eigenen Stücken, gab. Sie lernte auch geschwind, nur wollte die Rezitation nicht geschickter werden.

Eines Tages, da Wilhelm und Madame Melina geendigt hatten und über verschiedene Verse sprachen, fragte das Kind, ob es seine Rolle aufsagen dürfe. Man erlaubte es ihm, und es fing folgende Stelle aus der „Königlichen Einsiedlerin“, die er ihr gestern abgeschrieben hatte, sehr pathetisch vorzutragen an. Er ging in der Stube hin und her, ohne sonderlich auf sie achtzuhaben, indem er an etwas anders dachte.

Heiß mich nicht reden, heiß mich schweigen,

Denn mein Geheimnis ist mir Pflicht.

Ich möchte dir mein ganzes Innre zeigen,

Allein das Schicksal will es nicht.

Zur rechten Zeit vertreibt der Sonne Lauf

Die düstre Nacht, und sie muß sich erhellen,

Der harte Fels schließt seinen Busen auf,

Mißgönnt der Erde nicht die tiefverborgnen Quellen.

Ein jeder fühlt im Arm des Freundes Ruh,

Dort kann die Flut der Klagen sich ergießen;

Allein mir drückt ein Schwur die Lippen zu,

Und nur ein Gott vermag sie aufzuschließen.

Wilhelm merkte nicht auf, wie sie die ersten Verse vortrug, doch da es an die letzten kam, sprach sie solche mit einer Emphase von Innigkeit und Wahrheit aus, daß er aus seinem Traume geweckt wurde und es ihm klang, als wenn ein anderer Mensch redete. Er war eben im Auf- und Abgehen weggewendet, er fuhr schnell herum, sah das Kind an, das, nachdem es geendiget hatte, sich wie gewöhnlich beugte.

Wilhelms Plan, mit dem er sich beruhigte, war nunmehr gemacht. Er hatte sich entschlossen, die Aufführung seines Stückes abzuwarten, alsdann sogleich zu reisen und sich bei Wernern über seinen bisherigen Aufenthalt zu entschuldigen.

Man ging immer weiter und überlegte, was man, um dem Stücke sein Recht anzutun, für Kleidungen und Dekorationen nötig habe. Unser Offizier half zu Büchern und Reisebeschreibungen, woraus man die orientalischen Trachten am besten wählen könnte. Von anständigen tragischen Dekorationen war auch wenig da, und obgleich das Theater nur einigemal verändert ward, so mußte doch auch dafür gesorgt werden, und, wie natürlich, fiel auch hier die Last auf den guten Dichter. Der mußte für Stoff und Zindel, Leinwand und Farbe, für Schneider und Maler stehen, und er begnügte sich mit dem Versprechen, das ihm auch bisher nicht viel gefruchtet hatte, man wollte ihn aus der zu hoffenden Einnahme sogleich entschädigen, indes sollten ihm die anzuschaffenden Bedürfnisse mit dem übrigen als Pfand verschrieben sein. Es ruckte alles näher und näher zusammen; sogar hatte man die gewöhnlichen Musikanten bei einem solchen Feste zu spielen für unwürdig gehalten, und die Regiments-Hautboisten erhielten die Erlaubnis, ihre Stelle gegen gute Bezahlung einzunehmen.

Alle diese schöne Aussichten wurden durch die einige und leidige Gestalt des bengelhaften Darius bei jeder Probe gestört. Wilhelm tat alles mögliche, um den Vorhang des Selbstbetrugs, der ihm sonst selten versagte, vor die Augen zu ziehen; bald hoffte er, es würde der Mensch in einer schönen Kleidung sich besser ausnehmen, er hoffte, die Stärke der Harmonie, worinne die andern spielten, würde ihn mit hinreißen, er tröstete sich sogar mit der Erwartung eines Wunders, das vielleicht am Abende der Aufführung die harte Schale dieser Natur sprengen und noch eine angenehme Gestalt zum Vorschein bringen könnte, er verließ sich zuletzt auf die Beleuchtung und auf die Schminke, er nahm alle natürliche und unnatürliche Möglichkeiten zum Trost und Hülfe; vergebens! sobald jener den Mund auftat, ward alle Illusion zerstört, und wenn er einesteils jenen Tag mit großer Sehnsucht erwartete, so war es ihm ein Schröcken, wenn er in Gedanken jene verstimmende Natur hereintreten sah.

 
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Dreizehntes Kapitel

Das Publikum fing nun an, auf unsern Schriftsteller aufmerksam zu werden. Man zeigte sich ihn einander, daß er es sei, von dem ehestens ein Stück aufgeführet werden sollte, man beschäftigte sich mit ihm in allen Gesellschaften. Er machte die Bekanntschaft vieler Offiziere, Herr von C. brachte ihn in ein Haus, wo eine Dame mit ihren beiden Schwestern das Band eines angenehmen Zirkels war. Sie konnten ihren Gellert auswendig, brachten Rabeners Späße nicht ungeschickt an, sangen Zachariäs Lieder und spielten recht hübsch auf dem Klaviere. Wilhelm war überall gut aufgenommen, weil er sehr bescheiden und doch bei näherer Bekanntschaft treuherzig und lebhaft war. Er befand sich auch recht wohl in dieser neuen Sphäre; nur daß es ihm dabei wie andern jungen Leuten erging. Aus Gutmütigkeit und Biegsamkeit überließ er sich dem herrschenden Tone einer jeden Gesellschaft; in der einen war er sanft, zurückhaltend und unbedeutend, in der andern schwärmte er, mit den Offizieren war er laut und trank auch wohl gelegentlich über die Maßen, welche Abwechselung der Lebensart ihn mit sich selbst in einige Verwirrung setzte.

Der Titel und Inhalt seines Stückes war nunmehr bekannt geworden, mehrere hatten daraus rezitieren hören, einige Liebhaber waren in die Probe geschlichen, man sprach, man urteilte schon von allen Seiten. Die Geistlichkeit wurde aufmerksam, da sie hörte, daß Daniel, der vierte unter den Großen, sollte von einem landstreichenden Komödianten vorgestellet werden. Sie brachten die Sache höheren Ortes an, und in Abwesenheit des Oberamtmanns erging ein Befehl an Madame de Retti, das Stück nicht aufzuführen. Welch ein unerwarteter Fall! welch ein Verdruß! welche Sorge! Herr von C. erfuhr es bald, es ärgerte ihn, und jene Tätigkeit, die er stets für seine Freunde zeigte, war auch hier des Schriftstellers und der Schauspieler Hülfe. Er lief herum, er bewies, überredete. Zum Glücke war Racinens „Athalie“ in der Residenz französisch gespielet worden; er zeigte, daß dieses Stück noch viel unverfänglicher sei, indem, obgleich die Geschichte davon in der Bibel stehe, die Schauspieler doch lauter Heiden seien bis auf den einzigen Daniel, welcher ganz vortreffliche moralische Sachen sage. Seine Bemühungen und Gründe, mehr aber noch der Einfluß, den er auf einige verständige und seine Freunde auf unverständige Frauen hatten, brachten diese Sache bald wieder in das Gleis, und das Verbot wurde aufgehoben.

Der Tag war nunmehr angesetzt, und den Abend vorher sollte die letzte Probe sein. Man wollte die Dekorationen und die Kleider auch einmal bei Lichte sehen. Wilhelm lief und rannte den ganzen Tag. Er hatte nicht allein das Theater auf das beste herausstaffiert, sondern er ließ auch das Proszenium und die Logen selbst, die bisher mit armseligen Lappen behängt waren, mit Leinwand, wo es nötig war, beschlagen und mit architektonischen Zieraten bemalen. Er hatte, um die Beleuchtung zu verdoppeln, mehrere Lampen und Plaker angeschafft, und es war ihm dieses Geschäft höchst angenehm und befriedigend, da er alle seine erworbene Kenntnisse und die Ideen, mit denen er sich bisher getragen, überall zum größten Teile anwenden und in Ausübung bringen konnte. Er putzte die Bude so artig heraus, als wenn es eine Christbude gewesen wäre, und gefiel sich so wohl darinne, daß er nicht einmal mittags nach Hause ging, sondern sich das Essen hinaufbringen ließ. Er agierte, rezitierte für sich, machte Plane zu neuen Stücken, und das Herz schlug ihm für Freude und Erwartung, wenn er sich statt der leeren Bänke und Wände so viel übereinander gebaute Köpfe vorstellen konnte.

Abends kam Herr und Frau Melina zuerst und brachten die böse Nachricht, daß Mosje Bendel wieder einen neuen, schweren Anfall seiner Krankheit gehabt hätte. Es habe ihn mit Frost und Hitze angegriffen, das Blut wäre ihm alles nach dem Kopfe gestiegen, und es sei manchmal, als wenn er gar ersticken wolle. Man habe sogleich nach einem Arzte geschickt, der versicherte, es sei ein Übergang wie der vorige auch und habe gar nichts zu bedeuten. Es zeige sich die Wirkung einer Unmäßigkeit, und wenn er sich die Nacht ruhig halte und die verordnete Medizin brauche, so werde er morgen gewiß spielen können. „Sie sind wohl so gut“, sagte Madame Melina, „und nehmen heute abend seine Rolle; Sie wissen das Stück ja so, daß Sie es aus dem Kopfe soufflieren könnten, und es ist uns allen ein großer Vorteil, daß Sie die Hauptprobe selbst dirigieren, damit uns die Prinzipalin nicht bald dieses, bald jenes heißt, worüber sie am Ende selbst ungewiß ist.“

Die übrigen kamen nach und führten eine gleiche Sprache. Die Musik war auch bestellt. Man suchte schickliche, ernsthafte, prächtige Stücke zwischen die Akte aus verschiedenen Symphonien heraus. Man fing an zu probieren, und Wilhelm, der, um die anderen ins Feuer zu setzen, selbst ins Feuer kam, übertraf sich in Sprache und Spiel. Alle taten das Ihrige, so daß ein jeder mit sich selbst und mit den andern am Ende herzlich zufrieden war.

„Ach, wie anders wird es sein“, sagte Madame Melina, „wenn morgen unser schwerer Held auftritt, daß die Bretter knarren und das Theater sich biegen möchte! Wollte doch der Himmel, mein Freund, Sie wären zu dieser Kunst bestimmt und müßten das schöne Talent, das Ihnen die Natur zugegeben, nicht mutwillig verbergen und vergraben!“ – „Sie sehen“, sagte er, „meine Beste, daß mir leider dahin der Weg verschlossen ist.“ – „Es scheint nur so“, sagte Madame Melina, „ich war in dem nämlichen Falle, es ist nur eine papierne Tüte, die man mit dem Ellenbogen einstoßen kann.“

Die Schneider, die mit den Kleidern ankamen, unterbrachen sie, man ging beiseite, man zog sich an, man fand sich schön, nur noch nicht reich genug, es wurde noch mehr Zindel aufzusetzen, noch mehr Flintern anzubringen geboten. Endlich kehrte man nach Hause zurück, und die erste Frage daselbst war, wie sich der Kranke befinde. Man hörte, er schlafe, und es war das erstemal, daß sein Schlafen oder Wachen jemanden außer die Prinzipalin interessieret hatte.

 
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Vierzehntes Kapitel

Der andere Morgen erschien und weckte Wilhelmen beizeiten. Er hörte, Bendel habe eine ruhige Nacht gehabt und schlafe noch. Er nahm daraus gute Hoffnung und eilte nach dem Schauplatze, wo noch verschiedene Handwerksleute beschäftiget waren. Gegen Mittag war alles fertig, die Verwandlungen, ob sie gleich zwischen die Akte fielen, sorgfältig probieret, und es begegneten ihm, da er nach Hause ging, schon verschiedene Postkutschen mit Fremden, die der Ruf herbeigezogen hatte. Er genoß zum ersten Male das Vergnügen, das Publikum durch sich in Bewegung zu sehen. Die feuchten Komödiantenzettel liefen von Haus zu Hause, und der Name Belsazar schien ihm mit großen Buchstaben an allen Eckhäusern entgegen.

Als er nach Hause kam, fand er verschiedene Bedienten und Leute, die Geld in den Händen hielten. Es war das erstemal, daß sich die Prinzipalin nicht zu helfen wußte, denn schon waren alle Logen genommen und alle Billette ausgeteilet. Man hatte schon angefangen, noch einige besonders nachzumachen, welches aber Wilhelm verhinderte, weil die Leute nicht alle Raum finden und sich im Hause entweder erbärmlich drängen oder wohl gar wieder würden weggehen müssen.

Bendel war indessen aufgestanden, streckte sich im Sessel und nahm ein tüchtiges Frühstück zu sich. Er war der einzige, der seine Rolle noch nicht recht auswendig konnte, und, was das schlimmste war, er hatte gleich vom Anfange einige Verse falsch gelesen und in andern aus Unverstand die Worte zu versetzen sich angewöhnt, wodurch ein alberner Sinn in verschiedene wichtige Stellen kam. Durch vieles Einreden war er aufmerksam darauf, allein ehe man sich es versah, entfuhr dem ungeschickten Gehirne der gewohnte Irrtum. Er fing an zu stottern, und anstatt den Fehler zu verbessern, verwirrte sich seine ungelenke Zunge in einem doppelten und dreifachen Quidproquo. Er hatte seine Rolle neben sich liegen, und indem er sie hersagte, schien er sie in diesem Augenblicke eben zur gelegenen Zeit vergessen zu haben. Wilhelm, der in die Stube hereintrat, konnte es nicht ausstehen, er eilte unwillig fort, und die Prinzipalin war in der größten Verlegenheit.

Wie hundertmal ist es bemerkt worden, daß der schönste Wunsch des Menschen, wenn er sich ihm endlich in seinem ganzen Umfange erfüllt, doch meist durch eine irdische Zugabe verdorben und der angenehmste Genuß dadurch oft zur Marter wird. Unser Freund sah nunmehr den Tag erschienen, den er sich als Knabe so manchmal herbeigewünscht hatte.

Wir sehen, daß Kinder zuerst durch die äußere Form eines Metiers, das ihr Vater treibt oder das sie sonst zu ergreifen gelockt werden, sich rühren lassen. Sie nehmen Stecken und machen sich Schnurrbärte, um Soldaten, Bindfaden, um Kutscher, und papierne Umschläge, um Pfarrer zu scheinen; so war es unserm jungen Dichter auch gegangen; als Knabe hatte er schon Komödienzettel geschrieben, worauf er eigene Stücke, die nicht gefertiget noch zu fertigen waren, mit prächtigen Titeln ankündigte. Wenn er nachher die Personen eines Stückes und die ersten Szenen davon schrieb, dachte er sich, wie schön es sein müsse, dies dereinst in so zierlichem Formate wie die erste Ausgabe von Lessings Schriften gedruckt zu sehen. Wenn er im Parterre saß und die angefangene Symphonie die Gemüter der Zuschauer erhob, ach, dachte er, wenn du so glücklich sein solltest, vor dem Vorhange zu sitzen, die Ouvertüre zu hören und dein eigen Stück zu erwarten! Der gute Knabe hoffte damals, es würden ihm alsdann seine eigene Sachen so außerordentlich und er sich selbst so ehrwürdig vorkommen als ihm gegenwärtig die über ihn erhabene Schriftsteller und ihre Werke. Und wem geht es nicht so, der andere in Reichtum, Rang, Titel, Ämtern und Ehren über sich glänzen sieht? –

Der Tag war nunmehr da, und wieviel fehlte es an jenem Entzücken, mit dem er als Kind dem häuslichen Puppenspiele zum ersten Male beigewohnt! Durch die Proben ermüdet, schien ihm das Stück beinahe selbst trivial zu sein. Scheu vor der Verantwortung gegen die Seinigen wegen seines langen Aufenthaltes, angefesselt durch das Geld, welches er leichtsinnigerweise verborgt und selbst diese Tage her in ein leichtes Brettergerüste verwendet hatte, war er von innen heraus nicht ganz heil; doch hätte seine Leidenschaft alles überwogen, wenn ihn nicht der verwünschte Darius ganz und gar aus allem Behagen geworfen hätte. Es war ihm wie einem Tänzer, der sich sonst ganz frisch befindet, nur daß ihm die große Zehe, wie er das Brettergerüste besteiget, erbärmlich zu schmerzen anfängt.

Er eilte bald wieder auf das Theater, vergnügte sich an der Ruhe und Ordnung, die oben herrschte; der Tapezierer war eben daselbst und schlug einen großen Fußteppich von grünem Friese auf die Szene. Eine Ausgabe, die auch Wilhelmen stark in den Beutel fiel, ob er gleich überzeugt war, seinem Trauerspiele dadurch die letzte Würde zu geben. Die Stunden liefen herum, und schon gegen viere suchten die müßigsten Zuschauer sich die besten Plätze, gegen fünfe war das Haus ziemlich voll, außer den genommenen Logen. Die Musik war angekommen und gab mit unerträglichem Stimmen und Klimpern den Zuschauern die nächste Hoffnung, daß sich der Schauplatz bald eröffnen werde. Im völligen Putze traten die Akteurs nacheinander an, die vorderen Lampen wurden angezündet, und es fehlten nur noch die beiden Fürstinnen mit dem medischen Helden, sonst war alles zum Anfange bereit. Ein jeder Schauspieler zeigte sich in seiner Kleidung unserem Freunde, der an ihnen noch einiges zurechtrückte, als einige Bedienten aus der Stadt eilig auf das Theater kamen und fragten, ob denn das Stück nicht gespielt werde? Es wollte verlauten, als wenn ein Akteur krank geworden sei und man das Trauerspiel nicht geben könne. Wilhelm versicherte, es sei ein Irrtum, er wäre wieder besser, und man würde um die bestimmte Stunde, die heranrücke, anfangen. Es war auch ein Bedienter von seinem militärischen Freunde darunter, den er mit ebendiesen Worten abfertigte.

Kaum war dieses geschehen, als Madame de Retti ihm sagen ließ, er möchte doch eilig in das Wirtshaus kommen, und der Bote verbarg ihm nicht, daß Mosje Bendel einen neuen Anfall der Krankheit in diesem Augenblicke litte. Voller Schröcken lief Wilhelm hin und fand beide Frauen im königlichen Habite um den halb angekleideten Menschen beschäftigt, der im Sessel lag, sinnlos, dem ein Arzt zur Seite stund und ein Chirurgus die Ader öffnete. Madame de Retti war außer sich, Madame Melina wollte rasend werden, der Arzt schalt auf den unmäßigen Menschen, der seine gewöhnliche Mahlzeit zu sich genommen und sich seine Flasche Wein nicht versagt hätte, wodurch die ohnedem in dem Körper steckende Krankheit neuen Trieb erhalten. Er versicherte, sie möchten nur keine Umstände machen, sich auskleiden und ein anderes Stück spielen. Als das Blut lief, erholte sich der Kranke ein wenig, und der Arzt befahl dem dabeistehenden Theaterschneider, daß er ihn schnell sollte auskleiden und ihn in das Bett bringen helfen.

Wilhelm stand unbeweglich, es lag eine Last auf ihm wie auf einem, den der Alp drückt, er konnte kein Glied rühren, es war, als wenn sein Blut stockte und das Herz stillestünde. Er ging mit den beiden Frauen in ein anderes Zimmer. „Was fangen wir an!“ rief er aus. Die Kutschen, durch die letzte Nachricht, welche er den Bedienten gegeben, in Bewegung gebracht, fingen an zu rasseln. Es wurde ihm so bange wie einem, dem eine Last zum Berge hinunterzurollen anfängt, die er nicht aufhalten kann, wie einem, der im Begriffe ist zu gleiten und hinterdreinzurutschen. „Was fangen wir an!“ rief Madame de Retti und sah der bestürzten Madame Melina in die Augen. „Ach“, rief jene mit einem bewegten Tone, „es ist nur ein Mittel! Mein Herr! Mein Freund!“ – „Ja, unser Freund“, rief die Prinzipalin, indem sie ihn wie jene bei der Hand nahm, „Sie müssen uns retten!“ Er stand zwischen beiden Weibern, deren ganze Seele durch das Schröcken, durch die Furcht, die Verlegenheit, die Sorge, die sie in dem Augenblicke ergriff, erhöht war; er verstand sie nicht – und gleich darauf verstand er sie – und auf einmal kamen alle seine Lebensgeister in Bewegung. Mit dem Gedanken, daß man es von ihm verlangen könnte, daß es möglich sei, wendete sich auf einmal die Last, die seinen Busen beschwerte, weg, die drückende Stille war aufgehoben; aber er fühlte sich einem Sturme von Zweifeln, Wünschen, Mut und Bangigkeit ausgesetzt, dem er fast unterlag. „Was sagen Sie? “ rief er aus, „nein, es kann nicht sein.“ – „Sehen Sie unsere Verlegenheit“, rief Madame de Retti, „fühlen Sie Ihre eigene. Wir sind verloren, wenn wir das Publikum nicht befriedigen, unser Schicksal hängt von Ihrem Willen ab, und diese ganze Verwirrung wird durch ein Wort von Ihnen gehoben, auf das schönste gehoben, denn es kann diese Rolle niemand wie Sie selbst spielen.“ – „Wie schön war unsere Probe gestern“, rief Madame Melina, „ach, wenn ich mir die heutige Aufführung so denke, ich komme außer mir vor Entzücken, und meine ganze Angst verwandelt sich in Wonne.“ Eine löste die andere ab, jede sagte etwas Dringenderes und Schöneres, ihre bewegten Seelen rührten die seinige mehr als ihre Worte; ihre schöne Kleidungen und edeles Betragen machten das, was sie sagten, noch eindringender. „Sie können es nicht versagen“, rief die Prinzessin aus, „an dem heutigen Tage hängt unser ganzes Glück. Sie sind auch mir es schuldig, denn hier ist das einzige Mittel, daß ich aufhöre, Ihre Schuldnerin zu sein. Ich bin oft unglücklich gewesen, aber wenn wir in dem Moment das Publikum aufbringen und seine Erwartung täuschen, so werde ich elender sein als jemals.“ Die Tränen liefen ihr von den Wangen, eine Träne glänzte in dem Auge der Madame Melina, seine Augen wurden naß, und er wußte nicht mehr, wie er sie abweisen sollte. „Wollen Sie mich zu Ihren Füßen sehen.“ rief die stolze Prinzessin, indem sie sich vor ihm auf die Knie warf. „Können wir dringender bitten“, rief die reizende Königin und fiel auf der anderen Seite vor ihm nieder. Er konnte es nicht aushalten, er zwang sie aufzustehn, er konnte nicht ja sagen und hatte nicht die Kraft, ein entscheidendes Nein herauszubringen. Madame de Retti stund auf und ging an das Fenster, ihre Tränen zu trocknen. „Entschließen Sie sich“, sagte Madame Melina heimlich, „es weiß niemand Ihren rechten Namen als mein Mann und ich, Sie sind hier völlig unbekannt, Ihren Verwandten ist Ihr hiesiger Aufenthalt ein Geheimnis; ich schwöre Ihnen, es soll auf keine Weise jemals über unsere Lippen kommen.“ – „Möchte doch“, rief Madame de Retti, die sich wieder zu ihm kehrte, „nur der tausendste Teil von dem, was Sie jemals für die Schauspielkunst empfunden, in diesem Augenblicke Ihre harte Brust erweichen.

