Vierter Teil

Vorwort

Bei Behandlung einer mannigfaltig vorschreitenden Lebensgeschichte, wie die ist, die wir zu unternehmen gewagt haben, kommen wir, um gewisse Ereignisse faßlich und lesbar zu machen, in den Fall, einiges, was in der Zeit sich verschlingt, notwendig zu trennen, anderes, was nur durch eine Folge begriffen werden kann, in sich selbst zusammenzuziehn und so das Ganze in Teile zusammenzustellen, die man sinnig überschauend beurteilen und sich davon manches zueignen mag.

Mit dieser Betrachtung eröffnen wir den gegenwärtigen Band, damit sie zu Rechtfertigung unseres Verfahrens beitrage, und fügen die Bitte hinzu, unsre Leser möchten bedenken, daß sich diese hier fortgesetzte Erzählung nicht gerade ans Ende des vorigen Buches anschließt, sondern daß sie die Hauptfäden sämtlich nach und nach wieder aufzunehmen und sowohl Personen als Gesinnungen und Handlungen in einer redlich gründlichen Folge vorzuführen beabsichtigt.

 
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Sechzehntes Buch

Wie man zu sagen pflegt: daß kein Unglück allein komme, so läßt sich auch wohl bemerken, daß es mit dem Glück ähnlicher Weise beschaffen sei; ja auch mit andern Umständen, die sich auf eine harmonische Weise um uns versammeln; – es sei nun, daß ein Schicksal dergleichen auf uns lege, oder daß der Mensch die Kraft habe, das, was zusammengehört, an sich heranzuziehen.

Wenigstens machte ich diesmal die Erfahrung, daß alles übereinstimmte, um einen äußeren und inneren Frieden hervorzubringen. Jener ward mir zuteil, indem ich den Ausgang dessen gelassen abwartete, was man für mich im Sinne hegte und vornahm; zu diesem aber sollte ich durch erneute Studien gelangen.

Ich hatte lange nicht an Spinoza gedacht, und nun ward ich durch Widerrede zu ihm getrieben. In unsrer Bibliothek fand ich ein Büchlein, dessen Autor gegen jenen eigenen Denker heftig kämpfte, und, um dabei recht wirksam zu Werke zu gehen, Spinozas Bildnis dem Titel gegenüber gesetzt hatte, mit der Unterschrift: Signum reprobationis in vultu gerens, daß er nämlich das Zeichen der Verwerfung und Verworrenheit im Angesicht trage. Dieses konnte man freilich bei Erblickung des Bildes nicht leugnen: denn der Kupferstich war erbärmlich schlecht und eine vollkommne Fratze; wobei mir denn jene Gegner einfallen mußten, die irgend jemand, dem sie mißwollen, zuvörderst entstellen und dann als ein Ungeheuer bekämpfen.

Dieses Büchlein jedoch machte keinen Eindruck auf mich, weil ich überhaupt Kontroversen nicht liebte; indem ich immer lieber von dem Menschen erfahren mochte, wie er dachte, als von einem andern hören, wie er hätte denken sollen. Doch führte mich die Neugierde auf den Artikel »Spinoza« in Bayles Wörterbuch, einem Werke, das wegen Gelehrsamkeit und Scharfsinn ebenso schätzbar und nützlich, als wegen Klätscherei und Salbaderei lächerlich und schädlich ist.

Der Artikel »Spinoza« erregte in mir Mißbehagen und Mißtrauen. Zuerst sogleich wird der Mann als Atheist, und seine Meinungen als höchst verwerflich angegeben; sodann aber zugestanden, daß er ein ruhig nachdenkender und seinen Studien obliegender Mann, ein guter Staatsbürger, ein mitteilender Mensch, ein ruhiger Particulier gewesen; und so schien man ganz das evangelische Wort vergessen zu haben: an ihren Früchten sollt ihr sie erkennen! – Denn wie will doch ein Menschen und Gott gefälliges Leben aus verderblichen Grundsätzen entspringen?

Ich erinnerte mich noch gar wohl, welche Beruhigung und Klarheit über mich gekommen, als ich einst die nachgelassenen Werke jenes merkwürdigen Mannes durchblättert. Diese Wirkung war mir noch ganz deutlich, ohne daß ich mich des Einzelnen hätte erinnern können; ich eilte daher abermals zu den Werken, denen ich so viel schuldig geworden, und dieselbe Friedensluft wehte mich wieder an. Ich ergab mich dieser Lektüre und glaubte, indem ich in mich selbst schaute, die Welt niemals so deutlich erblickt zu haben.

Da über diesen Gegenstand so viel und auch in der neuern Zeit gestritten worden, so wünschte ich nicht mißverstanden zu werden und will hier einiges über jene so gefürchtete, ja verabscheute Vorstellungsart einzurücken nicht unterlassen.

Unser physisches sowohl als geselliges Leben, Sitten, Gewohnheiten, Weltklugheit, Philosophie, Religion, ja so manches zufällige Ereignis, alles ruft uns zu, daß wir entsagen sollen. So manches, was uns innerlich eigenst angehört, sollen wir nicht nach außen hervorbilden, was wir von außen zu Ergänzung unsres Wesens bedürfen, wird uns entzogen, dagegen aber so vieles aufgedrungen, das uns so fremd als lästig ist. Man beraubt uns des mühsam Erworbenen, des freundlich Gestatteten, und ehe wir hierüber recht ins klare sind, finden wir uns genötigt, unsere Persönlichkeit erst stückweis und dann völlig aufzugeben. Dabei ist es aber hergebracht, daß man denjenigen nicht achtet, der sich deshalb ungebärdig stellt, vielmehr soll man, je bittrer der Kelch ist, eine desto süßere Miene machen, damit ja der gelassene Zuschauer nicht durch irgend eine Grimasse beleidigt werde.

Diese schwere Aufgabe jedoch zu lösen, hat die Natur den Menschen mit reichlicher Kraft, Tätigkeit und Zähigkeit ausgestattet. Besonders aber kommt ihm der Leichtsinn zu Hülfe, der ihm unzerstörlich verliehen ist. Hiedurch wird er fähig, dem Einzelnen in jedem Augenblick zu entsagen, wenn er nur in dem andern nach etwas Neuem greifen darf; und so stellen wir uns unbewußt unser ganzes Leben immer wieder her. Wir setzen eine Leidenschaft an die Stelle der andern; Beschäftigungen, Neigungen, Liebhabereien, Steckenpferde, alles probieren wir durch, um zuletzt auszurufen, daß alles eitel sei. Niemand entsetzt sich vor diesem falschen, ja gotteslästerlichen Spruch, ja man glaubt etwas Weises und Unwiderlegliches gesagt zu haben. Nur wenige Menschen gibt es, die diese unerträgliche Empfindung vorausahnden, und, um allen partiellen Resignationen auszuweichen, sich ein für allemal im ganzen resignieren.

Diese überzeugen sich von dem Ewigen, Notwendigen, Gesetzlichen und suchen sich solche Begriffe zu bilden, welche unverwüstlich sind, ja durch die Betrachtung des Vergänglichen nicht aufgehoben, sondern viel mehr bestätigt werden. Weil aber hierin wirklich etwas Übermenschliches liegt, so werden solche Personen gewöhnlich für Unmenschen gehalten, für Gott- und Weltlose; ja man weiß nicht, was man ihnen alles für Hörner und Klauen andichten soll.

Mein Zutrauen auf Spinoza ruhte auf der friedlichen Wirkung, die er in mir hervorbrachte, und es vermehrte sich nur, als man meine werten Mystiker des Spinozismus anklagte; als ich erfuhr, daß Leibniz selbst diesem Vorwurf nicht entgehen können, ja daß Boerhaave, wegen gleicher Gesinnungen verdächtig, von der Theologie zur Medizin übergehen müssen.

Denke man aber nicht, daß ich seine Schriften hätte unterschreiben und mich dazu buchstäblich bekennen mögen. Denn daß niemand den andern versteht, daß keiner bei denselben Worten dasselbe was der andere denkt, daß ein Gespräch, eine Lektüre bei verschiedenen Personen verschiedene Gedankenfolgen aufregt, hatte ich schon allzu deutlich eingesehn, und man wird dem Verfasser von »Werther« und »Faust« wohl zutrauen, daß er, von solchen Mißverständnissen tief durchdrungen, nicht selbst den Dünkel gehegt, einen Mann vollkommen zu verstehen, der, als Schüler von Descartes, durch mathematische und rabbinische Kultur sich zu dem Gipfel des Denkens hervorgehoben, der bis auf den heutigen Tag noch das Ziel aller spekulativen Bemühungen zu sein scheint.

Was ich mir aber aus ihm zugeeignet, würde sich deutlich genug darstellen, wenn der Besuch, den der ewige Jude bei Spinoza abgelegt, und den ich als ein wertes Ingrediens zu jenem Gedichte mir ausgedacht hatte, niedergeschrieben übrig geblieben wäre. Ich gefiel mir aber in dem Gedanken so wohl, und beschäftigte mich im stillen so gern damit, daß ich nicht dazu gelangte, etwas aufzuschreiben; dadurch erweiterte sich aber der Einfall, der als vorübergehender Scherz nicht ohne Verdienst gewesen wäre, dergestalt, daß er seine Anmut verlor und ich ihn als lästig aus dem Sinne schlug. Insofern mir aber die Hauptpunkte jenes Verhältnisses zu Spinoza unvergeßlich geblieben sind, indem sie eine große Wirkung auf die Folge meines Lebens ausübten, will ich so kurz und bündig als möglich eröffnen und darstellen.

Die Natur wirkt nach ewigen, notwendigen, dergestalt göttlichen Gesetzen, daß die Gottheit selbst daran nichts ändern könnte. Alle Menschen sind hierin, unbewußt, vollkommen einig. Man bedenke, wie eine Naturerscheinung, die auf Verstand, Vernunft, ja auch nur auf Willkür deutet, uns Erstaunen, ja Entsetzen bringt.

Wenn sich in Tieren etwas Vernunftähnliches hervortut, so können wir uns von unserer Verwunderung nicht erholen: denn ob sie uns gleich so nahe stehen, so scheinen sie doch durch eine unendliche Kluft von uns getrennt und in das Reich der Notwendigkeit verwiesen. Man kann es daher jenen Denkern nicht übelnehmen, welche die unendlich kunstreiche aber doch genau beschränkte Technik jener Geschöpfe für ganz maschinenmäßig erklärten.

Wenden wir uns zu den Pflanzen, so wird unsre Behauptung noch auffallender bestätigt. Man gebe sich Rechenschaft von der Empfindung, die uns ergreift, wenn die berührte Mimosa ihre gefiederten Blätter paarweise zusammen faltet, und endlich das Stielchen wie an einem Gewerbe niederklappt. Noch höher steigt jene Empfindung, der ich keinen Namen geben will, bei Betrachtung des Hedysarum gyrans, das seine Blättchen, ohne sichtlich äußere Veranlassung, auf und nieder senkt und mit sich selbst, wie mit unsern Begriffen, zu spielen scheint. Denke man sich einen Pisang, dem diese Gabe zugeteilt wäre, so daß er die ungeheuren Blätterschirme für sich selbst wechselsweise niedersenkte und aufhübe, jedermann, der es zum erstenmal sähe, würde vor Entsetzen zurücktreten. So eingewurzelt ist bei uns der Begriff unsrer eignen Vorzüge, daß wir ein für allemal der Außenwelt keinen Teil daran gönnen mögen, ja daß wir dieselben, wenn es nur anginge, sogar unsresgleichen gerne verkümmerten.

Ein ähnliches Entsetzen überfällt uns dagegen, wenn wir den Menschen unvernünftig gegen allgemein anerkannte sittliche Gesetze, unverständig gegen seinen eignen und fremden Vorteil handeln sehen. Um das Grauen loszuwerden, das wir dabei empfinden, verwandeln wir es sogleich in Tadel, in Abscheu und wir suchen uns von einem solchen Menschen entweder wirklich oder in Gedanken zu befreien.

Diesen Gegensatz, welchen Spinoza so kräftig heraushebt, wendete ich aber auf mein eignes Wesen sehr wunderlich an, und das Vorhergesagte soll eigentlich nur dazu dienen, um das, was folgt, begreiflich zu machen.

Ich war dazu gelangt, das mir inwohnende dichterische Talent ganz als Natur zu betrachten, um so mehr, als ich darauf gewiesen war, die äußere Natur als den Gegenstand desselben anzusehen. Die Ausübung dieser Dichtergabe konnte zwar durch Veranlassung erregt und bestimmt werden; aber am freudigsten und reichlichsten trat sie unwillkürlich, ja wider Willen hervor.

Durch Feld und Wald zu schweifen,

Mein Liedchen weg zu pfeifen,

So ging’s den ganzen Tag.

Auch beim nächtlichen Erwachen trat derselbe Fall ein, und ich hatte oft Lust, wie einer meiner Vorgänger, mir ein ledernes Wams machen zu lassen, und mich zu gewöhnen, im Finstern, durchs Gefühl, das, was unvermutet hervorbrach, zu fixieren. Ich war so gewohnt, mir ein Liedchen vorzusagen, ohne es wieder zusammen finden zu können, daß ich einigemal an den Pult rannte und mir nicht die Zeit nahm, einen quer liegenden Bogen zurecht zu rücken, sondern das Gedicht von Anfang bis zu Ende, ohne mich von der Stelle zu rühren, in der Diagonale herunterschrieb. In eben diesem Sinne griff ich weit lieber zu dem Bleistift, welcher williger die Züge hergab: denn es war mir einigemal begegnet, daß das Schnarren und Spritzen der Feder mich aus meinem nachtwandlerischen Dichten aufweckte, mich zerstreute und ein kleines Produkt in der Geburt erstickte. Für solche Poesien hatte ich eine besondere Ehrfurcht, weil ich mich doch ohngefähr gegen dieselben verhielt, wie die Henne gegen die Küchlein, die sie ausgebrütet um sich her piepsen sieht. Meine frühere Lust, diese Dinge nur durch Vorlesungen mitzuteilen, erneute sich wieder, sie aber gegen Geld umzutauschen schien mir abscheulich.

Hiebei will ich eines Falles gedenken, der zwar später eintrat. Als nämlich meinen Arbeiten immer mehr nachgefragt, ja eine Sammlung derselben verlangt wurde, jene Gesinnungen aber mich abhielten, eine solche selbst zu veranstalten; so benutzte Himburg mein Zaudern, und ich erhielt unerwartet einige Exemplare meiner zusammengedruckten Werke. Mit großer Frechheit wußte sich dieser unberufene Verleger eines solchen dem Publikum erzeigten Dienstes gegen mich zu rühmen und erbot sich, mir dagegen, wenn ich es verlangte, etwas Berliner Porzellan zu senden. Bei dieser Gelegenheit mußte mir einfallen, daß die Berliner Juden, wenn sie sich verheurateten, eine gewisse Partie Porzellan nehmen mußten, damit die königliche Fabrik einen sichern Absatz hätte. Die Verachtung, welche daraus gegen den unverschämten Nachdrucker entstand, ließ mich den Verdruß übertragen, den ich bei diesem Raub empfinden mußte. Ich antwortete ihm nicht, und indessen er sich an meinem Eigentum gar wohl behaben mochte, rächte ich mich im Stillen mit folgenden Versen:

Holde Zeugen süß verträumter Jahre,

Falbe Blumen, abgeweihte Haare,

Schleier, leicht geknickt, verblichne Bänder,

Abgeklungener Liebe Trauerpfänder,

Schon gewidmet meines Herdes Flammen,

Rafft der freche Sosias zusammen,

Eben als wenn Dichterwerk und Ehre

Ihm durch Erbschaft zugefallen wäre;

Und mir Lebenden soll sein Betragen

Wohl am Tee- und Kaffeetisch behagen?

Weg das Porzellan, das Zuckerbrot!

Für die Himburgs bin ich tot.

Da jedoch eben die Natur, die dergleichen größere und kleinere Werke unaufgefordert in mir hervorbrachte, manchmal in großen Pausen ruhte und ich in einer großen Zeitstrecke selbst mit Willen nichts hervorzubringen imstande war, und daher öfters Langeweile empfand; so trat mir bei jenem strengen Gegensatz der Gedanke entgegen, ob ich nicht von der andern Seite das, was menschlich, vernünftig und verständig an mir sei, zu meinem und anderer Nutzen und Vorteil gebrauchen und die Zwischenzeit, wie ich es ja auch schon getan und wie ich immer stärker aufgefordert wurde, den Weltgeschäften widmen und dergestalt nichts von meinen Kräften ungebraucht lassen sollte? Ich fand dieses, was aus jenen allgemeinen Begriffen hervorzugehen schien, mit meinem Wesen, mit meiner Lage so übereinstimmend, daß ich den Entschluß faßte, auf diese Weise zu handeln und mein bisheriges Schwanken und Zaudern dadurch zu bestimmen. Sehr angenehm war mir zu denken, daß ich für wirkliche Dienste von den Menschen auch reellen Lohn fordern; jene liebliche Naturgabe dagegen als ein Heiliges uneigennützig auszuspenden fortfahren dürfte. Durch diese Betrachtung rettete ich mich von der Bitterkeit, die sich in mir hätte erzeugen können, wenn ich bemerken mußte, daß gerade das so sehr gesuchte und bewunderte Talent in Deutschland als außer dem Gesetz und vogelfrei behandelt werde. Denn nicht allein in Berlin hielt man den Nachdruck für etwas Zulässiges, ja Lustiges, sondern der ehrwürdige, wegen seiner Regententugenden gepriesene Markgraf von Baden, der zu so vielen Hoffnungen berechtigende Kaiser Joseph begünstigten, jener seinen Macklot, dieser seinen Edlen von Trattner, und es war ausgesprochen, daß die Rechte, sowie das Eigentum des Genies dem Handwerker und Fabrikanten unbedingt preisgegeben seien.

Als wir uns einst hierüber bei einem besuchenden Badenser beklagten, erzählte er uns folgende Geschichte. Die Frau Markgräfin, als eine tätige Dame, habe auch eine Papierfabrik angelegt, die Ware sei aber so schlecht geworden, daß man sie nirgends habe unterbringen können. Darauf habe Buchhändler Macklot den Vorschlag getan, die deutschen Dichter und Prosaisten auf dieses Papier abzudrucken, um dadurch seinen Wert in etwas zu erhöhen. Mit beiden Händen habe man dieses angenommen.

Wir erklärten zwar diese böse Nachrede für ein Märchen, ergötzten uns aber doch daran. Der Name Macklot ward zu gleicher Zeit für einen Schimpfnamen erklärt und bei schlechten Begebenheiten wiederholt gebraucht. Und so fand sich eine leichtsinnige Jugend, welche gar manchmal borgen mußte, indes die Niederträchtigkeit sich an ihren Talenten bereicherte, durch ein paar gute Einfälle hinreichend entschädigt.

Glückliche Kinder und Jünglinge wandeln in einer Art von Trunkenheit vor sich hin, die sich dadurch besonders bemerklich macht, daß die Guten, Unschuldigen das Verhältnis der jedesmaligen Umgebung kaum zu bemerken, noch weniger anzuerkennen wissen. Sie sehen die Welt als einen Stoff an, den sie bilden, als einen Vorrat, dessen sie sich bemächtigen sollen. Alles gehört ihnen an, ihrem Willen scheint alles durchdringlich; gar oft verlieren sie sich deshalb in einem wilden wüsten Wesen. Bei den Bessern jedoch entfaltet sich diese Richtung zu einem sittlichen Enthusiasmus, der sich nach Gelegenheit zu irgend einem wirklichen oder scheinbaren Guten aus eignem Triebe hinbewegt, sich aber auch öfters leiten, führen und verführen läßt.

Der Jüngling, von dem wir uns unterhalten, war in einem solchen Falle, und wenn er den Menschen auch seltsam vorkam, so erschien er doch gar manchem willkommen. Gleich bei dem ersten Zusammentreten fand man einen unbedingten Freisinn, eine heitere Offenherzigkeit im Gespräch, und ein gelegentliches Handeln ohne Bedenken. Von letzterem einige Geschichtchen.

In der sehr eng in einander gebauten Judengasse war ein heftiger Brand entstanden. Mein allgemeines Wohlwollen, die daraus entspringende Lust zu tätiger Hülfe trieb mich, gut angekleidet wie ich ging und stand, dahin. Man hatte von der Allerheiligengasse her durchgebrochen, an diesen Zugang verfügt ich mich; ich fand daselbst eine große Anzahl Menschen mit Wassertragen beschäftigt, mit vollen Eimern sich hin drängend, mit leeren herwärts. Ich sah gar bald, daß, wenn man eine Gasse bildete, wo man die Eimer herauf- und herabreichte, die Hülfe die doppelte sein würde. Ich ergriff zwei volle Eimer und blieb stehen, rief andere an mich heran, den Kommenden wurde die Last abgenommen und die Rückkehrenden reihten sich auf der andern Seite. Die Anstalt fand Beifall, mein Zureden und persönliche Teilnahme ward begünstigt und die Gasse, vom Eintritt bis zum brennenden Ziele, war bald vollendet und geschlossen. Kaum aber hatte die Heiterkeit, womit dieses geschehen, eine frohe, man kann sagen eine lustige Stimmung in dieser lebendigen, zweckmäßig wirkenden Maschine aufgeregt, als der Mutwille sich schon hervortat und der Schadenfreude Raum gab. Armselige Flüchtende, ihre jammervolle Habe auf dem Rücken schleppend, mußten, einmal in die bequeme Gasse geraten, unausweichlich hindurch und blieben nicht unangefochten. Mutwillige Knabenjünglinge spritzten sie an und fügten Verachtung und Unart noch dem Elend hinzu. Gleich aber, durch mäßiges Zureden und rednerische Strafworte, mit Rücksicht wahrscheinlich auf meine reinlichen Kleider, die ich vernachlässigte, ward der Frevel eingestellt.

Neugierige meiner Freunde waren herangetreten, den Unfall zu beschauen, und schienen verwundert, ihren Gesellen in Schuhen und seidenen Strümpfen – denn anders ging man damals nicht – in diesem feuchten Geschäfte zu sehen. Wenige konnt’ ich heranziehen, andere lachten und schüttelten die Köpfe. Wir hielten lange stand, denn bei manchen Abtretenden verstanden sich auch manche dazu, sich anzuschließen; viele Schaulustige folgten aufeinander, und so ward mein unschuldiges Wagnis vielen bekannt, und die wunderliche Lizenz mußte zur Stadtgeschichte des Tags werden.

Ein solcher Leichtsinn im Handeln nach irgend einer gutmütigen heitern Grille, hervortretend aus einem glücklichen Selbstgefühl, was von den Menschen leicht als Eitelkeit getadelt wird, machte unsern Freund auch noch durch andere Wunderlichkeiten bemerklich.

Ein sehr harter Winter hatte den Main völlig mit Eis bedeckt und in einen festen Boden verwandelt. Der lebhafteste, notwendige und lustig gesellige Verkehr regte sich auf dem Eise. Grenzenlose Schrittschuhbahnen, glattgefrorne weite Stellen wimmelten von bewegter Versammlung. Ich fehlte nicht vom frühen Morgen an und war also, wie späterhin meine Mutter, dem Schauspiel zuzusehen, angefahren kam, als leichtgekleidet wirklich durchgefroren. Sie saß im Wagen in ihrem roten Sammetpelze, der, auf der Brust mit starken goldnen Schnüren und Quasten zusammengehalten, ganz stattlich aussah. »Geben Sie mir, liebe Mutter, Ihren Pelz!« rief ich aus dem Stegreife, ohne mich weiter besonnen zu haben, »mich friert grimmig.« Auch sie bedachte nichts weiter; im Augenblick hatte ich den Pelz an, der, purpurfarb bis an die Waden reichend, mit Zobel verbrämt und mit Gold geschmückt, zu der braunen Pelzmütze, die ich trug, gar nicht übel kleidete. So fuhr ich sorglos auf und ab, auch war das Gedränge so groß, daß man die seltene Erscheinung nicht einmal sonderlich bemerkte, obschon einigermaßen: denn man rechnete mir sie später unter meinen Anomalien im Ernst und Scherze wohl einmal wieder vor.

Nach solchen Erinnerungen eines glücklichen unbedachten Handelns schreiten wir an dem eigentlichen Faden unsrer Erzählung fort.

Ein geistreicher Franzos hat schon gesagt: wenn irgend ein guter Kopf die Aufmerksamkeit des Publikums durch ein verdienstliches Werk auf sich gezogen hat, so tut man das möglichste, um zu verhindern, daß er jemals dergleichen wieder hervorbringt.

Es ist so wahr: irgend etwas Gutes, Geistreiches wird in stiller abgesonderter Jugend hervorgebracht, der Beifall wird erworben, aber die Unabhängigkeit verloren, man zerrt das konzentrierte Talent in die Zerstreuung, weil man denkt, man könne von seiner Persönlichkeit etwas abzupfen und sich zueignen.

In diesem Sinne erhielt ich manche Einladungen, oder nicht so wohl Einladungen. Ein Freund, ein Bekannter schlug mir vor, gar oft mehr als dringend, mich da oder dort einzuführen.

Der quasi Fremde, angekündigt als Bär, wegen oftmaligen unfreundlichen Abweisens, dann wieder als Hurone Voltaires, Cumberlands Westindier, als Naturkind bei so vielen Talenten, erregte die Neugierde, und so beschäftigte man sich in verschiedenen Häusern mit schicklichen Negotiationen, ihn zu sehen.

Unter andern ersuchte mich ein Freund eines Abends, mit ihm ein kleines Konzert zu besuchen, welches in einem angesehnen reformierten Handelshause gegeben wurde. Es war schon spät, doch weil ich alles aus dem Stegreife liebte, folgte ich ihm, wie gewöhnlich anständig angezogen. Wir treten in ein Zimmer gleicher Erde, in das eigentliche geräumige Wohnzimmer. Die Gesellschaft war zahlreich, ein Flügel stand in der Mitte, an den sich sogleich die einzige Tochter des Hauses niedersetzte und mit bedeutender Fertigkeit und Anmut spielte. Ich stand am unteren Ende des Flügels, um ihre Gestalt und Wesen nahe genug bemerken zu können; sie hatte etwas Kindartiges in ihrem Betragen, die Bewegungen, wozu das Spiel sie nötigte, waren ungezwungen und leicht.

Nach geendigter Sonate trat sie ans Ende des Pianos gegen mir über, wir begrüßten uns ohne weitere Rede, denn ein Quartett war schon angegangen. Am Schluß trat ich etwas näher und sagte einiges Verbindliche: wie sehr es mich freue, daß die erste Bekanntschaft mich auch zugleich mit ihrem Talent bekannt gemacht habe. Sie wußte gar artig meine Worte zu erwidern, behielt ihre Stellung und ich die meinige. Ich konnte bemerken, daß sie mich aufmerksam betrachtete und daß ich ganz eigentlich zur Schau stand, welches ich mir gar wohl konnte gefallen lassen, da man mir auch etwas gar Anmutiges zu schauen gab. Indessen blickten wir einander an, und ich will nicht leugnen, daß ich eine Anziehungskraft von der sanftesten Art zu empfinden glaubte. Das Hin- und Herwogen der Gesellschaft und ihrer Leistungen verhinderte jedoch jede andere Art von Annäherung diesen Abend. Doch muß ich eine angenehme Empfindung gestehen, als die Mutter beim Abschied zu erkennen gab, sie hofften mich bald wieder zu sehen, und die Tochter mit einiger Freundlichkeit einzustimmen schien. Ich verfehlte nicht, nach schicklichen Pausen, meinen Besuch zu wiederholen, da sich denn ein heiteres verständiges Gespräch bildete, welches kein leidenschaftliches Verhältnis zu weissagen schien.

Indessen brachte die einmal eingeleitete Gastfreiheit unsres Hauses den guten Eltern und mir selbst manche Unbequemlichkeit; in meiner Richtung, die immer darauf hinging, das Höhere gewahr zu werden, es zu erkennen, es zu fördern und wo möglich solches nachbildend zu gestalten, war ich dadurch in nichts weiter gebracht. Die Menschen, insofern sie gut waren, waren fromm, und, insofern sie tätig waren, unklug und oft ungeschickt. Jenes konnte mir nichts helfen, und dieses verwirrte mich; einen merkwürdigen Fall habe ich sorgfältig niedergeschrieben.

Im Anfang des Jahres 1775 meldete Jung, nachher Stilling genannt, vom Niederrhein, daß er nach Frankfurt komme, berufen, eine bedeutende Augenkur daselbst vorzunehmen; er war mir und meinen Eltern willkommen, und wir boten ihm das Quartier an.

Herr von Lersner, ein würdiger Mann in Jahren, durch Erziehung und Führung fürstlicher Kinder, verständiges Betragen bei Hof und auf Reisen überall geschätzt, erduldete schon lange das Unglück einer völligen Blindheit, doch konnte seine Sehnsucht nach Hülfe nicht ganz erlöschen. Nun hatte Jung seit einigen Jahren mit gutem Mut und frommer Dreistigkeit viele Staroperationen am Niederrhein vollbracht und sich dadurch einen ausgebreiteten Ruf erworben; Redlichkeit seiner Seele, Zuverlässigkeit des Charakters und reine Gottesfurcht bewirkten ihm ein allgemeines Zutrauen, dieses verbreitete sich stromaufwärts auf dem Wege vielfacher Handelsverbindungen. Herr von Lersner und die Seinigen, beraten von einem einsichtigen Arzte, entschlossen sich, den glücklichen Augenarzt kommen zu lassen, wenn schon ein Frankfurter Kaufmann, an dem die Kur mißglückt war, ernstlich abriet; aber was bewies auch ein einzelner Fall gegen so viele gelungene! Doch Jung kam, nunmehr angelockt durch eine bedeutende Belohnung, deren er gewöhnlich bisher entbehrt hatte; er kam, seinen Ruf zu vermehren, getrost und freudig, und wir wünschten uns Glück zu einem so wackern und heitern Tischgenossen.

Nach mehreren ärztlichen Vorbereitungen ward nun endlich der Star auf beiden Augen gestochen; wir waren höchst gespannt, es hieß, der Patient habe nach der Operation sogleich gesehen, bis der Verband das Tageslicht wieder abgehalten. Allein es ließ sich bemerken, daß Jung nicht heiter war und daß ihm etwas auf dem Herzen lag; wie er mir denn auch auf weiteres Nachforschen bekannte, daß er wegen Ausgang der Kur in Sorgen sei. Gewöhnlich, und ich hatte selbst in Straßburg mehrmals zugesehen, schien nichts leichter in der Welt zu sein, wie es denn auch Stillingen hundertmal gelungen war. Nach vollbrachtem schmerzlosen Schnitt durch die unempfindliche Hornhaut sprang bei dem gelindesten Druck die trübe Linse von selbst heraus, der Patient erblickte sogleich die Gegenstände und mußte sich nur mit verbundenen Augen gedulden, bis eine vollbrachte Kur ihm erlaubte, sich des köstlichen Organs nach Willen und Bequemlichkeit zu bedienen. Wie mancher Arme, dem Jung dieses Glück verschafft, hatte dem Wohltäter Gottessegen und Belohnung von oben herabgewünscht, welche nun durch diesen reichen Mann abgetragen werden sollte.

Jung bekannte, daß es diesmal so leicht und glücklich nicht hergegangen: die Linse sei nicht herausgesprungen, er habe sie holen und zwar, weil sie angewachsen, ablösen müssen; dies sei nun nicht ohne einige Gewalt geschehen. Nun machte er sich Vorwürfe, daß er auch das andere Auge operiert habe. Allein man hatte sich so fest vorgesetzt, beide zugleich vorzunehmen, an eine solche Zufälligkeit hatte man nicht gedacht und, da sie eingetreten, sich nicht sogleich erholt und besonnen. Genug, die zweite Linse kam nicht von selbst, sie mußte auch mit Unstatten abgelöst und herausgeholt werden.

Wie übel ein so gutmütiger, wohlgesinnter, gottesfürchtiger Mann in einem solchen Falle dran sei, läßt keine Beschreibung noch Entwicklung zu; etwas Allgemeines über eine solche Sinnesart steht vielleicht hier am rechten Platze.

Auf eigene moralische Bildung loszuarbeiten, ist das Einfachste und Tulichste, was der Mensch vornehmen kann; der Trieb dazu ist ihm angeboren; er wird durch Menschenverstand und Liebe dazu im bürgerlichen Leben geleitet, ja gedrängt.

Stilling lebte in einem sittlich religiosen Liebesgefühl; ohne Mitteilung, ohne guten Gegenwillen konnte er nicht existieren, er forderte wechselseitige Neigung; wo man ihn nicht kannte, war er still, wo man den Bekannten nicht liebte, war er traurig; deswegen befand er sich am besten mit solchen wohlgesinnten Menschen, die in einem beschränkten ruhigen Berufskreise mit einiger Bequemlichkeit sich zu vollenden beschäftigt sind.

Diesen gelingt nun wohl, die Eitelkeit abzutun, dem Bestreben nach äußerer Ehre zu entsagen, Behutsamkeit im Sprechen sich anzueignen, gegen Genossen und Nachbarn ein freundliches gleiches Betragen auszuüben.

Oft liegt hier eine dunkle Geistesform zum Grunde, durch Individualität modifiziert; solche Personen, zufällig angeregt, legen große Wichtigkeit auf ihre empirische Laufbahn, man hält alles für übernatürliche Bestimmung, mit der Überzeugung, daß Gott unmittelbar einwirke.

Dabei ist im Menschen eine gewisse Neigung, in seinem Zustand zu verharren, zugleich aber auch sich stoßen und führen zu lassen, und eine gewisse Unentschlossenheit, selbst zu handeln; diese vermehrt sich, bei Mißlingen der verständigsten Plane, sowie durch zufälliges Gelingen günstig zusammentreffender unvorhergesehener Umstände.

Wie nun durch eine solche Lebensweise ein aufmerksames männliches Betragen verkümmert wird, so ist die Art, in einen solchen Zustand zu gelangen, gleichfalls gefährlich.

Wovon sich nun solche Sinnesverwandten am liebsten unterhalten, sind die sogenannten Erweckungen, Sinnesänderungen, denen wir ihren psychologischen Wert nicht absprechen. Es sind eigentlich, was wir in wissenschaftlichen und poetischen Angelegenheiten Aperçus nennen: das Gewahrwerden einer großen Maxime, welches immer eine genialische Geistesoperation ist; man kommt durch Anschauen dazu, weder durch Nachdenken noch durch Lehre oder Überlieferung. Hier ist es das Gewahrwerden der moralischen Kraft, die im Glauben ankert und so in stolzer Sicherheit mitten auf den Wogen sich empfinden wird.

Ein solches Aperçu gibt dem Entdecker die größte Freude, weil es auf originelle Weise nach dem Unendlichen hindeutet, es bedarf keiner Zeitfolge zur Überzeugung, es entspringt ganz und vollendet im Augenblick; daher das gutmütige altfranzösische Reimwort:

En peu d’heure

Dieu labeure.

Äußere Anstöße bewirken oft das gewaltsame Losbrechen solcher Sinnesänderung, man glaubt Zeichen und Wunder zu schauen.

Zutrauen und Liebe verband mich aufs herzlichste mit Stilling; ich hatte doch auch gut und glücklich auf seinen Lebensgang eingewirkt, und es war ganz seiner Natur gemäß, alles, was für ihn geschah, in einem dankbaren feinen Herzen zu behalten; aber sein Umgang war mir in meinem damaligen Lebensgange weder erfreulich noch förderlich. Zwar überließ ich gern einem jeden, wie er sich das Rätsel seiner Tage zurechtlegen und ausbilden wollte, aber die Art, auf einem abenteuerlichen Lebensgange alles, was uns vernünftigerweise Gutes begegnet, einer unmittelbaren göttlichen Einwirkung zuzuschreiben, schien mir doch zu anmaßlich, und die Vorstellungsart, daß alles, was aus unserm Leichtsinn und Dünkel, übereilt oder vernachlässigt, schlimme, schwer zu übertragende Folgen hat, gleichfalls für eine göttliche Pädagogik zu halten, wollte mir auch nicht in den Sinn. Ich konnte also den guten Freund nur anhören, ihm aber nichts Erfreuliches erwidern; doch ließ ich ihn, wie so viele andere, gern gewähren und schützte ihn später wie früher, wenn man, gar zu weltlich gesinnt, sein zartes Wesen zu verletzen sich nicht scheute. Daher ich ihm auch den Einfall eines schalkischen Mannes nicht zu Ohren kommen ließ, der einmal ganz ernsthaft ausrief: »Nein! fürwahr, wenn ich mit Gott so gut stünde wie Jung, so würde ich das höchste Wesen nicht um Geld bitten, sondern um Weisheit und guten Rat, damit ich nicht so viel dumme Streiche machte, die Geld kosten und elende Schuldenjahre nach sich ziehen.«

Denn freilich war zu solchem Scherz und Frevel jetzt nicht die Zeit. Zwischen Furcht und Hoffnung gingen mehrere Tage hin; jene wuchs, diese schwand und verlor sich gänzlich; die Augen des braven geduldigen Mannes entzündeten sich, und es blieb kein Zweifel, daß die Kur mißlungen sei.

Der Zustand, in den unser Freund dadurch geriet, läßt keine Schilderung zu; er wehrte sich gegen die innerste tiefste Verzweiflung von der schlimmsten Art. Denn was war nicht in diesem Falle verloren! zuvörderst der größte Dank des zum Lichte wieder Genesenen, das Herrlichste, dessen sich der Arzt nur erfreuen kann, das Zutrauen so vieler andern Hülfsbedürftigen, der Kredit, indem die gestörte Ausübung dieser Kunst eine Familie im hülflosen Zustande zurückließ. Genug, wir spielten das unerfreuliche Drama Hiobs von Anfang bis zu Ende durch, da denn der treue Mann die Rolle der scheltenden Freunde selbst übernahm. Er wollte diesen Vorfall als Strafe bisheriger Fehler ansehen; es schien ihm, als habe er die ihm zufällig überkommenen Augenmittel frevelhaft als göttlichen Beruf zu diesem Geschäft betrachtet; er warf sich vor, dieses höchst wichtige Fach nicht durch und durch studiert, sondern seine Kuren nur so obenhin auf gut Glück behandelt zu haben; ihm kam augenblicklich vor die Seele, was Mißwollende ihm nachgeredet; er geriet in Zweifel, ob dies auch nicht Wahrheit sei, und dergleichen schmerzte um so tiefer, als er sich den für fromme Menschen so gefährlichen Leichtsinn, leider auch wohl Dünkel und Eitelkeit, in seinem Lebensgange mußte zuschulden kommen lassen. In solchen Augenblicken verlor er sich selbst, und wie wir uns auch verständigen mochten, wir gelangten doch nur zuletzt auf das vernünftig-notwendige Resultat: daß Gottes Ratschlüsse unerforschlich seien.

In meinem vorstrebend heitern Sinne wäre ich noch mehr verletzt gewesen, hätte ich nicht, nach herkömmlicher Weise, diese Seelenzustände ernster freundlicher Betrachtung unterworfen und sie mir nach meiner Weise zurecht gelegt; nur betrübte es mich, meine gute Mutter für ihre Sorgfalt und häusliche Bemühung so übel belohnt zu sehen; sie empfand es jedoch nicht bei ihrem unablässig tätigen Gleichmut. Der Vater dauerte mich am meisten. Um meinetwillen hatte er einen streng geschlossenen Haushalt mit Anstand erweitert und genoß besonders bei Tisch, wo die Gegenwart von Fremden auch einheimische Freunde und immer wieder sonstige Durchreisende heranzog, sehr gern eines muntern, ja paradoxen Gespräches, da ich ihm denn, durch allerlei dialektisches Klopffechten, großes Behagen und ein freundliches Lächeln bereitete: denn ich hatte die gottlose Art, alles zu bestreiten, aber nur insofern hartnäckig, daß derjenige, der recht behielt, auf alle Fälle lächerlich wurde. Hieran war nun in den letzten Wochen gar nicht zu denken, denn die glücklichsten heitersten Ereignisse, veranlaßt durch wohlgelungene Nebenkuren des durch die Hauptkur so unglücklichen Freundes, konnten nicht greifen, viel weniger der traurigen Stimmung eine andere Wendung geben.

Denn so machte uns im einzelnen ein alter blinder Betteljude aus dem Isenburgischen zu lachen, der, in dem höchsten Elend nach Frankfurt geführt, kaum ein Obdach, kaum eine kümmerliche Nahrung und Wartung finden konnte, dem aber die zähe orientalische Natur so gut nachhalf, daß er, vollkommen und ohne die mindeste Beschwerde, sich mit Entzücken geheilt sah. Als man ihn fragte: ob die Operation geschmerzt habe? so sagte er nach der hyperbolischen Weise: »Wenn ich eine Million Augen hätte, so wollte ich sie jedesmal für ein halb Kopfstück, sämtlich, nach und nach operieren lassen.« Bei seinem Abwandern betrug er sich in der Fahrgasse ebenso exzentrisch, er dankte Gott auf gut alttestamentlich, pries den Herren und den Wundermann, seinen Gesandten. So schritt er, in dieser langen gewerbreichen Straße, langsam der Brücke zu. Verkäufer und Käufer traten aus den Läden heraus, überrascht durch einen so seltenen frommen, leidenschaftlich vor aller Welt ausgesprochenen Enthusiasmus; alle waren angeregt zur Teilnahme, dergestalt daß er, ohne irgend zu fordern oder zu heischen, mit reichlichen Gaben zur Wegezehrung beglückt wurde.

Eines solchen heitern Vorfalls durfte man in unserm Kreise aber kaum erwähnen; denn, wenn der Ärmste, in seiner sandigen Heimat über Main, in häuslichem Elend höchst glücklich gedacht werden konnte, so vermißte dagegen ein Wohlhabender, Würdiger diesseits das unschätzbare, zunächst gehoffte Behagen.

Kränkend war daher für unsern guten Jung der Empfang der tausend Gulden, die, auf jeden Fall bedungen, von großmütigen Menschen edel bezahlt wurden. Diese Barschaft sollte bei seiner Rückkehr einen Teil der Schulden auslöschen, die auf traurigen, ja unseligen Zuständen lasteten.

Und so schied er trostlos von uns, denn er sah zurückkehrend den Empfang einer sorglichen Frau, das veränderte Begegnen von wohldenkenden Schwiegereltern, die sich, als Bürgen für so manche Schulden des allzu zuversichtlichen Mannes, in der Wahl eines Lebensgefährten für ihre Tochter vergriffen zu haben glauben konnten. Hohn und Spott der ohnehin im Glücke schon Mißwollenden konnte er in diesem und jenem Hause, aus diesem und jenem Fenster schon voraussehen; eine durch seine Abwesenheit schon verkümmerte, durch diesen Unfall in ihren Wurzeln bedrohte Praxis mußte ihn äußerst ängstigen.

So entließen wir ihn, von unserer Seite jedoch nicht ganz ohne Hoffnung; denn seine tüchtige Natur, gestützt auf den Glauben an übernatürliche Hülfe, mußte seinen Freunden eine stillbescheidene Zuversicht einflößen.

 
 * 

Siebzehntes Buch

Wenn ich die Geschichte meines Verhältnisses zu Lili wieder aufnehme, so hab’ ich mich zu erinnern, daß ich die angenehmsten Stunden teils in Gegenwart ihrer Mutter, teils allein mit ihr zubrachte. Man traute mir aus meinen Schriften Kenntnis des menschlichen Herzens, wie man es damals nannte, zu, und in diesem Sinne waren unsre Gespräche sittlich interessant auf jede Weise.

Wie wollte man sich aber von dem Innern unterhalten, ohne sich gegenseitig aufzuschließen? Es währte daher nicht lange, daß sie mir in ruhiger Stunde die Geschichte ihrer Jugend erzählte. Sie war im Genuß aller geselligen Vorteile und Weltvergnügungen aufgewachsen. Sie schilderte mir ihre Brüder, ihre Verwandten, sowie die nächsten Zustände; nur ihre Mutter blieb in einem ehrwürdigen Dunkel.

Auch kleiner Schwächen wurde gedacht, und so konnte sie nicht leugnen, daß sie eine gewisse Gabe anzuziehen an sich habe bemerken müssen, womit zugleich eine gewisse Eigenschaft fahren zu lassen verbunden sei. Hiedurch gelangten wir im Hin- und Widerreden auf den bedenklichen Punkt, daß sie diese Gabe auch an mir geübt habe, jedoch bestraft worden sei, indem sie auch von mir angezogen worden.

Diese Geständnisse gingen aus einer so reinen kindhaften Natur hervor, daß sie mich dadurch aufs allerstrengste sich zu eigen machte.

Ein wechselseitiges Bedürfnis, eine Gewohnheit sich zu sehen, trat nun ein; wie hätt’ ich aber manchen Tag, manchen Abend bis in die Nacht hinein entbehren müssen, wenn ich mich nicht hätte entschließen können, sie in ihren Zirkeln zu sehen!

Mein Verhältnis zu ihr war von Person zu Person, zu einer schönen, liebenswürdigen, gebildeten Tochter; es glich meinen früheren Verhältnissen, und war noch höherer Art. An die Äußerlichkeiten jedoch, an das Mischen und Wiedermischen eines geselligen Zustandes hatte ich nicht gedacht. Ein unbezwingliches Verlangen war eingetreten; ich konnte nicht ohne sie, sie nicht ohne mich sein; aber in den Umgebungen und bei den Einwirkungen einzelner Glieder ihres Kreises, was ergaben sich da oft für Mißtage und Fehlstunden!

Die Geschichte von Lustpartien, die zur Unlust ausliefen; ein retardierender Bruder, mit dem ich nachfahren sollte, welcher seine Geschäfte erst mit der größten Gelassenheit, ich weiß nicht ob mit Schadenfreude, langsamst vollendete und dadurch die ganze wohldurchdachte Verabredung verdarb, auch sonstiges Antreffen und Verfehlen, Ungeduld und Entbehrung, alle diese Peinen, die in irgend einem Roman, umständlicher mitgeteilt, gewiß teilnehmende Leser finden würden, muß ich hier beseitigen. Um aber doch diese betrachtende Darstellung einer lebendigen Anschauung, einem jugendlichen Mitgefühl anzunähern, mögen einige Lieder, zwar bekannt, aber vielleicht besonders hier eindrücklich, eingeschaltet stehen.

Herz, mein Herz, was soll das geben?

Was bedränget dich so sehr?

Welch ein fremdes neues Leben!

Ich erkenne dich nicht mehr.

Weg ist alles, was du liebtest,

Weg warum du dich betrübtest,

Weg dein Fleiß und deine Ruh –

Ach wie kamst du nur dazu?

Fesselt dich die Jugendblüte,

Diese liebliche Gestalt,

Dieser Blick voll Treu und Güte

Mit unendlicher Gewalt?

Will ich rasch mich ihr entziehen,

Mich ermannen, ihr entfliehen,

Führet mich im Augenblick

Ach mein Weg zu ihr zurück.

Und an diesem Zauberfädchen,

Das sich nicht zerreißen läßt,

Hält das liebe lose Mädchen

Mich so wider Willen fest;

Muß in ihrem Zauberkreise

Leben nun auf ihre Weise.

Die Verändrung ach wie groß!

Liebe! Liebe! laß mich los!

Warum ziehst du mich unwiderstehlich

Ach in jene Pracht?

War ich guter Junge nicht so selig

In der öden Nacht!

Heimlich in mein Zimmerchen verschlossen

Lag im Mondenschein,

Ganz von seinem Schauerlicht umflossen,

Und ich dämmert’ ein.

Träumte da von vollen goldnen Stunden

Ungemischter Lust,

Hatte schon das liebe Kind empfunden

Tief in meiner Brust.

Bin ich’s noch, den du bei so viel Lichtern

An dem Spieltisch hältst?

Oft so unerträglichen Gesichtern

Gegenüber stellst?

Reizender ist mir des Frühlings Blüte

Nun nicht auf der Flur;

Wo du, Engel, bist, ist Lieb und Güte,

Wo du bist, Natur.

Hat man sich diese Lieder aufmerksam vorgelesen, lieber noch mit Gefühl vorgesungen, so wird ein Hauch jener Fülle glücklicher Stunden gewiß vorüber wehen.

Doch wollen wir aus jener größeren, glänzenden Gesellschaft nicht eilig abscheiden, ohne vorher noch einige Bemerkungen hinzuzufügen; besonders den Schluß des zweiten Gedichtes zu erläutern.

Diejenige, die ich nur im einfachen, selten gewechselten Hauskleide zu sehen gewohnt war, trat mir im eleganten Modeputz nun glänzend entgegen, und doch war es ganz dieselbe. Ihre Anmut, ihre Freundlichkeit blieb sich gleich, nur möcht’ ich sagen, ihre Anziehungsgabe tat sich mehr hervor; es sei nun, weil sie hier gegen viele Menschen stand, daß sie sich lebhafter zu äußern, sich von mehreren Seiten, je nachdem ihr dieser oder jener entgegen kam, zu vermannigfaltigen Ursache fand; genug, ich konnte mir nicht leugnen, daß diese Fremden mir zwar einerseits unbequem fielen, daß ich aber doch um vieles der Freude nicht entbehrt hätte, ihre geselligen Tugenden kennen zu lernen und einzusehen, sie sei auch weiteren und allgemeineren Zuständen gewachsen.

War es doch derselbige nun durch Putz verhüllte Busen, der sein Innres mir geöffnet hatte und in den ich so klar wie in den meinigen hineinsah; waren es doch dieselben Lippen, die mir so früh den Zustand schilderten, in dem sie herangewachsen, in dem sie ihre Jahre verbracht hatte. Jeder wechselseitige Blick, jedes begleitende Lächeln sprach ein verborgnes edles Verständnis aus, und ich staunte selbst hier in der Menge über die geheime unschuldige Verabredung, die sich auf das menschlichste, auf das natürlichste gefunden hatte.

Doch sollte bei eintretendem Frühling eine anständige ländliche Freiheit dergleichen Verhältnisse enger knüpfen. Offenbach am Main zeigte schon damals bedeutende Anfänge einer Stadt, die sich in der Folge zu bilden versprach. Schöne, für die damalige Zeit prächtige Gebäude hatten sich schon hervorgetan; Onkel Bernard, wie ich ihn gleich mit seinem Familientitel nennen will, bewohnte das größte; weitläufige Fabrikgebäude schlossen sich an; d’Orville, ein jüngerer lebhafter Mann von liebenswürdigen Eigenheiten, wohnte gegenüber. Anstoßende Gärten, Terrassen, bis an den Main reichend, überall freien Ausgang nach der holden Umgegend erlaubend, setzten den Eintretenden und Verweilenden in ein stattliches Behagen. Der Liebende konnte für seine Gefühle keinen erwünschtern Raum finden.

Ich wohnte bei Johann André, und indem ich diesen Mann, der sich nachher genugsam bekannt gemacht, hier zu nennen habe, muß ich mir eine kleine Abschweifung erlauben, um von dem damaligen Opernwesen einigen Begriff zu geben.

In Frankfurt dirigierte zu der Zeit Marchand das Theater und suchte durch seine eigne Person das mögliche zu leisten. Es war ein schöner, groß- und wohlgestalteter Mann in den besten Jahren; das Behagliche, Weichliche erschien bei ihm vorwaltend; seine Gegenwart auf dem Theater war daher angenehm genug. Er mochte so viel Stimme haben, als man damals zu Ausführung musikalischer Werke wohl allenfalls bedurfte, deshalb er denn die kleineren und größern französischen Opern herüber zu bequemen bemüht war.

Der Vater in der Grétryschen Oper »Die Schöne bei dem Ungeheuer« gelang ihm besonders wohl, wo er sich in der hinter dem Flor veranstalteten Vision gar ausdrücklich zu gebärden wußte.

Diese in ihrer Art wohlgelungene Oper näherte sich jedoch dem edlen Stil, und war geeignet, die zartesten Gefühle zu erregen. Dagegen hatte sich ein realistischer Dämon des Operntheaters bemächtigt; Zustands- und Handwerksopern taten sich hervor. »Die Jäger«, »Der Faßbinder«, und ich weiß nicht was alles, waren vorausgegangen, André wählte sich den »Töpfer«. Er hatte sich das Gedicht selbst geschrieben, und in den Text, der ihm angehörte, sein ganzes musikalisches Talent verwendet.

Ich war bei ihm einquartiert, und will von diesem allzeit fertigen Dichter und Komponisten nur so viel sagen, als hier gefordert wird.

Er war ein Mann von angeborenem lebhaften Talente, eigentlich als Techniker und Fabrikant in Offenbach ansässig; er schwebte zwischen dem Kapellmeister und Dilettanten; in Hoffnung, jenes Verdienst zu erreichen, bemühte er sich ernstlich, in der Musik gründlichen Fuß zu fassen. Als letzterer war er geneigt, seine Kompositionen ins Unendliche zu wiederholen.

Unter die Personen, welche damals den Kreis zu füllen und zu beleben sich höchst tätig erwiesen, ist der Pfarrer Ewald zu nennen, der, geistreich heiter in Gesellschaft, die Studien seiner Pflichten, seines Standes im stillen für sich durchzuführen wußte, wie er denn auch in der Folge innerhalb des theologischen Feldes sich ehrenvoll bekannt gemacht; er muß in dem damaligen Kreise als unentbehrlich, auffassend und erwidernd, mitgedacht werden.

Lilis Pianospiel fesselte unsern guten André vollkommen an unsre Gesellschaft; als unterrichtend, meisternd, ausführend, waren wenige Stunden des Tags und der Nacht, wo er nicht in das Familienwesen, in die gesellige Tagesreihe mit eingriff.

Bürgers »Lenore«, damals ganz frisch bekannt und mit Enthusiasmus von den Deutschen aufgenommen, war von ihm komponiert; er trug sie gern und wiederholt vor.

Auch ich, der viel und lebhaft rezitierend vortrug, war sie zu deklamieren bereit; man langweilte sich damals noch nicht an wiederholtem Einerlei. War der Gesellschaft die Wahl gelassen, welchen von uns beiden sie hören wolle, so fiel die Entscheidung oft zu meinen Gunsten.

Dieses alles aber, wie es auch sei, diente den Liebenden nur zur Verlängerung des Zusammenseins; sie wissen kein Ende zu finden, und der gute Johann André war durch wechselsweise Verführung der beiden gar leicht in ununterbrochene Bewegung zu setzen, um bis Nachmitternacht seine Musik wiederholend zu verlängern. Die beiden Liebenden versicherten sich dadurch einer werten unentbehrlichen Gegenwart.

Trat man am Morgen in aller Frühe aus dem Hause, so fand man sich in der freisten Luft, aber nicht eigentlich auf dem Lande. Ansehnliche Gebäude, die zu jener Zeit einer Stadt Ehre gemacht hätten, Gärten, parterreartig übersehbar, mit flachen Blumen-und sonstigen Prunkbeeten, freie Übersicht über den Fluß bis ans jenseitige Ufer, oft schon früh eine tätige Schiffahrt von Flößen und gelenkten Marktschiffen und Kähnen, eine sanft hingleitende lebendige Welt, mit liebevollen zarten Empfindungen im Einklang. Selbst das einsame Vorüberwogen und Schilfgeflüster eines leise bewegten Stromes ward höchst erquicklich und verfehlte nicht, einen entschieden-beruhigenden Zauber über den Herantretenden zu verbreiten. Ein heiterer Himmel der schönsten Jahrszeit überwölbte das Ganze, und wie angenehm mußte sich eine traute Gesellschaft, von solchen Szenen umgeben, morgendlich wiederfinden.

Sollte jedoch einem ernsten Leser eine solche Lebensweise gar zu lose, zu leichtfertig erscheinen, so möge er bedenken, daß zwischen dasjenige, was hier, des Vortrags halben, wie im Zusammenhange geschildert ist, sich Tage und Wochen des Entbehrens, andere Bestimmungen und Tätigkeiten, sogar unerträgliche Langeweile widerwärtig einstellten.

Männer und Frauen waren in ihrem Pflichtkreise eifrig beschäftigt. Auch ich versäumte nicht, in Betracht der Gegenwart und Zukunft, das mir Obliegende zu besorgen, und fand noch Zeit genug, dasjenige zu vollbringen, wohin mich Talent und Leidenschaft unwiderstehlich hindrängten. Die frühsten Morgenstunden war ich der Dichtkunst schuldig, der wachsende Tag gehörte den weltlichen Geschäften, die auf eine ganz eigene Art behandelt wurden. Mein Vater, ein gründlicher, ja eleganter Jurist, führte seine Geschäfte selbst, die ihm sowohl die Verwaltung seines Vermögens als die Verbindung mit wertgeschätzten Freunden auferlegte, und ob ihm gleich sein Charakter als kaiserlicher Rat zu praktizieren nicht erlaubte, so war er doch manchen Vertrauten als Rechtsfreund zur Hand, indem die ausgefertigten Schriften von einem ordinierten Advokaten unterzeichnet wurden, dem denn jede solche Signatur ein Billiges einbrachte.

Diese seine Tätigkeit war nur lebhafter geworden durch mein Herantreten, und ich konnte gar wohl bemerken, daß er mein Talent höher schätzte als meine Praxis und deswegen alles tat, um mir Zeit genug zu meinen poetischen Studien und Arbeiten zu lassen. Gründlich und tüchtig, aber von langsamer Konzeption und Ausführung, studierte er die Akten als geheimer Referendar, und wenn wir zusammentraten, legte er mir die Sache vor, und die Ausfertigung ward von mir mit solcher Leichtigkeit vollbracht, daß es ihm zur höchsten Vaterfreude gedieh, und er auch wohl einmal auszusprechen nicht unterließ: wenn ich ihm fremd wäre, er würde mich beneiden.

Diese Angelegenheiten noch mehr zu erleichtern, hatte sich ein Schreiber zu uns gesellt, dessen Charakter und Wesen, wohl durchgeführt, leicht einen Roman fördern und schmücken könnte. Nach wohlgenutzten Schuljahren, worin er des Lateins völlig mächtig geworden, auch sonstige gute Kenntnisse erlangt hatte, unterbrach ein allzu leichtfertiges akademisches Leben den übrigen Gang seiner Tage; er schleppte sich eine Weile mit siechem Körper in Dürftigkeit hin, und kam erst später in bessere Umstände durch Hülfe einer sehr schönen Handschrift und Rechnungsfertigkeit. Von einigen Advokaten unterhalten, ward er nach und nach mit den Förmlichkeiten des Rechtsganges genau bekannt, und erwarb sich alle, denen er diente, durch Rechtlichkeit und Pünktlichkeit zu Gönnern. Auch unserm Hause hatte er sich verpflichtet und war in allen Rechts- und Rechnungssachen bei der Hand.

Dieser hielt nun von seiner Seite unser sich immer mehr ausdehnendes Geschäft, das sich sowohl auf Rechtsangelegenheiten, als auf mancherlei Aufträge, Bestellungen und Speditionen bezog, zusammen. Auf dem Rathause wußte er alle Wege und Schliche, in den beiden burgemeisterlichen Audienzen war er auf seine Weise gelitten, und da er manchen neuen Ratsherrn, worunter einige gar bald zu Schöffen herangestiegen waren, von seinem ersten Eintritt ins Amt her in seinem noch unsichern Benehmen gar wohl kannte, so hatte er sich ein gewisses Vertrauen erworben, das man gar wohl eine Art von Einfluß nennen konnte. Das alles wußte er zum Nutzen seiner Gönner zu verwenden, und da ihn seine Gesundheit nötigte, seine Tätigkeit mit Maß zu üben, so fand man ihn immer bereit, jeden Auftrag, jede Bestellung sorgfältig auszurichten.

Seine Gegenwart war nicht unangenehm, von Körper schlank und regelmäßiger Gesichtsbildung; sein Betragen nicht zudringlich, aber doch mit einem Ausdruck von Sicherheit seiner Überzeugung, was zu tun sei, auch wohl heiter und gewandt bei wegzuräumenden Hindernissen. Er mochte stark in den Vierzigen sein, und es reut mich noch (ich darf das Obengesagte wiederholen), daß ich ihn nicht als Triebrad in den Mechanismus irgend einer Novelle mit eingefügt habe.

In Hoffnung, meine ernsten Leser durch das Vorgetragene einigermaßen befriedigt zu haben, darf ich mich wohl wieder zu denen glänzenden Tagespunkten hinwenden, wo Freundschaft und Liebe sich in ihrem schönsten Lichte zeigten.

Daß Geburtstage sorgfältig, froh und mit mancher Abwechselung gefeiert wurden, liegt in der Natur solcher Verbindungen; dem Geburtstage des Pfarrers Ewald zu Gunsten ward das Lied gedichtet:

In allen guten Stunden,

Erhöht von Lieb und Wein,

Soll dieses Lied verbunden

Von uns gesungen sein!

Uns hält der Gott zusammen,

Der uns hierher gebracht;

Erneuert unsre Flammen,

Er hat sie angefacht.

Da dies Lied sich bis auf den heutigen Tag erhalten hat und nicht leicht eine muntere Gesellschaft beim Gastmahl sich versammelt, ohne daß es freudig wieder aufgefrischt werde, so empfehlen wir es auch unsern Nachkommen und wünschen allen, die es aussprechen und singen, gleiche Lust und Behagen von innen heraus, wie wir damals, ohne irgend einer weitern Welt zu gedenken, uns im beschränkten Kreise zu einer Welt ausgedehnt empfanden.

Nun aber wird man erwarten, daß Lilis Geburtstag, welcher den 23. Juni 1775 sich zum siebenzehnten Mal wiederholte, besonders sollte gefeiert werden. Sie hatte versprochen, am Mittag nach Offenbach zu kommen, und ich muß gestehen, daß die Freunde mit glücklicher Übereinkunft von diesem Feste alle herkömmlichen Verzierungsphrasen abgelehnt und sich nur allein mit Herzlichkeiten, die ihrer würdig wären, zu Empfang und Unterhaltung vorbereitet hatten.

Mit solchen angenehmen Pflichten beschäftigt, sah ich die Sonne untergehen, die einen folgenden heitern Tag verkündigte und unserm Fest ihre frohe glänzende Gegenwart versprach, als Lilis Bruder George, der sich nicht verstellen konnte, ziemlich ungebärdig ins Zimmer trat, und ohne Schonung zu erkennen gab, daß unser morgendes Fest gestört sei; er wisse selbst weder wie noch wodurch, aber die Schwester lasse sagen, daß es ihr völlig unmöglich sei, morgen mittag nach Offenbach zu kommen und an dem ihr zugedachten Feste teilzunehmen; erst gegen Abend hoffe sie ihre Ankunft bewirken zu können. Nun fühle und wisse sie recht gut, wie unangenehm es mir und unsern Freunden fallen müsse, bitte mich aber so herzlich dringend als sie könne, etwas zu erfinden, wodurch das Unangenehme dieser Nachricht, die sie mir überlasse hinaus zu melden, gemildert, ja versöhnt werde; sie wolle mir’s zum allerbesten danken.

Ich schwieg einen Augenblick, hatte mich auch sogleich gefaßt und wie durch himmlische Eingebung gefunden, was zu tun war. »Eile«, rief ich, »George! sag ihr, sie solle sich ganz beruhigen, möglich machen, daß sie gegen Abend komme, ich verspräche: gerade dieses Unheil solle zum Fest werden.« Der Knabe war neugierig und wünschte zu wissen wie? dies wurde ihm standhaft verweigert, ob er gleich alle Künste und Gewalt zu Hülfe rief, die ein Bruder unserer Geliebten auszuüben sich anmaßt.

Kaum war er weg, so ging ich mit sonderbarer Selbstgefälligkeit in meiner Stube auf und ab, und mit dem frohen, freien Gefühl, daß hier Gelegenheit sei, mich als ihren Diener auf eine glänzende Weise zu zeigen, heftete ich mehrere Bogen mit schöner Seide, wie es dem Gelegenheitsgedicht ziemt, zusammen und eilte den Titel zu schreiben:

»Sie kommt nicht!

ein jammervolles Familienstück, welches, geklagt sei es Gott, den 23. Juni 1775 in Offenbach am Main auf das allernatürlichste wird aufgeführt werden. Die Handlung dauert vom Morgen bis auf’n Abend.«

Da von diesem Scherze weder Konzept noch Abschrift vorhanden, habe ich mich oft darnach erkundigt, aber nie etwas davon wieder erfahren können; ich muß daher es wieder aufs neue zusammendichten, welches im allgemeinen nicht schwer fällt.