Es schlug sechse.

Ihr Wunsch war schon, eh sie ihn taten, wirksam gewesen. Was sich beide Frauen in den Drang ihrer Seelen möglich dachten, konnte er sich endlich auch möglich denken, gerührt wie er war, wenn er es recht fühlte, in dem glücklichsten Momente! War nicht sein eigener Wunsch erfüllt? Ein guter Geist hatte den leidigen Sünder, der die ganze Übereinstimmung seiner schönen Dichtung zerstörte, gelähmt. Ihm selbst war es gegeben, die Krone des Beifalles zu brechen, ihm war es aufgedrungen, das Schicksal seines eigenen Stückes und seiner Freunde zu entscheiden. Die Zusammenstimmung aller Umstände bis auf den heutigen Tag schien dieses Opfer zu verlangen, das dem größten Triumphe, den ein Mensch erringen konnte, ähnlich sah. Er ward nachdenkend, er schwankte, die Frauen redeten nicht mehr, sie faßten ihn bei der Hand und sahen ihn beweglich an. Wenn nur ein Freund gegenwärtig gewesen wäre, den er um Rat hätte fragen können!

Es stürzte jemand mit Ungestüm die Treppe hinauf und rief, sie möchten nicht länger zaudern, sie möchten kommen, das ganze Haus sei angefüllt, das Publikum werde unruhig und poche schon eine Viertelstunde. „Ein einziges Ja“, sagten die Frauen, „würde diesem unübersehlichen Unheile ein Ende machen.“ – „Es ist unmöglich“, sagte Wilhelm, „wie soll ich mich der Rolle in dieser Verlegenheit gewiß ganz erinnern, wo soll ich ein Kleid hernehmen, das in dem Augenblicke anständig wäre und zu den übrigen paßte, die alle neu sind?“

Da er Einwendungen machte, war er verloren. Die erste hob Madame Melina gleich, und wegen der zweiten rief die Prinzipalin nach dem Theaterschneider. „Könnt Ihr das Kleid des Herrn Bendel geschwind diesem Herrn auf den Leib passen?“ sagte sie. „Es geht nicht an“, rief Wilhelm, „er ist viel größer und stärker als ich.“ – „Das hat gar nichts zu sagen“, versetzte der Schneider, „einnähen kann man geschwinder als auslassen, besser zu groß als zu klein. In einer Viertelstunde bin ich fertig, so was kommt tausendmal vor.“ Die Prinzipalin winkte ihm, er lief hinüber und holte die Kleider. „Was machen Sie“, sagte Wilhelm, „ich kann mich nicht entschließen.“ – „Es bleibt uns nichts anders übrig“, versetzte sie. Ein zweiter Bote stürzte herein. „Wo bleiben Sie?“ rief er in voller Hast; „die Zuschauer werden unbändig, das Parterre verlangt das Stück und pocht und tobt, die gedrückte Galerie kracht vor Unfug, ein Teil fordert sein Geld, die Logen drohen nach ihren Kutschen zu schicken, die Musik spielt indessen, was sie kann, um den Sturm nur einigermaßen zu besänftigen.“ Die zwei Boten stunden nebeneinander und harrten auf Antwort, der Schneider kam mit den Kleidern auf dem Arme. „Ich schicke hin“, rief die Prinzipalin, „damit das Publikum nur zur Geduld komme.“ Sie ging mit den Boten zur Türe hinaus, Wilhelm sagte weder ja noch nein und ließ sich ankleiden. Draußen befahl sie, der Alte, dem die Rolle des Erons zugeteilt war, sollte vor den Vorhang treten und mit seiner gewöhnlichen Geschicklichkeit das Publikum anreden, die Ursache anzeigen, nur um eine Viertelstunde Aufschub bitten und mit Demut und Bescheidenheit das Beste versprechen.

Die flinken Hände des Schneiders und einer Näherin, die man herbeigerufen hatte, bildeten schnell unseren Freund zum Helden um, noch ehe er sich besann. Madame Melina kämmte ihm selbst die Haare in fliegende Locken, die ein köstlich geputzter Helm mit großen Federn zu drücken bestimmt war. Der Harnisch und das Schürzchen, der Mantel und der Gürtel glänzten wie wahrhaft und paßten wie angegossen. Zum Glücke fanden sich ein Paar neue Schnürstiefel, die dem Helden genau anlagen. Er war fast in kürzerer Zeit gewaffnet als die Helden Homers, die sich zur eiligen Schlacht rüsten.

Er besah sich im Spiegel, und der alte Geist des Schauspieles kam über ihn. Er rückte selbst die Stücke, die ihn zierten, zurechte, die Frauen putzten rechts und links und ließen ihn nicht zu sich kommen. Er saß im Wagen und stand auf dem grünen Teppiche zum größten Erstaunen und zur großen Freude der übrigen Akteurs, ehe er sich besinnen konnte.

Mit Schaudern sah er durch die Lücke des Vorhanges in die gedrängte Versammlung. Die Symphonie des Stückes ging an, und sein Geist, der aus einer Leidenschaft in die andere geworfen war, faßte sich zusammen und rufte die ersten Verse seiner Rolle aus dem Gedächtnisse hervor. Er maß etlichemal mit schnellen Heldenschritten den grünen Teppich, beredete noch eins und das andere, ermahnte den Souffleur und die Handlanger, die bei den Verwandlungen angestellt waren, und in weniger als einer Minute schien er sich mit seinem Zustande so bekannt, als wenn er jahrelang dabei hergekommen sei.

Wie einer, der mühsam über den gefrornen, hockrichten Boden eilt und unsicher auf seinen ledernen Sohlen das glatte Eis betritt, gar bald, wenn er die Schrittschuhe nur untergebunden hat, von ihnen hinweggeführet wird und mit leichtem Fluge das Ufer verläßt, seines vorigen Schrittes und Zustandes auf dem glatten Elemente vergißt und vor den ungeschickten, herbeigelaufenen Neugierigen auf den Dämmen in ehrenvoller Schönheit dahinschwebet; oder wie Merkur, sobald er die goldnen Flügel umgebunden, über Meer und Erde sich leicht nach dem Willen der Götter bewegt, so schritt auch unser Held in seinen Halbstiefeln berauscht und sorgenlos über das Theater hin, als das letzte Presto der Symphonie ihn nötigte, sich hinter die Kulissen zu verbergen. Der Vorhang rauschte hinauf, und man erlaube mir, ihn hier fallen zu lassen.

 
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Viertes Buch

Erstes Kapitel

Kennst du das Land, wo die Zitronen blühn,

Im grünen Laub die Goldorangen glühn,

Ein sanfter Wind vom blauen Himmel weht,

Die Myrte still und froh der Lorbeer steht,

Kennst du es wohl?

Dahin! Dahin

Möcht ich mit dir, o mein Gebieter, ziehn!

Kennst du das Haus, auf Säulen ruht sein Dach,

Es glänzt der Saal, es schimmert das Gemach,

Und Marmorbilder stehn und sehn mich an:

Was hat man dir, du armes Kind, getan?

Kennst du es wohl?

Dahin! Dahin

Möcht ich mit dir, o mein Gebieter, ziehn!

Kennst du den Berg und seinen Wolkensteg?

Das Maultier sucht im Nebel seinen Weg,

In Höhlen wohnt des Drachen alte Brut,

Es stürzt der Fels und über ihn die Flut:

Kennst du ihn wohl?

Dahin! Dahin

Geht unser Weg; Gebieter, laß uns ziehn!

Unter denen Liedchen, die Mignon sang, hatte sich Wilhelm eins gemerkt, dessen Melodie und Ausdruck ihm besonders wohl gefiel, ob er gleich die Worte nicht alle verstehen konnte. Er verlangte es von ihm, ließ sich es erklären, merkte es sich und übersetzte es in die deutsche Sprache, oder vielmehr, er ahmte es nach, wie wir es unsern Lesern mitteilen. Zwar die kindische Unschuld des Ausdruckes ging mit der gebrochenen Sprache verloren, und der Reiz in der Melodie konnte mit nichts verglichen werden. Sie fing jeden Vers mit Feier, mit einer Pracht an, als wenn sie auf etwas Merkwürdiges aufmerksam machen, etwas Wichtiges erzählen wollte. Bei der dritten und vierten Zeile wurde der Gesang dumpfer und düsterer. Das „Kennst du es wohl?“ druckte sie geheimnisvoll und bedenklich aus, in dem „Dahin! Dahin!“ lag eine unwiderstehliche Sehnsucht, und das „Gebieter, laß uns ziehn!“ wußte sie, so oft sie es sang, zu modifizieren, daß es bald bittend, dringend, treibend, hastig und vielversprechend war.

Einsmal, als sie es wiederholt hatte, hielt sie nach geendigtem Liede einen Augenblick inne, sah ihren Herrn scharf an und fragte: „Kennst du das Land?“ – „Es muß wohl Italien gemeint sein“, versetzte Wilhelm; „woher hast du das Liedchen?“ – „Italien !“ versetzte Mignon; „gehst du nach Italien, so nimm mich mit, es friert mich hier.“ – „bist du in Italien gewesen, liebe Kleine?“ sagte Wilhelm. Das Kind war still und nichts weiter aus ihm zu bringen.

Doch ich weiß nicht, warum wir uns mit der kleinen Kreatur abgeben zu einer Zeit, da wir unsern Helden selbst in einer kritischen Situation verlassen haben.

Es wird kaum einer unserer Leser sein, der nicht zu erfahren wünschte, wie es Wilhelmen auf dem Theater ergangen, und doch fast keiner, der sich es nicht besser vorstellte, als wir es erzählen könnten. Auch finden wir ihn erst auf seinem Zimmer wieder nachdenklich, ausgekleidet sitzen.

Er sah vor sich nieder, war in tiefen Betrachtungen, und wenn er die Halbstiefel nicht erblickt hätte, die man ihm auszuschnüren vergessen, so hätte er sein ganzes Abenteuer für einen Traum gehalten. Noch klang ihm der laute Beifall, das betäubende Klatschen der Menge in die Ohren, noch fühlte er die Bewegung von Loge zu Loge sich bei einer schönen und starken Stelle verbreiten, und er empfand bei diesem ersten seltsamen Versuche, was er sich als das Glück des Meisters ehmals gedacht hatte. Er genoß ganz den köstlichen Eindruck, der Mittelpunkt zu sein, worauf eine Masse versammelter Menschen ihre Aufmerksamkeit richtet, und wenn wir gleichnisweise reden dürfen, sich als der Schlußstein eines großen Gewölbes zu fühlen, wohin tausend Steine, ohne ihn zu belästigen, drucken und der sie ohne Arbeit und Gewalt bloß durch seine Lage zusammenhält, da sie sonst schnell in einen verworrenen Schutt zusammenstürzen würden. Seine Einbildungskraft ließ sie auch nach vollendetem Stück nicht auseinander, er hielt sie noch wenigstens dem Geiste nach zusammen und war überzeugt, daß jeder einzelne zu Hause mit den Seinigen und in den Seinigen die guten, edlen Taten und lebendigen Eindrücke des Stückes nachempfinden würde. Er hatte nicht verlangt, zu Abend zu essen, Mignonen zum ersten Male unbemerkt weggeschickt und dachte nicht eher zu Bette zu gehen, als sein heruntergebranntes Licht ihn dazu nötigte. Den andern Morgen, nachdem er sich in einem langen Schlafe erholt hatte, stieg er auf, wie aus einem Rausche erwachend. Der Überrest der Schminke auf seinen Backen und die in wundersamen Locken noch durcheinanderfallenden Haare machten ihm seinen gestrigen Zustand wieder lebendig und bei nüchternem Mute einen seltsamen Eindruck auf ihn.

Es währte nicht lange, so trat Herr Melina herein, dessen Besuche er bisher, und besonders so früh, nicht gewohnt war. „Meine Frau läßt Sie grüßen“, sagte er, „und wenn ich eifersüchtig werden könnte, so müßte ich es diesmal sein, denn sie gebärdet sich wie eine Närrin über Sie und Ihr gestriges Spiel.“ – „Ich danke ihr“, sagte Wilhelm, wenn sie mit mir zufrieden sein will. So viel kann ich versichern, ich weiß nicht, wie ich gespielt habe, und Sie werden mir das gerne glauben. Überhaupt dünkt mich, hätten alle ihre Sache recht gut gemacht, und ich bleibe ihnen dafür vielmals verbunden.“ – „Nun, nun! mehr oder weniger!“ sagte Herr Melina.

Sie sprachen weiter über das Stück, die Aufführung und den Effekt verschiedener Szenen. Endlich sagte Melina: „Erlauben Sie, daß ich als Freund etwas erinnre, denn ich fürchte, Sie vergessen eine sehr notwendige Sache. Der Beifall des Publikums ist ganz hübsch und gut; nur wünschte ich, Sie nutzten ihn auch, wie Sie ihn verdienen. Die gestrige Einnahme war sehr ansehnlich, und die Prinzipalin muß einen schönen Taler Geld in der Kasse haben: Versäumen Sie diesen Zeitpunkt nicht, wieder zu dem Ihrigen zu kommen; denn ich habe Ihnen nachgerechnet, wieviel Sie ihr teils geborgt, teils zur Aufführung des Stückes verwendet haben. In den zwei letzten Tagen ließen Sie noch vieles geschwind bestellen und machen, davon Ihnen die Zettel auch auf den Hals kommen. Soviel ich weiß, haben Sie den Wirt bisher auch nicht bezahlt, der Ihnen eine ziemliche Rechnung machen wird, und ich wünschte nicht, daß Sie in Verlegenheit gerieten.“

Mitten auf dem angenehmen Pfade des geistigen Genusses war es unserm Freunde höchst verdrießlich, auf einmal diese Kluft häuslicher Kümmerlichkeit vor sich eröffnet zu sehen. „Ich will mein Geld durchzählen“, sagte er, „wenn die Zettel kommen, sie bezahlen und gelegentlich mit der Prinzipalin reden.“ – „Mein Freund“, rief Herr Melina, „bedenken Sie, was Sie tun, und nehmen Sie dieses Augenblickes wahr! Jetzo gleich auf der Stelle muß es geschehen, da Madame de Retti das eingenommene Geld noch nicht ausgegeben hat oder keine Ausflüchte findet, es zu verleugnen; ich stehe Ihnen nicht bis gegen Mittag dafür.“ – „Sie wird so schlecht nicht denken“, versetzte Wilhelm, „und mir das Meinige vorenthalten. Sie versprach noch gestern in dem kritischen Augenblicke, mich auf das gewisseste zu bezahlen, und wir tun ihr wohl Unrecht, denn vielleicht ist sie eben beschäftigt, die Summe, die sie mir schuldig ist, zusammenzuzählen und sich von der Verbindlichkeit gegen mich zu befreien.“ – „Sie müssen sie schlecht kennen“, sagte Herr Melina, „und schlecht auf ihr bisheriges Betragen achtgegeben haben. Wenn es ihr Ernst gewesen wäre, so hätte sie lange ihre Schuldigkeit tun und Sie nach und nach bezahlen können. Auf diesem Wege richten Sie nichts mit ihr aus, und ich muß drauf bestehen, daß Sie Ernst brauchen. Wissen Sie denn, was Sie schon angewendet haben, und haben Sie einen Überschlag gemacht, was Ihnen bevorsteht?“ – „Ich denke“, sagte Wilhelm, „alles mit sechshundert Talern zu endigen, und lassen Sie’s auch mit den siebzigen, die ich Ihnen geliehen, siebenhundert machen. Ich rechne fünfzig Taler auf die Rechnung des Wirtes, und es bleibt mir so viel übrig, daß ich auf keine Weise in Verlegenheit kommen kann.“ – „Sie scheinen mir Ihre Kasse nicht sehr ordentlich zu führen“, versetzte der andre. „Ich wette, Sie haben schon achthundert Taler ausgegeben, seitdem Sie hier sind. Sehen Sie nach, ich bitte Sie, und verzeihen, daß ich so dringend bin.“

Wilhelm ging mit einigem Widerwillen nach seinem Koffer und war höchst erstaunt, als er seines Freundes Rechnung eintreffen und seine Pakete weit mehr, als er dachte, geschmolzen fand. „Sie haben recht“, sagte er, „indessen ist mir doch nicht bange.“ – „Es schickt sich nicht für mich“, versetzte jener, „zu fragen, wie viel Ihnen gegenwärtig übrigbleibt, nur so viel muß ich Ihnen sagen, bereiten Sie sich auf hundert Taler Handwerkszettel und auf eine Rechnung des Wirtes von wenigstens zweihundert Talern.“ – „Es ist unmöglich!“ rief Wilhelm aus. „Verzeihen Sie“, versetzte der andre, „meiner Neugierde, sie hatte eine löbliche Absicht; ich habe mir gestern das Buch des Wirtes zeigen lassen und finde wirklich, daß sie so hoch angestiegen ist. Ihre Gastfreiheit und Freigebigkeit konnte Ihnen nicht wohlfeiler zu stehen kommen.“ Der Überschlag war bald gemacht, daß nach dieser Rechnung Wilhelmen von seiner Barschaft kaum hundert Taler übrigblieben. Er war bestürzt, und Melina drang schärfer auf ihn. „Sie sehen, daß da gar nicht zu scherzen ist“, sagte er. „Wir haben die Prinzipalin in Händen, denn alles, was sie hat und besitzt, ist Ihnen als Pfand verschrieben, und wir können uns dessen sogleich bemächtigen. Ehe sie sich zugrunde richten und aus der Stadt hier vertreiben läßt, tut sie gewiß das möglichste, und Sie kommen zu dem Ihrigen. Bestehen Sie drauf, daß Ihnen Ihr erstes Kapital sogleich und das übrige nach und nach von der Einnahme bezahlt werde, daß sie die noch ausstehende Handwerksleute gleichfalls übernimmt, und so retten Sie noch, was möglich ist, denn ganz ungerupft kommen Sie doch nicht davon. Ich bitte Sie, ziehen Sie sich an und gehen zu ihr hinüber. Wenn ich es nicht mit ihr zu verderben fürchtete und es zudringlich ließe, so wollte ich Ihnen gern diesen fatalen Gang ersparen.“

Ein junger Prinz, der eben auf die Jagd reiten will, kann einem remonstrierenden Finanzminister nicht mit größerm Widerwillen gestiefelt und gespornt Audienz geben, als Wilhelm in dem Augenblicke dem Verlangen seines Freundes folgte. Wie anders dachte er diesen Morgen zuzubringen! Er hoffte sich mit seinen Freunden und Freundinnen zu letzen, mit ihnen das gestrige Abenteuer, das Vergnügen, den Beifall nachzukosten und zu genießen.

 
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Zweites Kapitel

In dem Augenblicke, als Wilhelm angekleidet war und zu der Prinzipalin hinübergehen wollte, erhielt er ein Billett von seinem Freunde, dem Herrn von C., der ihn mit großer Lebhaftigkeit des Enthusiasmus und der Überraschung wegen des gestrigen Stückes und seines unvermuteten Spieles pries und ihn zugleich auf den Abend einlud, er wolle ihn zu ein paar vortrefflichen Frauenzimmern führen, die, um das Trauerspiel zu sehen, von ihren Gütern in die Stadt gekommen seien und sehr wünschten, seine nähere Bekanntschaft zu machen. Er antwortete mündlich, daß er aufwarten wolle, und ging nach dem Zimmer der Madame de Retti.

Vor der Türe hörte er, daß sie in einem heftigen Streite befangen war, und er erkannte gar bald die Stimme des Herrn Bendel, der sich gegen sie gar unartig bezeigte. Sie hörte nicht, als Wilhelm anpochte, und da er die Türe eröffnete, konnte er noch ganz deutlich die Worte des rohen Menschen verstehen, der ausrief: „Genug, Sie hätten sich nicht so zu eilen brauchen, Sie konnten ja ein anderes Stück geben, und morgen würde ich schon selbst gespielt haben.“ Die Ankunft des Dritten unterbrach seine Heftigkeit, Wilhelm grüßte ihn und erfreute sich, ihn wohl zu sehen, dagegen der Grobian nur einige unverständliche Worte brummend versetzte, ein Kästchen, das auf dem Tische stand, untern Arm nahm, hinausging und die Türe hinter sich zuschlug.

„Ich wünschte“, sagte Madame de Retti, „daß Sie diese Rolle von Anfange gleich übernommen und Monsieur Bendel sie gar nicht memorieret hätte; jetzt ist er verdrießlich, daß Sie sie vor ihm gespielt haben.“ – „Er wird Zeit genug finden, sie nach mir zu spielen“, versetzte Wilhelm. „Ich habe schon zu lange verweilt, meine Geschäfte nötigen mich weiterzugehen, ich bin gekommen, es Ihnen zu eröffnen und zu bitten, daß Sie mir das Meinige, womit ich Ihnen bisher gerne ausgeholfen, wieder ersetzen, besonders da die gestrige Einnahme beinahe dazu hinreichen wird.“ – „Ich weiß selbst noch nicht“, sagte die Prinzipalin, „wieviel eingekommen ist, ich habe soeben Herrn Bendel die Kasse gegeben, um das Geld zu sortieren und zu zählen. Gegen Abend werde ich Ihnen davon Rechenschaft geben können.“ – „Madame“, versetzte Wilhelm, „ich wünschte, daß Sie die Kasse wieder holen ließen; ich erbiete mich, das Geschäfte selbst zu übernehmen, in einer Stunde soll alles gemacht sein.“ – „Sie werden gegenwärtig nicht in mich dringen“, versetzte die Prinzipalin, „ich bin unserm Wirte eine ansehnliche Rechnung schuldig, und wenn ich noch einigen Kredit von ihm hoffen will, so muß ich diese sogleich abzahlen.“ – „bedenken Sie, Madame“, versetzte Wilhelm, „daß meine Schuld nicht minder dringend ist, denn ich kann mich nicht einen Tag länger hier aufhalten.“ – „Ich mute Ihnen das auf keine Weise zu“, sagte Madame, „lassen Sie mir Ihre Adresse, und ich verspreche, es mit nächstem nachzuschicken.“ – „Ich kann hierin nicht nachgeben“, fiel er ein, „überlegen Sie, daß mir die ganze Garderobe, Dekorationen und alles, was nur zum Theater gehört, als Pfand verschrieben ist, und es sollte mir leid sein, wenn Sie mich nötigten, mich meines Rechts zu bedienen.“ – „Wären Sie fähig“, rief Madame de Retti mit großer Heftigkeit aus, indem sie eine Rolle Papier, die sie bisher in der Hand geführet, auf den Tisch warf und die Stube auf und ab ging, „wären Sie fähig, so hart und ungerecht gegen mich zu sein?“ – „Ich sehe nichts Unbilliges“, versetzte Wilhelm, „wenn ich zu dem Meinigen zu gelangen suche.“ – „Nein“, rief sie aus, indem sie mit der Hand vor die Stirne schlug, „nein, so etwas dachte ich nicht zu erleben! Wie sehr habe ich Sie bisher verkannt! wie sehr in Ihnen geirrt! Ich vergebe es Ihnen nicht, solang ich lebe!“ Sie fuhr noch mit lebhaftem Verdrusse fort, sich über sein Betragen zu beschweren und ihn fühlen zu lassen, wie sehr beleidigt sie durch seine Forderung sei. Wilhelm stand ganz erstaunt, denn seiner Empfindung nach war er eigentlich der beleidigte Teil; er hatte sich zu beschweren, er hatte zu verzeihen! Und er kam sich selbst ganz wunderbar vor, indem er Madame zu besänftigen suchte und ihr versicherte, daß es seine Absicht gar nicht gewesen sei, sie zu erzürnen und ihr Verdruß zu machen. „Damit Sie sehen“, versetzte sie, „daß es mir Ernst ist, so will ich gleich mit einer abschläglichen Zahlung den Anfang machen und Ihnen fünfundzwanzig Taler von der gestrigen Einnahme geben und ebensoviel von einer jeden folgenden, bis Kapital und Interessen abgetragen sind. Denn glauben Sie nicht“, versetzte sie mit einem stolzen Tone, „daß ich gern jemanden etwas schuldig bleibe!“ Unser guter Freund war betäubt und beschämt; auf seinen Vorteil genau zu sein, hatte er nie gelernt, er vergaß also den guten Rat des Herrn Melina, den leeren Raum seiner eigenen Kasse und ließ es bei ihrem Anerbieten bewenden, ohne es abzuschlagen oder anzunehmen. Und Madame de Retti war so klug, ihm, als er auf sein Zimmer ging, sogleich die versprochene Abschlagssumme nachzuschicken.

Herr Melina, dem Wilhelm von dem Ausgange dieser Sache, obgleich wider Willen, Nachricht gab, war höchst mißvergnügt über die Gefälligkeit, über die Nachlässigkeit und besonders darüber, daß, wenn er ja eine abschlägliche Zahlung hätte annehmen wollen, er sich nicht größere Summen ausgemacht und die noch bevorstehende Handwerkszettel an sie gewiesen habe. Über die Unzufriedenheit ihres Gemahls kam Madame Melina ganz aus der Fassung und konnte alles Angenehme, worauf sie sich vorbereitet hatte, ihrem theatralischen Freunde kaum zum hundertsten Teile sagen, und ihre schönsten Gedanken mußten ökonomischen Gesinnungen Platz machen. Herr Melina sann hin und her, wie er der Sache eine andere Wendung geben könnte; alleine Wilhelm wollte sich nicht entschließen, nach einmal mit der aufgebrachten Prinzipalin anzubinden.

Nach Tische kamen, wie man vorausgesehen hatte, einige Handwerksleute, die bezahlt sein wollten. Man schickte sie nach Herrn Melinas Rat an die Prinzipalin, die sie aber mit Protest wieder zurückgehen ließ, versicherte, sie habe von dem allem nichts bestellt, sie möchten sich an den Herrn halten, der es angeordnet habe. So bedeutet kamen sie wieder herüber, und Wilhelm bat nur, daß sie sich bis den andern Morgen gedulden möchten, wo er alles in Ordnung bringen wollte.

Abends ging er zu seinem Freunde, der ihn in eine sehr angenehme Gesellschaft brachte. Jedermann und besonders ein paar Frauenzimmer von vortrefflichen Eigenschaften bemühten sich um ihn und konnten nicht genug loben, wie glücklich er sie gestern und auf eine große Zeit gemacht habe. Man sprach viel von dem Stücke, ging es einzeln durch und bezeugte sich auch mit der Übereinstimmung der Dekoration, der Kleider zufrieden; ja sogar des grünen Teppichs ward nicht vergessen, daß Wilhelm vollkommen vergnügt hätte sein können, wenn ihn nicht alle diese gepriesene Gegenstände an die Verlegenheit erinnert hätten, in der er sich ihrentwegen schon heute befunden und noch mehr sich morgen befinden werde. Und so wurde der ganze schöne Genuß, der ihm bereitet war, durch die bösen Geister der Sorgen ihm von den Lippen weggenommen.

 
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Drittes Kapitel

Indessen hatte das Publikum mit großem Verlangen den folgenden Tag erwartet, wo die Gesellschaft versprach, das Trauerspiel zu wiederholen. Und auch diesmal hätte die Bude um vieles größer sein müssen, wenn sie die Menge der Zudringenden hätte fassen wollen. Denn es war in der Stadt kein Zweifel, daß der neue Schauspieler in der Rolle des Darius sich wieder zeigen würde, ob es gleich in Wilhelms Herzen ausgemacht blieb, daß er nie das Theater wieder betreten wolle, und Monsieur Bendel sich das Heldenkleid schon erweitern und auf seinen Leib, wie es erst war, hatte richten lassen. Die Prinzipalin war so klug und ließ die Namen der spielenden Personen nicht, wie sonst gewöhnlich, auf den Zettel setzen, wodurch die Neugierde noch mehr erregt und jedermann in seinen Gedanken bestärkt wurde.

Für Wilhelmen war es ein verdrießlicher Tag. Er mußte sich von Madame Melina vorklagen lassen, wie übel das Stück heute gehen werde, und von ihrem Manne besorgliche Vorwürfe hören, daß er den guten Rat nicht befolgt und die Prinzipalin wegen Wiederbezahlung des Geldes nicht schärfer gefaßt hätte. Er wurde darüber so ärgerlich, daß er wünschte, niemalen den Ort betreten zu haben. Er schalt sich selbst, daß er das Geld nicht heute früh von der Prinzipalin auf einmal zu erhalten gesucht, da er denn seinem Herzen folgen und noch diesen Abend hätte abreisen können. In das Schauspiel zu gehen, konnte er sich nicht entschließen, denn er fühlte sich schon im voraus die Eingeweide umwenden, wenn das leidige Ungeheuer seine Verse herstolpern und durch Mißtöne und Mißgebärden das Publikum aus der Harmonie der Empfindung herausnötigen würde. Er blieb deswegen auch des Abends, da sich alles rüstete und wegging, still auf seinem Zimmer, um mit dem Wirte abzurechnen und ihn zu bezahlen.

Kaum war in dem Hause alles stille geworden, so trat Mignon mit einem angezündeten Lichte herein, worüber sich Wilhelm verwunderte, weil es noch Tag war. Er hatte nicht Zeit, um die Ursache zu fragen, denn das Kind machte den Fensterladen zu, wodurch es in dem Zimmer ganz dunkel wurde, und ging schnell wieder hinaus. Nach einer kurzen Zeit tat sich die Türe wieder auf, und der Kleine trat herein. Er trug einen Teppich unter dem Arme, den er auf der Erde ausbreitete. Wilhelm ließ ihn gewähren. Er brachte darauf vier Lichter, stellte sie an jede Ecke. Ein Körbchen mit Eiern, das er holte, machte Wilhelmen die Absicht deutlicher. Künstlich abgemessen schritt sie nunmehr den Teppich hin und her und legte in gewissem Maße die Eier voneinander, dann rief sie einen Menschen herein, der bei der Truppe war und die Violine spielte. Er trat mit seinem Instrumente in die Ecke, sie verband sich die Augen, gab das Zeichen und fing zugleich mit der Musik wie ein aufgezognes Uhrwerk an, indem sie Takt und Melodie mit dem Schlage der Kastagnette begleitete. Behende, leicht, rasch, präzis führte sie den Tanz. Sie trat so scharf und so sicher zwischen die Eier hinein, bei den Eiern nieder, daß man in dem Augenblicke dachte, sie müsse eines zertreten oder bei schnellen Wendungen fortschleudern. Mitnichten! Sie berührte keines, ob sie gleich mit allen Arten von Schritten, engen und weiten, ja sogar mit Sprüngen und zuletzt halb kniend sich durch die Reihen durchwand.

Unaufhaltsam wie ein Uhrwerk lief sie ihren Weg. Und die sonderbare Musik gab dem immer wieder von vorne anfangenden und losrauschenden Tanze bei jeder Wiederholung einen neuen Stoß. Wilhelm war von dem sonderbaren Schauspiele ganz hingerissen, vergaß seiner Sorgen, er folgte jede Bewegung der geliebten Kreatur und war verwundert, wie in diesem Tanze sich ihr Charakter vorzüglich entwickelte. Streng, scharf, trocken, heftig und in sanften Stellungen mehr feierlich als angenehm. Er empfand, was er alles für Mignon gefühlt, in diesem Augenblicke auf einmal. Er sehnte sich, dieses verlassene Wesen an Kindes Statt seinem Herzen einzuverleiben, es in seine Arme zu nehmen und mit der Liebe eines Vaters Freude des Lebens in ihm zu erwecken.

Der Tanz ging zu Ende, sie rollte die Eier sachte mit den Füßen zusammen auf ein Häufchen, ließ keines zurück, beschädigte keines und stellte sich dazu, indem sie die Binde von den Augen nahm und ihr Kunststück mit einem Bücklinge endigte.

Wilhelm dankte ihr, daß sie ihm den Tanz, den er so lange zu sehen gewünscht, so artig und unvermutet vorgetragen, streichelte sie und bedaurte, daß es ihr sauer und warm geworden sei, versprach ihr ein neues Kleidchen, worauf sie heftig antwortete: „Deine Farbe!“ und da er es ihr versprach, nahm sie die Eier zusammen, nachher ihren Teppich, fragte, ob er noch etwas zu befehlen hätte, und sagte ihm, sie wolle nach dem Schauspielhause gehen. Er erfuhr von dem Musiko, daß sie sich seit einiger Zeit viele Mühe gegeben, ihm den Tanz vorzusingen, bis er ihn habe spielen können, auch habe sie ihm für seine Bemühung etwas Geld angeboten, das er aber nicht nehmen mögen.

 
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Viertes Kapitel

Der Wirt, den unser Freund um diese Zeit bestellt hatte, trat kurz darauf herein und überreichte das verlangte Konto. Wäre Wilhelm nicht durch Herrn Melina vorbereitet gewesen, so würde ihn die Summe sehr erschröckt haben; denn er fand wirklich, daß er über zweihundert Taler schuldig sei. Gegen die einzelnen Posten war freilich nichts zu erinnern, denn er befand sie beim Durchgehen alle richtig, und der Wirt versicherte, daß er ihn auf das billigste gehalten habe. Er bezahlte die Rechnung bis auf einen kleinen Abzug, wodurch seine Kasse sehr zusammenschrumpfte. Desto ausgebreiteter war die Dankbarkeit des Wirtes, der sich eben empfahl, als Mignon zur Türe hereinsprang und rief: „Komm, Herr! Komm! sie bringen sich um!“ Das Kind nahm ihn bei der Hand und zog ihn mit sich fort. Er fragte, was es bedeute, allein sie war so außer Atem und schien so stark gelaufen zu sein, daß sie nichts hervorbringen konnte. Sie zog ihn auf den Vorsaal an das Fenster und deutete, indem sie: „Dort! dort!“ rief, auf die Straße, wo man nach dem Schauspielhause zu ging. Es schien ihm eine Bewegung in der Gasse zu sein, die er, weil es schon dämmerig geworden war, nicht deutlich erkennen konnte. Kurz darauf näherte sich ein ganzer Trupp in vollem Laufe und mit großem Geschreie dem Gasthofe. Wilhelm erkannte bald, daß eine Anzahl mutwilliger und ungezogener Knaben einer Mannsperson nachliefen, die in der lächerlichsten Gestalt vor ihnen zu fliehen schien und nach dem großen Torwege zu eilte. In einem Blicke erkannte Wilhelm, daß dieser Gejagte Monsieur Bendel selbst sei. –

Wie erstaunte und erschrak unser Freund! Doch er hatte keine Zeit, sich zu erholen, der andere stürzte die Treppe herauf und rannte ihm atemlos entgegen. „Um Gottes willen, was gibt es?“ rief Wilhelm in größtem Ernst und Bestürzung und vergaß, über die seltsame Gestalt zu lachen, die vor ihm stand. Denn das große und breite Ungeheuer, das durch seine Heldenkleider, in die es sich nicht schicken konnte, noch breiter und unförmlicher geworden war, hatte einen kurzen schwarzen Mantel umgeworfen, den Crispin zu tragen pflegte, und den er in der Angst ergriff, um seine glänzende Gestalt einigermaßen zu verdecken. Der Helm, dessen Bänder sich verknüpft hatten, war im Laufen zurückgefallen und schlug ihm um die Schultern. Unterwärts sah man die schönen Stiefel und das Schoßkleid hervorschimmern, und sein dummes, großes Gesicht war von Zorn, Furcht und Unsinn in albernen Verzuckungen bewegt und vom Blute und Schmutz besudelt. „Um Gottes willen, was gibt es?“ rief Wilhelm aus. „Sie sollen mir es teuer bezahlen!“ stotterte der andere. Sein Gesicht glühte, die Augen stunden ihm vor dem Kopfe, seine Brust war voll Atem, und es schien, als ob er bersten wollte. Die Knaben waren die Treppe mit heraufgelaufen, drängten sich, schrien, riefen ihn als den heiligen Niklas, als Rübezahl an und wurden mit großer Not von dem Wirte wieder zum Tore hinausgebracht.

Der schröckliche Zustand, in den Wilhelm den wüsten Menschen versetzt sah, erregte sein ganzes Mitleiden. Er bat ihn, sich zu beruhigen, alleine jener lief wie rasend auf dem Saale herum, zog den Mantel fester um sich her und brüllte so, daß jeder Dritte in ein lautes Gelächter ausgebrochen wäre. Mit konvulsivischen Gebärden erholte er sich nach und nach und ging zu einer ungestümen und rasenden Heftigkeit über, schimpfte auf Wilhelmen, drohte ihm, und da dieser alle mögliche Mäßigkeit und Vernunft bewies, schien es, als ob der Tobende gar über ihn herfallen wollte. Wilhelm war nicht faul, sprang nach einer Ecke und faßte einen tüchtigen Stock, den er daselbst von ungefähr ersah, und hielt sich, indem er ihn einigemal rasch durch die Luft schwang, den Barbaren vom Leibe. Dieser, der weiter nichts erfassen konnte, griff in vollem Grimm nach dem Schwerte, das an seinen Seiten herumschlug und dessen Klinge glücklicherweise nur von versilbertem Holze war; sie sprang gar bald an der Keule, die unser Held vorhielt, in Stücken, und die Streiche, die Wilhelm führte, waren so rasch und ernstlich, daß der Wüterich genötiget war, sich zurückezuziehen; da er an einem Spane des Bodens hängenblieb, stürzte er eben der Länge nach hin, in dem Augenblicke, als der Wirt heraussprang, sie auseinanderzubringen und seinem jungen, freundlichen und großmütigen Gaste vor allen Dingen beizustehen. ln demselben Momente besetzte ein Unteroffizier mit einigen Mann Wache die Treppe, und Wilhelm, da er das Getümmel auf der Straße sich immer vermehren hörte, sprang an das Fenster und sah zu seinem großen Erstaunen das Kutschtor gleichfalls besetzt und die königliche Familie, deren Kleider durch die Dämmerung blitzten, unter Bedeckung einer Anzahl Soldaten, die das Volk auseinandertrennten, anlangen. Er lief ihnen entgegen, unten an der Treppe fiel ihm Madame Melina ohnmächtig in die Arme. Man brachte sie hinauf, und wer beschriebe das Gedränge, die Gestalten, den Zustand, die Gebärden, die Ausrufungen, und über alles, wer könnte mit Worten das Entsetzen und die Verwirrung unseres Freundes ausdrücken, dem dieser ganze Vorfall ein unbegreifliches Rätsel war, nach dessen Auflösung er vergebens fragte, denn jeder einzelne Ausruf, jedes abgebrochene Wort machte ihn nur immer neugieriger und ungewisser.