Der Schauplatz ist d’Orvilles Haus und Garten in Offenbach; die Handlung eröffnet sich durch die Domestiken, wobei jedes genau seine Rolle spielt und die Anstalten zum Fest vollkommen deutlich werden. Die Kinder mischen sich drein, nach dem Leben gebildet, dann der Herr, die Frau mit eigentümlichen Tätigkeiten und Einwirkungen; dann kommt, indem alles sich in einer gewissen hastigen Geschäftigkeit durcheinander treibt, der unermüdliche Nachbar Komponist Hans André; er setzt sich an den Flügel und ruft alles zusammen, sein eben fertig gewordenes Festlied anzuhören und durchzuprobieren. Das ganze Haus zieht er heran, aber alles macht sich wieder fort, dringenden Geschäften nachzugehen, eins wird vom andern abgerufen, eins bedarf des andern, und die Dazwischenkunft des Gärtners macht aufmerksam auf die Garten- und Wasserszenen; Kränze, Bandrollen mit Inschriften zierlichster Art, nichts ist vergessen.

Als man sich nun eben um die erfreulichsten Gegenstände versammelt, tritt ein Bote herein, der, als eine Art von lustigem Hin- und Widerträger, berechtigt war, auch eine Charakterrolle mitzuspielen, und der durch manches allzugute Trinkgeld wohl ungefähr merken konnte, was für Verhältnisse obwalteten; er tut sich auf sein Paket etwas zugute, hofft ein Glas Wein und Semmelbrot, und übergibt nun, nach einigem schalkhaftem Weigern, die Depesche. Dem Hausherrn sinken die Arme, die Papiere fallen zu Boden, er ruft: »Laßt mich zum Tisch! laßt mich zur Kommode, damit ich nur streichen kann.«

Das geistreiche Zusammensein lebelustiger Menschen zeichnet sich vor allem aus durch eine Sprach-und Gebärdensymbolik. Es entsteht eine Art Gauneridiom, welches, indem es die Eingeweihten höchst glücklich macht, den Fremden unbemerkt bleibt, oder, bemerkt, verdrießlich wird.

Es gehörte zu Lilis anmutigsten Eigenheiten eine, die hier durch Wort und Gebärde als Streichen ausgedrückt ist, und welche stattfand, wenn etwas Anstößiges gesagt oder gesprochen wurde, besonders indem man bei Tische saß, oder in der Nähe von einer Fläche sich befand.

Es hatte dieses seinen Ursprung von einer unendlich lieblichen Unart, die sie einmal begangen, als ein Fremder, bei Tafel neben ihr sitzend, etwas Unziemliches vorbrachte. Ohne das holde Gesicht zu verändern, strich sie mit ihrer rechten Hand gar lieblich über das Tischtuch weg, und schob alles, was sie mit dieser sanften Bewegung erreichte, gelassen auf den Boden. Ich weiß nicht was alles, Messer, Gabel, Brot, Salzfaß, auch etwas zum Gebrauch ihres Nachbars gehörig; es war jedermann erschreckt, die Bedienten liefen zu, niemand wußte was das heißen sollte, als die Umsichtigen, die sich erfreuten, daß sie eine Unschicklichkeit auf eine so zierliche Weise erwidert und ausgelöscht.

Hier war nun also ein Symbol gefunden, für das Ablehnen eines Widerwärtigen, was doch manchmal in tüchtiger, braver, schätzenswerter, wohlgesinnter, aber nicht durch und durch gebildeter Gesellschaft vorzukommen pflegt. Die Bewegung mit der rechten Hand als ablehnend erlaubten wir uns alle, das wirkliche Streichen der Gegenstände hatte sie selbst in der Folge sich nur mäßig und mit Geschmack erlaubt.

Wenn der Dichter nun also dem Hausherrn diese Begierde zu streichen, eine uns zur Natur gewordene Gewohnheit, als Mimik aufgibt; so sieht man das Bedeutende, das Effektvolle; denn indem er alles von allen Flächen herunter zu streichen droht, so hält ihn alles ab, man sucht ihn zu beruhigen, bis er sich endlich ganz ermattet in den Sessel wirft.

»Was ist begegnet!« ruft man aus. »Ist sie krank? Ist jemand gestorben?« »Lest! lest!« ruft d’Orville, »dort liegt’s auf der Erde.« Die Depesche wird aufgehoben, man liest, man ruft: »Sie kommt nicht!«

Der große Schreck hatte auf einen größern vorbereitet; – aber sie war doch wohl! – war ihr nichts begegnet! – Niemand von der Familie hatte Schaden genommen, Hoffnung blieb auf den Abend.

André, der indessen immerfort musiziert hatte, kam doch endlich auch herbei gelaufen, tröstete und suchte sich zu trösten. Pfarrer Ewald und seine Gattin traten gleichfalls charakteristisch ein, mit Verdruß und Verstand, mit unwilligem Entbehren und gemäßigtem Zurechtlegen. Alles ging aber noch bunt durcheinander, bis der musterhaft ruhige Onkel Bernard endlich herankommt, ein gutes Frühstück, ein löblich Mittagsfest erwartend, und der einzige ist, der die Sache aus dem rechten Gesichtspunkte ansieht, beschwichtigende, vernünftige Reden äußert und alles ins gleiche bringt, völlig wie in der griechischen Tragödie ein Gott die Verworrenheiten der größten Helden mit wenigen Worten aufzulösen weiß.

Dies alles ward während eines Teiles der Nacht mit laufender Feder niedergeschrieben und einem Boten übergeben, der am nächsten Morgen Punkt zehn Uhr mit der Depesche in Offenbach einzutreffen unterrichtet war.

Den hellsten Morgen erblickend, wacht’ ich auf, mit Vorsatz und Einrichtung, genau mittags gleichfalls in Offenbach anzulangen.

Ich ward empfangen mit dem wunderlichsten Charivari von Entgegnungen; das gestörte Fest verlautete kaum, sie schalten und schimpften, daß ich sie so gut getroffen hätte; die Dienerschaft war zufrieden, mit der Herrschaft auf gleichem Theater aufgetreten zu sein; nur die Kinder, als die entschiedensten unbestechbarsten Realisten, versicherten hartnäckig: so hätten sie nicht gesprochen und es sei überhaupt alles ganz anders gewesen, als wie es hier geschrieben stünde. Ich beschwichtigte sie mit einigen Vorgaben des Nachtisches, und sie hatten mich wie immer lieb. Ein fröhliches Mittagsmahl, eine Mäßigung aller Feierlichkeiten gab uns die Stimmung, Lili ohne Prunk, aber vielleicht um desto lieblicher zu empfangen. Sie kam und ward von heitern, ja lustigen Gesichtern bewillkommt, beinah betroffen, daß ihr Außenbleiben so viel Heiterkeit erlaube. Man erzählte ihr alles, man trug ihr alles vor und sie, nach ihrer lieben und süßen Art, dankte mir, wie sie allein nur konnte.

Es bedurfte keines sonderlichen Scharfsinns, um zu bemerken, daß ihr Ausbleiben von dem ihr gewidmeten Feste nicht zufällig, sondern durch Hin- und Herreden über unser Verhältnis verursacht war. Indessen hatte dies weder auf unsre Gesinnungen noch auf unser Betragen den mindesten Einfluß.

Ein vielfacher geselliger Zudrang aus der Stadt konnte in dieser Jahrszeit nicht fehlen. Oft kam ich nur spät des Abends zur Gesellschaft, und fand sie dem Scheine nach teilnehmend, und da ich nur oft auf wenige Stunden erschien, so mocht’ ich ihr gern in irgend etwas nützlich sein, indem ich ihr Größeres oder Kleineres besorgt hatte, oder irgend einen Auftrag zu übernehmen kam. Und es ist wohl diese Dienstschaft das Erfreulichste, was einem Menschen begegnen kann; wie uns die alten Ritterromane dergleichen zwar auf eine dunkle aber kräftige Weise zu überliefern verstehen. Daß sie mich beherrsche, war nicht zu verbergen, und sie durfte sich diesen Stolz gar wohl erlauben; hier triumphieren Überwinder und Überwundene, und beide behagen sich in gleichem Stolze.

Dies mein wiederholtes, oft nur kurzes Einwirken war aber immer desto kräftiger. Johann André hatte immer Musikvorrat; auch ich brachte fremdes und eignes Neue; poetische und musikalische Blüten regneten herab. Es war eine durchaus glänzende Zeit; eine gewisse Exaltation waltete in der Gesellschaft, man traf niemals auf nüchterne Momente. Ganz ohne Frage teilte sich dies den übrigen aus unserm Verhältnisse mit. Denn wo Neigung und Leidenschaft in ihrer eignen kühnen Natur hervortreten, geben sie verschüchterten Gemütern Mut, die nunmehr nicht begreifen, warum sie ihre gleichen Rechte verheimlichen sollten. Daher gewahrte man mehr oder weniger versteckte Verhältnisse, die sich nun mehr ohne Scheu durchschlangen. Andere, die sich nicht gut bekennen ließen, schlichen doch behaglich unter der Decke mit durch.

Konnt’ ich denn auch wegen vermannigfaltigter Geschäfte die Tage dort draußen bei ihr nicht zubringen, so gaben die heiteren Nächte Gelegenheit zu verlängertem Zusammensein im Freien. Liebende Seelen werden nachstehendes Ereignis mit Wohlgefallen aufnehmen.

Es war ein Zustand, von welchem geschrieben steht: »Ich schlafe, aber mein Herz wacht«; die hellen wie die dunklen Stunden waren einander gleich, das Licht des Tages konnte das Licht der Liebe nicht überscheinen, und die Nacht wurde durch den Glanz der Neigung zum hellsten Tage.

Wir waren beim klarsten Sternhimmel bis spät in der freien Gegend umher spaziert, und nachdem ich sie und die Gesellschaft von Türe zu Türe nach Hause begleitet und von ihr zuletzt Abschied genommen hatte, fühlte ich mir so wenig Schlaf, daß ich eine frische Spazierwanderung anzutreten nicht säumte. Ich ging die Landstraße nach Frankfurt zu, mich meinen Gedanken und Hoffnungen zu überlassen; ich setzte mich auf eine Bank, in der reinsten Nachtstille, unter den blendenden Sternhimmel, mir selbst und ihr anzugehören.

Bemerkenswert schien mir ein schwer zu erklärender Ton, ganz nahe bei mir; es war kein Rascheln, kein Rauschen, und bei näherer Aufmerksamkeit entdeckte ich, daß es unter der Erde und das Arbeiten von kleinem Getier sei. Es mochten Igel oder Wieseln sein, oder was in solcher Stunde dergleichen Geschäft vornimmt.

Ich war darauf weiter nach der Stadt zu gegangen und an den Röderberg gelangt, wo ich die Stufen, welche nach den Weingärten hinaufführen, an ihrem kalkweißen Scheine erkennen konnte. Ich stieg hinauf, setzte mich nieder und schlief ein.

Als ich wieder aufwachte, hatte die Dämmerung sich schon verbreitet, ich sah mich gegen dem hohen Wall über, welcher in früheren Zeiten als Schutzwehr wider die hüben stehenden Berge aufgerichtet war. Sachsenhausen lag vor mir, leichte Nebel deuteten den Weg des Flusses an; es war frisch, mir willkommen.

Da verharrt’ ich, bis die Sonne nach und nach hinter mir aufgehend das Gegenüber erleuchtete. Es war die Gegend, wo ich die Geliebte wieder sehen sollte, und ich kehrte langsam in das Paradies zurück, das sie, die noch Schlafende, umgab.

Je mehr aber, um des wachsenden Geschäftskreises willen, den ich aus Liebe zu ihr zu erweitern und zu beherrschen trachtete, meine Besuche in Offenbach sparsamer werden und dadurch eine gewisse peinliche Verlegenheit hervorbringen mußten, so ließ sich gar wohl bemerken, daß man eigentlich um der Zukunft willen das Gegenwärtige hintansetze und verliere.

Wie nun meine Aussichten sich nach und nach verbesserten, hielt ich sie für bedeutender, als sie wirklich waren, und dachte um so mehr auf eine baldige Entscheidung, als ein so öffentliches Verhältnis nicht länger ohne Mißbehagen fortzuführen war. Und wie es in solchen Fällen zu gehen pflegt, sprachen wir es nicht ausdrücklich gegen einander aus; aber das Gefühl eines wechselseitigen unbedingten Behagens, die volle Überzeugung, eine Trennung sei unmöglich, das ineinander gleichmäßig gesetzte Vertrauen, das alles brachte einen solchen Ernst hervor, daß ich, der ich mir fest vorgenommen hatte, kein schleppendes Verhältnis wieder anzuknüpfen, und mich doch in dieses, ohne Sicherheit eines günstigen Erfolges, wieder verwickelt fand, wirklich von einem Stumpfsinn befangen war, von dem ich mich zu retten, mich immer mehr in gleichgültige weltliche Geschäfte verwickelte, aus denen ich doch auch nur wieder Vorteil und Zufriedenheit an der Hand der Geliebten zu gewinnen hoffen durfte.

In diesem wunderlichen Zustande, dergleichen doch auch mancher peinlich empfunden haben mag, kam uns eine Hausfreundin zu Hülfe, welche die sämtlichen Bezüge der Personen und Zustände sehr wohl durchsah. Man nannte sie Demoiselle Delph, sie stand mit ihrer ältern Schwester einem kleinen Handelshaus in Heidelberg vor und war der größern Frankfurter Wechselhandlung bei verschiedenen Vorfällen vielen Dank schuldig geworden. Sie kannte und liebte Lili von Jugend auf; es war eine eigne Person, ernsten männlichen Ansehns und gleichen derben, hastigen Schrittes vor sich hin. Sie hatte sich in die Welt besonders zu fügen Ursache gehabt und kannte sie daher wenigstens in gewissem Sinne. Man konnte sie nicht intrigant nennen, sie konnte den Verhältnissen lange zusehen und ihre Absichten stille mit sich forttragen; dann aber hatte sie die Gabe, die Gelegenheit zu ersehen, und wenn sie die Gesinnungen der Personen zwischen Zweifel und Entschluß schwanken sah, wenn alles auf Entschiedenheit ankam, so wußte sie eine solche Kraft der Charaktertüchtigkeit einzusetzen, daß es ihr nicht leicht mißlang, ihr Vorhaben auszuführen. Eigentlich hatte sie keine egoistischen Zwecke; etwas getan, etwas vollbracht, besonders eine Heirat gestiftet zu haben, war ihr schon Belohnung. Unsern Zustand hatte sie längst durchblickt, bei wiederholtem Hiersein durchforscht, so daß sie sich endlich überzeugte, diese Neigung sei zu begünstigen, diese Vorsätze, redlich aber nicht genugsam verfolgt und angegriffen, müßten unterstützt und dieser kleine Roman fördersamst abgeschlossen werden.

Seit vielen Jahren hatte sie das Vertrauen von Lilis Mutter; in meinem Hause durch mich eingeführt, hatte sie sich den Eltern angenehm zu machen gewußt; denn gerade dieses barsche Wesen ist in einer Reichsstadt nicht widerwärtig und, mit Verstand im Hintergrunde, sogar willkommen. Sie kannte sehr wohl unsre Wünsche, unsre Hoffnungen, ihre Lust zu wirken sah darin einen Auftrag; kurz, sie unterhandelte mit den Eltern. Wie sie es begonnen, wie sie die Schwierigkeiten, die sich ihr entgegen stellen mochten, beseitigt, – genug, sie tritt eines Abends zu uns und bringt die Einwilligung. »Gebt euch die Hände!« rief sie, mit ihrem pathetisch gebieterischen Wesen. Ich stand gegen Lili über und reichte meine Hand dar, sie legte die ihre, zwar nicht zaudernd, aber doch langsam, hinein, nach einem tiefen Atemholen fielen wir einander lebhaft in die Arme.

Es war ein seltsamer Beschluß des hohen über uns Waltenden, daß ich in dem Verlaufe meines wundersamen Lebensganges doch auch erfahren sollte, wie es einem Bräutigam zu Mute sei.

Ich darf wohl sagen, daß es für einen gesitteten Mann die angenehmste aller Erinnerungen sei; es ist erfreulich, sich jene Gefühle zu wiederholen, die sich schwer aussprechen und kaum erklären lassen. Der vorhergehende Zustand ist durchaus verändert; die schroffsten Gegensätze sind gehoben, der hartnäckigste Zwiespalt geschlichtet; die vordringliche Natur, die ewig warnende Vernunft, die tyrannisierenden Triebe, das verständige Gesetz, welche sonst in immerwährendem Zwist uns bestritten, alle diese treten nunmehr in freundlicher Einigkeit heran, und bei allgemein gefeiertem frommem Feste wird das Verbotene gefordert und das Verpönte zur unerläßlichen Pflicht erhoben.

Mit sittlichem Beifall aber wird man vernehmen, daß von dem Augenblick an eine gewisse Sinnesveränderung in mir vorging; war sie mir bisher schön, anmutig, anziehend vorgekommen, so erschien sie mir nun als würdig und bedeutend. Sie war eine doppelte Person, ihre Anmut und Liebenswürdigkeit gehörten mein, das fühlt’ ich wie sonst, aber der Wert ihres Charakters, die Sicherheit in sich selbst, ihre Zuverlässigkeit in allem, das blieb ihr eigen; ich schaute es, ich durchblickte es und freute mich dessen als eines Kapitals, von dem ich zeitlebens die Zinsen mitzugenießen hätte.

Es ist schon längst mit Grund und Bedeutung ausgesprochen: auf dem Gipfel der Zustände hält man sich nicht lange. Die ganz eigentlich durch Demoiselle Delph eroberte Zustimmung beiderseitiger Eltern ward nunmehr als obwaltend anerkannt, stillschweigend und ohne weitere Förmlichkeit. Denn sobald etwas Ideelles, wie man ein solches Verlöbnis wirklich nennen kann, in die Wirklichkeit eintritt, so entsteht, wenn man völlig abgeschlossen zu haben glaubt, eine Krise. Die Außenwelt ist durchaus unbarmherzig, und sie hat recht, denn sie muß sich ein für allemal selbst behaupten; die Zuversicht der Leidenschaft ist groß, aber wir sehen sie doch gar oft an dem ihr entgegenstehenden Wirklichen scheitern. Junge Gatten, die, besonders in der späteren Zeit, mit nicht genügsamen Gütern versehen, in diese Zustände sich einlassen, mögen ja sich keine Honigmonde versprechen; unmittelbar droht ihnen eine Welt mit unverträglichen Forderungen, welche, nicht befriedigt, ein junges Ehepaar absurd erscheinen lassen.

Die Unzulänglichkeit der Mittel, die ich zur Erreichung meines Zweckes mit Ernst ergriffen hatte, konnte ich früher nicht gewahr werden, weil sie bis auf einen gewissen Punkt zugereicht hätten; nun der Zweck näher heranrückte, wollte es hüben und drüben nicht vollkommen passen.

Der Trugschluß, den die Leidenschaft so bequem findet, trat nun in seiner völligen Inkongruenz nach und nach hervor. Mit einiger Nüchternheit mußte mein Haus, meine häusliche Lage in ihrem ganz Besondern betrachtet werden. Das Bewußtsein, das Ganze sei auf eine Schwiegertochter eingerichtet, lag freilich zu Grunde; aber auf ein Frauenzimmer welcher Art war dabei gerechnet?

Wir haben die Mäßige, Liebe, Verständige, Schöne, Tüchtige, sich immer Gleiche, Neigungsvolle und Leidenschaftlose zu Ende des dritten Bandes kennen lernen; sie war der passende Schlußstein zu einem schon aufgemauerten zugerundeten Gewölbe, aber hier hatte man bei ruhiger unbefangener Betrachtung sich nicht leugnen können, daß, um diese neue Geworbene in solche Funktion gleichfalls einzusetzen, man ein neues Gewölbe hätte zurichten müssen.

Indessen war mir dies noch nicht deutlich geworden und ihr ebensowenig. Betrachtete ich nun aber mich in meinem Hause, und gedacht’ ich sie hereinzuführen, so schien sie mir nicht zu passen, wie ich ja schon in ihren Zirkeln zu erscheinen, um gegen die Tags- und Modemenschen nicht abzustechen, meine Kleidung von Zeit zu Zeit verändern, ja wieder verändern mußte. Das konnte aber doch mit einer häuslichen Einrichtung nicht geschehen, wo in einem neugebauten stattlichen Bürgerhause ein nunmehr veralteter Prunk gleichsam rückwärts die Einrichtung geleitet hatte.

So hatte sich auch, selbst nach dieser gewonnenen Einwilligung, kein Verhältnis der Eltern untereinander bilden und einleiten können; kein Familienzusammenhang, andere Religionsgebräuche, andere Sitten! und wollte die Liebenswürdige einigermaßen ihre Lebensweise fortsetzen, so fand sie in dem anständig geräumigen Hause keine Gelegenheit, keinen Raum.

Hatte ich bisher von allem diesen abgesehen, so waren mir zur Beruhigung und Stärkung von außen her schöne Ansichten eröffnet, zu irgend einer gedeihlichen Anstellung zu gelangen. Ein rühriger Geist faßt überall Fuß; Fähigkeiten, Talente erregen Vertrauen; jedermann denkt, es komme ja nur auf eine veränderte Richtung an. Zudringliche Jugend findet Gunst, dem Genie traut man alles zu, da es doch nur ein Gewisses vermag.

Das deutsche geistig-literarische Terrain war damals ganz eigentlich als ein Neubruch anzusehen, es fanden sich unter den Geschäftsleuten kluge Menschen, die für den neu aufzuwühlenden Boden tüchtige Anbauer und kluge Haushälter wünschten. Selbst die angesehne wohlgegründete Freimaurerloge, mit deren vornehmsten Gliedern ich eben durch mein Verhältnis zu Lili bekannt geworden war, wußte auf schickliche Weise meine Annäherung einzuleiten; ich aber, aus einem Unabhängigkeitsgefühl, welches mir später als Verrücktheit erschien, lehnte jede nähere Verknüpfung ab, nicht gewahrend, daß diese Männer, wenn schon in höherem Sinne verbunden, mir doch bei meinen den ihrigen so nah verwandten Zwecken hätten förderlich sein müssen.

Ich gehe zu dem Besondersten zurück.

In solchen Städten wie Frankfurt gibt es kollektive Stellen, Residentschaften, Agentschaften, die sich durch Tätigkeit grenzenlos erweitern lassen. Dergleichen bot sich auch mir dar, beim ersten Anblick vorteilhaft und ehrenhaft zugleich. Man setzte voraus, daß ich für sie passe, es wäre auch gegangen unter der Bedingung jener geschilderten Kanzleidreiheit. Man verschweigt sich die Zweifel, man teilt sich das Günstige mit; man überwindet jedes Schwanken durch gewaltsame Tätigkeit; es kommt dadurch etwas Unwahres in den Zustand, ohne daß die Leidenschaft deshalb gemildert werde.

In Friedenszeiten ist für die Menge wohl kein erfreulicheres Lesen als die öffentlichen Blätter, welche uns von den neusten Weltereignissen eilige Nachricht geben; der ruhige wohlbehaltene Bürger übt daran auf eine unschuldige Weise den Parteigeist, den wir in unsrer Beschränktheit weder los werden können noch sollen. Jeder behagliche Mensch erschafft sich alsdann, wie bei einer Wette, ein willkürliches Interesse, unwesentlichen Gewinn und Verlust, und nimmt, wie im Theater, einen sehr lebhaften, jedoch nur imaginären Teil an fremdem Glück und Unglück. Diese Teilnahme erscheint oft willkürlich, jedoch beruht sie auf sittlichen Gründen. Denn bald geben wir löblichen Absichten einen verdienten Beifall, bald aber, von glänzendem Erfolg hingerissen, wenden wir uns zu demjenigen, dessen Vorsätze wir würden getadelt haben. Zu allen diesen verschaffte uns jene Zeit reichlichen Stoff.

Friedrich der Zweite, auf seiner Kraft ruhend, schien noch immer das Schicksal Europens und der Welt abzuwiegen; Katharina, eine große Frau, die sich selbst des Throns würdig gehalten, gab tüchtigen hochbegünstigten Männern einen großen Spielraum, der Herrscherin Macht immer weiter auszubreiten, und da dies über die Türken geschah, denen wir die Verachtung, mit welcher sie auf uns herniederblicken, reichlich zu vergelten gewohnt sind, so schien es, als wenn keine Menschen aufgeopfert würden, indem diese Unchristen zu Tausenden fielen. Die brennende Flotte in dem Hafen von Tschesme verursachte ein allgemeines Freudenfest über die gebildete Welt, und jedermann nahm teil an dem siegerischen Übermut, als man, um ein wahrhaftes Bild jener großen Begebenheit übrig zu behalten, zum Behuf eines künstlerischen Studiums, auf der Reede von Livorno sogar ein Kriegsschiff in die Luft sprengte. Nicht lange darauf ergreift ein junger nordischer König, gleichfalls aus eigner Gewalt, die Zügel des Regiments. Die Aristokraten, die er unterdrückt, werden nicht bedauert, denn die Aristokratie überhaupt hatte keine Gunst bei dem Publikum, weil sie ihrer Natur nach im stillen wirkt und um desto sicherer ist, je weniger sie von sich reden macht, und in diesem Falle dachte man von dem jungen König um desto besser, weil er, um dem obersten Stande das Gleichgewicht zu halten, die Unteren begünstigen und an sich knüpfen mußte.

Noch lebhafter aber war die Welt interessiert, als ein ganzes Volk sich zu befreien Miene machte. Schon früher hatte man demselben Schauspiel im kleinen gern zugesehn; Korsika war lange der Punkt gewesen, auf den sich aller Augen richteten; Paoli, als er, sein patriotisches Vorhaben nicht weiter durchzusetzen imstande, durch Deutschland nach England ging, zog aller Herzen an sich; es war ein schöner, schlanker, blonder Mann voll Anmut und Freundlichkeit; ich sah ihn in dem Bethmannischen Hause, wo er kurze Zeit verweilte und den Neugierigen, die sich zu ihm drängten, mit heiterer Gefälligkeit begegnete. Nun aber sollten sich in dem entfernteren Weltteil ähnliche Auftritte wiederholen; man wünschte den Amerikanern alles Glück, und die Namen Franklin und Washington fingen an, am politischen und kriegerischen Himmel zu glänzen und zu funkeln. Manches zu Erleichterung der Menschheit war geschehen, und als nun gar ein neuer wohlwollender König von Frankreich die besten Absichten zeigte, sich selbst zu Beseitigung so mancher Mißbräuche und zu den edelsten Zwecken zu beschränken, eine regelmäßig auslangende Staatswirtschaft einzuführen, sich aller willkürlichen Gewalt zu begeben, und durch Ordnung wie durch Recht allein zu herrschen; so verbreitete sich die heiterste Hoffnung über die ganze Welt, und die zutrauliche Jugend glaubte sich und ihrem ganzen Zeitgeschlechte eine schöne, ja herrliche Zukunft versprechen zu dürfen.

An allen diesen Ereignissen nahm ich jedoch nur insofern teil, als sie die größere Gesellschaft interessierten, ich selbst und mein engerer Kreis befaßten uns nicht mit Zeitungen und Neuigkeiten; uns war darum zu tun, den Menschen kennen zu lernen, die Menschen überhaupt ließen wir gern gewähren.

Der beruhigte Zustand des deutschen Vaterlandes, in welchem sich auch meine Vaterstadt schon über hundert Jahre eingefügt sah, hatte sich trotz manchen Kriegen und Erschütterungen in seiner Gestalt vollkommen erhalten. Einem gewissen Behagen günstig war, daß von dem Höchsten bis zu dem Tiefsten, von dem Kaiser bis zu dem Juden herunter die mannigfaltigste Abstufung alle Persönlichkeiten, anstatt sie zu trennen, zu verbinden schien. Wenn dem Kaiser sich Könige subordinierten, so gab diesen ihr Wahlrecht und die dabei erworbenen und behaupteten Gerechtsame ein entschiedenes Gleichgewicht. Nun aber war der hohe Adel in die erste königliche Reihe verschränkt, so daß er, seiner bedeutenden Vorrechte gedenkend, sich ebenbürtig mit dem Höchsten achten konnte, ja im gewissen Sinne noch höher, indem ja die geistlichen Kurfürsten allen andern vorangingen und als Sprößlinge der Hierarchie einen unangefochtenen ehrwürdigen Raum behaupteten.

Gedenke man nun der außerordentlichen Vorteile, welche diese altgegründeten Familien zugleich und außerdem in Stiftern, Ritterorden, Ministerien, Vereinigungen und Verbrüderungen genossen haben, so wird man leicht denken können, daß diese große Masse von bedeutenden Menschen, welche sich zugleich als subordiniert und als koordiniert fühlten, in höchster Zufriedenheit und geregelter Welttätigkeit ihre Tage zubrachten, und ein gleiches Behagen ihren Nachkommen ohne besondere Mühe vorbereiteten und überließen. Auch fehlte es dieser Klasse nicht an geistiger Kultur; denn schon seit hundert Jahren hatte sich erst die hohe Militär- und Geschäftsbildung bedeutend hervorgetan und sich des ganzen vornehmen sowie des diplomatischen Kreises bemächtigt, zugleich aber auch durch Literatur und Philosophie die Geister zu gewinnen und auf einen hohen der Gegenwart nicht allzu günstigen Standpunkt zu versetzen gewußt.

In Deutschland war es noch kaum jemand eingefallen, jene ungeheure privilegierte Masse zu beneiden oder ihr die glücklichen Weltvorzüge zu mißgönnen. Der Mittelstand hatte sich ungestört dem Handel und den Wissenschaften gewidmet und hatte freilich dadurch, sowie durch die nahverwandte Technik, sich zu einem bedeutenden Gegengewicht erhoben; ganz oder halb freie Städte begünstigten diese Tätigkeit, so wie die Menschen darin ein gewisses ruhiges Behagen empfanden. Wer seinen Reichtum vermehrt, seine geistige Tätigkeit besonders im juristischen und Staatsfache gesteigert sah, der konnte sich überall eines bedeutenden Einflusses erfreuen. Setzte man doch bei den höchsten Reichsgerichten, und auch wohl sonst, der adligen Bank eine Gelehrtenbank gegenüber; die freiere Übersicht der einen mochte sich mit der tieferen Einsicht der andern gerne befreunden, und man hatte im Leben durchaus keine Spur von Rivalität; der Adel war sicher in seinen unerreichbaren durch die Zeit geheiligten Vorrechten, und der Bürger hielt es unter seiner Würde, durch eine seinem Namen vorgesetzte Partikel nach dem Schein derselben zu streben. Der Handelsmann, der Techniker hatte genug zu tun, um mit den schneller vorschreitenden Nationen einigermaßen zu wetteifern. Wenn man die gewöhnlichen Schwankungen des Tages nicht beachten will, so durfte man wohl sagen, es war im ganzen eine Zeit eines reinen Bestrebens, wie sie früher nicht erschienen, noch auch in der Folge wegen äußerer und innerer Steigerungen sich lange erhalten konnte.

In dieser Zeit war meine Stellung gegen die oberen Stände sehr günstig. Wenn auch im »Werther« die Unannehmlichkeiten an der Grenze zweier bestimmter Verhältnisse mit Ungeduld ausgesprochen sind, so ließ man das in Betracht der übrigen Leidenschaftlichkeiten des Buches gelten, indem jedermann wohl fühlte, daß es hier auf keine unmittelbare Wirkung abgesehen sei.

Durch »Götz von Berlichingen« aber war ich gegen die obern Stände sehr gut gestellt; was auch an Schicklichkeiten bisheriger Literatur mochte verletzt sein, so war doch auf eine kenntnisreiche und tüchtige Weise das altdeutsche Verhältnis, den unverletzbaren Kaiser an der Spitze, mit manchen andern Stufen und ein Ritter dargestellt, der im allgemein gesetzlosen Zustande als einzelner Privatmann, wo nicht gesetzlich, doch rechtlich zu handeln dachte und dadurch in sehr schlimme Lagen gerät. Dieser Komplex aber war nicht aus der Luft gegriffen, sondern durchaus heiter lebendig und deshalb auch wohl hie und da ein wenig modern, aber doch immer in dem Sinne vorgeführt, wie der wackere tüchtige Mann sich selbst, und also wohl zu leidlichen Gunsten, in eigner Erzählung dargestellt hatte.

Die Familie blühte noch, ihr Verhältnis zu der fränkischen Ritterschaft war in ihrer Integrität geblieben, wenngleich diese Beziehungen, wie manches andere jener Zeit, bleicher und unwirksamer mochten geworden sein.

Nun erhielt auf einmal das Flüßlein Jagst, die Burg Jagsthausen eine poetische Bedeutung; sie wurden besucht, sowie das Rathaus zu Heilbronn.

Man wußte, daß ich noch andere Punkte jener Zeitgeschichte mir in den Sinn genommen hatte, und manche Familie, die sich aus jener Zeit noch tüchtig herschrieb, hatte die Aussicht, ihren Ältervater gleichsam ans Tagesslicht hervorgezogen zu sehen.