 
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Fünftes Kapitel

„Wenn der Kommandant nicht wehrt, so reißen sie die Bude ein, und wir sind ganz und gar zugrunde gerichtet!“ rief die Prinzipalin. „Mein lieber Bendel, mein Bester! was habe ich für Sie ausgestanden!“ – –

Melina kam und forderte Wilhelmen den Schlüssel zu seiner Stube heimlich ab, der sich um die gute Königin bisher beschäftigt hatte, die nach und nach sich einigermaßen erholte. Ihr Mann kam bald wieder, gab Wilhelmen den Schlüssel zurück und ward von diesem inständig um eine ordentliche Erzählung, um eine Erklärung dieser Verworrenheit gebeten. Melina zog ihn ans Fenster und versetzte: „Das Haus schien noch voller als das erstemal. Die Begierde und das Verlangen, das Stück zu sehen und wieder zu sehen, war allgemein, jedermann vermutete, daß Sie wieder spielen würden. Als der untergeschobene Darius auftrat, entstand ein allgemeines Gemurmel und Gelispel. Glücklicherweise hatte er im ersten Akte nicht so gar viel und wenig schwere Stellen zu sagen. Jeder tat sein möglichstes. Madame de Retti spielte vortrefflich und wurde mit allgemeinem Beifalle und Händeklatschen belohnt. In der letzten Szene des zweiten Aktes, die das vorige Mal so großen Eindruck gemacht hatte, ging es desto schlimmer. Auf ihm, auf der dringenden und doch bescheidenen Zärtlichkeit des Helden ruht das ganze Glück dieser Szene. Mir wurde selbst bange für ihn. Kein gefühltes Wort ging aus seinem Munde. Im Parterre fingen einige an zu pochen, das Gedächtnis verließ ihn, er stockte mitten in einer wichtigen Stelle, und wenn ihm der Souffleur wieder einhalf, so eilte er mit denen Versen, die ihm wieder ins Gedächtnis fielen, ohne Sinn und Verstand. Der Gegensatz von neulich war zu auffallend; noch war die Art, wie Sie die Szene behandelt, der Eindruck in allen Gemütern, das Pochen wurde lauter, und glücklicherweise, daß der Akt endigte und der Vorhang fiel. Bendel lief wie wütend von dem Theater und schwur, die verfluchten Bretter nie wieder zu betreten. Madame de Retti tat alles, um ihn zu besänftigen, und ließ indessen den dritten Akt anfangen. Meine Frau, von Furcht ergriffen, trat auf und sprach, ohne es selbst zu wissen, die erste Szene besser als jemals. Ihre Schüchternheit machte sie dem Publiko noch angenehmer, und sie erhielt bei mehreren Stellen einen lauten Beifall. Der dritte Akt, in welchem der unartige Mensch nicht erschien, hub sich, die Szene, wo jeder dem Könige Glück wünschet, ging wohl vonstatten, und das Publikum schien wieder besänftiget. Indessen war auch Monsieur Bendel wieder beruhigt worden. Die Verschwornen und die Prinzessin taten zu Anfange des vierten Aktes alles mögliche, aber leider war diese Zeit über mit dem Darius keine Verwandlung vorgegangen. Die Zuschauer erblickten ihn kaum, als ihr Mutwillen schon sich wieder zu regen anfing. Er sollte die wüste Schwelgerei der Tafel pathetisch beschreiben. Unglücklicherweise sind einige Verse in dieser Stelle vor das Unvermögen seiner Zunge und die verwechselten Buchstaben des L und R, die uns schon in den Proben äußerst lächerlich auffielen. Wie von seinem bösen Genius mit Fäusten geschlagen, hielt er immer bei solchen Stellen ein und sagte, indem er den Fehler zu vermeiden glaubte, ihn dem Publiko erst als mit Vorsatz ins Angesicht.

Es entstand ein lautes Gelächter. Er erhub seine Stimme nur mehr, stotterte bald, verfing sich in einigen Quiproquos. Das Pochen, Pfeifen, Zischen, Klatschen und Bravorufen ward allgemein. Gift und Galle, die in ihm kochten, brachen aus, er vergaß, wo und wer er war, trat bis ganz hervor an die Lampen, rief und schimpfte auf ein solches Betragen und forderte einen jeden heraus, der sich gegen ihn so impertinent bewies. Kaum hatte er ausgeredet, als eine Pomeranze geflogen kam und ihn mit solcher Gewalt auf die Brust traf, daß er einige Schritte zurückwich; gleich darauf noch eine, und als er sich bückte, die aufzuheben, ein Apfel, der ihm die Nase quetschte, daß ihm ein Strom von Blut dem Gesichte herunterlief. Außer sich vor Wut, schleuderte er den einen Apfel, den er aufgerafft hatte, in das Parterre zurück. Er mochte jemand hart getroffen haben, denn es entstund gleich darauf ein allgemeiner Aufruhr. Ein Knabe, der Semmeln und Pastetchen zu verkaufen herbeitrug, wurde in dem Augenblicke rein ausgeplündert und der verhaßte Gegenstand damit bedeckt; sogar kam eine alte Dose geflogen, die an dem Helme sich voneinander teilte und ihm Augen und Mund mit stiebendem Tobake erfüllte. Er stampfte, schäumte, nieste, sprudelte, alle andern Akteurs waren hinter die Kulissen geflohen, er allein reizte durch den Trotz seiner Gegenwart den Zorn und das Gelächter der Menge und hätte die Gefahr, die ihm drohte, beinahe zu spät gesehen; denn es brach eine große Anzahl mit Stecken bewaffneter Zuschauer durch das Orchester durch, um das Theater zu ersteigen. Die Prinzipalin ließ den Vorhang herunterwerfen, wodurch einige gequetscht, andere für den Moment ausgeschlossen wurden. Indessen schob sie ihren Liebling, der einen schwarzen, alten Mantel umgeworfen hatte, zur Hintertüre hinaus. Ein großer Teil der Zuschauer nahm, von dem Tumulte erschröckt, selbst die Flucht, und weil die Ausgänge sich sperrten, drang der größte Teil des Parterres auf das Theater. Sie rissen Stücke aus dem Vorhange, schnitten die Stricke ab, daß die Dekorationen herunterfielen, zertraten und zerbrachen alles, was ihnen unter die Füße kam, unter einem Geschreie und Getümmel, daß alles Zureden der Prinzipalin übertäubt ward und unser Schröcken sich vermehrte; doch wurde keiner von uns beleidiget, Vernünftige bedaurten und schützten uns mitten unter dem Tumulte, die Ungestümen suchten das ganze Theater durch nach dem Gegenstande ihrer Rache, und bald drohte uns und unserm Hause ein völliger Untergang. Denn von außen war der versammelte Pöbel mit Gewalt hereingedrungen; der Teil des Volkes, der am Schauspiele den wenigsten Anteil nimmt, weil es Geld kostet, es für eine Schule des Satans hält, Brand, teure Zeit und Landplagen von einer solchen Bande magnetisch herbeigezogen glaubt. Im heiligen Eifer, der durch Raubsucht noch geschärft wurde, schlugen sie gar bald einige Bretter der Wände durch, andere saßen, ehe man es sich versah, auf dem Dache und fingen an, von oben herein abzudecken. Wir sahen unseren Untergang vor Augen, denn wir wagten uns nicht auf die Straße, das Haus wurde jeden Augenblick unsicherer. Wir hatten schon lange nach der Wache gerufen, aber die wenigen Mann staken unter dem Gedränge und konnten sich selbst kaum erwehren. Endlich rettete uns ein Detachement, das der Kommandant, gleich als er den Lärm erfahren, hatte marschieren lassen. Der Offizier nahm uns in Schutz, und Sie haben uns anlangen sehen.“

 
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Sechstes Kapitel

Herr Melina schielte während dieser Erzählung mit einiger Unruhe mehrmals seitwärts nach dem Zimmer der Prinzipalin, worein sie sich mit ihrem Lieblinge, nachdem der erste Sturm vorbei war, begab. Kaum hatte er geendiget, als sie die Türe aufriß und mit einer gewaltsamen Gebärde ausrief: „Wir sind verloren! wir sind zugrunde gerichtet! Während des Tumultes hat man mich bestohlen, man hat die Kasse aus meinem Zimmer getragen! Wer ist von Fremden hier oben gewesen?“ Sie fragte nach dem Einnehmer, wo der sei, um ihr das, was noch an der Türe eingekommen, auszuliefern. „Erschröcken Sie nicht, Madame“, sagte Herr Melina ganz gelassen, „die Kasse ist nicht weit, ich habe sie in unsers Freundes Stube gleich von Anfange in Sicherheit gebracht und daselbst wohl verschlossen; auch steht die heutige Einnahme ganz geruhig dabei, ich habe sie dem Alten abgenommen, als er mir im Getümmel begegnete.“ – „Eine sehr unnötige Vorsicht!“ rief die Prinzipalin spöttisch, „und ich ermahne Sie ernstlich, mir sogleich das Geld wieder herauszugeben.“ – „Mein Freund“, sagte Melina, „hat den Schlüssel zurück“, indem er auf Wilhelmen deutete, der dabeistund. „und ich denke, er wird es doch für rätlicher halten, wenigstens bis morgen diesen Schatz zu bewahren.“

Der Streit ward heftiger, Melina blieb gelassen, die Prinzipalin drang in Wilhelmen ein, der auf einen Blick seines Freundes den Schlüssel notwendig verweigern mußte, wenn er ihn auch selbst herauszugeben geneigt gewesen wäre. Madame de Retti fing an, mit Schelmen und andern Schimpfwörtern um sich zu werfen, und es war eben Zeit, daß der kommandierte Offizier, der den Tumult gestillt hatte, die Treppe heraufkam. „Wie“, rief er aus, „kann das Lumpenvolk unter sich selbst nicht Ruhe halten? Was gibt es, soll ich auch hier Friede stiften?“ Wilhelm war über diese Anrede höchlich betroffen und im Begriffe, ein so rauhes Kompliment zu erwidern, allein Herr Melina, der ganz andere Sorgen hegte, antwortete ihm gelinde und gefällig. „Mein Herr, haben Sie deswegen keine üblere Meinung von uns und kommen, uns gegen die Heftigkeit und Bosheit unserer Prinzipalin zu schützen.“ – „Ich will ihr den Kopf schon zurechtesetzen“, rief jener, „was fällt Ihnen ein, Madame?“ Melina ließ sie nicht zum Worte kommen und sagte: „Ich habe in der Verwirrung die Kasse in dieses Herrn Zimmer gestellt, damit wir alle nicht etwa unglücklich werden. Die Prinzipalin schreit und tut, als wenn es ihr eigen Geld, als ob sie bestohlen wäre, und doch im Grunde ist sie uns und diesem Herrn mehr schuldig, als das alles beträgt. Sie hat sich im mindesten nicht darüber zu beschweren, morgen früh wollen wir die Sache in Ordnung bringen.“ Da Madame de Retti mit Heftigkeit und Scheltworten versetzte, behielt sie sogleich in den Augen des Offiziers unrecht, der ihr zu schweigen gebot. Melina fuhr fort: „Damit Sie sehen, mein Herr, daß wir es ganz ehrlich meinen, so bitten wir Sie, eine Schildwache vor die Türe zu stellen und ebenfalls eine andere vor jene, worinnen unsere Garderobe befindlich ist. Wollen Sie auch den Schlüssel haben, so steht er zu Befehl; oder wollen Sie noch lieber versiegeln, es ist uns alles recht, was zur Sicherheit dient und Sie überzeugt, daß wir nichts Unbilliges suchen.“ Die Prinzipalin wollte vor Ärger bersten; allein es half ihr nichts, der Offizier nahm den Schlüssel, stellte seine Posten aus und ging, dem Kommandanten von der Expedition Rechenschaft zu geben. Auf der Treppe begegnete ihm ein anderer, den man sogleich für den Adjutanten des Generales erkannte. Er verlangte, mit der Prinzipalin allein zu sprechen, die ihn in ihr Zimmer führte. Neugierig wartete ein jeder, was das bedeutete, und bemerkte eine sichtbare Verlegenheit an der Prinzipalin, als er wieder von ihr wegging. Er war freundlich gegen die übrigen, sprach mit ihnen, doch konnten sie nichts erfahren, was er gebracht hatte. Jedes suchte sein Zimmer, und Wilhelm nahm diesmal bei Melina sein Nachtquartier und legte sich, nachdem sie vorher noch vielerlei abgehandelt, mit einem wüsten Kopfe und sehr bedrängten Herzen in ein Bette, das man ihm geschwind in die Ecke zurechtmachte.

 
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Siebentes Kapitel

Er warf in größter Verwirrung und Verlegenheit sein Haupt auf dem Kissen hin und her, der Schlaf war nicht so gefällig, seinen Zustand zu lindern. Der Verlust seines Geldes, die Angst der Seinigen, seine alten Wünsche und seine gegenwärtigen Verbindungen wurden ihm in der Seele lebhaft. Die Schimpfworte des Offiziers summten ihm in den Ohren, und es war ihm unterträglich, in einer solchen Gesellschaft zu sein, ob er sich gleich dadurch nicht beleidigt finden konnte. Der Wahn seiner Jugend zerstreute sich wie eine schöne Nebelwolke, die sich um einen dürren Berg bewegt. Er bedauerte sich, das Theater und die Dichtkunst. „Ach!“ rief er aus, „möchten doch so viele törichte Jünglinge durch mein Beispiel klug werden, die diesem Irrlichte nachlaufen, die sich von dieser Sirene aus der vorgeschriebenen Fahrt ihres Wandels locken lassen!“ Er hatte einige Stunden in so abwechselnden, verdrüßlichen Gedanken gelegen und war einem Krieger zu vergleichen, der mit seiner Mannschaft von einem Feinde unversehens umzingelt ist. Bald ersteigt er einen Berg, bald rekognosziert er das Tal, bald hofft er von dem Flusse Rettung und fängt, nachdem er den ganzen Kreis geschlossen gefunden, mit abwechselnden Gedanken, sich durchzuschlagen oder sich zu ergeben, seine Untersuchung und Überlegung wieder von vornen an.

Er hörte einiges Geräusch in dem Hause, es schien ihm, als wenn Fremde ankämen oder abgingen, er hörte einen Wagen fahren, Koffer schleppen, konnte nicht genau untersuchen, ob es hinauf- oder hinabging. Des Morgens trat Melina, der schon früher auf gewesen und nach den Schildwachen gesehen hatte, vor sein Bette und rief: „Stehen Sie auf, mein Freund, und besehen mit mir das leere Nest! Die Vögel sind ausgeflogen, und unser Glück ist, daß wir uns vorgesehen haben.“

Wilhelm war verwundert und konnte nicht ganz begreifen, was er meinte. Genug, die Prinzipalin hatte sich diese Nacht mit Mosje Bendel in der Stille davongemacht. Man erfuhr nunmehr, daß ihr der Kommandant habe sagen lassen, sie solle ohne weitere Umstände den wüsten Menschen, der dem Publiko so unangenehm sei, hinwegschaffen, weil er ihr sonst vor nichts stehe und sie sich gewärtigen müsse, daß ihn der Pöbel auf der Gasse angreifen und einen Tumult erregen würde. Sie hatte, wie alles zur Ruhe war, den Wirt hinaufkommen lassen und ihm diesen Befehl entdeckt, von ihm verlangt, daß er Postpferde und einen Wagen kommen lasse, sie wolle Herrn Bendel bis auf die nächste Station begleiten und alsdann wieder zurückkehren. Er habe es im Anfange nicht glauben wollen, doch sei er auf ihr Geheiß noch geschwind zu dem Adjutanten gegangen, der ihm versichert, daß es wahr sei. Sie habe ihm darauf, um ihm ihren Ernst zu zeigen, etwas Geld für Rechnung des Herrn Bendel auf Abschlag gegeben und ihn auf die bewachte Kasse und Garderobe gewiesen und dabei gesagt, es wäre ja natürlich, daß sie diese nicht im Stiche lassen würde, so wie sie auch nur etwas weniges von Kleidung mitnehmen wollen.

„Mein guter Freund“, sagte Melina, „diesmal hat Euch Eure Klugheit verlassen, denn Ihr werdet sie nicht wieder zu sehen kriegen, und diesem Herrn“ – er deutete auf Wilhelmen – „gehört die Garderobe und die Kasse und was nur da sein mag als Pfand und für bare Auslagen zu; doch seid nur ruhig, wir wollen sehen, wie wir auseinanderkommen und einer dem andern seinen Schaden übertragen hilft.“ Es befand sich noch ein großer Koffer in ihrer Stube. Melina behauptete, man müsse ihn aufbrechen, man werde ihn mit Stroh und Steinen ausgefüllt finden, andere waren anderer Meinung, und man ließ ihn stehen.

Die Nachricht verbreitete sich mit dem anbrechenden Morgen. Alle Akteurs, die teils im Hause, teils auswärts wohnten, kamen eilends zusammen. Man fragte, man ratschlagte, man verwarf, nahm sich vor und unterließ wieder, ein jeder rief und glaubte das Beste gefunden zu haben, und ein jeder mußte vor der lauten Meinung seines Nachbars schweigen. Einige, die das Theater, da sie das Wirtshaus noch mit Soldaten besetzt sahen, besucht hatten, fanden dort alles in der schröcklichsten Unordnung. Den meisten war Madame de Retti noch ihre Gage schuldig. Ein jeder fragte nach der Kasse, nach dem Gelde, und Melina wußte sich recht viel, daß er wenigstens einen Teil gerettet hatte. Er bat die übrigen, ruhig zu sein und abzuwarten, wie sich die Sachen auseinanderlegen würden.

Er holte darauf einen Notarius, der jene Pfandverschreibung für Wilhelmen aufgesetzt. Man schloß sich ein, man überlegte, ging zum Oberamtmann, und Wilhelm war so verdrüßlich, so von der Beschwerde und Langeweile dieses Handels aus aller guten Laune gesetzt, wie es wahrscheinlich unsere Leser auch sein würden, wenn wir fortführen, das Detail dieses Konkurses genau zu erzählen.

 
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Achtes Kapitel

Die Überlegungen und Plane, die man machte, wurden auf einmal durch die unvermutete Wiederkunft der Madame de Retti unterbrochen, die gegen alles, was geschehen, aufs feierlichste protestierte. Melina, der hier wieder ein neues Hindernis sah, war aufgebracht, und als sie ihre Verwunderung bezeigte, wie man so schnell, ohne auf sie Rücksicht zu nehmen, habe verfahren können, versetzte er: „Madame, Sie können nicht von uns fordern, daß wir die kühnen Schritte, welche Ihnen Ihr außerordentlicher Geist eingibt, berechnen sollen. In gegenwärtigem Falle wäre wohl niemand außer Ihnen fähig gewesen, eine solche Spazierfahrt zu wagen, die notwendig Verdacht erregen mußte, daß Sie gar nicht wiederkommen würden.“ – „Ich verzeihe Ihnen“, sagte sie, „daß Sie meinem Herzen nicht nachempfinden können, es ist nicht jedermanns Sache.“ – „Und ich“, versetzte Melina, „kann freilich nicht beurteilen, was man für einen würdigen Gegenstand zu tun schuldig und imstande ist.“

Wilhelm trat eben dazu, als dieser Streit heftig werden wollte, und da ihm die ganze Sache höchst verdrüßlich wurde, so bat er Herrn Melina, er möchte doch, ohne sich zu erhitzen und Persönlichkeiten dreinzumischen, suchen, was möglich wäre, von dem Gelde zu retten, und die allgemeine Verlegenheit, in der sie sich befänden, nicht noch vermehren. „Ich überlasse Ihnen“, fuhr er fort, „die ganze Angelegenheit, denn ich bin nicht imstande mehr, ein Wort drüber zu denken oder zu sagen, noch meinen Vorteil im geringsten dabei zu wahren. Ich bitte Sie, Madame“, sagte er, „bedenken Sie doch auch, wieviel ich verliere, seien Sie genügsam und billig und vermehren nicht die Hindernisse.“ Madame de Retti fing an, ihn mit glatten Worten anzureden; allein Melina sorgte davor, daß er sich bald auf die Seite machte.

Wilhelm ging, um sich zu zerstreuen, auf die Promenade, seinen Herrn von C. aufzusuchen, den er aber nicht fand. Die übrigen Offiziere, die er mehr oder weniger kannte, sahen ihn mit großen Augen an, versammelten sich um ihn und ließen ihn wieder stehen, so daß er etwas Besonders in ihrem Betragen zwar fühlte, aber nicht bemerkte. Er fragte nach dem Herrn von C. Man sagte ihm mit einer besonderen Art, daß er krank sei. Wilhelm entschloß sich, ihn zu besuchen, wurde aber, als er vor die Türe kam, abgewiesen. Man sagte ihm, der Herr schlafe, seine Krankheit habe aber nicht sonderlich viel zu bedeuten. Er ging eine Zeitlang spazieren; doch war ihm dies nicht genug. Er wünschte eine teilnehmende Seele zu finden, mit der er sich unterhalten könnte; es blieb ihm nichts übrig, als zu Frau von S. zu gehen, die selbst und besonders eine ihrer Schwestern wohltätig für ihn war; allein auch diese fand er nicht zu Hause und ging mit Widerwillen nach seiner Herberge. Dort sah er Herrn Melina sehr vergnügt, der ihm die Einleitung erzählte, die er gemacht, und wie er hoffte, durch Nachgiebigkeit einen Vergleich zustande zu bringen, damit die Sache wenigstens nicht zur Klage käme und sie den besten Teil davon erretteten. Wilhelm war ungeduldig und versicherte, daß er weiter nichts von diesem Handel hören wollte. Er wandte sich darauf zu Madame Melina und sagte: „Ich möchte wissen, was meinem Freunde C. fehlet, ich höre, daß er krank ist, und hoffe, es wird von keiner Bedeutung sein.“ – „Eben“, versetzte sie, „wollte ich fragen, ob Sie ihn nicht besucht haben; wir hören, daß er sich duellieret hat, und zwar soll es um Ihrentwillen geschehen sein.“ – „Wie!“ rief Wilhelm ganz bestürzt, „wie ist das möglich.“ – „Es sollen einige“, versetzte sie, „schon lange über den Vorzug eifersüchtig sein, den er in dem Hause der Frau von S. genießt. Sie suchen allerlei hervor, um ihm zu schaden und ihn verdrüßlich zu machen. Neuerlich haben sie sich über seinen genauen Umgang mit dem Komödianten aufgehalten und es für unschicklich geachtet, daß er Sie in die Gesellschaft der Dame gebracht. Er ist darüber heftig geworden, und in einem Zweikampfe, der auf diesen Handel folgte, hat er seinen Gegner zwar scharf verwundet, ist aber selbst nicht heil davongekommen.“

Die kalten Worte der Madame Melina waren tausend Dolchstiche in sein Herz. Er verbarg seine Empfindungen, so gut er konnte, eilte auf sein Zimmer, wo er seinem Verdrusse, Schmerzen und Klagen freien Lauf ließ.

 
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Neuntes Kapitel

So überraschend wie die Untreue Marianens, so unleidlich wie jener Brief des unwürdigen Nebenbuhlers war ihm diese Nachricht und der Zustand, in den er durch sie versetzt wurde. Er hatte nun zum zweiten Male einer angebornen Leidenschaft folgen müssen, hatte sich unmerklich von ihr fortgezogen gesehen und war nun durch sie wieder in eine solche Verworrenheit, in einen solchen schmerzlichen und ängstlichen Zustand versetzt, es drückte von allen Seiten so scharf auf ihn zu, daß er den Schmerzen zu widerstehen oder sie zu ertragen nicht vermochte. „Wie!“ rief er aus, „mußte ich von Jugend auf sachte gereizt, gelockt, geführt werden, um am Ende in diese Falle zu geraten, die so verderblich über mich zusammenschlägt?“

Er ergriff die Feder und ließ in einem Billette an seinen Freund von C. dem heftigsten Verdrusse freien Lauf. Er bat den braven Mann um Vergebung, daß er ihn in solche Verlegenheit versetzt, schalt sich und konnte nicht Worte genug finden, sich anzuklagen und seinen Schmerz zu bezeigen. Der Brief ward gleich fortgeschickt, und das Nachdenken und Sinnen ging von neuem an.

Er hatte Leiden von dieser Art noch nicht gekannt, denn selbst die erste rasche Verzweiflung und die nachklingende stille Trauer über das Unglück der Liebe haben etwas Reizendes, etwas Hinziehendes; man übergibt sich ihr gerne, anstatt daß die Seele jeden andern Verdruß, der ihr von äußern Dingen widerfährt, je eher je lieber abschüttelt. Auch war diese Zeit her unbemerkt in seine Seele ein männlicher Zug gekommen, ob er gleich übrigens noch ganz Jüngling war. Er fühlte mehr Zorn als Schmerz, und wenn ihm seine eigene Fehler lebhaft wurden, so war dies eben das, was ihn am meisten drückte. Durch ein freiwilliges Bekenntnis sich Luft zu verschaffen, setzte er sich hin, Wernern in den lebhaftesten Ausdrücken die ganze Geschichte zu erzählen, seine Torheiten zu bekennen und um Vergebung zu bitten. Er schloß seinen Brief mit der Versicherung, daß er nunmehr seine Reise weiter fortsetzen und sein angefangenes Geschäfte besser besorgen wolle. Er verhielt ihm nicht, wie viel Geld aufgegangen, glaubte aber, daß es doch am Ende wohl angewendet sei, weil er dafür teure Erfahrungen gemacht, welche ihm auf sein ganzes Leben nützlich sein würden.

Es war ihm recht wohl, wie er diese Bürde von der Brust hatte, er fühlte sich wie neugeboren, und ob ihm gleich der Verdruß über das schändliche Betragen des Publikums, wie es ihm vorkam, oft wieder zu Herzen kehrte, so setzte er sich doch gar bald wieder ins Recht, entschuldigte sich und vergab sich alles; dann überfiel es ihn aufs neue, er stampfte, knirschte mit den Zähnen, die Tränen kamen ihm in die Augen, bald schämte und faßte er sich wieder.

„Ist es möglich“, sagte er zu sich selbst, „daß man eine Klasse von Menschen verachtet, die man überall willkommen heißt, deren Talente man rühmt und aufmuntert, deren Kunst zu sehen, zu hören, zu bewundern sich jeder mit Geld in Händen drängt! Welch ein Widerspruch! welch ein Unsinn!“ So bewegt ging er auf und ab, und er würde sich wahrscheinlich aus dieser Lage herausgerissen haben, wenn ihm ein Freund oder das Schicksal eine hülfreiche Hand hätten bieten können. Unter dem Zusiegeln fand er mit großem Verdrusse, daß er einen Bogen genommen hatte, dessen letzte Seite schon halb beschrieben war. Dieses und die allzusehr vernachlässigte Handschrift des Briefes selbst veranlaßte ihn, das Papier liegenzulassen, um es des andern Tages mit Mühe abzuschreiben. Bald darauf trat sein Geschäftsträger Melina herein. Das heitere Gesicht dieses Freundes verkündigte etwas Gutes. „Ich habe mich“, sagte er, „mit der übrigen Truppe besprochen, und wir sind über einen Plan einig geworden, der, wenn Sie ihn billigen, unserm Zustande eine neue Gestalt geben kann.“ – „Was sind Ihre Gedanken?“ fragte Wilhelm. – „Man traut mir zu“, versetzte jener, „daß ich die Verwaltung des Theaters mit Klugheit und Treue führen werde. Die Prinzipalin sieht wohl, daß sie abgehen und ihrem Liebhaber folgen muß. Ich will die Garderobe gegen eine billige Taxe übernehmen und dafür Ihr Schuldner werden. Die Bude ist, wie wir uns nun unterrichtet haben, balde wieder herzustellen, das Publikum läßt sich leicht versöhnen, wir hoffen eine glückliche Ausbeute und wünschen nichts sehnlicher als unsern edeln Gläubiger balde und völlig zu befriedigen.“

Als sich Wilhelm nach dem baren Gelde erkundigte, das sich vorgefunden hatte, mußte er leider vernehmen, daß es meist zur Befriedigung der Akteurs, Handwerker und des Wirtes hingegeben werden müsse; ganz entblößen könne sich der neue Prinzipal auch nicht, und Wilhelm sah bald ein, daß er von seinem vorgeschossenen Gelde wenigstens für diesmal nichts zurückerhalten würde. Er hatte auch darauf keine sonderliche Rechnung gemacht, sondern suchte und hoffte nur, mit dem wenigen, was ihm übrigblieb, seine Reise fortzusetzen und an Orte zu gelangen, wo es ihm an Geld und Kredit nicht fehlen konnte.

Da Wilhelm des andern Tages den gestrigen Brief mit mehrerer Ruhe und Fassung durchsah, schien er ihm zu übertrieben, zu leidenschaftlich. „Was wird Werner von dir denken“, sagte er, „daß du dich so albern gebärdest, und was hast du nötig, selbst deinen eigenen Unfall und ein Verhältnis auszuschwätzen, das dir doch in der Folge schädlich werden könnte.“ Der Brief wurde nicht abgeschrieben, vielmehr zerrissen, und er nahm sich vor, Wernern auf eine klügere Weise nur von dem zu unterrichten, was er zu wissen brauchte. Eine gutherzige, gelinde und verständige Antwort des Herrn von C. befestigte diese Gedanken noch mehr und beruhigte ihn für Augenblicke, denn bald fing seine Seele wieder an, die Schmerzen, den Verdruß von neuem vorzunehmen, durchzuarbeiten und womöglich Herr darüber zu werden.

Mignon war bisher ganz von ihm außer acht gelassen worden, sosehr sich das Kind vor wie nach ihm mit Aufmerksamkeit zu dienen mühte. Da sie merkte, daß sich Wilhelm zur Reise anschickte, war sie fröhlich und außerordentlich geschäftig. „Dein Koffer ist nicht groß“, sagte sie, „ein Maultier kann ihn recht gut tragen.“ – „Wie, mein Kind?“ sagte Wilhelm. – „Wenn wir über den Berg gehen“, versetzte die Kleine. Sie war ihm aus der knechtischen Entfernung nach und nach ein wenig nähergekommen. Wenn sie ihn abends aufwickelte und morgens frisierte, machte sie es freilich nicht zum geschicktesten und hielt sich länger, als es ihm lieb war, auf, die Haare auszukämmen und zu streicheln, und kehrte sorgfältig an ihm, wenn sie ein Fleckchen oder Stäubchen erblickte. Sie stund, wenn er schrieb oder las, manchmal vor ihm oder setzte sich still an seinen Sessel auf die Erde nieder. Wenn er sie ansah, glaubte er eine glühende, unter der Asche verglühende Kohle zu erblicken. Gegenwärtig war sie munter und rührig, ihre Seele war in Bewegung, sie schien einer angenehmen Veränderung entgegenzusehen. Wilhelm fühlte wohl, daß sie mit ihm zu reisen hoffte, es war ihm ein neuer Kummer und ein Stein auf dem Herzen.

 
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Zehntes Kapitel

Die Prinzipalin war abgegangen, ohne daß von Mignon die Rede gewesen wäre, wer das Kind behalten oder sich seiner annehmen sollte. Bei der Truppe war man mit der neuen Einrichtung sehr beschäftigt und würde in kurzer Zeit zu Ende gekommen sein, wenn nicht die Bewegung der großen Welt diese kleine Stadt verschlungen hätte. Die Nachricht eines ausbrechenden Krieges kam ganz unerwartet. Das Regiment ward beordert, sich marschfertig zu halten, alles ging durcheinander, und die stilleren Musen hielten den Lärm nicht aus. Der schön durchdachte Plan unsers neuen Direktors war auf einmal zugrunde gerichtet; denn man konnte leicht übersehen, daß bei solchen Umständen in einer Landstadt wenig zu verdienen sein werde, man mußte also auf etwas anders sinnen und einen Entschluß bald ergreifen, wenn man nicht in Gefahr kommen wollte, Not zu leiden. Das schlimmste war, daß man leicht voraussehen konnte, es werde sich der Krieg durch den größten Teil von Deutschland verbreiten und die Schauspielkunst überall Mangel und Gefahren ausgesetzt sein. Man kannte wenig Gesellschaften, zu denen man sich hätte, auch unter günstigern Umständen, wenden können. Endlich glaubte man, daß nach H*** zu gehen wohl das beste sein möchte. Die Lage des Ortes ließ Ruhe und die Umstände daselbst eine gute Aufnahme der Schauspielkunst vermuten. Die Truppe, die sich dort befand, hatte einen guten Namen, und was noch mehr war, so kannte Wilhelm den Direktor und war seiner Geschäfte wegen genötigt, dorthin zu gehen. Er konnte also seine Freunde begleiten und empfehlen und ein doppeltes Vergnügen davon einernten. Da dieser Gedanke zuerst Melina und seiner Frau eingefallen war, hielt man vor ratsam, ihn vor den übrigen Akteurs zu verbergen, um sich nicht mit zu vielen Menschen zu beladen und die Vorteile allein zu genießen. Wilhelm hielt sich auch dieses besonders aus, weil er mit einer großen Gesellschaft zu reisen keine Lust hatte.

Als man sich mit den Anstalten dazu beschäftigte, kam Mademoiselle Philine zu ihm aufs Zimmer, eine junge, muntere Aktrice, deren wir bisher entweder gar nicht oder im Vorübergehen erwähnt haben. Unser Freund mußte sich von Madame Melina oft Vorwürfe machen lassen, als wenn er dieser kleinen, leichtfertigen Figur artiger begegne und mehr Neigung zu ihr habe, als ihr Betragen verdiene; und gewiß war es, daß er sie mit Nachsicht und einer Art von Gefälligkeit betrachtete, ob er sie gleich weder schätzen noch lieben konnte. Sie hatte von früher Zeit an mit einem unglaublichen Leichtsinne dahingelebt und jeden Tag und jede Nacht, gleichsam als wenn es der erste und der letzte wäre, sorglos der Freude gewidmet. Sie gestand, daß sie nie eine Neigung zu irgendeinem Manne gefühlt, und pflegte im Scherze zu sagen, es sei so ein eintöniges Geschlecht, daß man einen von dem andern wenig unterscheiden könne. Sie warf nicht leicht ihre Augen auf einen, der sich nicht auch um ihre Gunst bemüht hätte, und es war nicht leicht einer, auf den sie nicht ihre Augen warf. Sie war das gutherzigste Geschöpf von der Welt, naschte gerne, putzte sich und konnte nicht leben, ohne spazierenzufahren oder sich sonst eine Veränderung zu machen. Ganz allerliebst war sie aber, wenn sie ein Glas Wein im Kopfe hatte. Wer ihr diese Freuden verschaffen konnte, war ihr angenehm, und wenn sie einmal, welches doch selten geschah, einiges Geld übrig hatte, so vertat sie es auch wohl mit einem irrenden Ritter, der ihr leidlich gefiel und dessen starke Seite der Beutel nicht war. In reichlichen Tagen schien ihr nichts gut genug, und bald darauf nahm sie wieder mit allem vorlieb. Sie pflegte sich einem freigebigen Geliebten zu Ehren mit Milch, Wein und wohlriechenden Wassern zu waschen, bald tat ihr der gemeine Brunnen gleiche Dienste. Gegen Arme war sie sehr freigebig und überhaupt von Herzen mitleidig, nur nicht gegen die Klagen eines Liebhabers, den sie einmal abgedankt hatte. Was sie von Kleidern, Bändern, Hauben, Hüten und dergleichen ablegte, warf sie gewöhnlich zum Fenster heraus. Ihr ganzes Wesen hatte etwas Kindisches und Unschuldiges, das ihr in den Augen eines jeden einen neuen Reiz gab. Alle Frauen waren ihr aufsässig, und zwar mit Recht. Auch ging sie mit keiner um und hatte selbst zu ihrer Bedienung bald einen alten Abenteurer, bald einen jungen Anfänger.

Der Leser wird sie genug aus diesen Zügen kennen, wir häufen deswegen nicht mehrere zusammen und kommen nur zu der Verwunderung, die unser Freund über diesen Besuch bezeigte, da sie selten und niemals alleine zu ihm zu kommen pflegte. Sie ließ ihn nicht lange in der Ungewißheit, vielmehr zeigte sich es, daß ihr die bevorstehende Reise verraten worden war. Sie bestund darauf mitzugehen und betrug sich so artig, so schmeichelnd, so eifrig, daß es ihr Wilhelm wenigstens in dem Augenblicke nicht abschlagen konnte.

Es setzte, da Wilhelm dieses, wiewohl mit einiger Schüchternheit, Madame Melina vortrug, einige Debatten; doch balde war das Projekt noch ruchtbarer geworden, und es drängten sich noch mehrere hinzu, jeder mit der Überzeugung, daß die Gesellschaft nur besser aufgenommen werden würde, wenn er sich dabei befände. Und da man es einigen zugestand und noch eine Kutsche zu nehmen sich entschloß, so war auch gar bald der dritte Wagen nötig; andere wollten den Weg zu Pferde machen, und zuletzt waren sogar die Böcke besetzt. Man behandelte Herrn Melina und seinen Freund als Anführer dieser Karawane, und die Gesellschaft machte sich auf den Weg.

 
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Eilftes Kapitel

Viele unsrer Leser, die am Ende des vorigen Kapitels zufrieden waren, daß wir endlich wieder den Platz veränderten, werden vielleicht ungehalten sein, wenn wir noch einmal zurückkehren, um verschiedener Dinge zu erwähnen, die beim Abschiede vorgingen.

Die erste Unterredung mit Herrn von C. nach jenem Vorfalle, vor der sich Wilhelm so sehr gescheut hatte, ging leicht und ohne Anstoß vorüber und war nunmehr leider zu Betrübnis beider Freunde die letzte. Von jener Begebenheit wurde gar nicht gesprochen. „Mein Bester“, rief Herr von C. aus, als er ihn ansichtig wurde, „Sie sehen mich im Begriffe, auch auf einen Schauplatz zu eilen, wo man ernsthaftere Stücke aufführt, wo jeder seine Rolle nur einmal spielt und wo niemand, der seinen fünften Akt geendet, wiederkehren kann.“ – „Wie unrecht haben Sie, mein Herr“, versetzte Wilhelm, „den weiten Raum jener freien, männlichen Taten mit den engen Schranken unsrer kindischen Spiele zu vergleichen! Wie glücklich sind Sie, daß Ihr Schicksal Sie an Orte führt, wo der ganze Mensch seine besten Kräfte anwenden kann, wo alles, was er in seinem Leben geworden, wozu er sich gebildet, in einem Augenblicke wirksam werden und sich in seinem höchsten Glanze zeigen muß. Wie sehr hoffe ich mich in meinem geringen Zirkel zu ergötzen, wenn der Ruhm mir Ihren Namen nennt und mir zugleich versichert, daß das Glück auf seiten des Verdiensts gestritten hat!“ – „Ich erwarte, mein Freund“, versetzte Herr von C., „daß mein Schicksal ein viel stilleres und unbedeutenderes Ende nehmen werde, und ich bin auch damit ganz wohl zufrieden. Sie mögen wohl recht haben, wenn Sie nicht erlauben wollen, daß man das, was uns begegnet, was wir unternehmen, einem Schauspiele vergleiche, da es wirklich um ein großes Teil ernsthafter ist und das wenigste, was geschieht, gesehen werden kann. Die guten, müßigen Zuschauer erblicken von weitem das gefährliche Getümmel, worinnen, wie in der übrigen Welt, im verborgnen, von stiller Nacht oder von Rauch und Dampf bedeckt, die edelsten Taten für die Vergessenheit geschehen, indes nur wenige, durch ein unbilliges Glück begünstigt, den Ruhm, der vielen gebührt, auf sich häufen und hinwegnehmen. Es ist ein Glückspiel; und Sie wissen wohl, mein Freund, wie wenig dieses unter edlen und unedlen Menschen, unter Verständigen oder Toren, unter Tapferen oder Feigen einen Unterschied macht.“ – „Wie“, rief Wilhelm aus, „und Ihre ganze Seele glüht nicht, sich hervorzutun, Sie werden nicht mit ungestümer Begierde fortgerissen, Ihre Taten, Ihren Namen als Muster der Nachwelt zu hinterlassen?“ – „Mitnichten, mein Freund“, versetzte der andere. „Ich bin gewohnt, in meinem Handwerke und an dem Platze, wo ich bin, meine Schuldigkeit zu tun; ich werde meine Schuldigkeit tun und das übrige geruhig abwarten. Wenn ich dadurch den Offizieren, den Soldaten von meiner Kompanie mit einem Beispiele vorgehe, daß sie in dem, was für sie gehört, fester, mutiger und gewisser handeln, und, wenn ich als ein braver Mann umkomme, es nur diese wissen, nur allenfalls mein Regiment darauf aufmerksam wird, so habe ich mehr getan als mancher, dessen Name durch einen Zufall, der für die Seinigen von keinem Vorteile ist, in Zeitungen ausgestreut wird. Glauben Sie mir, der Ruf ist eine ohnmächtige Gottheit, er gleicht an Willkür dem Winde und hält sich hart an den Zufall. Man gibt ihm hundert Zungen, und wenn man sie zu Millionen vermehrte, so würde er nicht den millionsten Teil von dem, was täglich Gutes heimlich in allen Ständen geschieht, verkündigen können; und wenn er es verkündigte, wer wollte darauf achten? Nur die rohesten Gunstbezeugungen des Glückes, nur die strengsten Anfälle des Übels sind seinen zerstreuten Augen bemerkbar; und was hat der Held vor allen voraus, um der Gerühmteste aller Gerühmten zu sein? Nichts, als daß der Niedrigste im Pöbel sehen und begreifen kann, er habe seinen Feind in die Flucht geschlagen, ihn unter die Füße getreten. Vielleicht hat ein anderer, vielleicht eben derselbige Mann zu einer andern Zeit weit gefährlichere Feinde zu überwinden, mehr Größe des Geistes, mehr Stärke der Seele, mehr Heldenmut angewendet, und wer hat es bemerkt, oder wer war fähig, es zu bemerken?“ – „Sie kennen die Welt länger und besser als ich“, versetzte Wilhelm, „und ich selbst habe nicht Ursache, das Beste von ihr zu vermuten; doch ist das, was Sie mir sagen, so sehr allen Begriffen der Jugend, allen unsern Wünschen zuwider, daß ich mich nicht entschließen kann, Ihnen ganz Beifall zu schenken, daß ich geneigter bin, einem hypochondrischen Zuge Ihres Charakters mehr Anteil an diesen Gesinnungen zu geben, als er doch wohl nicht haben mag.“ Herr von C. lächelte und versetzte: „Ich möchte Sie nicht gerne anstecken, und unsere Zeit ist zu kurz, als daß wir diese Sache ausführlich durchsprechen könnten. Nur eins merken Sie sich als dramatischer Schriftsteller und lassen sich es immer gesagt sein, sosehr wir auch schon lange darüber einig sind: Lernen Sie daraus, daß man nur recht sichtbare, starke, grobe, ausgezeichnete Züge dem Volke aufstellen müsse und daß das Feinere, Innigere, Herzlichere weniger Wirkung tue, als man denkt, besonders wenn man Effekt auf die Menge machen will, die doch am Ende immer bezahlt.“

Sie mußten sich in diesem Augenblicke trennen, sahen sich einige Tage nachher nur auf wenige Worte wieder und verschwanden sich einander zuletzt, ohne recht Abschied genommen zu haben.