Es entsteht ein eigenes allgemeines Behagen, wenn man einer Nation ihre Geschichte auf eine geistreiche Weise wieder zur Erinnerung bringt; sie erfreut sich der Tugenden ihrer Vorfahren und belächelt die Mängel derselben, welche sie längst überwunden zu haben glaubt. Teilnahme und Beifall kann daher einer solchen Darstellung nicht fehlen, und ich hatte mich in diesem Sinne einer vielfachen Wirkung zu erfreuen.

Merkwürdig möchte es jedoch sein, daß unter den zahlreichen Annäherungen und in der Zahl der jungen Leute, die sich an mich anschlossen, kein Edelmann war; aber dagegen waren manche, die, schon in die Dreißig gelangt, mich aufsuchten, besuchten und in deren Wollen und Bestreben eine freudige Hoffnung sich durchzog, sich in vaterländischem und allgemein menschlicherem Sinne ernstlich auszubilden.

Zu dieser Zeit war denn überhaupt die Richtung nach der Epoche zwischen dem fünfzehnten und sechzehnten Jahrhundert eröffnet und lebendig. Die Werke Ulrichs von Hutten kamen mir in die Hände, und es schien wundersam genug, daß in unsern neuern Tagen sich das Ähnliche, was dort hervorgetreten, hier gleichfalls wieder zu manifestieren schien.

Folgender Brief Ulrichs von Hutten an Billibald Pirkheimer dürfte hier eine schickliche Stelle finden.

»Was uns das Glück gegeben, nimmt es meist wieder weg und das nicht allein, auch alles andere, was sich an den Menschen von außen anschließt, sehen wir dem Zufall unterworfen. Nun aber streb’ ich nach Ehren, die ich ohne Mißgunst zu erlangen wünschte, ja welcher Weise es auch sei; denn es besitzt mich ein heftiger Durst nach dem Ruhm, daß ich so viel als möglich geadelt zu sein wünschte. Es würde schlecht mit mir stehen, teurer Billibald, wenn ich mich, schon jetzt für einen Edelmann hielte, ob ich gleich in diesem Rang, dieser Familie, von solchen Eltern geboren worden, wenn ich mich nicht durch eigenes Bestreben geadelt hätte. Ein so großes Werk hab ich im Sinne! ich denke höher! nicht etwa daß mich in einen vornehmeren, glänzendern Stand versetzt sehen möchte, sondern anderwärts möcht ich eine Quelle suchen, aus der ich einen besondern Adel schöpfte und nicht unter die wahnhaften Edelleute gezählt würde, zufrieden mit dem, was ich von meinen Voreltern empfangen, sondern daß ich zu jenen Gütern noch etwas selbst hinzugefügt hätte, was von mir auf meine Nachkommen hinüberginge.

Daher ich denn mit meinen Studien und Bemühungen mich dahin wende und bestrebe, entgegengesetzt in Meinung denenjenigen, die alles dasjenige, was ist, für genug achten; denn mir ist nichts dergleichen genug, wie ich dir denn meinen Ehrgeiz dieser Art bekannt habe. Und so gesteh ich denn, daß ich diejenigen nicht beneide, die, von den untersten Ständen ausgegangen, über meine Zustände hinausgeschritten sind; und hier bin ich mit den Männern meines Standes keineswegs übereindenkend, welche diejenigen, die, eines niedrigen Ursprungs, sich durch Tüchtigkeit hervorgetan haben, zu schimpfen pflegen. Denn mit vollkommenem Rechte werden diejenigen uns vorgezogen, welche den Stoff des Ruhms, den wir selbst vernachlässigt, für sich ergriffen und in Besitz genommen; sie mögen Söhne von Walkern oder Gerbern sein, haben sie doch mit mehr Schwierigkeit, als wir gefunden hätten, dergleichen zu erlangen gewußt.

Nicht allein ein Tor ist der Ungelehrte zu nennen, welcher denjenigen beneidet, der durch Kenntnisse sich hervorgetan, sondern unter die Elenden, ja unter die Elendesten zu zählen; und an diesem Fehler kranket unser Adel ganz besonders, daß er solche Zieraten quer ansehe. Denn was, bei Gott! heißt es, den beneiden, der das besitzt, was wir vernachlässigten? warum haben wir uns der Gesetze nicht befleißigt? die schöne Gelahrtheit, die besten Künste warum nicht selbst gelernt? Da sind uns nun Schuster, Walker und Wagner vorgelaufen. Warum haben wir die Stellung verlassen, warum die freisten Studien den Dienstleuten und, schändlich für uns! ihrem Schmutz überlassen? Ganz rechtmäßig hat das Erbteil des Adels, das wir verschmähten, ein jeder Gewandter, Fleißiger in Besitz nehmen und durch Tätigkeit benutzen können. Wir Elenden! die dasjenige vernachlässigen, was einen jeden Untersten sich über uns zu erheben genügt; hören wir doch auf zu beneiden und suchen dasjenige auch zu erlangen, was, zu unsrer schimpflichen Beschämung, andere sich anmaßen.

Jedes Verlangen nach Ruhm ist ehrbar, aller Kampf um das Tüchtige lobenswürdig; mag doch jedem Stand seine eigene Ehre bleiben, ihm eine eigene Zierde gewährt sein! Jene Ahnenbilder will ich nicht verachten, so wenig als die wohl ausgestatteten Stammbäume, aber was auch deren Wert sei, ist nicht unser eigen, wenn wir es nicht durch Verdienste erst eigen machen, auch kann es nicht bestehen, wenn der Adel nicht Sitten, die ihm geziemen, annimmt. Vergebens wird ein fetter und beleibter jener Hausväter die Standbilder seiner Vorfahren dir aufzeigen, indes er selbst untätig eher einem Klotz ähnlich, als daß er jenen, die ihm mit Tüchtigkeit voranleuchteten, zu vergleichen wäre.

So viel hab ich dir von meinem Ehrgeiz und meiner Beschaffenheit so weitläufig als aufrichtig vertrauen wollen.«

Wenn auch nicht in solchem Flusse des Zusammenhangs, so hatte ich doch von meinen vornehmeren Freunden und Bekannten dergleichen tüchtige und kräftige Gesinnungen zu vernehmen, von welchen der Erfolg sich in einer redlichen Tätigkeit erwies. Es war zum Credo geworden, man müsse sich einen persönlichen Adel erwerben, und zeigte sich in jenen schönen Tagen irgend eine Rivalität, so war es von oben herunter.

Wir andern dagegen hatten, was wir wollten: freien und gebilligten Gebrauch unsrer von der Natur verliehenen Talente, wie er wohl allenfalls mit unsern bürgerlichen Verhältnissen bestehen konnte.

Denn meine Vaterstadt hatte darin eine ganz eigene nicht genugsam beachtete Lage. Wenn die nordischen freien Reichsstädte auf einen ausgebreiteten Handel, und die südlichern, bei zurücktretenden Handelsverhältnissen, auf Kunst und Technik gegründet standen, so war in Frankfurt am Main ein gewisser Komplex zu bemerken, welcher aus Handel, Kapitalvermögen, Haus- und Grundbesitz, aus Wissen- und Sammlerlust zusammengeflochten schien. Die lutherische Konfession führte das Regiment, die alte Gan-Erbschaft, vom Hause Limpurg den Namen führend, das Haus Frauenstein, mit seinen Anfängen nur ein Klub, bei den Erschütterungen, durch die untern Stände herbeigeführt, dem Verständigen getreu, der Jurist, der sonstige Wohlhabende und Wohldenkende, niemand war von der Magistratur ausgeschlossen; selbst diejenigen Handwerker, welche zu bedenklicher Zeit an der Ordnung gehalten, waren ratsfähig, wenn auch nur stationär auf ihrem Platze. Die andern verfassungsmäßigen Gegengewichte, formelle Einrichtungen und was sich alles an eine solche Verfassung anschließt, gaben vielen Menschen einen Spielraum zur Tätigkeit, indem Handel und Technik bei einer glücklich örtlichen Lage, sich auszubreiten, in keinem Sinne gehindert waren.

Der höhere Adel wirkte für sich unbeneidet und fast unbemerkt; ein zweiter sich annähernder Stand mußte schon strebsamer sein, und auf alten vermögenden Familienfundamenten beruhend, suchte er sich durch rechtliche und Staatsgelehrsamkeit bemerklich zu machen.

Die sogenannten Reformierten bildeten, wie auch an andern Orten die Refugiés, eine ausgezeichnete Klasse, und selbst wenn sie zu ihrem Gottesdienst in Bockenheim sonntags in schönen Equipagen hinausfuhren, war es immer eine Art von Triumph über die Bürgerabteilung, welche berechtigt war, bei gutem wie bei schlechtem Wetter in die Kirche zu Fuße zu gehen.

Die Katholiken bemerkte man kaum; aber auch sie waren die Vorteile gewahr geworden, welche die beiden andern Konfessionen sich zugeeignet hatten.

 
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Achtzehntes Buch

Zu literarischen Angelegenheiten zurückkehrend, muß ich einen Umstand hervorheben, der auf die deutsche Poesie der damaligen Epoche großen Einfluß hatte, und besonders zu beachten ist, weil eben diese Einwirkung in den ganzen Verlauf unsrer Dichtkunst bis zum heutigen Tag gedauert hat und auch in der Zukunft sich nicht verlieren kann.

Die Deutschen waren von den älteren Zeiten her an den Reim gewöhnt, er brachte den Vorteil, daß man auf eine sehr naive Weise verfahren und fast nur die Silben zählen durfte. Achtete man bei fortschreitender Bildung mehr oder weniger, instinktmäßig, auch auf Sinn und Bedeutung der Silben, so verdiente man Lob, welches sich manche Dichter anzueignen wußten. Der Reim zeigte den Abschluß des poetischen Satzes, bei kürzeren Zeilen waren sogar die kleineren Einschnitte merklich, und ein natürlich wohlgebildetes Ohr sorgte für Abwechselung und Anmut. Nun aber nahm man auf einmal den Reim weg, ohne zu bedenken, daß über den Silbenwert noch nicht entschieden, ja schwer zu entscheiden war. Klopstock ging voran; wie sehr er sich bemüht und was er geleistet, ist bekannt. Jedermann fühlte die Unsicherheit der Sache, man wollte sich nicht gerne wagen, und aufgefordert durch jene Naturtendenz, griff man nach einer poetischen Prosa. Geßners höchst liebliche Idyllen öffneten eine unendliche Bahn. Klopstock schrieb den Dialog von »Hermanns Schlacht« in Prosa, sowie den »Tod Adams«. Durch die bürgerlichen Trauerspiele sowie durch die Dramen bemächtigte sich ein empfindungsvoller höherer Stil des Theaters, und umgekehrt zog der funffüßige Iambus, der sich durch Einfluß der Engländer bei uns verbreitete, die Poesie zur Prosa herunter; allein die Forderungen an Rhythmus und Reim konnte man im allgemeinen nicht aufgeben. Ramler, obgleich nach unsichern Grundsätzen, streng gegen seine eigenen Sachen, konnte nicht unterlassen, diese Strenge auch gegen fremde Werke geltend zu machen. Er verwandelte Prosa in Verse, veränderte und verbesserte die Arbeit anderer, wodurch er sich wenig Dank verdiente und die Sache noch mehr verwirrte. Am besten aber gelang es denen, die sich des herkömmlichen Reims mit einer gewissen Beobachtung des Silbenwertes bedienten, und, durch natürlichen Geschmack geleitet, unausgesprochene und unentschiedene Gesetze beobachteten, wie z.B. Wieland, der, obgleich unnachahmlich, eine lange Zeit mäßigern Talenten zum Muster diente. Unsicher aber blieb die Ausübung auf jeden Fall, und es war keiner, auch der Besten, der nicht augenblicklich irre geworden wäre. Daher entstand das Unglück, daß die eigentliche geniale Epoche unsrer Poesie weniges hervorbrachte, was man in seiner Art korrekt nennen könnte; denn auch hier war die Zeit strömend, fordernd und tätig, aber nicht betrachtend und sich selbst genugtuend.

Um jedoch einen Boden zu finden, worauf man poetisch fußen, um ein Element zu entdecken, in dem man freisinnig atmen könnte, war man einige Jahrhunderte zurückgegangen, wo sich aus einem chaotischen Zustande ernste Tüchtigkeiten glänzend hervortaten, und so befreundete man sich auch mit der Dichtkunst jener Zeiten. Die Minnesänger lagen zu weit von uns ab; die Sprache hätte man erst studieren müssen, und das war nicht unsre Sache: wir wollten leben und nicht lernen.

Hans Sachs, der wirklich meisterliche Dichter, lag uns am nächsten; ein wahres Talent, freilich nicht wie jene Ritter und Hofmänner, sondern ein schlichter Bürger, wie wir uns auch zu sein rühmten. Ein didaktischer Realism sagte uns zu, und wir benutzten den leichten Rhythmus, den sich bequem anbietenden Reim bei manchen Gelegenheiten. Es schien diese Art so bequem zur Poesie des Tages, und deren bedurften wir jede Stunde.

Wenn nun bedeutende Werke, welche eine jahrelange, ja eine lebenslängliche Aufmerksamkeit und Arbeit erforderten, auf so verwegenem Grunde, bei leichtsinnigen Anlässen mehr oder weniger aufgebaut wurden; so kann man sich denken, wie freventlich mitunter andere vorübergehende Produktionen sich gestalteten, z.B. die poetischen Episteln, Parabeln und Invektiven aller Formen, womit wir fortfuhren uns innerlich zu bekriegen und nach außen Händel zu suchen.

Außer dem schon Abgedruckten ist nur weniges davon übrig; es mag erhalten bleiben; kurze Notizen mögen Ursprung und Absicht denkenden Männern etwas deutlicher enthüllen.

Tiefer Eindringende, denen diese Dinge künftig zu Gesicht kommen, werden doch geneigt bemerken, daß allen solchen Exzentrizitäten ein redliches Bestreben zu Grunde lag. Aufrichtiges Wollen streitet mit Anmaßung, Natur gegen Herkömmlichkeiten, Talent gegen Formen, Genie mit sich selbst, Kraft gegen Weichlichkeit, unentwickeltes Tüchtiges gegen entfaltete Mittelmäßigkeit, so daß man jenes ganze Betragen als ein Vorpostengefecht ansehen kann, das auf eine Kriegserklärung folgt und eine gewaltsame Fehde verkündigt. Denn genau besehen, so ist der Kampf in diesen fünfzig Jahren noch nicht ausgekämpft, er setzt sich noch immer fort, nur in einer höhern Region.

Ich hatte, nach Anleitung eines ältern deutschen Puppen- und Budenspiels, ein tolles Fratzenwesen ersonnen, welches den Titel »Hanswursts Hochzeit« führen sollte. Das Schema war folgendes: Hanswurst, ein reicher elternloser Bauerssohn, welcher soeben mündig geworden, will ein reiches Mädchen, namens Ursel Blandine, heiraten. Sein Vormund, Kilian Brustfleck, und ihre Mutter Ursel etc. sind es höchlich zufrieden. Ihr vieljähriger Plan, ihre höchsten Wünsche werden dadurch endlich erreicht und erfüllt. Hier findet sich nicht das mindeste Hindernis, und das Ganze beruht eigentlich nur darauf, daß das Verlangen der jungen Leute, sich zu besitzen, durch die Anstalten der Hochzeit und dabei vorwaltenden unerläßlichen Umständlichkeiten hingehalten wird. Als Prologus tritt der Hochzeitbitter auf, hält seine herkömmliche banale Rede und endiget mit den Reimen:

Bei dem Wirt zur goldnen Laus

Da wird sein der Hochzeitschmaus.

Um dem Vorwurf der verletzten Einheit des Orts zu entgehen, war im Hintergrunde des Theaters gedachtes Wirtshaus mit seinen Insignien glänzend zu sehen, aber so, als wenn es, auf einem Zapfen umgedreht, nach allen vier Seiten könnte vorgestellt werden, wobei sich jedoch die vordern Kulissen des Theaters schicklich zu verändern hatten.

Im ersten Akt stand die Vorderseite nach der Straße zu, mit den goldnen nach dem Sonnenmikroskop gearbeiteten Insignien; im zweiten Akt die Seite nach dem Hausgarten, die dritte nach einem Wäldchen, die vierte nach einem nahe liegenden See, wodurch denn geweissagt war, daß, in folgenden Zeiten, es dem Dekorateur geringe Mühe machen werde, einen Wellenschlag über das ganze Theater bis an das Souffleurloch zu führen.

Durch alles dieses aber ist das eigentliche Interesse des Stücks noch nicht ausgesprochen; denn der gründliche Scherz ward bis zur Tollheit gesteigert, daß das sämtliche Personal des Schauspiels aus lauter deutsch herkömmlichen Schimpf- und Ekelnamen bestand, wodurch der Charakter der einzelnen sogleich ausgesprochen und das Verhältnis zu einander gegeben war.

Da wir hoffen dürfen, daß Gegenwärtiges in guter Gesellschaft, auch wohl im anständigen Familienkreise vorgelesen werde, so dürfen wir nicht einmal, wie doch auf jedem Theateranschlag Sitte ist, unsre Personen hier der Reihe nach nennen, noch auch die Stellen, wo sie sich am klarsten und eminentesten beweisen, hier am Ort aufführen, obgleich auf dem einfachsten Wege heitere, neckische, unverfängliche Beziehungen und geistreiche Scherze sich hervortun müßten.

Zum Versuch legen wir ein Blatt bei, unsern Herausgebern die Zulässigkeit zu beurteilen anheim stellend.

Vetter Schuft hatte das Recht, durch sein Verhältnis zur Familie, zu dem Fest geladen zu werden; niemand hatte dabei etwas zu erinnern; denn wenn er auch gleich durchaus im Leben untauglich war, so war er doch da, und weil er da war, konnte man ihn schicklich nicht verleugnen; auch durfte man an so einem Festtage sich nicht erinnern, daß man zuweilen unzufrieden mit ihm gewesen wäre.

Mit Herrn Schurke war es schon eine bedenklichere Sache; er hatte der Familie wohl genutzt, wenn es ihm gerade auch nutzte; dagegen ihr auch wieder geschadet, vielleicht zu seinem eignen Vorteil, vielleicht auch weil er es eben gelegen fand. Die mehr oder minder Klugen stimmten für seine Zulässigkeit, die wenigen, die ihn wollten ausgeschlossen haben, wurden überstimmt.

Nun aber war noch eine dritte Person, über die sich schwerer entscheiden ließ; in der Gesellschaft ein ordentlicher Mensch, nicht weniger als andere, nachgiebig, gefällig und zu mancherlei zu gebrauchen; er hatte den einzigen Fehler, daß er seinen Namen nicht hören konnte und, sobald er ihn vernahm, in eine Heldenwut, wie der Norde sie Berserkerwut benennt, augenblicklich geriet, alles rechts und links totzuschlagen drohte und in solchem Raptus teils beschädigte, teils beschädigt ward: wie denn auch der zweite Akt des Stücks durch ihn ein sehr verworrenes Ende nahm.

Hier konnte nun der Anlaß unmöglich versäumt werden, den räuberischen Macklot zu züchtigen. Er geht nämlich hausieren mit seiner Macklotur, und wie er die Anstalten zur Hochzeit gewahr wird, kann er dem Trieb nicht widerstehen, auch hier zu schmarutzen und auf anderer Leute Kosten seine ausgehungerten Gedärme zu erquicken. Er meldet sich, Kilian Brustfleck untersucht seine Ansprüche, muß ihn aber abweisen, denn alle Gäste, heißt es, seien anerkannte öffentliche Charaktere, woran der Supplikant doch keinen Anspruch machen könne. Macklot versucht sein möglichstes, um zu beweisen, daß er ebenso berühmt sei als jene. Da aber Kilian Brustfleck, als strenger Zeremonienmeister, sich nicht will bewegen lassen, nimmt sich jener Nichtgenannte, der von seiner Berserkerwut am Schlusse des zweiten Akts sich wieder erholt hat, des ihm so nahe verwandten Nachdruckers so nachdrücklich an, daß dieser unter die übrigen Gäste schließlich aufgenommen wird.

Um diese Zeit meldeten sich die Grafen Stolberg an, die, auf einer Schweizerreise begriffen, bei uns einsprechen wollten. Ich war durch das frühste Auftauchen meines Talents im Göttinger Musenalmanach mit ihnen und sämtlichen jungen Männern, deren Wesen und Wirken bekannt genug ist, in ein gar freundliches Verhältnis geraten. Zu der damaligen Zeit hatte man sich ziemlich wunderliche Begriffe von Freundschaft und Liebe gemacht. Eigentlich war es eine lebhafte Jugend, die sich gegen einander aufknöpfte und ein talentvolles aber ungebildetes Innere hervorkehrte. Einen solchen Bezug gegen einander, der freilich wie Vertrauen aussah, hielt man für Liebe, für wahrhafte Neigung; ich betrog mich darin so gut wie die andern, und habe davon viele Jahre auf mehr als eine Weise gelitten. Es ist noch ein Brief von Bürgern aus jener Zeit vorhanden, woraus zu ersehen ist, daß von sittlich Ästhetischem unter diesen Gesellen keineswegs die Rede war. Jeder fühlte sich aufgeregt und glaubte garwohl hiernach handeln und dichten zu dürfen.

Die Gebrüder kamen an, Graf Haugwitz mit ihnen; von mir wurden sie mit offener Brust empfangen, mit gemütlicher Schicklichkeit. Sie wohnten im Gasthofe, waren zu Tische jedoch meistens bei uns. Das erste heitere Zusammensein zeigte sich höchst erfreulich, allein gar bald traten exzentrische Äußerungen hervor.

Zu meiner Mutter machte sich ein eigenes Verhältnis; sie wußte in ihrer tüchtigen graden Art sich gleich ins Mittelalter zurückzusetzen, um als Aja bei irgend einer lombardischen oder byzantinischen Prinzessin angestellt zu sein. Nicht anders als Frau Aja ward sie genannt, und sie gefiel sich in dem Scherze und ging so eher in die Phantastereien der Jugend mit ein, als sie schon in Götz von Berlichingens Hausfrau ihr Ebenbild zu erblicken glaubte.

Doch hiebei sollte es nicht lange bleiben, denn man hatte nur einige Male zusammen getafelt, als schon nach ein und der andern genossenen Flasche Wein der poetische Tyrannenhaß zum Vorschein kam, und man nach dem Blute solcher Wütriche lechzend sich erwies. Mein Vater schüttelte lächelnd den Kopf; meine Mutter hatte in ihrem Leben kaum von Tyrannen gehört, doch erinnerte sie sich in Gottfrieds »Chronik« dergleichen Unmenschen in Kupfer abgebildet gesehen zu haben: den König Kambyses, der in Gegenwart des Vaters das Herz des Söhnchens mit dem Pfeil getroffen zu haben triumphiert, wie ihr solches noch im Gedächtnis geblieben war. Diese und ähnliche aber immer heftiger werdende Äußerungen ins Heitere zu wenden, verfügte sie sich in ihren Keller, wo ihr von den ältesten Weinen wohlunterhaltene große Fässer verwahrt lagen. Nicht geringere befanden sich daselbst als die Jahrgänge 1706, 19, 26, 48, von ihr selbst gewartet und gepflegt, selten und nur bei feierlich bedeutenden Gelegenheiten angesprochen.

Indem sie nun in geschliffener Flasche den hochfarbigen Wein hinsetzte, rief sie aus: »Hier ist das wahre Tyrannenblut! Daran ergötzt euch, aber alle Mordgedanken laßt mir aus dem Hause!«

»Ja wohl Tyrannenblut!« rief ich aus; »keinen größeren Tyrannen gibt es, als den, dessen Herzblut man euch vorsetzt. Labt euch daran, aber mäßig! denn ihr müßt befürchten, daß er euch durch Wohlgeschmack und Geist unterjoche. Der Weinstock ist der Universaltyrann, der ausgerottet werden sollte; zum Patron sollten wir deshalb den heiligen Lykurgus, den Thrazier, wählen und verehren; er griff das fromme Werk kräftig an, aber vom betörenden Dämon Bacchus verblendet und verderbt, verdient er in der Zahl der Märtyrer obenan zu stehen.

Dieser Weinstock ist der allerschlimmste Tyrann, zugleich Heuchler, Schmeichler und Gewaltsamer. Die ersten Züge seines Blutes munden euch, aber ein Tropfen lockt den andern unaufhaltsam nach; sie folgen sich wie eine Perlenschnur, die man zu zerreißen fürchtet.«

Wenn ich hier, wie die besten Historiker getan, eine fingierte Rede statt jener Unterhaltung einzuschieben in Verdacht geraten könnte, so darf ich den Wunsch aussprechen, es möchte gleich ein Geschwindschreiber diese Peroration aufgefaßt und uns überliefert haben. Man würde die Motive genau die selbigen und den Fluß der Rede vielleicht anmutiger und einladender finden. Überhaupt fehlt dieser gegenwärtigen Darstellung im ganzen die weitläuftige Redseligkeit und Fülle einer Jugend, die sich fühlt und nicht weiß, wo sie mit Kraft und Vermögen hinaus soll.

In einer Stadt wie Frankfurt befindet man sich in einer wunderlichen Lage; immer sich kreuzende Fremde deuten nach allen Weltgegenden hin und erwecken Reiselust. Früher war ich schon bei manchem Anlaß mobil geworden, und gerade jetzt, im Augenblicke, wo es drauf ankam, einen Versuch zu machen, ob ich Lili entbehren könne, wo eine gewisse peinliche Unruhe mich zu allem bestimmten Geschäft unfähig machte, war mir die Aufforderung der Stolberge, sie nach der Schweiz zu begleiten, willkommen. Begünstigt durch das Zureden meines Vaters, welcher eine Reise in jener Richtung sehr gerne sah, und mir empfahl, einen Übergang nach Italien, wie es sich fügen und schicken wollte, nicht zu versäumen, entschloß ich mich daher schnell, und es war bald gepackt. Mit einiger Andeutung, aber ohne Abschied, trennt’ ich mich von Lili; sie war mir so ins Herz gewachsen, daß ich mich gar nicht von ihr zu entfernen glaubte.

In wenigen Stunden sah ich mich mit meinen lustigen Gefährten in Darmstadt. Bei Hofe daselbst sollte man sich noch ganz schicklich betragen, hier hatte Graf Haugwitz eigentlich die Führung und Leitung. Er war der Jüngste von uns, wohlgestaltet, von zartem edlem Ansehn, weichen freundlichen Zügen, sich immer gleich, teilnehmend, aber mit solchem Maße, daß er gegen die andern als impassibel abstach. Er mußte deshalb von ihnen allerlei Spottreden und Benamsungen erdulden. Dies mochte gelten, solange sie glaubten, als Naturkinder sich zeigen zu können; wo es aber denn doch auf Schicklichkeit ankam, und man, nicht ungern, genötigt war, wieder einmal als Graf aufzutreten, da wußte er alles einzuleiten und zu schlichten, daß wir, wenn nicht mit dem besten, doch mit leidlichem Rufe davon kamen.

Ich brachte unterdessen meine Zeit bei Merck zu, welcher meine vorgenommene Reise mephistophelisch querblickend ansah und meine Gefährten, die ihn auch besucht hatten, mit schonungsloser Verständigkeit zu schildern wußte. Er kannte mich nach seiner Art durchaus; die unüberwindliche naive Gutmütigkeit meines Wesens war ihm schmerzlich, das ewige Geltenlassen, das Leben und Lebenlassen war ihm ein Greuel. »Daß du mit diesen Burschen ziehst«, rief er aus, »ist ein dummer Streich«; und er schilderte sie sodann treffend, aber nicht ganz richtig. Durchaus fehlte ein Wohlwollen, daher ich glauben konnte ihn zu übersehen, obschon ich ihn nicht sowohl übersah, als nur die Seiten zu schätzen wußte, die außer seinem Gesichtskreise lagen.

»Du wirst nicht lange bei ihnen bleiben!« das war das Resultat seiner Unterhaltungen. Dabei erinnere ich mich eines merkwürdigen Wortes, das er mir später wiederholte, das ich mir selbst wiederholte und oft im Leben bedeutend fand. »Dein Bestreben«, sagte er, »deine unablenkbare Richtung ist, dem Wirklichen eine poetische Gestalt zu geben; die andern suchen das sogenannte Poetische, das Imaginative, zu verwirklichen, und das gibt nichts wie dummes Zeug.« Faßt man die ungeheure Differenz dieser beiden Handlungsweisen, hält man sie fest und wendet sie an; so erlangt man viel Aufschluß über tausend andere Dinge.

Unglücklicherweise, eh sich die Gesellschaft von Darmstadt loslöste, gab es noch Anlaß, Mercks Meinung unumstößlich zu bekräftigen.

Unter die damaligen Verrücktheiten, die aus dem Begriff entstanden: man müsse sich in einen Naturzustand zu versetzen suchen, gehörte denn auch das Baden im freien Wasser, unter offnem Himmel; und unsre Freunde konnten auch hier, nach allenfalls überstandener Schicklichkeit, auch dieses Unschickliche nicht unterlassen. Darmstadt, ohne fließendes Gewässer in einer sandigen Fläche gelegen, mag doch einen Teich in der Nähe haben, von dem ich nur bei dieser Gelegenheit gehört. Die heiß genaturten und sich immer mehr erhitzenden Freunde suchten Labsal in diesem Weiher; nackte Jünglinge bei hellem Sonnenschein zu sehen, mochte wohl in dieser Gegend als etwas Besonderes erscheinen, es gab Skandal auf alle Fälle. Merck schärfte seine Konklusionen, und ich leugne nicht, ich beeilte unsre Abreise.

Schon auf dem Wege nach Mannheim zeigte sich, ohngeachtet aller guten und edlen gemeinsamen Gefühle, doch schon eine gewisse Differenz in Gesinnung und Betragen. Leopold Stolberg äußerte mit Leidenschaft: wie er genötigt worden, ein herzliches Liebesverhältnis mit einer schönen Engländerin aufzugeben, und deswegen eine so weite Reise unternommen habe. Wenn man ihm nun dagegen teilnehmend entdeckte, daß man solchen Empfindungen auch nicht fremd sei, so brach bei ihm das grenzenlose Gefühl der Jugend heraus: seiner Leidenschaft, seinen Schmerzen, sowie der Schönheit und Liebenswürdigkeit seiner Geliebten dürfe sich in der Welt nichts gleichstellen. Wollte man solche Behauptung, wie es sich unter guten Gesellen wohl ziemt, durch mäßige Rede ins Gleichgewicht bringen, so schien sich die Sache nur zu verschlimmern, und Graf Haugwitz wie auch ich mußten zuletzt geneigt werden, dieses Thema fallen zu lassen. Angelangt in Mannheim, bezogen wir schöne Zimmer eines anständigen Gasthofes, und beim Dessert des ersten Mittagessens, wo der Wein nicht war geschont worden, forderte uns Leopold auf, seiner Schönen Gesundheit zu trinken, welches denn unter ziemlichem Getöse geschah. Nach geleerten Gläsern rief er aus: »Nun aber ist aus solchen geheiligten Bechern kein Trunk mehr erlaubt, eine zweite Gesundheit wäre Entweihung, deshalb vernichten wir diese Gefäße!« und warf sogleich sein Stengelglas hinter sich wider die Wand. Wir andern folgten, und ich bildete mir denn doch ein, als wenn mich Merck am Kragen zupfte.

Allein die Jugend nimmt das aus der Kindheit mit herüber, daß sie guten Gesellen nichts nachträgt, daß eine unbefangene Wohlgewogenheit zwar unangenehm berührt werden kann, aber nicht zu verletzen ist.

Nachdem die nunmehr als englisch angesprochenen Gläser unsre Zeche verstärkt hatten, eilten wir nach Karlsruhe getrost und heiter, um uns zutraulich und sorglos in einen neuen Kreis zu begeben. Wir fanden Klopstock daselbst, welcher seine alte sittliche Herrschaft über die ihn so hoch verehrenden Schüler gar anständig ausübte, dem ich denn auch mich gern unterwarf, so daß ich, mit den andern nach Hof gebeten, mich für einen Neuling ganz leidlich mag betragen haben. Auch ward man gewissermaßen aufgefordert, natürlich und doch bedeutend zu sein. Der regierende Herr Markgraf, als einer der fürstlichen Senioren, besonders aber wegen seiner vortrefflichen Regierungszwecke unter den deutschen Regenten hoch verehrt, unterhielt sich gern von staatswirtlichen Angelegenheiten. Die Frau Markgräfin, in Künsten und mancherlei guten Kenntnissen tätig und bewandert, wollte auch mit anmutigen Reden eine gewisse Teilnahme beweisen; wogegen wir uns zwar dankbar verhielten, konnten aber doch zu Hause ihre schlechte Papierfabrikation und Begünstigung des Nachdruckers Macklot nicht ungeneckt lassen.