 
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Zwölftes Kapitel

Wilhelm saß in einem Wagen mit Mignon, Frau Melina und ihrem Manne. Dieser, der das Fahren nicht wohl vertragen konnte, mußte bald aussteigen und sich das Pferd eines andern erbitten. Die kluge Philine merkte gleich diese Veränderung und erbat sich den ledigen Platz, der ihr auch nicht wohl versagt werden konnte, und sie war kaum eingenommen, als sie es auf Wilhelmen, den einzigen Mann in der Gesellschaft, nach gewohnter Weise anlegte und bald seine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen wußte. Sie sang einige Lieder recht artig, und man sprach von allerlei Sujets, die dramatisch behandelt werden könnten. Diese Lieblingsmaterie brachte den jungen Dichter in seine beste Laune, und er komponierte ihnen aus dem Reichtum seines lebendigen Bildervorrates ein ganzes Schauspiel mit seinen Akten, Szenen, allen Einteilungen, Charakteren und Verwicklungen, ja die Dekoration ward nicht vergessen. Man fand für gut, einige Arien und Gesänge einzuflechten, man dichtete sie, und Philine, die in alles einging, paßte ihnen gleich bekannte Melodien an und sang sie aus dem Stegreife. Wilhelm, in der fröhlichsten und freudigsten Laune, fuhr bald ernst, bald scherzend fort und vergaß beinahe, indem er sich mit der leichtfertigen Kreatur abgab, seiner ernsteren Freundin und seines geliebten Kindes. Philine hatte eben heute ihren schönen, sehr schönen Tag, sie wußte mit allerlei Neckereien ihm nahezukommen, es ward ihm wohl, wie es ihm lange nicht gewesen.

Nach einer Reise von etlichen Tagen mußten sie endlich an einem kleinen Orte stilleliegen, weil die Gegenden nicht sicher waren und in der Nachbarschaft die Freichore herumschwärmten. Wider ihren Willen mußten sie in ein Wirtshaus zusammenkriechen, mehrere wohnten in einer Stube und behalfen sich, so gut sie konnten, nur Philine, die auf unsern Helden einen Anschlag gemacht hatte, nahm mit einem kleinen Kämmerchen auf dem obern Gange vorlieb, um allein und ungestört zu sein.

Wilhelm hatte sich auf Antrieb der Madame Melina in Besitz einer hübschen Stube gleich an der Treppe gesetzt. Seitdem ihn jene grausame Entdeckung aus den Armen Marianens riß, hatte er ein Gelübde getan, sich vor dieser zusammenschlagenden Falle zu hüten, das treulose Geschlecht zu meiden, seine Schmerzen, seine Neigung, seine süßen Wünsche in sich zu verschließen. Die Gewissenhaftigkeit, womit er sein Gelübde beobachtete, gab seinem ganzen Wesen eine innere geheime Nahrung, und wenn sein Herz nicht ohne Teilnehmung bleiben konnte, so ward eine liebevolle Mitteilung seinem ganzen Wesen ein schmerzliches Bedürfnis. Er ging wieder, wie von dem ersten Jugendnebel begleitet, umher, seine Augen faßten jeden reizenden Gegenstand mit Freuden auf, und nie war sein Urteil über eine liebenswürdige Gestalt schonender gewesen. Wie gefährlich ihm in einer solchen Lage das verwegene Mädchen ward, kann man leicht begreifen, und wir brauchen wohl nicht mehr zu sagen, um die Art von Neigung, die er für sie, ohne es selbst zu wissen, empfand, vor unsern Leserinnen einigermaßen zu entschuldigen, da ihn unsere Leser, wie wir überzeugt sind, schon lange absolviert haben.

Kaum waren sie angelangt und zu einiger Ruhe gekommen, als Madame Melina bei einem Spaziergange ihn sehr ernstlich über diese Empfindungen zur Rede setzte, die er bei sich selbst noch nicht bemerkt hatte. Er schwur hoch und teuer, und er konnte schwören, daß ihm nichts weniger eingefallen sei, als sich an dieses Mädchen, deren ganzen Wandel er wohl kenne, zu wenden, er entschuldigte sich, so gut er konnte, über sein freundliches und artiges Betragen gegen sie und befriedigte Madame Melina auf keine Weise.

Ihren Mann fanden sie auch bei der Rückkunft in der übelsten Laune. Er hatte sich an allen Orten und Enden erkundigt, ob es nicht möglich sein sollte, die Reise weiter fortzusetzen; jedermann hatte es ihm mit den besten Gründen widerraten. Die Armeen waren so gar weit nicht auseinander, man konnte in der Gegend, worauf sie zu wollten, eine Schlacht vermuten, es blieb ihnen nichts übrig, als zu bleiben, eine Notwendigkeit, die fast ebenso gefährlich war als die Gefahr selbst.

Die allgemeine Kasse, welche Herr Melina führte und welche eigentlich aus den Resten von Wilhelms zusammengestoppelter Barschaft bestand, woraus die Reisekosten und der Unterhalt eines Teiles der Gesellschaft bestritten werden sollte, ließ nach und nach den leeren Boden sehen. Andere, die noch etwas übrig und sich selbst zu verköstigen übernommen hatten, lebten leichtsinnig, empfanden bald Mangel und kamen dahin, wo sie noch etwas Geld vermuteten, borgten und wollten borgen. „Wir werden bald hausieren gehen müssen!“ rief Melina aus. „Sein Sie nicht mißmutig“, versetzte Wilhelm, „es wird sich in kurzem zeigen.“ – „Wenn wir nur allein wären und hätten uns die Last der vielen Menschen nicht aufgeladen!“ sagte jener. „Mein letzter Groschen steht zu Diensten“, versetzte Wilhelm, „ich will, solang wir beisammen sind, nichts Eigenes haben.“ – „Wir werden nur um ein paar Tage später hungern“, sagte Melina, „und wer wird uns aus diesem Neste erlösen?“ Der andere wußte nichts darauf zu antworten.

Bei Tische ließ Melina seinen üblen Homor auch gegen die übrigen aus, denn man aß zusammen, und er ward nur durch die Anfrage des Wirtes unterbrochen, der einen Harfenspieler anmeldete. „Sie werden“, sagte er, „gewiß Vergnügen an seiner Musik und an seinen Gesängen finden, es kann sich niemand, der ihn hört, enthalten, ihn zu bewundern und ihm etwas weniges mitzuteilen.“ – „Lassen Sie ihn weg“, versetzte Melina, „ich bin nichts weniger als gestimmt, einen Leiermann zu hören, und wir haben allenfalls Sänger unter uns, die gerne etwas verdienten.“ Er begleitete diese Worte mit einem tückischen Seitenblicke, den er auf Philinen warf. Sie, die ihn wohl verstand, ergrimmte heimlich, und um ihren Verdruß nicht merken zu lassen, wendete sie sich an Wilhelmen: „Sollen wir den Mann nicht hören.“ sagte sie, „die Langeweile wird uns zugrunde richten! Ich für meinen Teil gebe gerne etwas dazu.“ Melina wollte darauf antworten, und der Streit wäre lebhafter geworden, wenn nicht Wilhelm den im Augenblicke hereintretenden Mann begrüßt und ihn sich zu nähern geheißen hätte. Die Gestalt dieses seltsamen Gastes machte die ganze Gesellschaft erstaunen, und er hatte schon von einem Stuhle Besitz genommen, ehe jemand ihn zu fragen oder sonst etwas vorzubringen das Herz hatte. Ein kahler Scheitel, von wenig grauen Haaren umkränzt, große blaue Augen, die unter langen weißen Augbrauen hervorsahen, eine wohlgebildete Nase, an die sich ein weißer, mittelmäßiger Bart anschloß, mußte der Gesellschaft ein sonderbares Bild vorstellen. Ein langes, dunkelfarbiges Gewand bedeckte einen schlanken Körper vom Halse bis zu den Füßen. Er nahm die Harfe und fing zu präludieren an. Die angenehme Töne, die er aus dem Instrumente hervorlockte, die muntern, sanften Melodien, die von seinen Saiten tönten, setzten bald die Gesellschaft in die beste Laune. „Ihr pflegt auch zu singen, guter Alter!“ sagte Philine. „Gebt uns etwas, das unseren Geist ergötze“, sagte Wilhelm, „denn da ich nicht Kenner bin, so sind diese Melodien, Gänge und Läufe meinem Ohr nicht viel mehr, als bunte Papierschnitzel und scheckige Federn, die der Wind in der Luft herumtreibt, meinem Auge wären; da sich der Gesang hingegen wie ein Schmetterling oder wie ein schöner Vogel lebendig in die Luft hebt und Herz und Seele ihn zu begleiten anreizt.“

Der Alte sah Wilhelmen an, alsdann gen Himmel, tat einige Griffe auf der Harfe und begann sein Lied. Es enthielt ein Lob auf den Gesang, pries das Glück der Sänger, warnte die Menschen, sie zu ehren. Er trug es mit vielem Leben und Wahrheit vor, daß es schien, als hätte er es in diesem Augenblicke und bei diesem Anlasse gedichtet, und Wilhelm enthielt sich kaum, ihm um den Hals zu fallen; nur Scheue vor der Gesellschaft zog ihn auf seinen Stuhl zurück. Er fürchtete ein lautes Gelächter, wenn er einen Fremden mit Entzücken umarmte, über den man noch streitig war, ob es ein Pfaffe oder ein Jude sei. Man fragte eifrig nach dem Verfasser des Liedes, worauf er keine bestimmte Antwort gab, nur versicherte, daß er deren sehr viele habe und wünsche, daß sie der Gesellschaft gefallen möchten. Man war fröhlich und freudig geworden, schwatzte untereinander, scherzte, und er fing an, das Lob des geselligen Lebens auf das geistreichste zu singen; er pries die Einigkeit und Gefälligkeit mit einschmeichelnden Tönen, trocken war sein Gesang, rauh und verworren, als er gehässige Verschlossenheit, kurzsinnige Feindschaft und gefährlichen Zwiespalt bedauerte, und gern warf jede Seele diese drückende Schalen ab, als er, auf den Fittichen einer vordringenden Melodie getragen, den Preis der Friedensstifter und das Glück der Seelen, die sich wiederfinden, sang.

Wilhelm fühlte sich wie neugeboren, Sein leidiges Verhältnis hatte ihm, ohne daß er es bemerkte, eine Feder nach der andern verleimt und ihn so bestrickt und zusammengezogen, daß er sich, ohne es recht zu wissen oder zu begreifen, gefangen fühlte; nun hatte der Geist eines Alten seine ganze Seele wieder angefacht, es war, als wenn ein Windsturm alle Wolken zerrissen hätte, und wie der erste Sonnenblick nach einer langen, trüben Zeit auf einmal eine ganze Gegend in die alten Rechte der schönen Tage wieder einsetzt, so war es auch in seinem Herzen, das sich wieder von einer unbedingten Freiheit beglückt fühlte; er sah nicht mehr, wo noch wer er war, alle Gegenstände veredelten sich vor ihm, und von seiner alten, glücklichen Torheit ergriffen, rief er aus: „Wer du auch seist, der du als ein hülfreicher Schutzgeist mit einer segnenden und belebenden Stimme zu uns kommst, nimm meine Verehrung und meinen Dank, fühle, daß wir alle dich bewundern, und vertraue uns, wenn du etwas bedarfst!“

Der Alte schwieg, ließ seine Finger über die Saiten schleichen, griff schärfer drein und sang:

„Was hör ich draußen vor dem Tor?

Was schallet auf der Brücken?

Es dringet bis zu meinem Ohr

Die Stimme voll Entzücken.“

Der König sprach’s, der Page lief,

Der Knabe kam, der König rief:

„Laßt ihn herein, den Alten!“

„Gegrüßet seid ihr, hohe Herrn,

Gegrüßt ihr, schöne Damen!

Welch reicher Himmel, Stern bei Stern!

Wer kennet ihre Namen?

Im Saal voll Pracht und Herrlichkeit

Schließt, Augen, euch, hier ist nicht Zeit,

Sich staunend zu ergötzen.“

Der Sänger drückt’ die Augen ein

Und schlug in vollen Tönen;

Die Ritter schauten mutig drein

Und in den Schoß die Schönen,

Der Fürst, dem es so wohl gefiel,

Ließ, ihn zu lohnen für das Spiel,

Ein’ goldne Kette holen.

„Die goldne Kette gib mir nicht,

Die Kette gib den Rittern,

Vor deren kühnem Angesicht

Der Feinde Lanzen splittern;

Gib sie dem Kanzler, den du hast,

Und laß ihn noch die goldne Last

Zu andern Lasten tragen.

Ich singe, wie der Vogel singt,

Der in den Zweigen wohnet,

Das Lied, das aus der Kehle dringt,

Ist Lohn, der reichlich lohnet;

Doch darf ich bitten, bitt ich eins,

Laß mir den besten Becher Weins

In purem Golde reichen!“

Er setzt’ ihn an, er trank ihn aus:

O Trank von süßer Labe!

Er rief: „O hochbeglücktes Haus,

Wo das ist kleine Gabe!

Ergeht’s euch wohl, so denkt an mich,

Und danket Gott so warm, als ich

Für diesen Trunk euch danke!“

 
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Dreizehntes Kapitel

Da der Sänger nach geendigtem Liede ein Glas Wein, das für ihn eingeschenkt dastand, ergriff und es mit freundlicher Miene, sich gegen seinen Wohltäter wendend, austrank, entstand eine allgemeine Freude in der Versammlung. Man klatschte und rief ihm: es möge dieses Glas zu seiner Gesundheit, zur Stärkung seiner alten Glieder gereichen! Er sang noch einige Romanzen und erregte immer mehr Munterkeit in der Gesellschaft.

„Kannst du das Lied, Alter“, rief Philine: „Der Schäfer putzte sich zum Tanz’?“ – „Sonst“, sagte er, „gelang es mir, jetzt weiß ich nicht. Wollen Sie die Schäferin vorstellen?“ – „Von Herzen gerne“, rief sie aus, „ich habe lange gewünscht, jemanden zu finden, mit dem ich es wieder einmal singen könnte. Nur verwirre dich nicht in den drolligen, rollenden Silben des Refrains.“ Sie stund auf und setzte sich zu ihm scherzend an die Erde.

Da das Lied nichts weniger als ehrbar ist, können wir es unsern Lesern nicht mitteilen, und da es eigentlich von einem tanzenden, gestikulierenden Paare gesungen werden muß, so verlor es auch bei dieser Aufführung etwas von seiner Stärke; doch wurde es mit dem größten Beifalle aufgenommen, und die feinen, launigen Pfiffe, die geschickten Wendungen und artige Gebärden, womit Philine die Zweideutigkeiten, indem sie sie verbergen zu wollen schien, geltend machte, fand vor aller und auch sogar vor Wilhelms Augen Gnade. Die Gesellschaft war ganz entzückt, da aber unserem Freunde die bösen Folgen ihrer Lust schon längst bekannt waren, suchte er abzubrechen, steckte dem Alten für seine Bemühung einen reichlichen Lohn in die Hand, die andern taten auch etwas, man hieß ihn ruhen und versprach sich des nächsten Abends eine wiederholte Freude von seiner Geschicklichkeit.

Als er hinweg war, sagte Wilhelm zu Philinen: „Ich kann die Moralität Ihres Leibgesanges zwar eben nicht loben, doch wenn Sie mit ebender Naivetät etwas Angenehmes und Schickliches auf dem Theater ausgeführt hätten, so würde Sie eine verdiente Bewunderung zum Range der ersten Aktricen erhoben haben.

Wahrhaftig, dieser Mensch beschämt uns alle! Haben Sie bemerkt, wie richtig der dramatische Ausdruck seiner Romanzen war? Gewiß, es lebte mehr Darstellung in seinem Gesange als in unsern Personen auf der Bühne. Man sollte die Aufführung mancher Stücke eher für eine Erzählung halten und diesen dichterischen Erzählungen eine sinnliche Gegenwart zuschreiben.“

„Er beschämte uns in noch einem Punkte“, rief Melina, als alles stilleschwieg, „und zwar in einem Hauptpunkte; die Stärke seiner Talente zeigt sich in dem Nutzen, den er davon zieht. Uns, die wir vielleicht in acht Tagen in Verlegenheit sein werden, wo wir eine Mahlzeit hernehmen, bewegt er, unsere Mahlzeit mit ihm zu teilen. Er weiß uns das Geld, das wir so nötig brauchen, um den Ort unserer Bestimmung zu erreichen, durch ein Liedchen aus der Tasche zu locken. Ich habe ihm selbst zwischen Neigung und Widerwillen einige Groschen beigesteuert. Aber wahrhaftig! ich bin auch fest entschlossen, und Sie werden mir nicht zuwider sein, dieses Lehrgeld mit Wucher auf andere zu gewinnen.“ – „Von Herzen gerne!“ riefen einige, „wir sind dabei, wenn sich Gelegenheit findet.“ – „Die zeigt sich überall“, sagte Melina, „man muß nur nicht zu delikat sein. Auf dem Rathause ist ein großer Vorsaal, auf den ich heute frühe schon meine Spekulation machte. Wenn man die Feuereimer weghinge, ein paar alte Rüstungen und Verschläge beiseite schaffte, so fände sich für Theater und Parterre Platz genug. Ich habe die Haken und Balken nachgesehen, wo vorm Jahre eine Seiltänzergruppe ihre Seile und Vorhänge aufhing.“ – „Sie werden doch nicht“, rief Wilhelm, „mit solchem Gesindel sich um die paar Pfennige des hiesigen Publikums beeifern wollen?“ – „Ich werde es wohl mit Ihrer Erlaubnis!“ versetzte Melina heftig, „denn wir sollen doch nicht immer die großmütigen Toren spielen und wie junge Laffen unser Kapital mitsamt den Interessen verzehren!“

Unserem Freunde stockte das Wort im Munde, denn er fühlte sich und seine Gutmütigkeit, durch die er dieses ganze Geschlecht seit einem halben Jahre war zu nähren gezogen worden, in diesem undankbaren Vorwurfe getroffen. Er sah den niedriggesinnten Direktor mit verächtlichen Augen an und rief ihm zu, indem er die Türe ergriff: „Tun Sie, was Sie wollen, ich werde so bald als möglich meinen Weg weiter suchen und Sie Ihrer Klugheit überlassen:“

Er sprach’s und eilte hinunter, sich auf eine steinerne Bank zu setzen, die vor der Haustüre stand.

Kaum hatte er, gedrückt von verdrüßlichen Gedanken, daselbst Platz genommen, als Philine singend zur Haustüre herausschlenderte und sich zu ihm, ja man dürfte beinahe sagen auf ihn setzte, so nahe rückte sie an ihn an, lehnte sich auf seine Schulter, spielte mit seinen Locken, streichelte ihn und gab ihm die besten Worte von der Welt: Er möchte ja bleiben und sie nicht frühzeitig verlassen.

Endlich, da er sie abzuweisen suchte, schlang sie ihren Arm um seinen Hals und küßte ihn mit dem lebhaftesten Ausdrucke des Verlangens. „Sind Sie toll, Philine“, sagte Wilhelm, indem er sich loszumachen suchte, „die öffentliche Straße zum Zeugen solcher Liebkosungen zu machen, die ich auf keine Weise verdiene? Lassen Sie mich los, ich kann nicht und werde nicht bleiben!“ – „Und ich werde dich festhalten“, sagte sie, „und ich werde dich hier auf öffentlicher Straße so lange küssen, bis du mir es versprichst. Ich lache mich zum Tode“, fuhr sie fort, „nach dieser Vertraulichkeit halten mich die Leute gewiß für deine Frau, und die Ehemänner, die so eine anmutige Szene entweder sehen oder davon hören, werden mich als ein Muster einer recht kindlich unbefangenen Zärtlichkeit ihren Weibern anpreisen.“ Sie liebkosete ihn, eben da einige Leute vorbeigingen, auf das andringlichste, und er, um kein Skandal zu geben, war gezwungen, die Rolle des geduldigen Ehemannes zu spielen.

Wenn die Leute eine Strecke vorbei waren, brach sie in ein unerträgliches Gelächter aus, dann trieb sie wieder voll Übermut allerlei ausgelassene Ungezogenheiten; zuletzt mußte er versprechen, daß er noch heute und morgen und übermorgen bleiben wollte. „Sie sind ein rechter Stock!“ sagte sie darauf, indem sie ihm einen Stoß gab und von ihm abließ; „ich habe wahrhaftig niemals so viel Freundlichkeit an den Ältesten und Härtesten umsonst verschwendet.“ Sie stand mit einigem Widerwillen auf und kehrte lachend zurück. „Ich glaube eben darum, daß ich in dich vernarrt bin“, rief sie; „ich will nur gehen und meinen Strickstrumpf holen, daß ich etwas zu tun habe.“ Diesmal tat sie ihm unrecht. Denn so sehr er von ihr sich zu enthalten strebte, so würde er doch in diesem Augenblicke, wenn eine Laube sie mit Einsamkeit umgeben hätte, ihre Liebkosungen wahrscheinlich nicht unerwidert gelassen haben.

„Erinnerst du dich nicht“, sagte sie, „habe ich mein Strickzeug mit zu Tische gebracht?“ – „Ich habe nichts gesehen“, versetzte er. „So wird es auf meiner Kammer liegen.“ Und sie ging, nachdem sie ihm einen Blick zugeworfen, in das Haus. Er hatte keinen Beruf, ihr zu folgen, vielmehr empfand er einen Widerwillen und Verdruß über ihr Betragen, doch hob er sich, ohne es selbst recht zu wissen, von der Bank, um ihr nachzugehen.