Am bedeutendsten war für mich, daß der junge Herzog von Sachsen-Weimar mit seiner edlen Braut, der Prinzessin Luise von Hessen-Darmstadt, hier zusammen kamen, um ein förmliches Ehebündnis einzugehen; wie denn auch deshalb Präsident von Moser bereits hier angelangt war, um so bedeutende Verhältnisse ins klare zu setzen und mit dem Oberhofmeister Grafen Görtz völlig abzuschließen. Meine Gespräche mit beiden hohen Personen waren die gemütlichsten, und sie schlossen sich, bei der Abschiedsaudienz, wiederholt mit der Versicherung: es würde ihnen beiderseits angenehm sein, mich bald in Weimar zu sehn.

Einige besondere Gespräche mit Klopstock erregten gegen ihn, bei der Freundlichkeit, die er mir erwies, Offenheit und Vertrauen; ich teilte ihm die neusten Szenen des »Faust« mit, die er wohl aufzunehmen schien, sie auch, wie ich nachher vernahm, gegen andere Personen mit entschiedenem Beifall, der sonst nicht leicht in seiner Art war, beehrt und die Vollendung des Stücks gewünscht hatte.

Jenes ungebildete, damals mitunter genial genannte Betragen ward in Karlsruhe, auf einem anständigen, gleichsam heiligen Boden, einigermaßen beschwichtigt; ich trennte mich von meinen Gesellen, indem ich einen Seitenweg einzuschlagen hatte, um nach Emmendingen zu gehen, wo mein Schwager Oberamtmann war. Ich achtete diesen Schritt, meine Schwester zu sehen, für eine wahrhafte Prüfung. Ich wußte, sie lebte nicht glücklich, ohne daß man es ihr, ihrem Gatten oder den Zuständen hätte schuld geben können. Sie war ein eignes Wesen, von dem schwer zu sprechen ist; wir wollen suchen, das Mitteilbare hier zusammenzufassen.

Ein schöner Körperbau begünstigte sie, nicht so die Gesichtszüge, welche, obgleich Güte, Verstand, Teilnahme deutlich genug ausdrückend, doch einer gewissen Regelmäßigkeit und Anmut ermangelten.

Dazu kam noch, daß eine hohe stark gewölbte Stirne, durch die leidige Mode die Haare aus dem Gesicht zu streichen und zu zwängen, einen gewissen unangenehmen Eindruck machte, wenn sie gleich für die sittlichen und geistigen Eigenschaften das beste Zeugnis gab. Ich kann mir denken, daß, wenn sie, wie es die neuere Zeit eingeführt hat, den oberen Teil ihres Gesichtes mit Locken umwölken, ihre Schläfe und Wangen mit gleichen Ringeln hätte bekleiden können, sie vor dem Spiegel sich angenehmer würde gefunden haben, ohne Besorgnis, andern zu mißfallen wie sich selbst. Rechne man hiezu noch das Unheil, daß ihre Haut selten rein war, ein Übel, das sich, durch ein dämonisches Mißgeschick, schon von Jugend auf gewöhnlich an Festtagen einzufinden pflegte, an Tagen von Konzerten, Bällen und sonstigen Einladungen.

Diese Zustände hatte sie nach und nach durchgekämpft, indes ihre übrigen herrlichen Eigenschaften sich immer mehr und mehr ausbildeten.

Ein fester nicht leicht bezwinglicher Charakter, eine teilnehmende, Teilnahme bedürfende Seele, vorzügliche Geistesbildung, schöne Kenntnisse, sowie Talente, einige Sprachen, eine gewandte Feder, so daß, wäre sie von außen begünstigt worden, sie unter den gesuchtesten Frauen ihrer Zeit würde gegolten haben.

Zu allem diesem ist noch ein Wundersames zu offenbaren: in ihrem Wesen lag nicht die mindeste Sinnlichkeit. Sie war neben mir heraufgewachsen und wünschte ihr Leben in dieser geschwisterlichen Harmonie fortzusetzen und zuzubringen. Wir waren, nach meiner Rückkunft von der Akademie, unzertrennlich geblieben, im innersten Vertrauen hatten wir Gedan ken, Empfindungen und Grillen, die Eindrücke alles Zufälligen in Gemeinschaft. Als ich nach Wetzlar ging, schien ihr die Einsamkeit unerträglich; mein Freund Schlosser, der Guten weder unbekannt noch zuwider, trat in meine Stelle. Leider verwandelte sich bei ihm die Brüderlichkeit in eine entschiedene und, bei seinem strengen gewissenhaften Wesen, vielleicht erste Leidenschaft. Hier fand sich, wie man zu sagen pflegt, eine sehr gätliche, erwünschte Partie, welche sie, nachdem sie verschiedene bedeutende Anträge, aber von unbedeutenden Männern, von solchen, die sie verabscheute, standhaft ausgeschlagen hatte, endlich anzunehmen sich, ich darf wohl sagen, bereden ließ.

Aufrichtig habe ich zu gestehen, daß ich mir, wenn ich manchmal über ihr Schicksal phantasierte, sie nicht gern als Hausfrau, wohl aber als Äbtissin, als Vorsteherin einer edlen Gemeine gar gern denken mochte. Sie besaß alles, was ein solcher höherer Zustand verlangt, ihr fehlte, was die Welt unerläßlich fordert. Über weibliche Seelen übte sie durchaus eine unwiderstehliche Gewalt; junge Gemüter zog sie liebevoll an und beherrschte sie durch den Geist innerer Vorzüge. Wie sie nun die allgemeine Duldung des Guten, Menschlichen, mit allen seinen Wunderlichkeiten, wenn es nur nicht ins Verkehrte ging, mit mir gemein hatte, so brauchte nichts Eigentümliches, wo durch irgend ein bedeutendes Naturell ausgezeichnet war, sich vor ihr zu verbergen, oder sich vor ihr zu genieren; weswegen unsere Geselligkeiten, wie wir schon früher gesehn, immer mannigfaltig, frei, artig, wenn auch gleich manchmal ans Kühne heran, sich bewegen mochten. Die Gewohnheit, mit jungen Frauenzimmern anständig und verbindlich umzugehn, ohne daß sogleich eine entscheidende Beschränkung und Aneignung erfolgt wäre, hatte ich nur ihr zu danken. Nun aber wird der einsichtige Leser, welcher fähig ist, zwischen diese Zeilen hineinzulesen, was nicht geschrieben steht, aber angedeutet ist, sich eine Ahnung der ernsten Gefühle gewinnen, mit welchen ich damals Emmendingen betrat.

Allein beim Abschiede nach kurzem Aufenthalt lag es mir noch schwerer auf dem Herzen, daß meine Schwester mir auf das ernsteste eine Trennung von Lili empfohlen, ja befohlen hatte. Sie selbst hatte an einem langwierigen Brautstande viel gelitten; Schlosser, nach seiner Redlichkeit, verlobte sich nicht eher mit ihr, als bis er seiner Anstellung im Großherzogtum Baden gewiß, ja, wenn man es so nehmen wollte, schon angestellt war. Die eigentliche Bestimmung aber verzögerte sich auf eine undenkliche Weise. Soll ich meine Vermutung hierüber eröffnen, so war der wackere Schlosser, wie tüchtig er zum Geschäft sein mochte, doch wegen seiner schroffen Rechtlichkeit dem Fürsten als unmittelbar berührender Diener, noch weniger den Ministern als naher Mitarbeiter wünschenswert. Seine gehoffte und dringend gewünschte Anstellung in Karlsruhe kam nicht zustande. Mir aber klärte sich diese Zögerung auf, als die Stelle eines Oberamtmanns in Emmendingen ledig ward, und man ihn alsobald dahin versetzte. Es war ein stattliches einträgliches Amt nunmehr ihm übertragen, dem er sich völlig gewachsen zeigte. Seinem Sinn, seiner Handlungsweise deuchte es ganz gemäß, hier allein zu stehen, nach Überzeugung zu handeln und über alles, man mochte ihn loben oder tadeln, Rechenschaft zu geben.

Dagegen ließ sich nichts einwenden; meine Schwester mußte ihm folgen, freilich nicht in eine Residenz, wie sie gehofft hatte, sondern an einen Ort, der ihr eine Einsamkeit, eine Einöde scheinen mußte; in eine Wohnung, zwar geräumig, amtsherrlich, stattlich, aber aller Geselligkeit entbehrend. Einige junge Frauenzimmer, mit denen sie früher Freundschaft gepflogen, folgten ihr nach, und da die Familie Gerock mit Töchtern gesegnet war, wechselten diese ab, so daß sie wenigstens, bei so vieler Entbehrung, eines längstvertrauten Umgangs genoß.

Diese Zustände, diese Erfahrungen waren es, wodurch sie sich berechtigt glaubte, mir aufs ernsteste eine Trennung von Lili zu befehlen. Es schien ihr hart, ein solches Frauenzimmer, von dem sie sich die höchsten Begriffe gemacht hatte, aus einer, wo nicht glänzenden, doch lebhaft bewegten Existenz herauszuzerren, in unser zwar löbliches, aber doch nicht zu bedeutenden Gesellschaften eingerichtetes Haus, zwischen einen wohlwollenden, ungesprächigen, aber gern didaktischen Vater, und eine in ihrer Art höchst häuslich-tätige Mutter, welche doch, nach vollbrachtem Geschäft, bei einer bequemen Handarbeit nicht gestört sein wollte, in einem gemütlichen Gespräch mit jungen herangezogenen und auserwählten Persönlichkeiten.

Dagegen setzte sie mir Lilis Verhältnisse lebhaft ins klare, denn ich hatte ihr teils schon in Briefen, teils aber in leidenschaftlich geschwätziger Vertraulichkeit alles haarklein vorgetragen.

Leider war ihre Schilderung nur eine umständliche wohlgesinnte Ausführung dessen, was ein Ohrenbläser von Freund, dem man nach und nach nichts Gutes zutraute, mit wenigen charakteristischen Zügen einzuflüstern bemüht gewesen.

Versprechen konnt’ ich ihr nichts, ob ich ihr gleich gestehen mußte, sie habe mich überzeugt; ich ging mit dem rätselhaften Gefühl im Herzen, woran die Leidenschaft sich fortnährt; denn Amor das Kind hält sich noch hartnäckig fest am Kleide der Hoffnung, eben als sie schon starken Schrittes sich zu entfernen den Anlauf nimmt.

Das einzige, was ich mir zwischen da und Zürch noch deutlich erinnere, ist der Rheinfall bei Schaffhausen. Hier wird durch einen mächtigen Stromsturz merklich die erste Stufe bezeichnet, die ein Bergland andeutet, in das wir zu treten gewillet sind; wo wir denn nach und nach, Stufe für Stufe, immer in wachsendem Verhältnis, die Höhen mühsam erreichen sollen.

Der Anblick des Zürcher Sees, von dem Tore des »Schwertes« genossen, ist mir auch noch gegenwärtig; ich sage von dem Tore des Gasthauses, denn ich trat nicht hinein, sondern ich eilte zu Lavatern. Der Empfang war heiter und herzlich, und man muß gestehen, anmutig ohnegleichen; zutraulich, schonend, segnend, erhebend, anders konnte man sich seine Gegenwart nicht denken. Seine Gattin, mit etwas sonderbaren, aber friedlichen zartfrommen Zügen, stimmte völlig, wie alles andere um ihn her, in seine Sinnes- und Lebensweise. Unsre nächste, und fast ununterbrochene Unterhaltung war seine »Physiognomik«. Der erste Teil dieses seltsamen Werkes war, wenn ich nicht irre, schon völlig abgedruckt, oder wenigstens seiner Vollständigkeit nahe. Man darf es wohl als genial-empirisch, als methodischkollektiv ansprechen; ich hatte dazu das sonderbarste Verhältnis. Lavater wollte die ganze Welt zu Mitarbeitern und Teilnehmern; schon hatte er auf seiner Rheinreise so viel bedeutende Menschen porträtieren lassen, um durch ihre Persönlichkeit sie in das Interesse eines Werks zu ziehen, in welchem sie selbst auftreten sollten. Ebenso verfuhr er mit Künstlern; er rief einen jeden auf, ihm für seine Zwecke Zeichnungen zu senden. Sie kamen an und taugten nicht entschieden zu ihrer Bestimmung. Ebenso ließ er rechts und links in Kupfer stechen, und auch dieses gelang selten charakteristisch. Eine große Arbeit war von seiner Seite geleistet, mit Geld und Anstrengung aller Art ein bedeutendes Werk vorgearbeitet, der Physiognomik alle Ehre geboten; und wie nun daraus ein Band werden sollte, die Physiognomik, durch Lehre gegründet, durch Beispiele belegt, sich der Würde einer Wissenschaft nähern sollte, so sagte keine Tafel, was sie zu sagen hatte; alle Platten mußten getadelt, bedingt, nicht einmal gelobt, nur zugegeben, manche gar durch die Erklärungen weggelöscht werden. Es war für mich, der, eh er fortschritt, immer Fuß zu fassen suchte, eine der penibelsten Aufgaben, die meiner Tätigkeit auferlegt werden konnte. Man urteile selbst. Das Manuskript mit den zum Text eingeschobenen Plattenabdrücken ging an mich nach Frankfurt. Ich hatte das Recht, alles zu tilgen was mir mißfiel, zu ändern und einzuschalten was mir beliebte, wovon ich freilich sehr mäßig Gebrauch machte. Ein einzigmal hatte er eine gewisse leidenschaftliche Kontrovers gegen einen ungerechten Tadler eingeschoben, die ich wegließ und ein heiteres Naturgedicht dafür einlegte, weswegen er mich schalt, jedoch später, als er abgekühlt war, mein Verfahren billigte.

Wer die vier Bände »Physiognomik« durchblättert und, was ihn nicht reuen wird, durchliest, mag bedenken, welches Interesse unser Zusammensein gehabt habe, indem die meisten der darin vorkommenden Blätter schon gezeichnet und ein Teil gestochen waren, vorgelegt und beurteilt wurden und man die geistreichen Mittel überlegte, womit selbst das Untaugliche in diesem Falle lehrreich und also tauglich gemacht werden könnte.

Geh’ ich das Lavaterische Werk nochmals durch, so macht es mir eine komisch heitere Empfindung; es ist mir, als sähe ich die Schatten mir ehemals sehr bekannter Menschen vor mir, über die ich mich schon einmal geärgert und über die ich mich jetzt nicht erfreuen sollte.

Die Möglichkeit aber, so vieles unschicklich Gebildete einigermaßen zusammenzuhalten, lag in dem schönen und entschiedenen Talente des Zeichners und Kupferstechers Lips; er war in der Tat zur freien prosaischen Darstellung des Wirklichen geboren, worauf es denn doch eigentlich hier ankam. Er arbeitete unter dem wunderlich fordernden Physiognomisten, und mußte deshalb genau aufpassen, um sich den Forderungen seines Meisters anzunähern; der talentreiche Bauernknabe fühlte die ganze Verpflichtung, die er einem geistlichen Herrn aus der so hoch privilegierten Stadt schuldig war, und besorgte sein Geschäft aufs beste.

In getrennter Wohnung von meinen Gesellen lebend, ward ich täglich, ohne daß wir im geringsten Arges daran gehabt hätten, denselben immer fremder; unsre Landpartien paßten nicht mehr zusammen, obgleich in der Stadt noch einiges Verkehr übrig geblieben war. Sie hatten sich mit allem jugendlich gräflichen Übermut auch bei Lavatern gemeldet, welchem gewandten Physiognomisten sie freilich etwas anders vorkamen als der übrigen Welt; er äußerte sich gegen mich darüber, und ich erinnere mich ganz deutlich, daß er, von Leopold Stolberg sprechend, ausrief: »Ich weiß nicht, was ihr alle wollt; es ist ein edler, trefflicher, talentvoller Jüngling, aber sie haben mir ihn als einen Heroen, als einen Herkules beschrieben, und ich habe in meinem Leben keinen weicheren, zarteren und, wenn es darauf ankommt, bestimmbareren jungen Mann gesehen. Ich bin noch weit von sicherer physiognomischer Einsicht entfernt, aber wie es mit euch und der Menge aussieht, ist doch gar zu betrübt.«

Seit der Reise Lavaters an den Niederrhein hatte sich das Interesse an ihm und seinen physiognomischen Studien sehr lebhaft gesteigert; vielfache Gegenbesuche drängten sich zu ihm, so daß er sich einigermaßen in Verlegenheit fühlte, als der Erste geistlicher und geistreicher Männer angesehen und als einer betrachtet zu werden, der die Fremden allein nach sich hinzöge; daher er denn, um allem Neid und Mißgunst auszuweichen, alle diejenigen, die ihn besuchten, zu erinnern und anzutreiben wußte, auch die übrigen bedeutenden Männer freundlich und ehrerbietig anzugehen.

Der alte Bodmer ward hiebei vorzüglich beachtet, und wir mußten uns auf den Weg machen, ihn zu besuchen und jugendlich zu verehren. Er wohnte in einer Höhe über der am rechten Ufer, wo der See seine Wasser als Limmat zusammendrängt, gelegenen größern oder alten Stadt; diese durchkreuzten wir, und erstiegen zuletzt, auf immer steileren Pfaden, die Höhe hinter den Wällen, wo sich zwischen den Festungswerken und der alten Stadtmauer gar anmutig eine Vorstadt, teils in aneinander geschlossenen, teils einzelnen Häusern, halb ländlich gebildet hatte. Hier nun stand Bodmers Haus, der Aufenthalt seines ganzen Lebens, in der freisten, heitersten Umgebung, die wir, bei der Schönheit und Klarheit des Tages, schon vor dem Eintritt höchst vergnüglich zu überschauen hatten. Wir wurden eine Stiege hoch in ein ringsgetäfeltes Zimmer geführt, wo uns ein munterer Greis von mittlerer Statur entgegen kam. Er empfing uns mit einem Gruße, mit dem er die besuchenden Jüngeren anzusprechen pflegte: wir würden es ihm als eine Artigkeit anrechnen, daß er mit seinem Abscheiden aus dieser Zeitlichkeit so lange gezögert habe, um uns noch freundlich aufzunehmen, uns kennen zu lernen, sich an unsern Talenten zu erfreuen und Glück auf unsern fernern Lebensgang zu wünschen.

Wir dagegen priesen ihn glücklich, daß er als Dichter, der patriarchalischen Welt angehörig und doch in der Nähe der höchst gebildeten Stadt, eine wahrhaft idyllische Wohnung zeitlebens besessen und in hoher freier Luft sich einer solchen Fernsicht mit stetem Wohlbehagen der Augen so lange Jahre erfreut habe.

Es schien ihm nicht unangenehm, daß wir eine Übersicht aus seinem Fenster zu nehmen uns ausbaten, welche denn wirklich bei heiterem Sonnenschein in der besten Jahrszeit ganz unvergleichlich erschien. Man übersah vieles von dem, was sich von der großen Stadt nach der Tiefe senkte, die kleinere Stadt über der Limmat, sowie die Fruchtbarkeit des Sihlfeldes gegen Abend. Rückwärts links einen Teil des Zürchsees mit seiner glänzend bewegten Fläche und seiner unendlichen Mannigfaltigkeit von abwechselnden Berg- und Talufern, Erhöhungen, dem Auge unfaßlichen Mannigfaltigkeiten; worauf man denn, geblendet von allem diesem, in der Ferne die blaue Reihe der höheren Gebirgsrücken, deren Gipfel zu benamsen man sich getraute, mit größter Sehnsucht zu schauen hatte.

Die Entzückung junger Männer über das Außerordentliche, was ihm so viele Jahre her täglich geworden war, schien ihm zu behagen; er ward, wenn man so sagen darf, ironisch teilnehmend, und wir schieden als die besten Freunde, wenn schon in unsern Geistern die Sehnsucht nach jenen blauen Gebirgshöhen die Überhand gewonnen hatte.

Indem ich nun im Begriff stehe, mich von unserem würdigen Patriarchen zu beurlauben, so merk’ ich erst, daß ich von seiner Gestalt und Gesichtsbildung, von seinen Bewegungen und seiner Art sich zu benehmen noch nichts ausgesprochen.

Überhaupt zwar finde ich nicht ganz schicklich, daß Reisende einen bedeutenden Mann, den sie besuchen, gleichsam signalisieren, als wenn sie Stoff zu einem Steckbriefe geben wollten. Niemand bedenkt, daß es eigentlich nur ein Augenblick ist, wo er, vorgetreten, neugierig beobachtet und doch nur auf seine eigne Weise; und so kann der Besuchte bald wirklich, bald scheinbar als stolz oder demütig, als schweigsam oder gesprächig, als heiter oder verdrießlich erscheinen. In diesem besondern Falle aber möcht’ ich mich damit entschuldigen, daß Bodmers ehrwürdige Person, in Worten geschildert, keinen gleich günstigen Eindruck machen dürfte. Glücklicherweise existiert das Bild nach Graff von Bause, welches vollkommen den Mann darstellt, wie er auch uns erschienen, und zwar mit seinem Blick der Beschauung und Betrachtung.

Ein besonderes, zwar nicht unerwartetes, aber höchst erwünschtes Vergnügen empfing mich in Zürch, als ich meinen jungen Freund Passavant daselbst antraf. Sohn eines angesehnen reformierten Hauses meiner Vaterstadt, lebte er in der Schweiz, an der Quelle derjenigen Lehre, die er dereinst als Prediger verkündigen sollte. Nicht von großer aber gewandter Gestalt, versprach sein Gesicht und sein ganzes Wesen eine anmutige rasche Entschlossenheit; schwarzes Haar und Bart, lebhafte Augen, im ganzen eine teilnehmende mäßige Geschäftigkeit.

Kaum hatten wir, uns umarmend, die ersten Grüße gewechselt, als er mir gleich den Vorschlag tat, die kleinen Kantone zu besuchen, die er schon mit großem Entzücken durchwandert habe und mit deren Anblick er mich nun ergötzen und entzücken wolle.

Indes ich mit Lavatern die nächsten und wichtigsten Gegenstände durchgesprochen und wir unsre gemeinschaftlichen Angelegenheiten beinah erschöpft hatten, waren meine muntern Reisegesellen schon auf mancherlei Wegen ausgezogen, und hatten nach ihrer Weise sich in der Gegend umgetan. Passavant, mich mit herzlicher Freundschaft umfangend, glaubte dadurch ein Recht zu dem ausschließenden Besitz meines Umganges erworben zu haben und wußte daher, in Abwesenheit jener, mich um so eher in die Gebirge zu locken, als ich selbst entschieden geneigt war, in größter Ruhe und auf meine eigne Weise, diese längst ersehnte Wanderung zu vollbringen. Wir schifften uns ein, und fuhren an einem glänzenden Morgen den herrlichen See hinauf.

Möge ein eingeschaltetes Gedicht von jenen glücklichen Momenten einige Ahnung herüberbringen:

Und frische Nahrung, neues Blut

Saug’ ich aus freier Welt;

Wie ist Natur so hold und gut,

Die mich am Busen hält!

Die Welle wieget unsern Kahn

Im Rudertakt hinauf,

Und Berge, wolkig himmelan,

Begegnen unserm Lauf.

Aug mein Aug, was sinkst du nieder?

Goldne Träume, kommt ihr wieder?

Weg, du Traum! so Gold du bist;

Hier auch Lieb und Leben ist.

Auf der Welle blinken

Tausend schwebende Sterne;

Weiche Nebel trinken

Rings die türmende Ferne,

Morgenwind umflügelt

Die beschattete Bucht

Und im See bespiegelt

Sich die reifende Frucht.

Wir landeten in Richterswyl, wo wir an Doktor Hotz durch Lavater empfohlen waren. Er besaß als Arzt, als höchst verständiger, wohlwollender Mann ein ehrwürdiges Ansehn an seinem Orte und in der ganzen Gegend, und wir glauben sein Andenken nicht besser zu ehren, als wenn wir auf eine Stelle in Lavaters »Physiognomik« hinweisen, die ihn bezeichnet.

Aufs beste bewirtet, aufs anmutigste und nützlichste auch über die nächsten Stationen unsrer Wanderung unterhalten, erstiegen wir die dahinter liegenden Berge. Als wir in das Tal von Schindellegi wieder hinabsteigen sollten, kehrten wir uns nochmals um, die entzückende Aussicht über den Zürcher See in uns aufzunehmen.

Wie mir zu Mute gewesen, deuten folgende Zeilen an, wie sie damals geschrieben noch in einem Gedenkheftchen aufbewahrt sind:

Wenn ich, liebe Lili, dich nicht liebte,

Welche Wonne gäb’ mir dieser Blick!

Und doch, wenn ich, Lili, dich nicht liebte,

Wär’, was wär’ mein Glück?

Ausdrucksvoller find ich hier diese kleine Interjektion, als wie sie in der Sammlung meiner Gedichte abgedruckt ist.

Die rauhen Wege, die von da nach Maria Einsiedeln führten, konnten unserm guten Mut nichts anhaben. Eine Anzahl von Wallfahrern, die, schon unten am See von uns bemerkt, mit Gebet und Gesang regelmäßig fortschritten, hatten uns eingeholt; wir ließen sie begrüßend vorbei und sie belebten, indem sie uns zur Einstimmung in ihre frommen Zwecke beriefen, diese öden Höhen anmutig charakteristisch. Wir sahen lebendig den schlängelnden Pfad bezeichnet, den auch wir zu wandern hatten, und schienen freudiger zu folgen; wie denn die Gebräuche der römischen Kirche dem Protestanten durchaus bedeutend und imposant sind, indem er nur das Erste, Innere, wodurch sie hervorgerufen, das Menschliche, wodurch sie sich von Geschlecht zu Geschlecht fortpflanzen, und also auf den Kern dringend, anerkennt, ohne sich gerade in dem Augenblick mit der Schale, der Fruchthülle, ja dem Baume selbst, seinen Zweigen, Blättern, seiner Rinde und seinen Wurzeln zu befassen.

Nun sahen wir in einem öden baumlosen Tale die prächtige Kirche hervorsteigen; das Kloster, von weitem ansehnlichen Umfang, in der Mitte von reinlicher Ansiedelung, um so eine große und mannigfaltige Anzahl von Gästen einigermaßen schicklich aufzunehmen.

Das Kirchlein in der Kirche, die ehmalige Einsiedlerwohnung des Heiligen, mit Marmor inkrustiert und so viel als möglich zu einer anständigen Kapelle verwandelt, war etwas Neues, von mir noch nie Gesehenes, dieses kleine Gefäß, umbaut und überbaut von Pfeilern und Gewölben. Es mußte ernste Betrachtungen erregen, daß ein einzelner Funke von Sittlichkeit und Gottesfurcht hier ein immer brennendes leuchtendes Flämmchen angezündet, zu welchem gläubige Scharen mit großer Beschwerlichkeit heranpilgern sollten, um an dieser heiligen Flamme auch ihr Kerzlein anzuzünden. Wie dem auch sei, so deutet es auf ein grenzenloses Bedürfnis der Menschheit nach gleichem Licht, gleicher Wärme, wie es jener erste im tiefsten Gefühl und sicherster Überzeugung gehegt und genossen. Man führte uns in die Schatzkammer, welche, reich und imposant genug, vor allem lebensgroße, wohl gar kolossale Büsten von Heiligen und Ordensstiftern dem staunenden Auge darbot.

Doch ganz andere Aufmerksamkeit erregte der Anblick eines darauf eröffneten Schrankes; er enthielt altertümliche Kostbarkeiten, hierher gewidmet und verehrt. Verschiedene Kronen von merkwürdiger Goldschmiedsarbeit hielten meinen Blick fest, unter denen wieder eine ausschließlich betrachtet wurde. Eine Zackenkrone im Kunstsinne der Vorzeit, wie man wohl ähnliche auf den Häuptern altertümlicher Königinnen gesehen, aber von so geschmackvoller Zeichnung, von solcher Ausführung einer unermüdeten Arbeit, selbst die eingefugten farbigen Steine mit solcher Wahl und Geschicklichkeit verteilt und gegeneinander gestellt – genug, ein Werk der Art, daß man es bei dem ersten Anblick für vollkommen erklärte, ohne diesen Eindruck kunstmäßig entwickeln zu können.

Auch ist in solchen Fällen, wo die Kunst nicht erkannt, sondern gefühlt wird, Geist und Gemüt zur Anwendung geneigt, man möchte das Kleinod besitzen, um damit Freude zu machen. Ich erbat mir die Erlaubnis, das Krönchen hervorzunehmen; und als ich solches in der Hand anständig haltend in die Höhe hob, dacht’ ich mir nicht anders, als ich müßte es Lili auf die hellglänzenden Locken aufdrücken, sie vor den Spiegel führen und ihre Freude über sich selbst und das Glück, das sie verbreitet, gewahr werden. Ich habe mir nachher oft gedacht, diese Szene, durch einen talentvollen Maler verwirklicht, müßte einen höchst sinn- und gemütvollen Anblick geben. Da wäre es wohl der Mühe wert, der junge König zu sein, der sich auf diese Weise eine Braut und ein neues Reich erwürbe.

Um uns die Besitztümer des Klosters vollständig sehen zu lassen, führte man uns in ein Kunst-, Kuriositäten- und Naturalienkabinett. Ich hatte damals von dem Wert solcher Dinge wenig Begriff; noch hatte mich die zwar höchst löbliche, aber doch den Eindruck der schönen Erdoberfläche vor dem Anschauen des Geistes zerstückelnde Geognosie nicht angelockt, noch weniger eine phantastische Geologie mich in ihre Irrsale verschlungen; jedoch nötigte mich der herumführende Geistliche, einem fossilen, von Kennern, wie er sagte, höchst geschätzten, in einem blauen Schieferton wohl erhaltenen kleinen wilden Schweinskopf einige Aufmerksamkeit zu schenken, der auch, schwarz wie er war, für alle Folgezeit in der Einbildungskraft geblieben ist. Man hatte ihn in der Gegend von Rapperswyl gefunden, in einer Gegend, die, morastig von Urzeiten her, gar wohl dergleichen Mumien für die Nachwelt aufnehmen und bewahren konnte.

Ganz anders aber zog mich, unter Rahmen und Glas, ein Kupferstich von Martin Schön an, das Abscheiden der Maria vorstellend. Freilich kann nur ein vollkommenes Exemplar uns einen Begriff von der Kunst eines solchen Meisters geben, aber alsdann werden wir auch, wie von dem Vollkommenen in jeder Art, dergestalt ergriffen, daß wir die Begierde, das gleiche zu besitzen, den Anblick immer wiederholen zu können, – es mag noch so viel Zeit dazwischen verfließen – nicht wieder loswerden. Warum sollt’ ich nicht vorgreifen und hier gestehen, daß ich später nicht eher nachließ, als bis ich ebenfalls zu einem trefflichen Abdruck dieses Blattes gelangt war.

Am 16. Juni 1775, denn hier find’ ich zuerst das Datum verzeichnet, traten wir einen beschwerlichen Weg an; wilde, steinige Höhen mußten überstiegen werden und zwar in vollkommener Einsamkeit und Öde. Abends 3/4 auf achte standen wir den Schwyzer Hocken gegenüber, zweien Berggipfeln, die nebeneinander mächtig in die Luft ragen. Wir fanden auf unsern Wegen zum erstenmal Schnee, und an jenen zackigen Felsgipfeln hing er noch vom Winter her. Ernsthaft und fürchterlich füllte ein uralter Fichtenwald die unabsehlichen Schluchten, in die wir hinab sollten. Nach kurzer Rast, frisch und mit mutwilliger Behendigkeit, sprangen wir den von Klippe zu Klippe, von Platte zu Platte in die Tiefe sich stürzenden Fußpfad, und gelangten um zehn Uhr nach Schwyz. Wir waren zugleich müde und munter geworden, hinfällig und aufgeregt, wir löschten gähling unsern heftigen Durst und fühlten uns noch mehr begeistert. Man denke sich den jungen Mann, der etwa vor zwei Jahren den »Werther« schrieb, einen jüngeren Freund, der sich schon an dem Manuskript jenes wunderbaren Werks entzündet hatte, beide ohne Wissen und Wollen gewissermaßen in einen Naturzustand versetzt, lebhaft gedenkend vorübergegangener Leidenschaften, nachhängend den gegenwärtigen, folgelose Plane bildend, im Gefühl behaglicher Kraft das Reich der Phantasie durchschwelgend, – dann nähert man sich der Vorstellung jenes Zustandes, den ich nicht zu schildern wüßte, stünde nicht im Tagebuche: »Lachen und Jauchzen dauerte bis um Mitternacht.«

Den 17. morgens sahen wir die Schwyzer Hocken vor unsern Fenstern. An diesen ungeheuern unregelmäßigen Naturpyramiden stiegen Wolken nach Wolken hinauf. Um 1 Uhr nachmittags von Schwyz weg, gegen den Rigi zu, um 2 Uhr auf dem Lauerzer See herrlicher Sonnenschein. Vor lauter Wonne sah man gar nichts; zwei tüchtige Mädchen führten das Schiff; das war anmutig, wir ließen es geschehen. Auf der Insel langten wir an, wo sie sagen: hier habe der ehemalige Zwingherr gehaust; wie ihm auch sei, jetzt zwischen die Ruinen hat sich die Hütte des Waldbruders eingeschoben.

Wir bestiegen den Rigi, um halb achte standen wir bei der Mutter Gottes im Schnee; sodann an der Kapelle, am Kloster vorbei, im Wirtshaus »Zum Ochsen«.

Den 18. sonntags früh die Kapelle vom »Ochsen« aus gezeichnet. Um 12 Uhr nach dem Kalten Bad oder zum Drei-Schwestern-Brunnen. Ein Viertel nach zwei hatten wir die Höhe erstiegen; wir fanden uns in Wolken, diesmal uns doppelt unangenehm, als die Aussicht hindernd und als niedergehender Nebel netzend. Aber als sie hie und da auseinander rissen und uns, von wallenden Rahmen umgeben, eine klare, herrliche, sonnenbeschienene Welt als vortretende und wechselnde Bilder sehen ließen, bedauerten wir nicht mehr diese Zufälligkeiten; denn es war ein niegesehner, nie wieder zu schauender Anblick, und wir verharrten lange in dieser gewissermaßen unbequemen Lage, um durch die Ritzen und Klüfte der immer bewegten Wolkenballen einen kleinen Zipfel besonnter Erde, einen schmalen Uferzug und ein Endchen See zu gewinnen.

Um 8 Uhr abends waren wir wieder vor der Wirtshaustüre zurück und stellten uns an gebackenen Fischen und Eiern und genugsamem Wein wieder her.

Wie es denn nun dämmerte und allmählich nachtete, beschäftigten ahnungsvoll zusammenstimmende Töne unser Ohr; das Glockengebimmel der Kapelle, das Plätschern des Brunnens, das Säuseln wechselnder Lüftchen, in der Ferne Waldhörner; – es waren wohltätige, beruhigende, einlullende Momente.

Am 19. früh halb sieben erst aufwärts, dann hinab an den Waldstätter See, nach Vitznau, von da zu Wasser nach Gersau. Mittags im Wirtshaus am See. Gegen 2 Uhr dem Grütli gegenüber, wo die drei Tellen schwuren, darauf an der Platte, wo der Held aussprang und wo ihm zu Ehren die Legende seines Daseins und seiner Taten durch Malerei verewigt ist. Um 3 Uhr in Flüelen, wo er eingeschifft ward; um 4 Uhr in Altdorf, wo er den Apfel abschoß.

An diesem poetischen Faden schlingt man sich billig durch das Labyrinth dieser Felsenwände, die steil bis in das Wasser hinabreichend uns nichts zu sagen haben. Sie, die Unerschütterlichen, stehen so ruhig da, wie die Kulissen eines Theaters; Glück oder Unglück, Lust oder Trauer ist bloß den Personen zugedacht, die heute auf dem Zettel stehen.

Dergleichen Betrachtungen jedoch waren gänzlich außer dem Gesichtskreis jener Jünglinge, das Kurzvergangene hatten sie aus dem Sinne geschlagen, und die Zukunft lag so wunderbar unerforschlich vor ihnen, wie das Gebirg, in das sie hineinstrebten.

Am 20. brachen wir nach Amsteg auf, wo man uns gebackene Fische gar schmackhaft bereitete. Hier nun, an diesem schon genugsam wilden Angebirge, wo die Reuß aus schrofferen Felsklüften hervordrang und das frische Schneewasser über die reinlichen Kiesbänke hinspielte, enthielt ich mich nicht, die gewünschte Gelegenheit zu nutzen und mich in den rauschenden Wellen zu erquicken.

Um 3 Uhr brachen wir von da auf; eine Reihe Saumrosse zog vor uns her, wir schritten mit ihr über eine breite Schneemasse und erfuhren erst nachher, daß sie unten hohl sei. Hier hatte sich der Winterschnee in eine Bergschlucht eingelegt, um die man sonst herumziehen mußte, und diente nunmehr zu einem graden verkürzten Wege. Die unten durchströmenden Wasser hatten sie nach und nach ausgehöhlt, durch die milde Sommerluft war das Gewölb immer mehr abgeschmolzen, so daß sie nunmehr als ein breiter Brückenbogen das Hüben und Drüben natürlich zusammenhielt. Wir überzeugten uns von diesem wundersamen Naturereignis, indem wir uns etwas oberhalb hinunter in die breitere Schlucht wagten.

Wie wir uns nun immer weiter erhuben, blieben Fichtenwälder im Abgrund, durch welche die schäumende Reuß über Felsenstürze sich von Zeit zu Zeit sehen ließ.

Um 1/2 8 Uhr gelangten wir nach Wasen, wo wir, uns mit dem roten, schweren, sauern lombardischen Wein zu erquicken, erst mit Wasser nachhelfen und mit vielem Zucker das Ingrediens ersetzen mußten, was die Natur in der Traube auszukochen versagt hatte. Der Wirt zeigte schöne Kristalle vor; ich war aber damals so entfernt von solchen Naturstudien, daß ich mich nicht einmal für den geringen Preis mit diesen Bergerzeugnissen beschweren mochte.

Den 21. halb 7 Uhr aufwärts; die Felsen wurden immer mächtiger und schrecklicher, der Weg bis zum Teufelsstein, bis zum Anblick der Teufelsbrücke immer mühseliger. Meinem Gefährten beliebte es hier auszuruhen; er munterte mich auf, die bedeutenden Ansichten zu zeichnen. Die Umrisse mochten mir gelingen, aber es trat nichts hervor, nichts zurück; für dergleichen Gegenstände hatte ich keine Sprache. Wir mühten uns weiter, das ungeheure Wilde schien sich immer zu steigern, Platten wurden zu Gebirgen, und Vertiefungen zu Abgründen. So geleitete mich mein Führer bis ans Urserner Loch, durch welches ich gewissermaßen verdrießlich hindurch ging; was man bisher gesehen, war doch erhaben, diese Finsternis hob alles auf.

Aber freilich hatte sich der schelmische Führer das freudige Erstaunen voraus vorgestellt, das mich beim Austritt überraschen mußte. Der mäßig schäumende Fluß schlängelte sich hier milde durch ein flaches, von Bergen zwar umschlossenes, aber doch genugsam weites, zur Bewohnung einladendes Tal; über dem reinlichen Örtchen Urseren und seiner Kirche, die uns auf ebenem Boden entgegen standen, erhob sich ein Fichtenwäldchen, heilig geachtet, weil es die am Fuße Angesiedelten vor höher herabrollenden Schneelawinen schützte. Die grünenden Wiesen des Tales waren wieder am Fluß her mit kurzen Weiden geschmückt; man erfreute sich hier einer lange vermißten Vegetation. Die Beruhigung war groß, man fühlte auf flachen Pfaden die Kräfte wieder belebt, und mein Reisegefährte tat sich nicht wenig zugute auf die Überraschung, die er so schicklich eingeleitet hatte.

An der Matte fand sich der berühmte Urserner Käse, und die exaltierten jungen Leute ließen sich einen leidlichen Wein trefflich schmecken, um ihr Behagen noch mehr zu erhöhen und ihren Projekten einen phantastischern Schwung zu verleihen.

Den 22. halb 4 Uhr verließen wir unsre Herberge, um aus dem glatten Urserner Tal ins steinichte Liviner Tal einzutreten. Auch hier ward sogleich alle Fruchtbarkeit vermißt; nackte, wie bemooste Felsen mit Schnee bedeckt, ruckweiser Sturmwind, Wolken heran- und vorbeiführend, Geräusch der Wasserfälle, das Klingeln der Saumrosse in der höchsten Öde, wo man weder die Herankommenden noch die Scheidenden erblickte. Hier kostet es der Einbildungskraft nicht viel, sich Drachennester in den Klüften zu denken. Aber doch erheitert und erhoben fühlte man sich durch einen der schönsten, am meisten zum Bilde sich eignenden, in allen Abstufungen grandios mannigfaltigen Wasserfall, der gerade in dieser Jahrszeit vom geschmolzenen Schnee überreich begabt, von Wolken bald verhüllt bald enthüllt, uns geraume Zeit an die Stelle fesselte.

Endlich gelangten wir an kleine Nebelseen, wie ich sie nennen möchte, weil sie von den atmosphärischen Streifen kaum zu unterscheiden waren. Nicht lange, so trat aus dem Dunste ein Gebäude entgegen, es war das Hospiz, und wir fühlten große Zufriedenheit, uns zunächst unter seinem gastlichen Dache schirmen zu können.

 
 * 

Neunzehntes Buch

Durch das leichte Kläffen eines uns entgegen kommenden Hündchens angemeldet, wurden wir von einer ältlichen aber rüstigen Frauensperson an der Türe freundlich empfangen; sie entschuldigte den Herrn Pater, welcher nach Mailand gegangen sei, jedoch diesen Abend wieder erwartet werde; alsdann aber sorgte sie, ohne viel Worte zu machen, für Bequemlichkeit und Bedürfnis. Eine warme geräumige Stube nahm uns auf; Brot, Käse und trinkbarer Wein wurden aufgesetzt, auch ein hinreichendes Abendessen versprochen. Nun wurden die Überraschungen des Tags wieder aufgenommen, und der Freund tat sich höchlich darauf zugute, daß alles so wohl gelungen und ein Tag zurückgelegt sei, dessen Eindrücke weder Poesie noch Prose wieder herzustellen imstande. Bei spät einbrechender Dämmerung trat endlich der ansehnliche Pater herein, begrüßte mit freundlich vertraulicher Würde seine Gäste und empfahl mit wenigen Worten der Köchin alle mögliche Aufmerksamkeit. Als wir unsre Bewunderung nicht zurückhielten, daß er hier oben, in so völliger Wüste, entfernt von aller Gesellschaft, sein Leben zubringen gewollt, versicherte er: an Gesellschaft fehle es ihm nie, wie wir denn ja auch gekommen wären, ihn mit unserm Besuche zu erfreuen. Gar stark sei der wechselseitige Warentransport zwischen Italien und Deutschland; dieser immerfortwährende Speditionswechsel setze ihn mit den ersten Handelshäusern in Verhältnis. Er steige oft nach Mailand hinab, komme seltener nach Luzern, von woher ihm aber aus den Häusern, welche das Postgeschäft dieser Hauptstraße zu besorgen hätten, zum öftern junge Leute zugeschickt würden, die hier oben auf dem Scheidepunkt mit allen in diese Angelegenheiten eingreifenden Umständen und Vorfallenheiten bekannt werden sollten.

Unter solchen mannigfaltigen Gesprächen ging der Abend hin, und wir schliefen eine ruhige Nacht in etwas kurzen, an der Wand befestigten, eher an Repositorien als Bettstellen erinnernden Schlafstätten.

Früh aufgestanden, befand ich mich bald zwar unter freiem Himmel, jedoch in engen, von hohen Gebirgskuppen umschlossenen Räumen. Ich hatte mich an den Fußpfad, der nach Italien hinunterging, niedergelassen und zeichnete, nach Art der Dilettanten, was nicht zu zeichnen war und was noch weniger ein Bild geben konnte: die nächsten Gebirgskuppen, deren Seiten der herabschmelzende Schnee mit weißen Furchen und schwarzen Rücken sehen ließ; indessen ist mir durch diese fruchtlose Bemühung jenes Bild im Gedächtnis unauslöschlich geblieben.

Mein Gefährte trat mutig zu mir und begann: »Was sagst du zu der Erzählung unsres geistlichen Wirts von gestern abend? Hast du nicht, wie ich, Lust bekommen, dich von diesem Drachengipfel hinab in jene entzückenden Gegenden zu begeben? Die Wanderung durch diese Schluchten hinab muß herrlich sein und mühelos, und wann sich’s dann bei Bellinzona öffnen mag, was würde das für eine Lust sein! Die Inseln des großen Sees sind mir durch die Worte des Paters wieder lebendig in die Seele getreten. Man hat seit Keyßlers Reisen so viel davon gehört und gesehen, daß ich der Versuchung nicht widerstehen kann. Ist dir’s nicht auch so?« fuhr er fort; »du sitzest gerade am rechten Fleck, schon einmal stand ich hier und hatte nicht den Mut hinabzuspringen. Geh voran ohne weiteres, in Airolo wartest du auf mich, ich komme mit dem Boten nach, wenn ich vom guten Pater Abschied genommen und alles berichtigt habe.«

»So ganz aus dem Stegreife ein solches Unternehmen, will mir doch nicht gefallen«, antwortete ich. – »Was soll da viel Bedenken!« rief jener, »Geld haben wir genug, nach Mailand zu kommen, Kredit wird sich finden, mir sind von unsern Messen her dort mehr als ein Handelsfreund bekannt.« Er ward noch dringender. »Geh!« sagte ich, »mach alles zum Abschied fertig, entschließen wollen wir uns alsdann.«

Mir kommt vor, als wenn der Mensch, in solchen Augenblicken, keine Entschiedenheit in sich fühlte, vielmehr von früheren Eindrücken regiert und bestimmt werde. Die Lombardie und Italien lag als ein ganz Fremdes vor mir; Deutschland als ein Bekanntes, Liebwertes, voller freundlichen einheimischen Aussichten, und, sei es nur gestanden: das, was mich so lange ganz umfangen, meine Existenz getragen hatte, blieb auch jetzt das unentbehrlichste Element, aus dessen Grenzen zu treten ich mich nicht getraute. Ein goldnes Herzchen, das ich in schönsten Stunden von ihr erhalten hatte, hing noch an demselben Bändchen, an welchem sie es umknüpfte, lieberwärmt an meinem Halse. Ich faßte es an und küßte es; mag ein dadurch veranlaßtes Gedicht auch hier eingeschaltet sein:

Angedenken du verklungner Freude,

Das ich immer noch am Halse trage,

Hältst du länger als das Seelenband uns beide?

Verlängerst du der Liebe kurze Tage?

Flieh’ ich, Lili, vor dir! Muß noch an deinem Bande

Durch fremde Lande,

Durch ferne Täler und Wälder wallen!

Ach, Lilis Herz konnte so bald nicht

Von meinem Herzen fallen.

Wie ein Vogel, der den Faden bricht

Und zum Walde kehrt,

Er schleppt, des Gefängnisses Schmach,

Noch ein Stückchen des Fadens nach,

Er ist der alte freigeborne Vogel nicht,

Er hat schon jemand angehört.

Schnell stand ich auf, damit ich von der schroffen Stelle wegkäme und der mit dem refftragenden Boten heranstürmende Freund mich in den Abgrund nicht mit fortrisse. Auch ich begrüßte den frommen Pater und wendete mich, ohne ein Wort zu verlieren, dem Pfade zu, woher wir gekommen waren. Etwas zaudernd folgte mir der Freund, und ohngeachtet seiner Liebe und Anhänglichkeit an mich blieb er eine Zeitlang eine Strecke zurück, bis uns endlich jener herrliche Wasserfall wieder zusammenbrachte, zusammenhielt und das einmal Beschlossene endlich auch für gut und heilsam gelten sollte.

Von dem Herabstieg sag ich nichts weiter, als daß jene Schneebrücke, über die wir in schwerbeladener Gesellschaft vor wenig Tagen ruhig hinzogen, völlig zusammengestürzt fanden, und nun, da wir einen Umweg durch die eröffnete Bucht machen mußten, die kolossalen Trümmer einer natürlichen Baukunst anzustaunen und zu bewundern hatten.

Ganz konnte mein Freund die rückgängige Wanderung nach Italien nicht verschmerzen; er mochte sich solche früher ausgedacht und, mit liebevoller Arglist, mich an Ort und Stelle zu überraschen gehofft haben. Deshalb ließ sich die Rückkehr nicht so heiter vollführen; ich aber war auf meinen stummen Pfaden um desto anhaltender beschäftigt, das Ungeheure, das sich in unserem Geiste mit der Zeit zusammenzuziehen pflegt, wenigstens in seinen faßlichen charakteristischen Einzelnheiten festzuhalten.

Nicht ohne manche neue wie erneuerte Empfindungen und Gedanken gelangten wir durch die bedeutenden Höhen des Vierwaldstätter Sees nach Küßnacht, wo wir landend und unsre Wanderung fortsetzend, die am Wege stehende Tellenkapelle zu begrüßen und jenen der ganzen Welt als heroisch-patriotisch rühmlich geltenden Meuchelmord zu gedenken hatten. Ebenso fuhren wir über den Zugersee, den wir schon vom Rigi herab aus der Ferne hatten kennen lernen. In Zug erinnere ich mich nur einiger im Gasthofzimmer nicht gar großer, aber in ihrer Art vorzüglicher in die Fensterflügel eingefügter gemalter Scheiben. Dann ging unser Weg über den Albis in das Sihltal, wo wir einen jungen in der Einsamkeit sich gefallenden Hannoveraner, von Lindau, besuchten, um seinen Verdruß zu beschwichtigen, den er früher in Zürch über eine von mir nicht aufs freundlichste und schicklichste abgelehnte Begleitung empfunden hatte. Die eifersüchtige Freundschaft des trefflichen Passavant war eigentlich Ursache an dem Ablehnen einer zwar lieben, aber doch unbequemen Gegenwart.

Ehe wir aber von diesen herrlichen Höhen wieder zum See und zur freundlich liegenden Stadt hinabsteigen, muß ich noch eine Bemerkung machen über meine Versuche, durch Zeichnen und Skizzieren der Gegend etwas abzugewinnen. Die Gewohnheit von Jugend auf, die Landschaft als Bild zu sehen, verführte mich zu dem Unternehmen, wenn ich in der Natur die Gegend als Bild erblickte, sie fixieren, mir ein sichres Andenken von solchen Augenblicken festhalten zu wollen. Sonst nur an beschränkten Gegenständen mich einigermaßen übend, fühlt’ ich in einer solchen Welt gar bald meine Unzulänglichkeit. Drang und Eile zugleich nötigten mich zu einem wunderbaren Hülfsmittel: kaum hatte ich einen interessanten Gegenstand gefaßt, und ihn mit wenigen Strichen im allgemeinsten auf dem Papier angedeutet, so führte ich das Detail, das ich mit dem Bleistift nicht erreichen noch durchführen konnte, in Worten gleich darneben aus und gewann mir auf diese Weise eine solche innere Gegenwart von dergleichen Ansichten, daß eine jede Lokalität, wie ich sie nachher in Gedicht oder Erzählung nur etwa brauchen mochte, mir alsobald vorschwebte und zu Gebote stand.

Bei meiner Rückkunft in Zürch fand ich die Stolberge nicht mehr; ihr Aufenthalt in dieser Stadt hatte sich auf eine wunderliche Weise verkürzt.

Gestehen wir überhaupt, daß Reisende, die sich aus ihrer häuslichen Beschränkung entfernen, gewissermaßen in eine nicht nur fremde, sondern völlig freie Natur einzutreten glauben; welchen Wahn man damals um so eher hegen konnte, als man noch nicht durch polizeiliche Untersuchung der Pässe, durch Zollabgaben und andere dergleichen Hindernisse jeden Augenblick erinnert wurde, es sei draußen noch bedingter und schlimmer als zu Hause.

Vergegenwärtige man sich zunächst jene unbedingte Richtung nach einer verwirklichten Naturfreiheit, so wird man den jungen Gemütern verzeihen, welche die Schweiz gerade als das rechte Lokal ansahen, ihre frische Jünglingsnatur zu idyllisieren. Hatten doch Geßners zarte Gedichte, sowie seine allerliebsten Radierungen hiezu am entschiedensten berechtigt.

In der Wirklichkeit nun scheint sich für solche poetische Äußerungen das Baden in unbeengten Gewässern am allerersten zu qualifizieren. Schon unterwegs wollten dergleichen Naturübungen nicht gut zu den modernen Sitten paßlich erscheinen; man hatte sich ihrer auch einigermaßen enthalten. In der Schweiz aber, beim Anblick und Feuchtgefühl des rinnenden, laufenden, stürzenden, in der Fläche sich sammelnden, nach und nach zum See sich ausbreitenden Gewässers war der Versuchung nicht zu widerstehen. Ich selbst will nicht leugnen, daß ich mich im klaren See zu baden mit meinen Gesellen vereinte und, wie es schien, weit genug von allen menschlichen Blicken. Nackte Körper jedoch leuchten weit, und wer es auch mochte gesehen haben, nahm Ärgernis daran.

Die guten harmlosen Jünglinge, welche gar nichts Anstößiges fanden, halb nackt wie ein poetischer Schäfer, oder ganz nackt wie eine heidnische Gottheit sich zu sehen, wurden von Freunden erinnert, dergleichen zu unterlassen. Man machte ihnen begreiflich: sie weseten nicht in der uranfänglichen Natur, sondern in einem Lande, das für gut und nützlich erachtet habe, an älteren, aus der Mittelzeit sich herschreibenden Einrichtungen und Sitten fest zu halten. Sie waren nicht abgeneigt, dies einzusehen, besonders da vom Mittelalter die Rede war, welches ihnen als eine zweite Natur verehrlich schien. Sie verließen daher die allzu taghaften Seeufer und fanden auf ihren Spaziergängen durch das Gebirg so klare, rauschende, erfrischende Gewässer, daß in der Mitte Juli es ihnen unmöglich schien, einer solchen Erquickung zu widerstehen. So waren sie auf ihren weitschweifenden Spaziergängen in das düstere Tal gelangt, wo hinter dem Albis die Sihl strömend herabschießt, um sich unterhalb Zürch in die Limmat zu ergießen. Entfernt von aller Wohnung, ja von allem betretenen Fußpfad, fanden sie es hier ganz unverfänglich, die Kleider abzuwerfen und sich kühnlich den schäumenden Stromwellen entgegen zu setzen; dies geschah freilich nicht ohne Geschrei, nicht ohne ein wildes, teils von der Kühlung, teils von dem Behagen aufgeregtes Lustjauchzen, wodurch sie diese düster bewaldeten Felsen zur idyllischen Szene einzuweihen den Begriff hatten.

Allein, ob ihnen frühere Mißwollende nachgeschlichen, oder ob sie sich durch diesen dichterischen Tumult in der Einsamkeit selbst Gegner aufgerufen, ist nicht zu bestimmen. Genug, sie mußten aus dem oberen stummen Gebüsch herab Steinwurf auf Steinwurf erfahren, ungewiß ob von wenigen oder mehrern, ob zufällig oder absichtlich, und sie fanden daher für das Klügste, das erquickende Element zu verlassen und ihre Kleider zu suchen.

Keiner war getroffen; Überraschung und Verdruß war die geistige Beschädigung, die sie erlitten hatten, und sie wußten, als lebenslustige Jünglinge, die Erinnerung daran leicht abzuschütteln.

Auf Lavatern jedoch erstreckten sich die unangenehmsten Folgen, daß er junge Leute von dieser Frechheit bei sich freundlich aufgenommen, mit ihnen Spazierfahrten angestellt und sie sonst begünstigt, deren wildes, unbändiges, ja heidnisches Naturell einen solchen Skandal in einer gesitteten, wohlgeregelten Gegend anrichte.

Der geistliche Freund jedoch, wohl verstehend solche Vorkommenheiten zu beschwichtigen, wußte dies auch beizulegen, und nach Abzug dieser meteorisch Reisenden war schon bei unsrer Rückkehr alles ins gleiche gebracht.

In dem Fragment von Werthers Reisen, welches in dem XVI. Bande meiner Werke neuerlich wieder mit abgedruckt ist, habe ich diesen Gegensatz der schweizerischen löblichen Ordnung und gesetzlichen Beschränkung mit einem solchen, im jugendlichen Wahn geforderten Naturleben zu schildern gesucht. Weil man aber alles, was der Dichter unbewunden darstellt, gleich als entschiedene Meinung, als didaktischen Tadel aufzunehmen pflegt; so waren die Schweizer deshalb sehr unwillig, und ich unterließ die intentionierte Fortsetzung, welche das Herankommen Werthers bis zur Epoche, wo seine Leiden geschildert sind, einigermaßen darstellen und dadurch gewiß den Menschenkennern willkommen sein sollte.

In Zürch angelangt, gehörte ich Lavatern, dessen Gastfreundschaft ich wieder ansprach, die meiste Zeit ganz allein. Die »Physiognomik« lag mit allen ihren Gebilden und Unbilden dem trefflichen Manne mit immer sich vermehrenden Lasten auf den Schultern. Wir verhandelten alles den Umständen nach gründlich genug, und ich versprach ihm dabei nach meiner Rückkehr die bisherige Teilnahme.

Hiezu verleitete mich das jugendlich unbedingte Vertrauen auf eine schnelle Fassungskraft, mehr noch das Gefühl der willigsten Bildsamkeit; denn eigentlich war die Art, womit Lavater die Physiognomien zergliederte, nicht in meinem Wesen. Der Eindruck, den der Mensch beim ersten Begegnen auf mich machte, bestimmte gewissermaßen mein Verhältnis zu ihm, obgleich das allgemeine Wohlwollen, das in mir wirkte, gesellt zu dem Leichtsinn der Jugend, eigentlich immer vorwaltete und mich die Gegenstände in einer gewissen dämmernden Atmosphäre schauen ließ.

Lavaters Geist war durchaus imposant; in seiner Nähe konnte man sich einer entscheidenden Einwirkung nicht erwehren, und so mußt’ ich mir denn gefallen lassen, Stirn und Nase, Augen und Mund einzeln zu betrachten, und ebenso ihre Verhältnisse und Bezüge zu erwägen. Jener Seher tat dies notgedrungen, um sich von dem, was er so klar anschaute, vollkommene Rechenschaft zu geben; mir kam es immer als eine Tücke, als ein Spionieren vor, wenn ich einen gegenwärtigen Menschen in seine Elemente zerlegen und seinen sittlichen Eigenschaften dadurch auf die Spur kommen wollte. Lieber hielt ich mich an sein Gespräch, in welchem er nach Belieben sich selbst enthüllte. Hiernach will ich denn nicht leugnen, daß es in Lavaters Nähe gewissermaßen bänglich war: denn indem er sich auf physiognomischem Wege unsrer Eigenschaften bemächtigte, so war er in der Unterredung Herr unsrer Gedanken, die er im Wechsel des Gespräches mit einigem Scharfsinn gar leicht erraten konnte.

Wer eine Synthese recht prägnant in sich fühlt, der hat eigentlich das Recht zu analysieren, weil er am äußeren Einzelnen sein inneres Ganze prüft und legitimiert. Wie Lavater sich hiebei benommen, sei nur ein Beispiel gegeben.

Sonntags, nach der Predigt, hatte er als Geistlicher die Verpflichtung, den kurzgestielten Sammetbeutel jedem Heraustretenden vorzuhalten und die milde Gabe segnend zu empfangen. Nun setzte er sich z.B. diesen Sonntag die Aufgabe, keine Person anzusehen, sondern nur auf die Hände zu achten und ihre Gestalt sich auszulegen. Aber nicht allein die Form der Finger, sondern auch die Miene derselben beim Niederlassen der Gabe entging nicht seiner Aufmerksamkeit, und er hatte mir viel davon zu eröffnen. Wie belehrend und aufregend mußten mir solche Unterhaltungen werden, mir, der ich doch auch auf dem Wege war, mich zum Menschenmaler zu qualifizieren?

Manche Epoche meines nachherigen Lebens ward ich veranlaßt, über diesen Mann zu denken, welcher unter die Vorzüglichsten gehört, mit denen ich zu einem so vertrauten Verhältnis gelangte. Und so sind nachstehende Äußerungen über ihn zu verschiedenen Zeiten geschrieben. Nach unsern auseinander strebenden Richtungen mußten wir uns allmählich ganz und gar fremd werden, und doch wollt’ ich mir den Begriff von seinem vorzüglichen Wesen nicht verkümmern lassen. Ich vergegenwärtigte mir ihn mehrmals, und so entstanden diese Blätter, ganz unabhängig von einander, in denen man Wiederholung, aber hoffentlich keinen Widerspruch finden wird.

Lavater war eigentlich ganz real gesinnt und kannte nichts Ideelles als unter der moralischen Form; wenn man diesen Begriff festhält, wird man sich über einen seltenen und seltsamen Mann am ersten aufklären.

Seine »Aussichten in die Ewigkeit« sind eigentlich nur Fortsetzungen des gegenwärtigen Daseins, unter leichteren Bedingungen als die sind, welche wir hier zu erdulden haben. Seine Physiognomik ruht auf der Überzeugung, daß die sinnliche Gegenwart mit der geistigen durchaus zusammenfalle, ein Zeugnis von ihr ablege, ja sie selbst vorstelle.

Mit den Kunstidealen konnte er sich nicht leicht befreunden, weil er, bei seinem scharfen Blick, solchen Wesen die Unmöglichkeit, lebendig organisiert zu sein, nur allzusehr ansah, und sie daher ins Fabelreich, ja in das Reich des Monstrosen verwies. Seine unaufhaltsame Neigung, das Ideelle verwirklichen zu wollen, brachte ihn in den Ruf eines Schwärmers, ob er sich gleich überzeugt fühlte, daß niemand mehr auf das Wirkliche dringe als er; deswegen er denn auch den Mißgriff in seiner Denk- und Handelsweise niemals entdecken konnte.

Nicht leicht war jemand leidenschaftlicher bemüht anerkannt zu werden als er, und vorzüglich dadurch eignete er sich zum Lehrer; gingen aber seine Bemühungen auch wohl auf Sinnes- und Sittenbesserung anderer, so war doch dies keineswegs das letzte, worauf er hinarbeitete.

Um die Verwirklichung der Person Christi war es ihm am meisten zu tun; daher jenes beinahe unsinnige Treiben, ein Christusbild nach dem andern fertigen, kopieren, nachbilden zu lassen, wovon ihm denn, wie natürlich, keines genug tat.

Seine Schriften sind schon jetzt schwer zu verstehen, denn nicht leicht kann jemand eindringen in das, was er eigentlich will. Niemand hat so viel aus der Zeit und in die Zeit geschrieben als er, seine Schriften sind wahre Tagesblätter, welche die eigentlichste Erläuterung aus der Zeitgeschichte fordern; sie sind in einer Koteriesprache geschrieben, die man kennen muß, um gerecht gegen sie zu sein, sonst wird dem verständigen Leser manches ganz toll und abgeschmackt erscheinen, wie denn auch dem Manne schon bei seinem Leben und nach demselben hierüber genugsame Vorwürfe gemacht wurden.

So hatten wir ihm z.B. mit unserm Dramatisieren den Kopf so warm gemacht, indem wir alles Vorkömmliche nur unter dieser Form darstellten und keine andere wollten gelten lassen, daß er, hiedurch aufgeregt, in seinem »Pontius Pilatus« mit Heftigkeit zu zeigen bemüht ist: es gebe doch kein dramatischeres Werk als die Bibel; besonders aber die Leidensgeschichte Christi sei für das Drama aller Dramen zu erklären.

In diesem Kapitel des Büchleins, ja in dem ganzen Werke überhaupt, erscheint Lavater dem Pater Abraham von Santa Clara sehr ähnlich; denn in diese Manier muß jeder Geistreiche verfallen, der auf den Augenblick wirken will. Er hat sich nach den gegenwärtigen Neigungen, Leidenschaften, nach Sprache und Terminologie zu erkundigen, um solche alsdann zu seinen Zwecken zu brauchen, und sich der Masse anzunähern, die er an sich heranziehen will.

Da er nun Christum buchstäblich auffaßte, wie ihn die Schrift, wie ihn manche Ausleger geben, so diente ihm diese Vorstellung dergestalt zum Supplement seines eignen Wesens, daß er den Gottmenschen seiner individuellen Menschheit so lange ideell einverleibte, bis er zuletzt mit demselben wirklich in eins zusammengeschmolzen, mit ihm vereinigt, ja eben derselbe zu sein wähnen durfte.