Er war eben im Begriffe, die Türe hineinzutreten, als ihn ein Knabe aufhielt, der die Gasse heraufgekommen war und ein Päckchen an einem Stocke auf dem Rücken trug. Nach seiner mit Puder bestäubten Kleidung mußte man ihn für einen reisenden Perückenmacher halten, Mit einer offenen, dreisten, lebhaften Zudringlichkeit fragte er Wilhelmen: „Können Sie mir nicht sagen, ist hier eine Gesellschaft Komödianten abgetreten?“ – „Es wohnen einige Schauspieler hier“, versetzte der Gefragte. Der Wirt des Hauses trat eben herzu, und der junge Pursche fuhr fort: „Es muß eine Mademoiselle dabei sein, die sich Philine nennt, ist sie zu Hause.“ – „O ja“, sagte der Wirt, „oben im zweiten Stocke am Ende des Ganges ist ihre Kammer, ich habe sie eben hinaufgehen sehen.“ Der Fremdling hörte es mit großen blauen, von Freude leuchtenden Augen an, und ohne sich zu verweilen, war er mit wenigen Sprüngen hinauf.

Insgeheim regte sich ein Verdruß in Wilhelms Busen, er war unentschlüssig, ob er folgen oder bleiben sollte. Ein Reuter, der vor dem Wirtshause stillehielt, dessen gutes Ansehen und fast trutzige Miene ihn aufmerksam machte, hielt ihn auf der Schwelle zurück, besonders da ihm der Wirt wie einem sehr bekannten Freunde die Hand reichte, ihn willkommen hieß und fragte: „Ei, Herr Stallmeister, wie kriegt man Sie einmal wieder zu sehen?“ – „Ich will nur hier füttern“, versetzte der Fremde, „ich muß gleich hinüber auf das Gut, um in der Geschwindigkeit allerlei einrichten zu lassen; der Graf kommt morgen mit seiner Gemahlin nach, sie werden sich eine Zeitlang drüben aufhalten, um den Prinzen von*** auf das beste zu bewirten, weil er in dieser Gegend wahrscheinlich sein Hauptquartier aufschlägt.“ – „Es ist schade, daß Sie nicht bei uns bleiben können“, versetzte der Wirt, „wir haben gute Gesellschaft.“ Ein Reitknecht, der nachgesprengt kam, nahm dem Stallmeister das Pferd ab. Er besprach sich mit dem Wirte leise, sah Wilhelmen von der Seite an, und dieser, da er merkte, daß von ihm die Rede sei, begab sich weg und stieg mit einer höchst verdrüßlichen Empfindung die Treppe hinauf.

Oben nahm ihn Madame Melina in Empfang, redete ihm zu und suchte ihm zu zeigen, daß ihr Mann doch so unrecht nicht habe. Er war ärgerlich, wollte keine Gründe hören, und es war ihm angenehm, daß er eine Ursache fand, verdrüßlich zu tun. Madame Melina, die keine üble Laune an ihm gewöhnt war, fand dies höchst befremdend. „Ich sehe, daß ich Ihre Freundschaft verloren habe“, rief sie aus und begab sich auf ihr Zimmer. Er folgte ihr nicht nach, wie es sonst geschah, wenn eine kleine Verdrießlichkeit unter ihnen entstand und er seinen Fehler wieder gutzumachen geneigt war.

Auf seiner Stube fand er Mignonen mit Schreiben beschäftigt. Das Kind hatte sich eine Zeit her mit großem Fleiße bemüht, alles, was es auswendig wußte, zu schreiben, und hatte seinen väterlichen Freund das Geschriebene zu korrigieren und ihr Anleitung zu einer schönen Hand zu geben gebeten. Sie war unermüdet und wirklich in wenig Wochen schon weit. Sie machte Wilhelmen, wenn er ruhigen Sinnes war, große Freude; diesmal achtete er wenig drauf, was ihm das Kind zeigte, das sich drüber betrübte, indem es eben seine Sache recht gut gemacht zu haben glaubte und einen Lobspruch erwartete.

Die Unruhe, in der sich Wilhelm befand, trieb ihn, nachdem er eine Zeit sich auf dem Gange verweilt, ob er nichts von Philinen und ihrem jungen Abenteurer entdeckte, den Alten aufzusuchen, durch dessen Harfe er die bösen Geister zu verscheuchen hoffte. Man wies ihn, als er nach dem Manne fragte, auf ein schlechtes Wirtshaus in einem entfernten Winkel des Städtchens und in demselben die Treppe hinauf bis auf den Boden, wo ihm der süße Harfenklang aus einer Kammer entgegenschallte. Es waren herzrührende, klagende Töne, von einem traurigen, ängstlichen Gesange begleitet. Er schlich sich an die Türe, und da es eine Art von Phantasie war, womit der gute Alte fast immer die nämlichen Worte begleitend wiederholte, so konnte der Horcher nach einer kurzen Aufmerksamkeit ohngefähr folgendes verstehen:

Wer nie sein Brot mit Tränen aß,

Wer nie die kummervollen Nächte

Auf seinem Bette weinend saß,

Der kennt euch nicht, ihr himmlischen Mächte.

Ihr führt ins Leben uns hinein,

Ihr laßt den Armen schuldig werden,

Dann überlaßt ihr ihn der Pein;

Denn alle Schuld rächt sich auf Erden.

Die wehmütige Klage drang tief in die Seele des Hörers, es schien ihm, als wenn der Alte manchmal von Tränen gehindert würde fortzufahren, dann klangen die Saiten allein, bis wieder leise in gebrochnen Lauten sich die Stimme dazwischen mischte. Wilhelm stand an dem Pfosten, seine Seele war tief gerührt, die Trauer des Unbekannten schloß sein Herz auf, er widerstand nicht dem Mitgefühle und enthielt sich nicht der Tränen, die des Alten herzliche Klage auch aus seinen Augen hervorlockte. Alle Schmerzen, die seine Seele druckten, lösten sich zugleich auf; er überließ sich ihnen ganz, stieß die Kammertüre auf und stand vor dem Alten, der ein schlechtes Bette, den einzigen Hausrat dieser armseligen Wohnung, zu seinem Sitze zu nehmen genötiget gewesen. „Was hast du in mir für Empfindungen rege gemacht, guter Alter!“ rief er aus, „alles, was in meinem Herzen stockte, hast du losgelöst. Laß dich nicht stören, sondern fahre fort, indem du deine Leiden linderst, einen Freund glücklich zu machen.“ Der Alte wollte aufstehen und etwas reden, Wilhelm litt beides nicht, denn er hatte zu Mittage bemerkt, daß der Mann ungerne sprach; er setzte sich vielmehr zu ihm auf den Strohsack nieder. Der Alte trocknete seine Tränen und fing ganz freundlich zu lächeln an. „Wie kommen Sie hierher? Ich wollte Ihnen diesen Abend wieder aufwarten.“ – „Wir sind hier ruhiger“, versetzte Wilhelm. „Singe mir etwas, was du willst, das zu der Lage deiner Seele paßt, und tue nur, als ob ich gar nicht hier wäre, es scheint mir, als ob du heute nicht irren könntest. Ich finde dich sehr glücklich, daß du dich in der Einsamkeit so angenehm beschäftigen und unterhalten kannst und, da du überall ein Fremdling bist, in deinem Herzen die angenehmste Bekanntschaft findest.“ Der Alte sah auf seine Saiten, und nachdem er sanft präludiert, stimmte er an und sang:

Wer sich der Einsamkeit ergibt,

Ach, der ist bald allein.

Ein jeder lebt, ein jeder liebt

Und läßt ihn seiner Pein.

Ja, laßt mich meiner Qual!

O kann ich nur einmal

Recht einsam sein,

Dann bin ich nicht allein.

Es schleicht ein Liebender lauschend sacht,

Ob seine Freundin allein:

So überschleicht bei Tag und Nacht

Mich Einsamen die Pein,

Mich Einsamen die Qual.

Ach, werd ich dann einmal

Einsam im Grabe sein,

Da läßt sie mich allein!

Wir würden zu weitläufig werden und doch die Anmut der seltsamen Unterredung nicht ausdrücken können, die unser Freund mit dem abenteuerlichen Fremden hielt. Auf alles, was der Jüngling zu ihm sagte, antwortete der Alte in der reinsten Übereinstimmung durch Anklänge, die alle verwandte Empfindungen rege machten und ein weites Feld des Denkens eröffneten. Wer einer Versammlung Herrnhuter oder andrer Frommen, die sich auf ihre Weise erbauen, beigewohnt hat, wird sich auch einen Begriff von dieser Szene machen können. Er wird sich erinnern, wie der Liturg seiner Rede einen Teil eines Gesanges einzuflechten weiß, der die Seele dahin erhebt, wohin er wünscht, daß sie ihren Flug nehmen möchte; wie er bald darauf aus einem andern Liede in einer andern Melodie einen Vers hinzufügt und an diesen wieder einen dritten knüpft, der auch die verwandten Ideen der Stelle, der er entwandt ist, mitbringt und durch die neue Verbindung wieder neu und gleichsam individuell wird, als wenn er in dem Augenblicke erfunden worden wäre; wodurch denn aus einem ganz bekannten Kreise von Ideen, aus Liedern und Sprüchen, die vielen zusammen gemein sind, dieser besondern Gesellschaft ihr Nötiges zugeeignet und sie dadurch belebt, gestärkt und erquickt wird –: so erbaute der Alte seinen Gast, indem er die nahen Empfindungen und die entfernten, die wachenden und schlummernden, die angenehmen und schmerzlichen in eine Zirkulation brachte, wodurch unser Freund in einen Zustand versetzt wurde, der sich von seinem bisherigen gedruckten und armseligen Leben wirklich unterschied. Die Gefühle von dem Adel seines Wesens, von der Höhe seiner Bestimmung, das Mitgefühl des Guten und Großen unter den Menschen hervorzubringen, ward aufs neue in ihm lebendig, er pries den Alten und beneidete ihn zugleich, daß er diese Stimmung in seiner Seele hervorgebracht hatte, und wünschte nichts mehr, als mit ihm zu Verbesserung und Bekehrung der Welt gemeine Sache zu machen. Seine alten Ideen von Hoffnung und Zuversicht, die er dem Theater geschenkt hatte, wurden wieder rege, er knüpfte mit unglaublicher Schnelligkeit wieder das Höchste daran, daß ein vernünftiger Mensch, der damals in sein Gehirn hineingeschaut hätte, ihn notwendig müßte für wahnsinnig gehalten haben. Er verließ die elende Kammer mit dem größten Widerstreben, als ihn die Nacht zu weichen zwang, und er war niemals unschlüssiger gewesen, was er tun wollte, könne, solle als auf dem Wege, den er nach dem Quartiere nahm.

Kaum war er zu Hause angelangt, als ihm der Wirt im Vertrauen eröffnete, daß Mamsell Philine an dem Stallmeister des Grafen eine Eroberung gemacht habe; er sei, nachdem er seinen Auftrag auf dem Gute ausgerichtet, in größter Eile zurückgekommen, habe ein Abendessen bestellt, sei eben oben bei ihr, und es scheine, als ob er Anstalten mache, die Nacht dazubleiben. Wilhelm ging, um seinen Verdruß zu verbergen, auf sein Zimmer, als auf einmal ein entsetzliches Geschrei in dem Hause entstand; er hörte eine jugendliche Stimme, die mit Zorn und Drohen durch ein unmäßiges Weinen und Heulen durchbrach, er hörte die Person, von der es kam, oben herunter an seiner Stube vorbei nach dem Hausplatze eilen. Als ihn die Neugierde herunterlockte, fand er den jungen Gesellen, der heute so eifrig nach Mamsell Philinen gefragt hatte. Der Knabe weinte, knirschte, stampfte, drohte mit geballten Fäusten und stellte sich ganz ungebärdig vor Zorn und Verdruß. Mignon stand gegen ihm über und sah ihm mit Verwunderung zu, und der Wirt erklärte einigermaßen diese Erscheinung. Der Knabe sei von seiner Aufnahme bei Philinen lustig und munter gewesen, habe gesungen und gesprungen bis zu der Zeit, da der Stallmeister zurückegekommen, wo er angefangen, seinen Verdruß zu zeigen, die Türe zuzuschlagen und auf und nieder zu rennen. Philine habe ihm befohlen, heute abend bei Tische aufzuwarten, worüber er gleich sein Mißvergnügen bezeigt, auch habe er eine Schüssel mit Ragout, anstatt es auf den Tisch zu setzen, zwischen Mademoiselle und ihren Gast, die ziemlich nahe zusammengesessen, hineingeworfen, worauf ihm der Stallmeister ein paar tüchtige Ohrfeigen gegeben und ihn zur Türe hinausgeschmissen. Er, der Wirt, habe darauf die beiden Personen säubern helfen. Er konnte nicht Worte genug finden, wie übel sie zugerichtet seien. Der Knabe, als er das hörte, fing laut an zu lachen, indem ihm noch immer die Tränen die Backen herunterliefen, er schien sich herzlich darüber zu freuen, bis ihm der Schimpf, den ihm der Stärkere getan, wieder einfiel, wo er wieder von neuem zu heulen und zu drohen anfing. Wilhelm, dem alles doppelt und dreifach verdrüßlich wurde, eilte auf seine Stube und ging vor Langerweile und Unmut zeitig zu Bette.

Sein unruhiger Schlaf wurde durch ein Geräusch unterbrochen, das ihn, da er ohnedies ein wenig erhitzt war, beinahe erschröckt hätte. Er hörte auf dem großen Gange ein Geschlurfe, das mit einem ganz unnatürlichen Ächzen begleitet war und mit einem geheimnisvollen Gerassel und einem leisen Gepolter abwechselte. Er konnte die Töne mit nichts Bekanntem vergleichen, die Neugierde trieb ihn, aufzustehen, und ein Schauer hielt ihn im Bette. Seine eifersüchtige Einbildungskraft, die um Philinens Tür schwebte, verfolgte das Gespenst bis dorthin, und er glaubte zu hören, daß es sich besonders in dem Winkel nicht weit von der Schönen Zimmer aufhielte, als auf einmal ihn ein lauter, durchdringender Schrei aufschröckte und ihn mechanisch aus dem Bette hob. Er hörte gleich darauf ein gewaltiges Gepolter als eines Menschen, der eine steile Treppe herunterfällt, kurz darauf ein stärkeres, als wenn ein anderer hintendreinfiele und beide vor seiner Türe zu liegen kämen. Er riß sie auf und sah beim Schein einer Glaslampe, die gegenüber hing, die seltsamste Gruppe, die eher ein Klump zu nennen gewesen wäre. In ein großes weißes Leintuch gewickelt, lagen zwei Menschen über- und durcheinander auf der Erde, balgten und rauften sich auf das ernstlichste, und eben brachte einer den andern durch einen Vorteil unter sich und schlug wacker mit Fäusten auf ihn zu. Wilhelm hatte kaum seine zweifelhaften Augen auf die Gestalten geworfen, als Philine oben an der Treppe in äußerster Unordnung einer Nachtgestalt mit einem Lichte erschien, das von einem großen Putzen sehr dunkel brannte. Als sie die beiden Kämpfer und Wilhelmen bei ihnen erblickte, schrie sie laut, setzte das Licht auf den Boden und lief nach ihrer Kammer. Das siegreiche Gespenst schlug indessen immer mit einer wütenden Begierde zu, bis Wilhelm endlich einfiel und beide auseinanderbrachte. Wie verwundert war er, als er in dem Siegenden, den er wegriß, den blonden Ankömmling dieses Nachmittages und in dem Besiegten, der schnell aufsprang, den Stallmeister des Grafen erkannte. Beide erschienen nicht in der anständigsten Figur, als das Leintuch zur Erde fiel. Der Streit schien sich mit Wut erneuern zu wollen, und Wilhelm stieß deswegen den Knaben geschwind in sein Zimmer hinein und ersuchte den andern, der mit entsetzlichem Drohen und Fluchen vor ihm stand, sich nur bis morgen früh zu beruhigen und alsdann Genugtuung zu fordern oder zu geben, wie es die Umstände verlangten oder erlaubten. Diese sanften Zureden würden wenig geholfen haben, wenn der Ergrimmte nicht die Schmerzen, die ihm der Fall verursachet, zu empfinden angefangen hätte; er hinkte mit dem Wirte, der auf diesen Lärm auch herbeigelaufen kam, beiseite, und Wilhelm bemächtigte sich des Lichtes, das oben auf der Treppe stand, um seinen neuen Gast zu beleuchten und sich diesen wunderbaren Vorfall aufzuklären.

 
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Vierzehntes Kapitel

Der Knabe sprang wie ein unsinniger Bacchante in der Stube herum, als Wilhelm hineintrat, schlug mit den Beinen aus, warf den Kopf zurücke, vagierte mit den Armen und jauchzte mit einer ausgelaßnen Fröhlichkeit. Er triumphierte über den Sieg, den er davongetragen, über die Rache, die er genommen, über die Freude, die er gestört, und Wilhelm mußte, bis dieser Paroxysmus vorüber war, die Fragen, die er an ihn zu tun hatte, aussetzen.

Zwar ließ sich das Verhältnis dieses jungen Menschen leicht erraten, und er erzählte nichts Unerwartetes, als er Wilhelmen seine Geschichte vertraute, die kürzlich folgende war: Er habe als Lehrbursche in Abwesenheit des Gesellen Philinen frisieren müssen, sie habe ihn an sich gezogen, und er habe eine Art von Bedienten bei ihr gemacht, bis er sich zuletzt mit ihr aus Eifersucht überworfen und von ihr gelaufen. Seine Leidenschaft aber habe ihm keine Ruhe gelassen, daß er sie immer wieder aufsuchen müssen; dreimal habe er schon den Ort des Aufenthaltes nach ihr verändert, und wenn er sich schon verredet und verschworen, von ihr zu lassen, so habe er doch immer, wenn sie weg gewesen, keine Rast noch Ruhe gehabt, sie müsse es ihm angetan haben. Er wolle nun aber auch nichts mehr von ihr wissen. Bei dieser Erzählung wurde er so weich, fing unbändig zu weinen an, warf sich auf die Erde und zeigte einen ausgelassenen Schmerz. Wilhelm glaubte die ganze Geschichte, so wie er sie ihm erzählt hatte, ob es sich gleich in der Folge zeigte, daß er nicht streng bei der Wahrheit geblieben war; allein er erzählte so gut, so treuherzig und wußte dem, was er wirklich empfunden, was ihm wirklich geschehen war, so einen Glanz zu geben, daß dadurch die Lücken versteckt wurden und das Wahrscheinliche Gewißheit erhielt. Dabei ging es unserm Freunde wie harmlosen Lesern solcher Schriften, wo entweder Kunst oder Zufall Wahrheit und Lügen durcheinandergeknetet haben, so daß der Klügere in einen schweren Streit gerät, ob er eins mit dem andern annehmen oder beides zusammen verwerfen soll. Gegen Morgen ward bei dem jungen Abenteurer der Gedanke lebendig, daß der Stallmeister es wohl schwerlich dabei werde bewenden lassen und er auf alle Fälle den kürzern ziehen müsse. Er suchte deswegen in der Stille sein Bündelchen zusammen, empfahl sich Wilhelmen und eilte seines Wegs.