Durch diesen entschiedenen bibelbuchstäblichen Glauben mußte er auch eine völlige Überzeugung gewinnen, daß man ebenso gut noch heutzutage als zu jener Zeit Wunder müsse ausüben können, und da es ihm vollends schon früh gelungen war, in bedeutenden und dringenden Angelegenheiten, durch brünstiges ja gewaltsames Gebet, im Augenblick eine günstige Umwendung schwer bedrohender Unfälle zu erzwingen; so konnte ihn keine kalte Verstandseinwendung im mindesten irre machen. Durchdrungen ferner von dem großen Werte der durch Christum wieder hergestellten und einer glücklichen Ewigkeit gewidmeten Menschheit, aber zugleich auch bekannt mit den mannigfaltigen Bedürfnissen des Geistes und Herzens, mit dem grenzenlosen Verlangen nach Wissen, selbst fühlend jene Lust, sich ins Unendliche auszudehnen, wozu uns der gestirnte Himmel sogar sinnlich einlädt, entwarf er seine »Aussichten in die Ewigkeit«, welche indes dem größten Teil der Zeitgenossen sehr wunderlich vorkommen mochten.

Alles dieses Streben jedoch, alle Wünsche, alles Unternehmen ward von dem physiognomischen Genie überwogen, das ihm die Natur zugeteilt hatte. Denn wie der Probierstein, durch Schwärze und rauhglatte Eigenschaft seiner Oberfläche, den Unterschied der aufgestrichenen Metalle anzuzeigen am geschicktesten ist, so war auch er, durch den reinen Begriff der Menschheit, den er in sich trug, und durch die scharfzarte Bemerkungsgabe, die er erst aus Naturtrieb, nur obenhin, zufällig, dann mit Überlegung, vorsätzlich und geregelt ausübte, im höchsten Grade geeignet, die Besonderheiten einzelner Menschen zu gewahren, zu kennen, zu unterscheiden, ja auszusprechen. Jedes Talent, das sich auf eine entschiedene Naturanlage gründet, scheint uns etwas Magisches zu haben, weil wir weder es selbst, noch seine Wirkungen einem Begriffe unterordnen können. Und wirklich ging seine Einsicht in die einzelnen Menschen über alle Begriffe; man erstaunte, wenn man über diesen oder jenen vertraulich sprach, ja es war furchtbar, in der Nähe des Mannes zu leben, dem jede Grenze deutlich erschien, in welche die Natur uns Individuen einzuschränken beliebt hat.

Jedermann glaubt dasjenige mitteilbar, was er selbst besitzt, und so wollte Lavater nicht nur für sich von dieser großen Gabe Gebrauch machen, sondern sie sollte auch in andern aufgefunden, angeregt, sie sollte sogar auf die Menge übertragen werden. Zu welchen dunklen und boshaften Mißdeutungen, zu welchen albernen Späßen und niederträchtigen Verspottungen diese auffallende Lehre reichlichen Anlaß gegeben, ist wohl noch in einiger Menschen Gedächtnis, und es geschah dieses nicht ganz ohne Schuld des vorzüglichen Mannes selbst: denn ob zwar die Einheit seines inneren Wesens auf einer hohen Sittlichkeit ruhte, so konnte er doch, mit seinen mannigfaltigen Bestrebungen, nicht zur äußern Einheit gelangen, weil in ihm sich weder Anlage zur philosophischen Sinnesweise, noch zum Kunsttalent finden wollte. Er war weder Denker noch Dichter, ja nicht einmal Redner im eigentlichen Sinne. Keineswegs imstande, etwas methodisch anzufassen, griff er das einzelne einzeln sicher auf, und so stellte er es auch kühn nebeneinander. Sein großes physiognomisches Werk ist hiervon ein auffallendes Beispiel und Zeugnis. In ihm selbst mochte wohl der Begriff des sittlichen und sinnlichen Menschen ein Ganzes bilden, aber außer sich wußte er ihn nicht darzustellen, als nur wieder praktisch im einzelnen, so wie er das einzelne im Leben aufgefaßt hatte.

Eben jenes Werk zeigt uns zum Bedauern, wie ein so scharfsinniger Mann in der gemeinsten Erfahrung umhertappt, alle lebenden Künstler und Pfuscher anruft, für charakterlose Zeichnungen und Kupfer ein unglaubliches Geld ausgibt, um hinterdrein im Buche zu sagen, daß diese und jene Platte mehr oder weniger mißlungen, unbedeutend und unnütz sei. Freilich schärft er dadurch sein Urteil und das Urteil anderer, allein es beweist auch, daß ihn seine Neigung trieb, Erfahrungen mehr aufzuhäufen als sich in ihnen Luft und Licht zu machen. Eben daher konnte er niemals auf Resultate losgehn, um die ich ihn öfters und dringend bat. Was er als solche in späterer Zeit Freunden vertraulich mitteilte, waren für mich keine: denn sie bestanden aus einer Sammlung von gewissen Linien und Zügen, ja Warzen und Leberflecken, mit denen er bestimmte sittliche, öfters unsittliche Eigenschaften verbunden gesehn. Es waren darunter Bemerkungen zum Entsetzen; allein es machte keine Reihe, alles stand vielmehr zufällig durcheinander, nirgends war eine Anleitung zu sehn, oder eine Rückweisung zu finden. Ebenso wenig schriftstellerische Methode oder Künstlersinn herrschte in seinen übrigen Schriften, welche vielmehr stets eine leidenschaftlich heftige Darstellung seines Denkens und Wollens enthielten, und das, was sie im ganzen nicht leisteten, durch die herzlichsten geistreichsten Einzelnheiten jederzeit ersetzten.

Nachfolgende Betrachtungen möchten wohl, gleichfalls auf jene Zustände bezüglich, hier am rechten Orte eingeschaltet stehen.

Niemand gesteht gern andern einen Vorzug ein, solang er ihn nur einigermaßen leugnen kann; Naturvorzüge aller Art sind am wenigsten zu leugnen, und doch gestand der gemeine Redegebrauch damaliger Zeit nur dem Dichter Genie zu. Nun aber schien auf einmal eine andere Welt aufzugehn, man verlangte Genie vom Arzt, vom Feldherrn, vom Staatsmann und bald von allen Menschen, die sich theoretisch oder praktisch hervorzutun dachten. Zimmermann vorzüglich hatte diese Forderungen zur Sprache gebracht. Lavater in seiner »Physiognomik« mußte notwendig auf eine allgemeinere Verteilung der Geistesgaben aller Art hinweisen; das Wort Genie ward eine allgemeine Losung, und weil man es so oft aussprechen hörte, so dachte man auch, das, was es bedeuten sollte, sei gewöhnlich vorhanden. Da nun aber jedermann Genie von anderen zu fordern berechtigt war, so glaubte er es auch endlich selbst besitzen zu müssen. Es war noch lange hin bis zu der Zeit, wo ausgesprochen werden konnte: daß Genie diejenige Kraft des Menschen sei, welche, durch Handeln und Tun, Gesetz und Regel gibt. Damals manifestierte sich’s nur, indem es die vorhandenen Gesetze überschritt, die eingeführten Regeln umwarf und sich für grenzenlos erklärte. Daher war es leicht, genialisch zu sein, und nichts natürlicher, als daß der Mißbrauch in Wort und Tat alle geregelte Menschen aufrief, sich einem solchen Unwesen zu widersetzen.

Wenn einer zu Fuße, ohne recht zu wissen warum und wohin, in die Welt lief, so hieß dies eine Geniereise, und, wenn einer etwas Verkehrtes ohne Zweck und Nutzen unternahm, ein Geniestreich. Jüngere lebhafte, oft wahrhaft begabte Menschen verloren sich ins Grenzenlose; ältere Verständige, vielleicht aber Talent- und Geistlose, wußten dann mit höchster Schadenfreude ein gar mannigfaltiges Mißlingen vor den Augen des Publikums lächerlich darzustellen.

Und so fand ich mich fast mehr gehindert, mich zu entwickeln und zu äußern, durch falsche Mit- und Einwirkung der Sinnesverwandten, als durch den Widerstand der Entgegengesinnten. Worte, Beiworte, Phrasen zu Ungunsten der höchsten Geistesgaben verbreiteten sich unter der geistlos nachsprechenden Menge dergestalt, daß man sie noch jetzt im gemeinen Leben hie und da von Ungebildeten vernimmt, ja daß sie sogar in die Wörterbücher eindrangen, und das Wort Genie eine solche Mißdeutung erlitt, aus der man die Notwendigkeit ableiten wollte, es gänzlich aus der deutschen Sprache zu verbannen.

Und so hätten sich die Deutschen, bei denen überhaupt das Gemeine weit mehr überhand zu nehmen Gelegenheit findet als bei anderen Nationen, um die schönste Blüte der Sprache, um das nur scheinbar fremde, aber allen Völkern gleich angehörige Wort vielleicht gebracht, wenn nicht der durch eine tiefere Philosophie wieder neu gegründete Sinn fürs Höchste und Beste sich wieder glücklich hergestellt hätte.

In dem Vorhergehenden ist von dem Jünglingsalter zweier Männer die Rede gewesen, deren Andenken aus der deutschen Literatur- und Sittengeschichte sich nimmer verlieren wird. In gemeldeter Epoche jedoch lernen wir sie gewissermaßen nur aus ihren Irrschritten kennen, zu denen sie durch eine falsche Tagsmaxime in Gesellschaft ihrer gleichjährigen Zeitgenossen verleitet worden. Nunmehr aber ist nichts billiger, als daß wir ihre natürliche Gestalt, ihr eigentliches Wesen geschätzt und geehrt vorführen, wie solches eben damals in unmittelbarer Gegenwart von dem durchdringenden Lavater geschehen, deshalb wir denn, weil die schweren und teuren Bände des großen physiognomischen Werkes nur wenigen unsrer Leser gleich zur Hand sein möchten, die merkwürdigen Stellen, welche sich auf beide beziehen, aus dem zweiten Teile gedachten Werkes, und dessen dreißigstem Fragmente, Seite 244, hier einzurücken kein Bedenken tragen.

»Die Jünglinge, deren Bilder und Silhouetten wir hier vor uns haben, sind die ersten Menschen, die mir zur physiognomischen Beschreibung saßen und standen, wie, wer sich malen läßt, dem Maler sitzt.

Ich kannte sie sonst, die edeln – und ich machte den ersten Versuch, nach der Natur und mit aller sonstigen Kenntnis, ihren Charakter zu beobachten und zu beschreiben. –

Hier ist die Beschreibung des ganzen Menschen. –

Erstlich des Jüngeren.

Siehe den blühenden Jüngling von 25 Jahren! das leichtschwebende, schwimmende, elastische Geschöpfe! Es liegt nicht; es steht nicht; es stemmt sich nicht; es fliegt nicht; es schwebt oder schwimmt. Zu lebendig, um zu ruhen; zu locker, um fest zu stehen; zu schwer und zu weich, um zu fliegen.

Ein Schwebendes also, das die Erde nicht berührt! In seinem ganzen Umrisse keine völlig schlaffe Linie, aber auch keine gerade, keine gespannte, keine fest gewölbte, hart gebogene; – kein eckichter Einschnitt; kein felsiges Vorgebürge der Stirn; keine Härte, keine Steifigkeit; keine zürnende Rohigkeit; keine drohende Obermacht; kein eiserner Mut – elastisch reizbarer wohl, aber kein eiserner; kein fester, forschender Tiefsinn; keine langsame Überlegung, oder kluge Bedächtlichkeit; nirgends der Raisonneur mit der festgehaltenen Waagschale in der einen, dem Schwerte in der andern Hand, und doch auch nicht die mindeste Steifheit im Blicke und Urteile! und doch die völligste Geradheit des Verstandes, oder vielmehr der unbefleckteste Wahrheitssinn! Immer der innige Empfinder, nie der tiefe Ausdenker; nie der Erfinder, nie der prüfende Entwickler der so schnellerblickten, schnellerkannten, schnellgeliebten, schnellergriffenen Wahrheit. ... Ewiger Schweber; Seher; Idealisierer; Verschönerer. Gestalter aller seiner Ideen! Immer halbtrunkener Dichter, der sieht, was er sehen will; – nicht der trübsinnig schmachtende – nicht der hartzermalmende; – aber der hohe, edle, gewaltige! der mit gemäßigtem ›Sonnendurst‹ in den Regionen der Luft hin und her wallt, über sich strebt, und wieder – nicht zur Erde sinkt! zur Erde sich stürzt, in des ›Felsenstromes‹ Fluten sich taucht und sich wiegt ›im Donner der hallenden Felsen umher‹ – Sein Blick nicht Flammenblick des Adlers! Seine Stirn und Nase nicht Mut des Löwen! seine Brust – nicht Festigkeit des Streit wiehernden Pferdes! Im ganzen aber viel von der schwebenden Gelenksamkeit des Elefanten. ...

Die Aufgezogenheit seiner vorragenden Oberlippe gegen die unbeschnittene, uneckige, vorhängende Nase zeigt, bei dieser Beschlossenheit des Mundes, viel Geschmack und feine Empfindsamkeit; der untere Teil des Gesichtes viel Sinnlichkeit, Trägheit, Achtlosigkeit. Der ganze Umriß des Halbgesichtes Offenheit, Redlichkeit, Menschlichkeit, aber zugleich leichte Verführbarkeit und einen hohen Grad von gutherziger Unbedachtsamkeit, die niemanden als ihm selber schadet. Die Mittellinie des Mundes ist in seiner Ruhe eines geraden, planlosen, weichgeschaffenen, guten; in seiner Bewegung eines zärtlichen, feinfühlenden, äußerst reizbaren, gütigen, edlen Menschen. Im Bogen der Augenlider und im Glanze der Augen sitzt nicht Homer, aber der tiefste, innigste, schnelleste Empfinder, Ergreifer Homers; nicht der epische, aber der Odendichter; Genie, das quillt, umschafft, veredelt, bildet, schwebt, alles in Heldengestalt zaubert, alles vergöttlicht. – Die halbsichtbaren Augenlider, von einem solchen Bogen, sind immer mehr feinfühlender Dichter, als nach Plan schaffender, als langsam arbeitender Künstler; mehr der verliebten, als der strengen. – Das ganze Angesicht des Jünglings ist viel einnehmender und anziehender, als das um etwas zu lockere, zu gedehnte Halbgesicht; das Vordergesicht zeugt bei der geringsten Bewegung von empfindsamer, sorgfältiger, erfindender, ungelernter, innerer Güte, und sanft zitternder, Unrecht verabscheuender, freiheitdürstender Lebendigkeit. Es kann nicht den geringsten Eindruck von den vielen verbergen, die es auf einmal, die es unaufhörlich empfängt. – Jeder Gegenstand, der ein nahes Verhältnis zu ihm hat, treibt das Geblüt in die Wangen und Nase; die jungfräulichste Schamhaftigkeit in dem Punkte der Ehre verbreitet sich mit der Schnelle des Blitzes über die zart bewegliche Haut. –

Die Gesichtsfarbe, sie ist nicht die blasse des alles erschaffenden und alles verzehrenden Genius; nicht die wildglühende des verachtenden Zertreters; nicht die milchweiße des Blöden, nicht die gelbe des Harten und Zähen; nicht die bräunliche des langsam fleißigen Arbeiters; aber die weißrötlichte, violette, so sprechend und so untereinander wallend, so glücklich gemischt, wie die Stärke und Schwäche des ganzen Charakters. – Die Seele des Ganzen und eines jeden besonderen Zuges ist Freiheit, ist elastische Betriebsamkeit, die leicht fortstößt und leicht zurückgestoßen wird. Großmut und aufrichtige Heiterkeit leuchten aus dem ganzen Vordergesichte und der Stellung des Kopfes. – Unverderblichkeit der Empfindung, Feinheit des Geschmacks, Reinheit des Geistes, Güte und Adel der Seele, betriebsame Kraft, Gefühl von Kraft und Schwäche scheinen so alldurchdringend im ganzen Gesichte durch, daß das sonst mutige Selbstgefühl sich dadurch in edle Bescheidenheit auflöst, und der natürliche Stolz und die Jünglingseitelkeit sich ohne Zwang und Kunst in diesem herrlich spielenden All liebenswürdig verdämmert. – Das weißliche Haar, die Länge und Unbehaglichkeit der Gestalt, die sanfte Leichtigkeit des Auftritts, das Hin- und Herschweben des Ganges, die Fläche der Brust, die weiße faltenlose Stirn, und noch verschiedene andere Ausdrücke verbreiten über den ganzen Menschen eine gewisse Weiblichkeit, wodurch die innere Schnellkraft gemäßigt, und dem Herzen jede vorsätzliche Beleidigung und Niederträchtigkeit ewig unmöglich gemacht, zugleich aber auch offenbar wird, daß der mut- und feuervolle Poet, mit allem seinem unaffektierten Durste nach Freiheit und Befreiung, nicht bestimmt ist, für sich allein ein fester, Plan durchsetzender, ausharrender Geschäftsmann, oder in der blutigen Schlacht unsterblich zu werden. Und nun erst am Ende merk’ ich, daß ich von dem Auffallendsten noch nichts gesagt; nichts von der edlen, von aller Affektation reinen Simplizität! Nichts von der Kindheit des Herzens! Nichts von dem gänzlichen Nichtgefühle seines äußerlichen Adels! Nichts von der unaussprechlichen Bonhomie, mit welcher er Warnung und Tadel, sogar Vorwürfe und Unrecht, annimmt und duldet. –

Doch, wer will ein Ende finden, von einem guten Menschen, in dem so viele reine Menschheit ist, alles zu sagen, was an ihm wahrgenommen oder empfunden wird!

Beschreibung des Älteren.

Was ich von dem jüngern Bruder gesagt – wie viel davon kann auch von diesem gesagt werden! Das Vornehmste, das ich anmerken kann, ist dies: Diese Figur und dieser Charakter sind mehr gepackt und weniger gedehnt, als die vorige. Dort alles länger und flächer, hier alles kürzer, breiter, gewölbter, gebogener; dort alles lockerer, hier beschnittener. So die Stirn; so die Nase; so die Brust; zusammengedrängter, lebendiger, weniger verbreitete, mehr zielende Kraft und Lebendigkeit! Sonst dieselbe Liebenswürdigkeit und Bonhomie! Nicht die auffallende Offenheit; mehr Verschlagenheit, aber im Grunde, oder vielmehr in der Tat, eben dieselbe Ehrlichkeit. Derselbe unbezwingbare Abscheu gegen Unrecht und Bosheit; dieselbe Unversöhnlichkeit mit allem, was Ränk’ und Tücke heißt; dieselbe Unerbittlichkeit gegen Tyrannei und Despotisme; dasselbe reine, unbestechliche Gefühl für alles Edle, Gute, Große; dasselbe Bedürfnis der Freundschaft und Freiheit, dieselbe Empfindsamkeit und edle Ruhmbegierde; dieselbe Allgemeinheit des Herzens für alle gute, weise, einfältige, kraftvolle, berühmte oder unberühmte, gekannte oder mißkannte Menschen; – und – dieselbe leichtsinnige Unbedachtsamkeit. Nein! nicht gerade dieselbe. Das Gesicht ist beschnittener, angezogener, fester; hat mehr innere, sich leicht entwickelnde Geschicklichkeit zu Geschäften und praktischen Beratschlagungen; mehr durchsetzenden Mut, der sich besonders in den stark vordringenden, stumpf abgerundeten Knochen der Augen zeigt. Nicht das aufquillende, reiche, reine, hohe Dichtergefühl; nicht die schnelle Leichtigkeit der produktiven Kraft des andern. Aber dennoch, wiewohl in tiefern Regionen, lebendig, richtig, innig. Nicht das luftige, in morgenrötlichem Himmel dahin schwebende, Gestalten bildende Lichtgenie. Mehr innere Kraft, vielleicht weniger Ausdruck! mehr gewaltig und furchtbar – weniger prächtig und rund; obgleich seinem Pinsel weder Färbung noch Zauber fehlt. – Mehr Witz und rasende Laune; drollichter Satyr; Stirn, Nase, Blick – alles so herab, so vorhängend; recht entscheidend für originellen, allbelebenden Witz, der nicht von außenher einsammelt, sondern von innen herauswirft. Überhaupt ist alles an diesem Charakter vordringender, eckiger, angreifender, stürmender! – Nirgends Plattheit, nirgends Erschlaffung, ausgenommen im zusinkenden Auge, wo Wollust, wie in Stirn und Nase – hervorspringt. Sonst selbst in dieser Stirne, dieser Gedrängtheit von allem – diesem Blick sogar – untrügbarer Ausdruck von ungelernter Größe; Stärke, Drang der Menschheit; Ständigkeit, Einfachheit, Bestimmtheit! –«

Nachdem ich sodann in Darmstadt Mercken seinen Triumph gönnen müssen, daß er die baldige Trennung von der fröhlichen Gesellschaft vorausgesagt hatte, fand ich mich wieder in Frankfurt, wohl empfangen von jedermann, auch von meinem Vater, ob dieser gleich seine Mißbilligung, daß ich nicht nach Airolo hinabgestiegen, ihm meine Ankunft in Mailand gemeldet habe, zwar nicht ausdrücklich aber stillschweigend merken ließ, besonders auch keine Teilnahme an jenen wilden Felsen, Nebelseen und Drachennestern im mindesten beweisen konnte. Nicht im Gegensatz, aber gelegentlich, ließ er doch merken, was denn eigentlich an allem dem zu haben sei; wer Neapel nicht gesehn, habe nicht gelebt.

Ich vermied nicht und konnte nicht vermeiden, Lili zu sehen, es war ein schonender zarter Zustand zwischen uns beiden. Ich war unterrichtet, man habe sie in meiner Abwesenheit völlig überzeugt, sie müsse sich von mir trennen, und dieses sei um so notwendiger, ja tunlicher, weil ich durch meine Reise und eine ganz willkürliche Abwesenheit mich genugsam selbst erklärt habe. Dieselben Lokalitäten jedoch in Stadt und auf dem Land, dieselben Personen, mit allem Bisherigen vertraut, ließen denn doch kaum die beiden noch immer Liebenden, obgleich auf eine wundersame Weise auseinander Gezogenen, ohne Berührung. Es war ein verwünschter Zustand, der sich in einem gewissen Sinne dem Hades, dem Zusammensein jener glücklich-unglücklichen Abgeschiedenen, verglich.

Es waren Augenblicke, wo die vergangenen Tage sich wieder herzustellen schienen, aber gleich, wie wetterleuchtende Gespenster, verschwanden.

Wohlwollende hatten mir vertraut, Lili habe geäußert, indem alle die Hindernisse unsrer Verbindung ihr vorgetragen worden: sie unternehme wohl, aus Neigung zu mir alle dermaligen Zustände und Verhältnisse aufzugeben und mit nach Amerika zu gehen. Amerika war damals vielleicht noch mehr als jetzt das Eldorado derjenigen, die in ihrer augenblicklichen Lage sich bedrängt fanden.

Aber eben das, was meine Hoffnungen hätte beleben sollen, drückte sie nieder. Mein schönes väterliches Haus, nur wenig hundert Schritte von dem ihrigen, war doch immer ein leidlicher zu gewinnender Zustand, als die über das Meer entfernte ungewisse Umgebung; aber ich leugne nicht, in ihrer Gegenwart traten alle Hoffnungen, alle Wünsche wieder hervor, und neue Unsicherheiten bewegten sich in mir.

Freilich sehr verbietend und bestimmt waren die Gebote meiner Schwester; sie hatte mir mit allem verständigem Gefühl, dessen sie fähig war, die Lage nicht nur ins klare gesetzt, sondern ihre wahrhaft schmerzlich mächtigen Briefe verfolgten immer mit kräftigerer Ausführung denselbigen Text. »Gut«, sagte sie, »wenn ihr’s nicht vermeiden könntet, so müßtet ihr’s ertragen; dergleichen muß man dulden, aber nicht wählen.« Einige Monate gingen hin in dieser unseligsten aller Lagen; alle Umgebungen hatten sich gegen diese Verbindung gestimmt; in ihr allein, glaubt’ ich, wußt’ ich, lag eine Kraft, die das alles überwältigt hätte.

Beide Liebende, sich ihres Zustandes bewußt, vermieden, sich allein zu begegnen; aber herkömmlicherweise konnte man nicht umgehen, sich in Gesellschaft zu finden. Da war mir denn die stärkste Prüfung auferlegt, wie eine edel fühlende Seele einstimmen wird, wenn ich mich näher erkläre. Gestehen wir im allgemeinen, daß bei einer neuen Bekanntschaft, einer neu sich anknüpfenden Neigung über das Vorhergegangene der Liebende gern einen Schleier zieht; die Neigung kümmert sich um keine Antezedentien, und wie sie blitzschnell genialisch hervortritt, so mag sie weder von Vergangenheit noch Zukunft wissen. Zwar hatte sich meine nähere Vertraulichkeit zu Lili gerade dadurch eingeleitet, daß sie mir von ihrer frühern Jugend erzählte: wie sie von Kind auf durchaus manche Neigung und Anhänglichkeit, besonders auch in fremden ihr lebhaftes Haus Besuchenden, erregt und sich daran ergötzt habe, obgleich ohne weitere Folge und Verknüpfung.

Wahrhaft Liebende betrachten alles, was sie bisher empfunden, nur als Vorbereitung zu ihrem gegenwärtigen Glück, nur als Base, worauf sich erst ihr Lebensgebäude erheben soll. Vergangene Neigungen erscheinen wie Nachtgespenster, die sich vor dem anbrechenden Tage wegschleichen.

Aber was ereignete sich! Die Messe kam, und so erschien der Schwarm jener Gespenster in ihrer Wirklichkeit; alle Handelsfreunde des bedeutenden Hauses kamen nach und nach heran, und es offenbarte sich schnell, daß keiner einen gewissen Anteil an der liebenswürdigen Tochter völlig aufgeben wollte noch konnte. Die Jüngeren, ohne zudringlich zu sein, er schienen doch als Wohlbekannte, die Mittleren, mit einem gewissen verbindlichen Anstand, wie solche, die sich beliebt machen und allenfalls mit höheren Ansprüchen hervortreten möchten. Es waren schöne Männer darunter, mit dem Behagen eines gründlichen Wohlstandes.

Nun aber die alten Herren waren ganz unerträglich mit ihren Onkelsmanieren, die ihre Hände nicht im Zaum hielten, und bei widerwärtigem Tätscheln sogar einen Kuß verlangten, welchem die Wange nicht versagt wurde; ihr war so natürlich, dem allen anständig zu genügen. Allein auch die Gespräche erregten manches bedenkliche Erinnern. Von jenen Lustfahrten wurde gesprochen zu Wasser und zu Lande, von mancherlei Fährlichkeiten mit heiterem Ausgang, von Bällen und Abendpromenaden, von Verspottung lächerlicher Werber, und was nur eifersüchtiger Ärger in dem Herzen des trostlos Liebenden aufregen konnte, der gleichsam das Fazit so vieler Jahre auf eine Zeitlang an sich gerissen hatte. Aber unter diesem Zudrang, in dieser Bewegung, versäumte sie den Freund nicht, und wenn sie sich zu ihm wendete, so wußte sie mit wenigem das Zarteste zu äußern, was der gegenseitigen Lage völlig geeignet schien.

Doch! Wenden wir uns von dieser noch in der Erinnerung beinahe unerträglichen Qual zur Poesie, wodurch einige geistreich herzliche Linderung in den Zustand eingeleitet wurde.

»Lilis Park« mag ohngefähr in diese Epoche gehören; ich füge das Gedicht hier nicht ein, weil es jenen zarten empfindlichen Zustand nicht ausdrückt, sondern nur, mit genialer Heftigkeit, das Widerwärtige zu erhöhen und durch komisch ärgerliche Bilder das Entsagen in Verzweiflung umzuwandeln trachtet.

Nachstehendes Lied drückt eher die Anmut jenes Unglücks aus, und sei deshalb hier eingeschaltet:

Ihr verblühet, süße Rosen,

Meine Liebe trug euch nicht;

Blühtet, ach, dem Hoffnungslosen,

Dem der Gram die Seele bricht!

Jener Tage denk’ ich trauernd,

Als ich, Engel, an dir hing,

Auf das erste Knöspchen lauernd

Früh zu meinem Garten ging.

Alle Blüten, alle Früchte

Noch zu deinen Füßen trug,

Und vor deinem Angesichte

Hoffnung in dem Herzen schlug.

Ihr verblühet, süße Rosen,

Meine Liebe trug euch nicht;

Blühtet, ach, dem Hoffnungslosen,

Dem der Gram die Seele bricht!

Die Oper »Erwin und Elmire« war aus Goldsmiths liebenswürdiger, im »Landprediger von Wakefield« eingefügter Romanze entstanden, die uns in den besten Zeiten vergnügt hatte, wo wir nicht ahneten, daß uns etwas Ähnliches bevorstehe.

Schon früher hab ich einige poetische Erzeugnisse jener Epoche eingeschaltet, und wünschte nur, es hätten sich alle zusammen erhalten. Eine fortwährende Aufregung in glücklicher Liebeszeit, gesteigert durch eintretende Sorge, gab Anlaß zu Liedern, die durchaus nichts Überspanntes, sondern immer das Gefühl des Augenblicks aussprachen. Von geselligen Festliedern bis zur kleinsten Geschenksgabe, alles war lebendig, mitgefühlt von einer gebildeten Gesellschaft; erst froh, dann schmerzlich, und zuletzt kein Gipfel des Glücks, kein Abgrund des Wehes, dem nicht ein Laut wäre gewidmet gewesen.

Alle diese innern und äußern Ereignisse, insofern sie meinen Vater hätten unangenehm berühren können, welcher jene erste ihm anmutig zusagende Schwiegertochter immer weniger hoffen konnte in sein Haus eingeführt zu sehen, wußte meine Mutter auf das klügste und tätigste abzuwenden. Diese Staatsdame aber, wie er sie im Vertrauen gegen seine Gattin zu nennen pflegte, wollte ihn keineswegs anmuten.

Indessen ließ er dem Handel seinen Gang und setzte seine kleine Kanzlei recht emsig fort. Der junge Rechtsfreund, sowie der gewandte Schreiber gewannen unter seiner Firma immer mehr Ausdehnung des Bodens. Da nun, wie bekannt, der Abwesende nicht vermißt wird, so gönnten sie mir meine Pfade, und suchten sich immer mehr auf einem Boden festzusetzen, auf dem ich nicht gedeihen sollte.

Glücklicherweise trafen meine Richtungen mit des Vaters Gesinnungen und Wünschen zusammen. Er hatte einen so großen Begriff von meinem dichterischen Talent, so viel eigene Freude an der Gunst, die meine ersten Arbeiten erworben hatten, daß er mich oft unterhielt über Neues und fernerhin Vorzunehmendes. Hingegen von diesen geselligen Scherzen, leidenschaftlichen Dichtungen durft ich ihn nichts merken lassen.

Nachdem ich im »Götz von Berlichingen« das Symbol einer bedeutenden Weltepoche nach meiner Art abgespiegelt hatte, sah ich mich nach einem ähnlichen Wendepunkt der Staatengeschichte sorgfältig um. Der Aufstand der Niederlande gewann meine Aufmerksamkeit; in »Götz« war es ein tüchtiger Mann, der untergeht in dem Wahn: zu Zeiten der Anarchie sei der wohlwollende Kräftige von einiger Bedeutung. Im »Egmont« waren es festgegründete Zustände, die sich vor strenger, gut berechneter Despotie nicht halten können. Meinen Vater hatte ich davon auf das lebhafteste unterhalten, was zu tun sei, was ich tun wolle, daß ihm dies so unüberwindliches Verlangen gab, dieses in meinem Kopf schon fertige Stück auf dem Papiere, es gedruckt, es bewundert zu sehen.

Hatt ich in den frühern Zeiten, da ich noch hoffte, Lili mir zuzueignen, meine ganze Tätigkeit auf Einsicht und Ausübung bürgerlicher Geschäfte gewendet, so traf es gerade jetzt, daß ich die fürchterliche Lücke, die mich von ihr trennte, durch Geistreiches und Seelenvolles auszufüllen hatte. Ich fing also wirklich »Egmont« zu schreiben an, und zwar nicht wie den ersten »Götz von Berlichingen« in Reih und Folge, sondern ich griff nach der ersten Einleitung gleich die Hauptszenen an, ohne mich um die allenfallsigen Verbindungen zu bekümmern. Damit gelangte ich weit, indem ich bei meiner läßlichen Art zu arbeiten von meinem Vater, es ist nicht übertrieben, Tag und Nacht angespornt wurde, da er das so leicht Entstehende auch leicht vollendet zu sehen glaubte.