Der Morgen ging in Erwartung der hohen Herrschaft hin, die zwar nur einen Augenblick in dem Gasthofe absteigen sollte, aber doch die Aufmerksamkeit und Neugierde aller Gäste, wie es zu geschehen pflegt, beschäftigte. Man wußte von dem Grafen, daß er ein Herr von großen Kenntnissen und vieler Welt war. Er hatte viel gereist, und man sagte von ihm, er habe in allen Sachen einen entschiedenen Geschmack. Die wenigen Sonderbarkeiten, mit deren Geschichte man sich von ihm trug, kamen nicht in Betrachtung, vielmehr konnte man von der Liebenswürdigkeit seiner Gemahlin zu sprechen kein Ende finden. Indes hatte sich jeder so sauber als möglich angezogen und seinen Posten ausgedacht, wo er sie wollte vorbeiziehen sehen. Als sie in einem hochbepackten englischen Wagen, von dem zwei Bedienten heruntersprangen, vorfuhren, war Philine nach ihrer Art am ersten bei der Hand und stellte sich unter die Türe. „Wer ist Sie?“ sagte die Gräfin im Hereintreten. „Eine Schauspielerin, Ihro Exzellenz zu dienen“, war die Antwort, indem der Schalk mit einem gar frommen und demütigen Gesichte sich neige und der Dame den Rock küßte. Ihr Gemahl, als er von den Leuten, die er umherstehen sah, ein Gleiches hörte, erkundigte sich nach dem letzten Orte ihres Aufenthaltes, ihrer Anzahl und ihrem Direktor. „Wenn es Franzosen wären“, sagte er zu der Gräfin, „so könnten wir dem Prinzen eine unerwartete Freude machen, daß er bei uns seine Lieblingsunterhaltung anträfe.“ – „Es käme darauf an“, sagte die Dame; „wenn diese Leute nicht ungeschickt sind, so wäre es doch immer etwas, und unser Sekretär würde sie schon zustutzen.“

Sie gingen auf ihr Zimmer, und der wachsame Melina präsentierte sich als Direktor oben an der Treppe. „Ruf Er Seine Leute zusammen“, sagte der Graf, „und stell Er mir sie vor, daß ich sehe, was an ihnen ist, und bring Er mir Seine Liste von den Stücken, die Er spielen könnte.“ Melina eilte mit einem tiefen Bücklinge, und in kurzer Zeit stand das Völklein vor dem Grafen im Zimmer. Sie druckten sich vor- und hintereinander, die einen präsentierten sich schlecht aus großer Begierde zu gefallen und die andern nicht besser, weil sie sich leichtsinnig in ihrer Art darstellten. Die Frauen bezeugten der Gräfin, die außerordentlich gnädig und gut war, ihre Ehrfurcht; der Graf musterte indes die Truppe. Er ließ einen jeden sagen, was er gewöhnlich für Rollen spiele, ließ ihn etwas rezitieren und äußerte gegen Melina sein Urteil, welches dieser jederzeit mit der größten Devotion aufnahm. Er sagte jedem, worauf er sich besonders zu legen, was er in seiner Figur und Stellung zu bessern habe, zeigte ihnen einleuchtend, woran es den Deutschen immer fehle, und ließ so außerordentliche Kenntnisse sehen, daß alle in der größten Demut vor so einem erlauchten und erleuchteten Kenner und Beschützer standen und sich keiner Atem zu holen getraute. „Wer ist der Mensch dort in der Ecke?“ fragte der Graf, indem er nach der Türe zu sah und noch einen, der ihm nicht vorgestellt worden war, erblickte. Es mußte sich eine hagere Figur in einem zerrissenen Rocke und schlechten Perücke, die sich bisher verborgen gehalten, gleichfalls nähern. Es pflegte dieser Mensch, der sonst gar nicht in Betrachtung kam, gewöhnlich den Pedanten, Magister und Poeten zu spielen und mußte meistens die Rolle übernehmen, wenn jemand Schläge kriegen oder begossen werden sollte. Er hatte sich gewisse kriechende, lächerliche, furchtsame Bücklinge angewöhnt, und seine stockende Sprache, die zu seinen Rollen paßte, machte gewöhnlich das Volk lachen, so daß er doch nicht ganz verstoßen war. Er nahte sich auf ebendie Weise dem Grafen, neigte sich vor demselbigen und beantwortete seine Fragen auf die Art, wie er sich in seinen Rollen auf dem Theater zu gebärden pflegte. Der Graf sah ihn mit einer gefälligen Aufmerksamkeit eine Zeitlang als wie mit Überlegung an und rief, indem er sich zu der Gräfin wendete: „Mein Kind, betrachte mir diesen Mann genau, ich hafte dafür, dies ist ein großer Schauspieler oder kann einer werden.“ Der Mensch machte von ganzem Herzen einen albernen, verschämten Bückling, so daß der Graf überlaut lachen mußte. „Geh Er nur! geh Er nur!“ rief der Herr aus; „Er machet Seine Sachen exzellent. Ich wette, dieser Mensch kann spielen, was er will, und es ist schade, daß man ihn bisher zu nichts Bessers gebraucht hat.“

Dieser außerordentliche Vorzug war für alle andere ein Donnerschlag, nur für Melina nicht, der mit einer ehrfurchtsvollen Miene drauf versetzte: „Ach ja, es hat wohl ihm und mehreren von uns nur ein solcher Kenner und eine solche Aufmunterung gefehlt, wie wir sie an Euer Exzellenz zu finden das Glück haben.“ Der Graf trat zu seiner Gemahlin ans Fenster und schien sie über etwas zu fragen. Man sah, daß sie auf das lebhafteste mit ihm übereinstimmte und ihn eifrig zu bitten schien. Drauf kehrte er sich gegen die Gesellschaft und sagte: „Ich kann mich gegenwärtig nicht aufhalten, ich will meinen Sekretär zu euch schicken, und wenn ihr billige Bedingungen macht und euch recht viel Mühe geben wollt, so bin ich nicht abgeneigt, euch auf einige Zeit zu mir zu nehmen.“ Jedes bezeugte seine große Freude darüber, und besonders küßte Philine mit der größten Lebhaftigkeit der Gräfin die Hände. „Sieht Sie, Kleine!“ sagte die Dame, indem sie dem leichtfertigen Mädchen die Backen klopfte, „sieht Sie, mein Kind, da kommt Sie wieder zu mir. Ich will schon mein Versprechen halten, Sie muß sich nur besser anziehen.“ Philine entschuldigte sich, daß sie wenig auf ihre Garderobe zu wenden habe, und sogleich befahl die Gräfin, daß ihre Kammerfrauen einen englischen Hut und ein seidnes Halstuch, das leicht auszupacken war, heraufgeben sollten. Es kam, und sie putzte selbst Philinen an, die fortfuhr, sich mit einer scheinheiligen, unschuldigen Miene gar anmutig dabei zu gebärden und zu betragen.

Als der Graf weg war, brachte man mit großem Freudengeschrei und Jubel diese Nachricht Wilhelmen. Er wünschte ihnen Glück und ließ sich erzählen, was vorgefallen war, welches er mit einiger Verwunderung anhörte. Philine produzierte ihr Geschenke, und da er ihr einen verdrüßlichen Seitenblick zuwarf, ging sie singend aus der Stube. Melina bat ihn, er möchte sich doch geschwind mit ihm zusammensetzen, was sie für Stücke dem Grafen, als ob sie solche schon gespielt hätten, angeben könnten. „Sie haben doch nichts von mir gesagt?“ fiel Wilhelm ein. „Ich glaubte mich nicht dazu berechtigt“, sagte Melina. „Sie werden doch auf alle Fälle mit hinübergehen“, sagte Madame mit aller Lebhaftigkeit. „Ich bin es nicht willens“, versetzte Wilhelm. Der Taumel, daß sich nun wieder auf einige Wochen glückliche Aussichten eröffneten, ergriff die ganze Gesellschaft, und jeder ward lebendig, tat Vorschläge, sprach von Rollen, die er spielen würde, und die Klügsten gingen in die Küche und bestellten ein besseres Mittagessen, als man bisher einzunehmen gewohnt war.

 
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Funfzehntes Kapitel

Der Sekretär kam. Es war ein kleiner, hagerer, lebhafter Mensch, einer von denen, welche man damals Freunde der schönen Wissenschaften nannte und die man eigentlich Liebhaber des Unnützen und Mittelmäßigen hätte nennen sollen; denn indem sie den Kreis notwendiger und brauchbarer Kenntnisse verließen, glaubten sie sich dem Schönen und Angenehmen ausschließlich zu übergeben. Allein sie betrogen sich hierinne gar sehr; denn ein jeder, der in sich die Lust fühlte, auch etwas hervorzubringen, liebte nur das Schöne, insofern es in seinem Gesichtskreise lag, und sein Geschmack ergriff gar gerne das Gemeine und Mittelmäßige für etwas Gutes und Vortreffliches, weil er alsdann mit ebendem Rechte seine Geburten zu demselbigen Range erheben konnte, und so beglückten eine große Anzahl Junger und Alter sich mit wechselseitiger Verehrung. Der Sekretär, vor dem sie sich alle fürchteten, vor dem Melina besonders in Ängsten war, er möge als ein Kenner gar bald die schwache Seite des kleinen Haufens entdecken, gar leicht übersehen, daß sie eigentlich keine formierte Truppe seien, indem es fast in jedem vorgegebenen Stücke an den Hauptrollen fehlte, setzte sie gar bald außer aller Verlegenheit, indem er sie mit dem größten Enthusiasmus begrüßte, sich glücklich pries, eine deutsche Gesellschaft so unvermutet zu finden, mit ihr in Verbindung zu kommen und die vaterländischen Musen in das Schloß seines Herrn einzuführen. Er brachte bald nach diesem Willkommen ein Manuskript aus der Tasche und bat sie, eine Komödie, die er selbst verfertiget, anzuhören. Willig schlossen sie einen Kreis und freuten sich, mit so geringen Kosten die Gunst dieses notwendigen Mannes sich befestigen zu können, obgleich ein jeder nach der Dicke des Heftes übermäßig lange Zeit befürchtete. Auch fand es sich wirklich so. Es war ein Stück in fünf Aufzügen von der Art, die gar kein Ende nehmen, dergleichen die Deutschen, wenn es nicht anders ungerechte Vorwürfe flüchtiger, ausländisch gesinnter Geister sind, mehrere haben sollen. Unter dem Lesen hatte jeder Zuhörer Raum genug, an sich selber zu denken und ganz sachte aus der Demut, in der sie sich noch vor einer Stunde fühlten, zu einer glücklichen Selbstgefälligkeit emporzusteigen und von da aus die anmutigen Aussichten zu überschauen, die sich ihnen so unerwartet aufgetan hatten. Der entzückte Schriftsteller verlor auch nichts bei diesen heimlichen Abwesenheiten, denn sie bezeigten ihren Beifall nur desto öfter, und wenn einer ein Stelle als fürtrefflich bezeichnete, fielen die andern im Chorus mit ein.

Der Handel war also bald geschlossen. Er versprach, sie im Wirtshause auszulösen, freie Wohnung und Tafel auf dem Schlosse und zuletzt einen Zuschuß zum Reisegelde, wenn sie wieder abgingen. Die Frauen versicherte er, es werde ohne Geschenke von Kleidern und kleinen Nippes nicht abgehen, so daß alle miteinander gleichsam durch ein Zauberwort zu andern Menschen umgeschaffen wurden. Statt daß sie heute früh sich noch in kriechender Demut herumdrückten, ganz bescheiden ein Glas Bier von dem Wirte forderten, gegen jedermann höflich und behutsam, auch untereinander still und einig waren, so entstand nunmehr ein Rufen, Schreien, Befehlen, Schelten in dem Hause, jeder verlangte etwas Besseres als der andere, verlangte es geschwinder, daß dem Wirte der Kopf herumging und er glauben mußte, seine Hausgesellschaft habe sich um das Doppelte und Dreifache vermehrt.

Frau Melina suchte über Wilhelmen zu gewinnen, daß er mit ihnen gehen sollte, wozu er sich nicht entschließen konnte. „Ich werde wohl meinen Weg endlich für mich nehmen müssen“, sagte er zu ihr halblaut, daß es Mignon nicht hören konnte, der ohnweit davon stand und auf das Gespräch heimlich lauerte.

 
 * 

Sechzehntes Kapitel

Als Wilhelm für sich allein das, was er heute gesehen und gehört, wiederholte und überlegte, rief er aus: „Wie schwankend ist doch das Urteil des Menschen, selbst der Verständigsten! Dieser vornehme Herr, dieser erfahrne Weltmann, ein großer Kenner, wendet, wahrscheinlich durch einen launigen Irrtum des Augenblickes, seinen Beifall dem Elendesten und Abgeschmacktesten der ganzen Gesellschaft zu, und eine witzige, kluge, fürtreffliche Dame schenkt ihre Gunst einer liederlichen Kreatur, die sich die Verachtung jeder wohldenkenden Seele recht mit Fleiß zuzuziehen bemüht scheint, und sie halten ihren Sekretär für einen Kenner, ja wohl für einen guten Schriftsteller. Es wird nicht lange währen, so müssen ihnen die Augen aufgehen, der Betrug ist zu greifen. Indes geschieht doch so vielen andern unrecht, und der Einfluß des Höhern und Angesehnern, der nützen und helfen sollte, schadet.“

Diese Gedanken wurden durch eine Rückkehr auf sich selbst unterbrochen; denn er schwankte zwischen Zweifel und Notwendigkeit. Er konnte voraussehen, daß er mit auf das Schloß des Grafen werde gehen müssen, und hatte tausend Ursachen, es nicht zu tun. Wenn sich der Mensch in Umständen befindet, die zu dem Raume, den sein Geist einnehmen sollte, in keinem Verhältnisse stehen, wenn er eingeengt, umwunden und verstrickt ist und er lange dagegen gearbeitet hat, gewöhnt er sich endlich zu einer dunkeln, gutmütigen Geduld und folgt gelassen den trüben Pfaden seines Schicksales. Wenn dann manchmal ein Blitz aus einer höheren Sphäre ihn umleuchtet, schaut er freudig auf, die Seele erhebt sich, er fühlt sich wieder, doch bald, von der Schwere seines Zustandes niedergezogen, gibt er das geahndete Glück mit gelindem Murren wieder auf und überläßt sich nach geringem Widerstreben der Gewalt, die den Stärkern wie den Schwachen dahinreißt. Und doch kann man einen solchen Menschen glücklich nennen in Vergleich mit andern, die sich in Umständen befinden, in denen sich unser Freund befand.

Seit jener Überraschung, die ihn auf das Theater brachte, hatte er noch nicht Zeit gehabt, zu sich selbst zu kommen. Die heimlichen Wirkungen jenes Schrittes gingen immer in seinem Herzen fort, ohne daß er sich dessen bewußt war, nur gleichsam im Traume erinnerte er sich jenes glücklichen Abends, wo er sich seiner liebsten, innigsten Leidenschaft im Taumel ergeben hatte; die süße Befriedigung des Beifalles labte ihn noch in stiller Erinnerung, er nährte ein heftiges Bedürfnis, sich jenen Genuß wieder zu verschaffen. Die Anhänglichkeit des Kindes, dieser geheimnisvollen Kreatur, gab seinem Wesen eine gewisse Konsistenz, mehr Stärke und Gewicht, welches immer geschieht, wenn zwei gute Seelen sich miteinander vereinigen oder auch nur sich einander nähern. Die flüchtige Neigung zu Philinen regte seine Lebensgeister zu einer anmutigen Begierde, mit Harfenspiel und Gesang erhub ihn der Alte zu den höchsten Gefühlen, und er genoß in Augenblicken mehr würkliche und würdigere Glückseligkeit, als er sich von seinem ganzen Leben erinnerte. Dagegen legten sich alle leidige irdischen Lasten auf die andere Schale: die Gesellschaft, in der er sich befand und die man beinahe schlecht nennen durfte, ihre Unfähigkeit als Schauspieler und die Einbildung auf ihre Fähigkeiten, die unerträgliche Ansprüche Philinens, die enge Politik Melinas, die Forderungen seiner Frau, die Notwendigkeit, das teure Kind früher oder später seinem Schicksale zu überlassen, der Mangel an Gelde und an irgendeinem schicklichen Mittel, ihm abzuhelfen. So schwankte die Schale herüber und hinüber, oder vielmehr, aus so widersprechend gefärbten Faden war das Gewebe gewebt, daß es wie ein übel schielender Taft zugleich angenehme und widrige Farben aus einer Falte dem Auge entgegenwarf, und wenn mir Gleichnisse zu häufen erlaubt ist, wie aus Seide und grobem Hanfe war diese Flechte gezwirnt, geflochten und verknotet darzu, daß es unmöglich war, eins von dem andern zu sondern, und unserm Helden nichts übrigblieb, als sich in diese Bande zu ergeben oder alles miteinander durchzuschneiden. Solche Umstände sind es, in denen sich ein guter, auch entschloßner Mensch jahrelang hinschleppt und weder Hand noch Fuß zu rühren wagt, in einem immer leidenden Zustande bleibt, wenn ihn die größte Not nicht zu wählen und zu handeln treibt. Aber auch alsdann ist ihm nicht geholfen. Selten, daß der Mensch fähig ist und daß es ihm das Schicksal zuläßt, nach einer Reihe von Leiden, nach einer Folge von Verbindungen mit sich selbst und andern ganz reine Wirtschaft zu machen; man entschließt sich so ungern zum Bankerotte wie zum Tode und sucht sich mit Borgen und Zahlen und Vertrösten, mit Pallieren und Flicken so lange hinzuhalten als möglich. Der Geist beschäftigt sich, arbeitet immer, wie er zu einem freien, ganzen, reinen Zustande gelangen könne, und der Augenblick nötigt ihn immer, in der Enge halb, vielleicht gar schief zu handeln, ein Übel für das andre zu ergreifen und, wenn das Glück groß ist, aus dem Regen in die Traufe zu schwanken; dies ist es, was, oft wiederholt, Herr über den besten Kopf wird, was heftige, leidenschaftliche Menschen in eine Art von Wahnsinn versetzt, der in der Folge ganz und gar unheilbar werden muß.

Wie sehr fühlte Wilhelm die Beschwerden dieses Zustandes, und wie vergebens arbeitete er, um sich daraus zu versetzen! Sein altes bürgerliches Verhältnis war schon wie durch eine Kluft von ihm getrennt und er in einen neuen Stand aufgenommen und eingeweiht, da er noch als Fremdling in dessen Vorhöfen zu verweilen glaubte. Sein Geist ward vom Hin- und Widersinnen müde. Er ging endlich gedankenlos im Zimmer auf und nieder, sein gepreßtes Herz strebte nach Erleichterung, und eine bängliche Wehmut bemächtigte sich seiner. Er warf sich in einen Sessel und war sehr bewegt. Mignon trat herein und fragte: ob sie ihn aufwickeln dürfe? Das Kind war eine Zeit her stiller und immer stiller geworden, Wilhelm hatte sie, ohne es zu merken, vernachlässigt, sie fühlte es desto tiefer.

Nichts ist rührender, als wenn eine Liebe, die sich im stillen genährt, eine Treue, die sich im verborgenen befestiget hat, endlich dem, der ihrer bisher nicht wert gewesen, zur rechten Stunde nahekömmt und offenbar wird. Die lang und streng verschlossene Knospe war reif, und Wilhelms Herz konnte nicht empfänglicher sein. Sie stand vor ihm und sah seine Unruhe. „Herr!“ rief sie aus, „wenn du unglücklich bist, was soll aus Mignon werden?“ – „Liebes Geschöpf“, sagte er, indem er ihre Hände nahm, „du bist auch mit unter meinen Schmerzen.“ Sie sah ihm in die Augen, die von verhaltenen Tränen blinkten, und kniete mit Heftigkeit vor ihm nieder; er behielt ihre Hände, sie legte ihr Haupt auf seine Knie und war ganz stille. Er spielte mit ihren Haaren und war freundlich. Sie blieb lange ruhig. Endlich fühlte er eine Art Zucken durch alle ihre Glieder, das ganz sachte anfing und sich stärker verbreitete. „Was ist dir, Mignon?“ rief er aus, „was ist dir?“ Sie richtete ihr Köpfchen auf und sah ihn an, fuhr auf einmal nach dem Herzen, wie mit einer Gebärde, die Schmerzen verbeißt. Er hub sie auf, und sie fiel auf seinen Schoß, er druckte sie an sich und küßte sie. Sie antwortete durch keinen Händedruck, durch keine Bewegung. Sie hielt ihr Herz fest, und auf einmal tat sie einen Schrei, der mit krampfigen Bewegungen des Körpers begleitet war. Sie fuhr auf und fiel auch sogleich wie an allen Gelenken gebrochen vor ihm nieder. Es war ein gräßlicher Anblick. „Mein Kind!“ rief er aus, indem er sie aufhob und fest umarmte, „mein Kind, was ist dir?“ Die Zuckung dauerte fort, die vom Herzen sich den schlotternden Gliedern mitteilte, sie hing nur in seinen Armen. Er schloß sie an sein Herz und benetzte sie mit seinen Tränen. Auf einmal schien sie wieder angespannt und angespannter, wie eins, das den höchsten körperlichen Schmerz erträgt; und bald, mit einer neuen Heftigkeit wurden alle ihre Glieder wieder lebendig, und sie warf sich ihm, wie ein Ressort, das zuschlägt, um den Hals, indem in ihrem Innersten wie ein gewaltiger Riß geschah, und in dem Augenblicke floß ein Strom von Tränen aus ihren geschlossenen Augen in seinen Busen. Er hielt sie fest. Sie weinte und weinte, und keine Zunge spricht die Gewalt dieser Tränen aus. Ihre langen Haare waren aufgegangen und hingen von der Weinenden nieder, und ihr ganzes Wesen schien in einen Bach von Tränen unaufhaltsam dahinzuschmelzen. Ihre starren Glieder wurden gelinder, es ergoß sich ihr Innerstes, und in der Verirrung des Augenblickes fürchtete Wilhelm, sie werde in seinen Armen zerschmelzen und er nichts von ihr übrigbehalten. Er hielt sie nur fester und fester. „Mein Kind!“ rief er aus, „mein Kind! du bist ja mein! wenn dich das Wort trösten kann! du bist mein! Ich werde dich behalten! dich nicht verlassen!“ Ihre Tränen flossen noch immer. Endlich richtete sie sich auf. Eine weiche Heiterkeit glänzte von ihrem Gesichte. „Mein Vater!“ rief sie, „du willst mich nicht verlassen! willst mein Vater sein! Ich bin dein Kind!“

Sanft fing vor der Türe die Harfe an zu klingen, der Alte brachte seine herzlichsten Lieder dem Freunde zum Abendopfer, der, sein Kind immer fester in den Armen haltend, des reinsten, unbeschreiblichsten Glückes genoß.

 
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