 
 * 

Zwanzigstes Buch

So fuhr ich denn am »Egmont« zu arbeiten fort, und wenn dadurch in meinen leidenschaftlichen Zustand einige Beschwichtigung eintrat, so half mir auch die Gegenwart eines wackern Künstlers über manche böse Stunden hinweg, und ich verdankte hier, wie schon so oft, einem unsichern Streben nach praktischer Ausbildung einen heimlichen Frieden der Seele, in Tagen, wo er sonst nicht wäre zu hoffen gewesen.

Georg Melchior Kraus, in Frankfurt geboren, in Paris gebildet, kam eben von einer kleinen Reise ins nördliche Deutschland zurück, er suchte mich auf, und ich fühlte sogleich Trieb und Bedürfnis, mich ihm anzuschließen. Er war ein heiterer Lebemann, dessen leichtes erfreuliches Talent in Paris die rechte Schule gefunden hatte.

Für den Deutschen gab es zu jener Zeit daselbst ein angenehmes Unterkommen; Philipp Hackert lebte dort in gutem Ansehen und Wohlstand; das treue deutsche Verfahren, womit er Landschaften nach der Natur zeichnend in Gouache- und Ölfarbe glücklich ausführte, war als Gegensatz einer praktischen Manier, der sich die Franzosen hingegeben hatten, sehr willkommen. Wille, hochgeehrt als Kupferstecher, gab dem deutschen Verdienste Grund und Boden; Grimm, schon einflußreich, nützte seinen Landsleuten nicht wenig. Angenehme Fußreisen, um unmittelbar nach der Natur zu zeichnen, wurden unternommen und so manches Gute geleistet und vorbereitet.

Boucher und Watteau, zwei wahrhaft geborene Künstler, deren Werke, wenn schon verflatternd im Geist und Sinn der Zeit, doch immer noch höchst respektabel gefunden werden, waren der neuen Erscheinung geneigt, und selbst, obgleich nur zu Scherz und Versuch, tätig eingreifend. Greuze, im Familienkreise still für sich hinlebend, dergleichen bürgerliche Szenen gerne darstellend, von seinen eigenen Werken entzückt, erfreute sich eines ehrenhaften leichten Pinsels.

Alles dergleichen konnte unser Kraus in sein Talent gar wohl aufnehmen; er bildete sich an der Gesellschaft zur Gesellschaft und wußte gar zierlich häusliche freundschaftliche Vereine porträtmäßig darzustellen; nicht weniger glückten ihm landschaftliche Zeichnungen, die sich durch reinliche Umrisse, massenhafte Tusche, angenehmes Kolorit dem Auge freundlich empfahlen; dem innern Sinn genügte eine gewisse naive Wahrheit, und besonders dem Kunstfreund sein Geschick: alles, was er selbst nach der Natur zeichnete, sogleich zum Tableau einzuleiten und einzurichten.

Er selbst war der angenehmste Gesellschafter: gleichmütige Heiterkeit begleitete ihn durchaus; dienstfertig ohne Demut, gehalten ohne Stolz, fand er sich überall zu Hause, überall beliebt, der tätigste und zugleich der bequemste aller Sterblichen. Mit solchem Talent und Charakter begabt, empfahl er sich gar bald in höhern Kreisen und war besonders in dem freiherrlichen von Steinischen Schlosse zu Nassau an der Lahn wohlaufgenommen, eine talentvolle, höchst liebenswürdige Tochter in ihrem künstlerischen Bestreben unterstützend und zugleich die Geselligkeit auf mancherlei Weise belebend.

Nach Verheiratung dieser vorzüglichen jungen Dame an den Grafen von Werthern nahm das neue Ehepaar den Künstler mit auf ihre bedeutenden Güter in Thüringen, und so gelangte er auch nach Weimar; hier ward er bekannt, anerkannt und von dem dasigen hochgebildeten Kreise sein Bleiben gewünscht.

Wie er nun überall zutätig war, so förderte er bei seiner nunmehrigen Rückkehr nach Frankfurt meine bisher nur sammelnde Kunstliebe zu praktischer Übung. Dem Dilettanten ist die Nähe des Künstlers unerläßlich, denn er sieht in diesem das Komplement seines eigenen Daseins, die Wünsche des Liebhabers erfüllen sich im Artisten.

Durch eine gewisse Naturanlage und Übung gelang mir wohl ein Umriß; auch gestaltete sich leicht zum Bilde, was ich in der Natur vor mir sah; allein es fehlte mir die eigentliche plastische Kraft, das tüchtige Bestreben, dem Umriß Körper zu verleihen, durch wohlabgestuftes Hell und Dunkel. Meine Nachbildungen waren mehr ferne Ahnungen irgend einer Gestalt, und meine Figuren glichen den leichten Luftwesen in Dantes Purgatorio, die, keine Schatten werfend, vor dem Schatten wirklicher Körper sich entsetzen.

Durch Lavaters physiognomische Hetzerei – denn so darf man die ungestüme Anregung wohl nennen, womit er alle Menschen nicht allein zur Kontemplation der Physiognomien, sondern auch zur künstlerischen oder pfuscherhaften praktischen Nachbildung der Gesichtsformen zu nötigen bemüht war – hatte ich mir eine Übung verschafft, die Porträte von Freunden auf grau Papier mit schwarzer und weißer Kreide darzustellen. Die Ähnlichkeit war nicht zu verkennen, aber es bedurfte die Hand meines künstlerischen Freundes, um sie aus dem düstern Grunde hervortreten zu machen.

Beim Durchblättern und Durchschauen der reichlichen Portefeuilles, welche der gute Kraus von seinen Reisen mitgebracht hatte, war die liebste Unterhaltung, wenn er landschaftliche oder persönliche Darstellungen vorlegte, der weimarische Kreis und dessen Umgebung. Auch ich verweilte sehr gerne dabei, weil es dem Jüngling schmeicheln mußte, so viele Bilder nur als Text zu betrachten von einer umständlichen wiederholten Ausführung: daß man mich dort zu sehen wünsche. Gar anmutig wußte er seine Grüße, seine Einladungen durch nachgebildete Persönlichkeit zu beleben. Ein wohlgelungenes Ölbild stellte den Kapellmeister Wolf am Flügel und seine Frau hinter ihm zum Singen sich bereitend vor; der Künstler selbst wußte zugleich gar dringend auszulegen, wie freundlich dieses werte Paar mich empfangen würde. Unter seinen Zeichnungen fanden sich mehrere, bezüglich auf die Wald- und Berggegend um Bürgel. Ein wackerer Forstmann hatte daselbst, vielleicht mehr seinen anmutigen Töchtern als sich selbst zu Liebe, rauhgestaltete Felspartien, Gebüsch und Waldstrecken durch Brücken, Geländer und sanfte Pfade gesellig wandelbar gemacht; man sah die Frauenzimmer in weißen Kleidern auf anmutigen Wegen, nicht ohne Begleitung. An dem einen jungen Manne sollte man Bertuch erkennen, dessen ernste Absichten auf die Älteste nicht geleugnet wurden, und Kraus nahm nicht übel, wenn man einen zweiten jungen Mann auf ihn und seine aufkeimende Neigung für die Schwester zu beziehen wagte.

Bertuch, als Zögling Wielands, hatte sich in Kenntnissen und Tätigkeit dergestalt hervorgetan, daß er, als Geheimsekretär des Herzogs schon angestellt, das Allerbeste für die Zukunft erwarten ließ. Von Wielands Rechtlichkeit, Heiterkeit, Gutmütigkeit war durchaus die Rede; auf seine schönen literarischen und poetischen Vorsätze ward schon ausführlich hingedeutet und die Wirkung des »Merkur« durch Deutschland besprochen; gar manche Namen in literarischer, staatsgeschäftlicher und geselliger Hinsicht hervorgehoben, und in solchem Sinne Musäus, Kirms, Berendis und Ludecus genannt. Von Frauen war Wolfs Gattin und eine Witwe Kotzebue, mit einer liebenswürdigen Tochter und einem heitern Knaben, nebst manchen andern rühmlich und charakteristisch bezeichnet. Alles deutete auf ein frisch tätiges literarisches und Künstlerleben.

Und so schilderte sich nach und nach das Element, worauf der junge Herzog nach seiner Rückkehr wirken sollte; einen solchen Zustand hatte die Frau Obervormünderin vorbereitet; was aber die Ausführung wichtiger Geschäfte betraf, war, wie es unter solchen provisorischen Verwaltungen Pflicht ist, der Überzeugung, der Tatkraft des künftigen Regenten überlassen. Die durch den Schloßbrand gewirkten greulichen Ruinen betrachtete man schon als Anlaß zu neuen Tätigkeiten. Das in Stocken geratene Bergwerk zu Ilmenau, dem man durch kostspielige Unterhaltung des tiefen Stollens eine mögliche Wiederaufnahme zu sichern gewußt, die Akademie Jena, die hinter dem Zeitsinn einigermaßen zurückgeblieben und mit dem Verlust gerade sehr tüchtiger Lehrer bedroht war, wie so vie les andere, regte einen edlen Gemeinsinn auf. Man blickte nach Persönlichkeiten umher, die in dem aufstrebenden Deutschland so mannigfaches Gute zu fördern berufen sein könnten, und so zeigte sich durchaus eine frische Aussicht, wie eine kräftige und lebhafte Jugend sie nur wünschen konnte. Und schien es traurig zu sein, eine junge Fürstin ohne die Würde eines schicklichen Gebäudes in eine sehr mäßige zu ganz andern Zwecken erbaute Wohnung einzuladen, so gaben die schön gelegenen wohleingerichteten Landhäuser, Ettersburg, Belvedere und andere vorteilhafte Lustsitze, Genuß des Gegenwärtigen und Hoffnung, auch in diesem damals zur Notwendigkeit gewordenen Naturleben sich produktiv und angenehm tätig zu erweisen.

Man hat im Verlaufe dieses biographischen Vortrags umständlich gesehn, wie das Kind, der Knabe, der Jüngling sich auf verschiedenen Wegen dem Übersinnlichen zu nähern gesucht, erst mit Neigung nach einer natürlichen Religion hingeblickt, dann mit Liebe sich an eine positive festgeschlossen, ferner durch Zusammenziehung in sich selbst seine eignen Kräfte versucht und sich endlich dem allgemeinen Glauben freudig hingegeben. Als er in den Zwischenräumen dieser Regionen hin und wider wanderte, suchte, sich umsah, begegnete ihm manches, was zu keiner von allen gehören mochte, und er glaubte mehr und mehr einzusehn, daß es besser sei, den Gedanken von dem Ungeheuren, Unfaßlichen abzuwenden. Er glaubte in der Natur, der belebten und unbelebten, der beseelten und unbeseelten, etwas zu entdecken, das sich nur in Widersprüchen manifestierte und deshalb unter keinen Begriff, noch viel weniger unter ein Wort gefaßt werden könnte. Es war nicht göttlich, denn es schien unvernünftig, nicht menschlich, denn es hatte keinen Verstand, nicht teuflisch, denn es war wohltätig, nicht englisch, denn es ließ oft Schadenfreude merken. Es glich dem Zufall, denn es bewies keine Folge, es ähnelte der Vorsehung, denn es deutete auf Zusammenhang. Alles, was uns begrenzt, schien für dasselbe durchdringbar, es schien mit den notwendigen Elementen unsres Daseins willkürlich zu schalten, es zog die Zeit zusammen und dehnte den Raum aus. Nur im Unmöglichen schien es sich zu gefallen und das Mögliche mit Verachtung von sich zu stoßen. Dieses Wesen, das zwischen alle übrigen hineinzutreten, sie zu sondern, sie zu verbinden schien, nannte ich dämonisch, nach dem Beispiel der Alten und derer, die etwas Ähnliches gewahrt hatten. Ich suchte mich vor diesem furchtbaren Wesen zu retten, indem ich mich, nach meiner Gewohnheit, hinter ein Bild flüchtete.

Unter die einzelnen Teile der Weltgeschichte, die ich sorgfältiger studierte, gehörten auch die Ereignisse, welche die nachher vereinigten Niederlande so berühmt gemacht. Ich hatte die Quellen fleißig erforscht und mich möglichst unmittelbar zu unterrichten und mir alles lebendig zu vergegenwärtigen gesucht. Höchst dramatisch waren mir die Situationen erschienen und als Hauptfigur, um welche sich die übrigen am glücklichsten versammeln ließen, war mir Graf Egmont aufgefallen, dessen menschlich ritterliche Größe mir am meisten behagte. Allein zu meinem Gebrauche mußte ich ihn in einen solchen Charakter umwandeln, der solche Eigenschaften besaß, die einen Jüngling besser zieren als einen Mann in Jahren, einen Unbeweibten besser als einen Hausvater, einen Unabhängigen mehr als einen, der, noch so frei gesinnt, durch mancherlei Verhältnisse begrenzt ist. Als ich ihn nun so in meinen Gedanken verjüngt und von allen Bedingungen losgebunden hatte, gab ich ihm die ungemeßne Lebenslust, das grenzenlose Zutrauen zu sich selbst, die Gabe, alle Menschen an sich zu ziehn (attrattiva) und so die Gunst des Volks, die stille Neigung einer Fürstin, die ausgesprochene eines Naturmädchens, die Teilnahme eines Staatsklugen zu gewinnen, ja selbst den Sohn seines größten Widersachers für sich einzunehmen.

Die persönliche Tapferkeit, die den Helden auszeichnet, ist die Base, auf der sein ganzes Wesen ruht, der Grund und Boden, aus dem es hervorsproßt. Er kennt keine Gefahr, und verblendet sich über die größte, die sich ihm nähert. Durch Feinde, die uns umzingeln, schlagen wir uns allenfalls durch; die Netze der Staatsklugheit sind schwerer zu durchbrechen. Das Dämonische, was von beiden Seiten im Spiel ist, in welchem Konflikt das Liebenswürdige untergeht und das Gehaßte triumphiert, sodann die Aussicht, daß hieraus ein Drittes hervorgehe, das dem Wunsch aller Menschen entsprechen werde, dieses ist es wohl, was dem Stücke, freilich nicht gleich bei seiner Erscheinung, aber doch später und zur rechten Zeit, die Gunst verschafft hat, deren es noch jetzt genießt. Und so will ich denn auch hier, um mancher geliebten Leser willen, mir selbst vorgreifen und, weil ich nicht weiß, ob ich so bald wieder zur Rede gelange, etwas aussprechen, wovon ich mich erst viel später überzeugte.

Obgleich jenes Dämonische sich in allem Körperlichen und Unkörperlichen manifestieren kann, ja bei den Tieren sich aufs merkwürdigste ausspricht; so steht es vorzüglich mit dem Menschen im wunderbarsten Zusammenhang und bildet eine der moralischen Weltordnung, wo nicht entgegengesetzte, doch sie durchkreuzende Macht, so daß man die eine für den Zettel, die andere für den Einschlag könnte gelten lassen. Für die Phänomene, welche hiedurch hervorgebracht werden, gibt es unzählige Namen: denn alle Philosophien und Religionen haben prosaisch und poetisch dieses Rätsel zu lösen und die Sache schließlich abzutun gesucht, welches ihnen noch fernerhin unbenommen bleibe. Am furchtbarsten aber erscheint dieses Dämonische, wenn es in irgend einem Menschen überwiegend hervortritt. Während meines Lebensganges habe ich mehrere teils in der Nähe, teils in der Ferne beobachten können. Es sind nicht immer die vorzüglichsten Menschen, weder an Geist noch an Talenten, selten durch Herzensgüte sich empfehlend; aber eine ungeheure Kraft geht von ihnen aus, und sie üben eine unglaubliche Gewalt über alle Geschöpfe, ja sogar über die Elemente, und wer kann sagen, wie weit sich eine solche Wirkung erstrecken wird? Alle vereinten sittlichen Kräfte vermögen nichts gegen sie; vergebens, daß der hellere Teil der Menschen sie als Betrogene oder als Betrüger verdächtig machen will, die Masse wird von ihnen angezogen. Selten oder nie finden sich Gleichzeitige ihresgleichen, und sie sind durch nichts zu überwinden, als durch das Universum selbst, mit dem sie den Kampf begonnen; und aus solchen Bemerkungen mag wohl jener sonderbare aber ungeheure Spruch entstanden sein: Nemo contra deum nisi deus ipse.

Von diesen höheren Betrachtungen kehre ich wieder in mein kleines Leben zurück, dem aber doch auch seltsame Ereignisse, wenigstens mit einem dämonischen Schein bekleidet, bevorstanden. Ich war von dem Gipfel des Gotthard, Italien den Rücken wendend, nach Hause gekehrt, weil ich Lili nicht entbehren konnte. Eine Neigung, die auf die Hoffnung eines wechselseitigen Besitzes, eines dauernden Zusammenlebens gegründet ist, stirbt nicht auf einmal ab, ja sie nährt sich an der Betrachtung rechtmäßiger Wünsche und redlicher Hoffnungen, die man hegt. Es liegt in der Natur der Sache, daß sich in solchen Fällen das Mädchen eher bescheidet als der Jüngling. Als Abkömmlingen Pandorens ist den schönen Kindern die wünschenswerte Gabe verliehen, anzureizen, anzulocken und mehr durch Natur mit Halbvorsatz, als durch Neigung, ja mit Frevel um sich zu versammeln, wobei sie denn oft in Gefahr kommen, wie jener Zauberlehrling, vor dem Schwall der Verehrer zu erschrecken. Und dann soll zuletzt denn doch hier gewählt sein, einer soll ausschließlich vorgezogen werden, einer die Braut nach Hause führen.

Und wie zufällig ist es, was hier der Wahl eine Richtung gibt, die Auswählende bestimmt! Ich hatte auf Lili mit Überzeugung Verzicht getan, aber die Liebe machte mir diese Überzeugung verdächtig. Lili hatte in gleichem Sinne von mir Abschied genommen, und ich hatte die schöne zerstreuende Reise angetreten; aber sie bewirkte gerade das Umgekehrte. Solange ich abwesend war, glaubte ich an die Trennung, glaubte nicht an die Scheidung. Alle Erinnerungen, Hoffnungen und Wünsche hatten ein freies Spiel. Nun kam ich zurück, und wie das Wiedersehn der frei und freudig Liebenden ein Himmel ist, so ist das Wiedersehn von zwei nur durch Vernunftgründe getrennten Personen ein unleidliches Fegefeuer, ein Vorhof der Hölle. Als ich in die Umgebung Lilis zurückkam, fühlte ich alle jene Mißhelligkeiten doppelt, die unser Verhältnis gestört hatten; als ich wieder vor sie selbst hintrat, fiel mirs hart aufs Herz, daß sie für mich verloren sei. Ich entschloß mich daher abermals zur Flucht, und es konnte mir deshalb nichts erwünschter sein, als daß das junge herzoglich weimarische Paar von Karlsruhe nach Frankfurt kommen und ich, früheren und späteren Einladungen gemäß, ihnen nach Weimar folgen sollte. Von seiten jener Herrschaften hatte sich ein gnädiges, ja zutrauliches Betragen immer gleich erhalten, das ich von meiner Seite mit leidenschaftlichem Danke erwiderte. Meine Anhänglichkeit an den Herzog von dem ersten Augenblicke an, meine Verehrung gegen die Prinzessin, die ich schon so lange, obgleich nur von Ansehn, kannte, mein Wunsch, Wielanden, der sich so liberal gegen mich betragen hatte, persönlich etwas Freundliches zu erzeigen und an Ort und Stelle meine halb mutwilligen, halb zufälligen Unarten wieder gut zu machen, waren Beweggründe genug, die auch einen leidenschaftslosen Jüngling hätten aufreizen, ja antreiben sollen. Nun kam aber noch hinzu, daß ich, auf welchem Wege es wolle, vor Lili flüchten mußte, es sei nun nach Süden, wo mir die täglichen Erzählungen meines Vaters den herrlichsten Kunst- und Naturhimmel vorbildeten, oder nach Norden, wo mich ein so bedeutender Kreis vorzüglicher Menschen einlud.

Das junge fürstliche Paar erreichte nunmehr auf seinem Rückwege Frankfurt. Der herzoglich meiningische Hof war zu gleicher Zeit daselbst, und auch von diesem und dem die jungen Prinzen geleitenden Geheimenrat von Dürckheim ward ich aufs freundlichste aufgenommen. Damit aber ja, nach jugendlicher Weise, es nicht an einem seltsamen Ereignis fehlen möchte, so setzte mich ein Mißverständnis in eine unglaubliche, obgleich ziemlich heitere Verlegenheit. Die weimarischen und meiningischen Herrschaften wohnten in einem Gasthof. Ich ward zur Tafel gebeten. Der weimarische Hof lag mir dergestalt im Sinne, daß mir nicht einfiel, mich näher zu erkundigen, weil ich auch nicht einmal einbildisch genug war zu glauben, man wolle von meiningischer Seite auch einige Notiz von mir nehmen. Ich gehe wohlangezogen in den »Römischen Kaiser«, finde die Zimmer der weimarischen Herrschaften leer, und da es heißt, sie wären bei den meiningischen, verfüge ich mich dorthin und werde freundlich empfangen. Ich denke, dies sei ein Besuch vor Tafel oder man speise vielleicht zusammen, und erwarte den Ausgang. Allein auf einmal setzt sich die weimarische Suite in Bewegung, der ich denn auch folge; allein sie geht nicht etwa in ihre Gemächer, sondern gerade die Treppe hinunter in ihre Wägen, und ich finde mich eben allein auf der Straße. Anstatt mich nun gewandt und klug nach der Sache umzutun und irgend einen Aufschluß zu suchen, ging ich, nach meiner entschlossenen Weise, sogleich meinen Weg nach Hause, wo ich meine Eltern beim Nachtische fand. Mein Vater schüttelte den Kopf, indem meine Mutter mich so gut als möglich zu entschädigen suchte. Sie vertraute mir abends: als ich weggegangen, habe mein Vater sich geäußert, er wundre sich höchlich, wie ich, doch sonst nicht auf den Kopf gefallen, nicht einsehen wollte, daß man nur von jener Seite mich zu necken und mich zu beschämen gedächte. Aber dieses konnte mich nicht rühren: denn ich war schon Herrn von Dürckheim begegnet, der mich, nach seiner milden Art, mit anmutigen scherzhaften Vorwürfen zur Rede stellte. Nun war ich aus meinem Traum erwacht und hatte Gelegenheit, für die mir gegen mein Hoffen und Erwarten zugedachte Gnade recht artig zu danken und mir Verzeihung zu erbitten.

Nachdem ich daher so freundlichen Anträgen aus guten Gründen nachgegeben hatte, so ward folgendes verabredet. Ein in Karlsruhe zurückgebliebener Kavalier, welcher einen in Straßburg verfertigten Landauer Wagen erwarte, werde an einem bestimmten Tage in Frankfurt eintreffen, ich solle mich bereit halten, mit ihm nach Weimar sogleich abzureisen. Der heitere und gnädige Abschied, den ich von den jungen Herrschaften erfuhr, das freundliche Betragen der Hofleute machten mir diese Reise höchst wünschenswert, wozu sich der Weg so angenehm zu ebnen schien. Aber auch hier sollte durch Zufälligkeiten eine so einfache Angelegenheit verwickelt, durch Leidenschaftlichkeit verwirrt und nahezu völlig vernichtet werden: denn nachdem ich überall Abschied genommen und den Tag meiner Abreise verkündet, sodann aber eilig eingepackt und dabei meiner ungedruckten Schriften nicht vergessen, erwartete ich die Stunde, die den gedachten Freund im neuen Wagen herbeiführen und mich in eine neue Gegend, in neue Verhältnisse bringen sollte.

Die Stunde verging, der Tag auch, und da ich, um nicht zweimal Abschied zu nehmen, und überhaupt, um nicht durch Zulauf und Besuch überhäuft zu sein, mich seit dem besagten Morgen als abwesend angegeben hatte; so mußte ich mich im Hause, ja in meinem Zimmer still halten und befand mich daher in einer sonderbaren Lage. Weil aber die Einsamkeit und Enge jederzeit für mich etwas sehr Günstiges hatte, indem ich solche Stunden zu nutzen gedrängt war, so schrieb ich an meinem »Egmont« fort und brachte ihn beinahe zustande. Ich las ihn meinem Vater vor, der eine ganz eigne Neigung zu diesem Stück gewann, und nichts mehr wünschte, als es fertig und gedruckt zu sehn, weil er hoffte, daß der gute Ruf seines Sohns dadurch sollte vermehrt werden. Eine solche Beruhigung und neue Zufriedenheit war ihm aber auch nötig: denn er machte über das Außenbleiben des Wagens die bedenklichsten Glossen. Er hielt das Ganze abermals nur für eine Erfindung, glaubte an keinen neuen Landauer, hielt den zurückgebliebenen Kavalier für ein Luftgespenst; welches er mir zwar nur indirekt zu verstehen gab, dagegen aber sich und meine Mutter desto ausführlicher quälte, indem er das Ganze als einen lustigen Hofstreich ansah, den man in Gefolg meiner Unarten habe ausgehn lassen, um mich zu kränken und zu beschämen, wenn ich nunmehr statt jener gehofften Ehre schimpflich sitzen geblieben. Ich selbst hielt zwar anfangs am Glauben fest, freute mich über die eingezogenen Stunden, die mir weder von Freunden, noch Fremden, noch sonst einer geselligen Zerstreuung verkümmert wurden, und schrieb, wenn auch nicht ohne innere Agitation, am »Egmont« rüstig fort. Und diese Gemütsstimmung mochte wohl dem Stück selbst zugute kommen, das, von so viel Leidenschaften bewegt, nicht wohl von einem ganz Leidenschaftslosen hätte geschrieben werden können. So vergingen acht Tage, und ich weiß nicht, wie viel drüber, und diese völlige Einkerkerung fing an mir beschwerlich zu werden. Seit mehreren Jahren gewohnt unter freiem Himmel zu leben, gesellt zu Freunden, mit denen ich in dem aufrichtigsten geschäftigsten Wechselverhältnisse stand, in der Nähe einer Geliebten, von der ich zwar mich zu trennen den Vorsatz gefaßt, die mich aber doch, solange noch die Möglichkeit war mich ihr zu nähern, gewaltsam zu sich forderte, – alles dieses fing an, mich dergestalt zu beunruhigen, daß die Anziehungskraft meiner Tragödie sich zu vermindern und die poetische Produktionskraft durch Ungeduld aufgehoben zu werden drohte. Schon einige Abende war es mir nicht möglich gewesen, zu Haus zu bleiben. In einen großen Mantel gehüllt schlich ich in der Stadt umher, an den Häusern meiner Freunde und Bekannten vorbei, und versäumte nicht, auch an Lilis Fenster zu treten. Sie wohnte im Erdgeschoß eines Eckhauses, die grünen Rouleaux waren niedergelassen, ich konnte aber recht gut bemerken, daß die Lichter am gewöhnlichen Platze standen. Bald hörte ich sie zum Klaviere singen, es war das Lied: Ach wie ziehst du mich unwiderstehlich! das nicht ganz vor einem Jahr an sie gedichtet ward. Es mußte mir scheinen, daß sie es ausdrucksvoller sänge als jemals, ich konnte es deutlich Wort vor Wort verstehn; ich hatte das Ohr so nahe angedrückt, wie nur das auswärts gebogene Gitter erlaubte. Nachdem sie es zu Ende gesungen, sah ich an dem Schatten, der auf die Rouleaux fiel, daß sie aufgestanden war; sie ging hin und wider, aber vergebens suchte ich den Umriß ihres lieblichen Wesens durch das dichte Gewebe zu erhaschen. Nur der feste Vorsatz mich wegzubegeben, ihr nicht durch meine Gegenwart beschwerlich zu sein, ihr wirklich zu entsagen, und die Vorstellung, was für ein seltsames Aufsehen mein Wiedererscheinen machen müßte, konnte mich entscheiden, die so liebe Nähe zu verlassen.

Noch einige Tage verstrichen, und die Hypothese meines Vaters gewann immer mehr Wahrscheinlichkeit, da auch nicht einmal ein Brief von Karlsruhe kam, welcher die Ursachen der Verzögerung des Wagens angegeben hätte. Meine Dichtung geriet ins Stocken, und nun hatte mein Vater gutes Spiel bei der Unruhe, von der ich innerlich zerarbeitet war. Er stellte mir vor: die Sache sei nun einmal nicht zu ändern, mein Koffer sei gepackt, er wolle mir Geld und Kredit geben, nach Italien zu gehn, ich müsse mich aber gleich entschließen aufzubrechen. In einer so wichtigen Sache zweifelnd und zaudernd, ging ich endlich darauf ein, daß, wenn zu einer bestimmten Stunde weder Wagen noch Nachricht eingelaufen sei, ich abreisen, und zwar zuerst nach Heidelberg, von dannen aber nicht wieder durch die Schweiz, sondern nunmehr durch Graubünden oder Tirol über die Alpen gehen wolle.

Wunderbare Dinge müssen freilich entstehn, wenn eine planlose Jugend, die sich selbst so leicht mißleitet, noch durch einen leidenschaftlichen Irrtum des Alters auf einen falschen Weg getrieben wird. Doch darum ist es Jugend und Leben überhaupt, daß wir die Strategie gewöhnlich erst einsehn lernen, wenn der Feldzug vorbei ist. Im reinen Geschäftsgang wär ein solches Zufälliges leicht aufzuklären gewesen, aber wir verschwören uns gar zu gern mit dem Irrtum gegen das Natürlichwahre, so wie wir die Karten mischen, eh wir sie herumgeben, damit ja dem Zufall sein Anteil an der Tat nicht verkümmert werde; und so entsteht gerade das Element, worin und worauf das Dämonische so gern wirkt und uns nur desto schlimmer mitspielt, je mehr wir Ahndung von seiner Nähe haben.

Der letzte Tag war verstrichen, den andern Morgen sollte ich abreisen, und nun drängte es mich unendlich, meinen Freund Passavant, der eben aus der Schweiz zurückgekehrt war, noch einmal zu sehn, weil er wirklich Ursache gehabt hätte zu zürnen, wenn ich unser inniges Vertrauen durch völlige Geheimhaltung verletzt hätte. Ich beschied ihn daher durch einen Unbekannten nachts an einen gewissen Platz, wo ich, in meinen Mantel gewickelt, eher eintraf als er, der auch nicht ausblieb und, wenn er schon verwundert über die Bestellung gewesen war, sich noch mehr über den verwunderte, den er am Platze fand. Die Freude war dem Erstaunen gleich, an Beredung und Beratung war nicht zu denken; er wünschte mir Glück zur italienischen Reise, wir schieden, und den andern Tag sah ich mich schon bei guter Zeit an der Bergstraße. Daß ich mich nach Heidelberg begab, dazu hatte ich mehrere Ursachen: eine verständige; denn ich hatte gehört, der Freund würde von Karlsruhe über Heidelberg kommen, und sogleich gab ich, angelangt, auf der Post ein Billet ab, das man einem auf bezeichnete Weise durchreisenden Kavalier einhändigen sollte; die zweite Ursache war leidenschaftlich und bezog sich auf mein früheres Verhältnis zu Lili. Demoiselle Delph nämlich, welche die Vertraute unserer Neigung, ja die Vermittlerin einer ernstlichen Verbindung bei den Eltern gewesen war, wohnte daselbst, und ich schätzte mir es für das größte Glück, ehe ich Deutschland verließ, noch einmal jene glücklichen Zeiten mit einer werten geduldigen und nachsichtigen Freundin durchschwätzen zu können. Ich ward wohl empfangen und in manche Familie eingeführt, wie ich mir denn in dem Hause des Oberforstmeisters von Wrede sehr wohlgefiel. Die Eltern waren anständig behagliche Personen, die eine Tochter ähnelte Friedriken. Es war gerade die Zeit der Weinlese, das Wetter schön und alle die elsassischen Gefühle lebten in dem schönen Rhein- und Neckartale in mir wieder auf. Ich hatte diese Zeit an mir und andern Wunderliches erlebt, aber es war noch alles im Werden, kein Resultat des Lebens hatte sich in mir hervorgetan, und das Unendliche, was ich gewahrt hatte, verwirrte mich vielmehr. Aber in Gesellschaft war ich noch wie sonst, ja vielleicht gefälliger und unterhaltender. Hier, unter diesem freien Himmel, unter den frohen Menschen, suchte ich die alten Spiele wieder auf, die der Jugend immer neu und reizend bleiben. Eine frühere noch nicht erloschene Liebe im Herzen, erregte ich Anteil ohne es zu wollen, auch wenn ich sie verschwieg, und so ward ich auch in diesem Kreise bald einheimisch, ja notwendig, und vergaß, daß ich nach ein paar verschwätzten Abenden meine Reise fortzusetzen den Plan hatte. Demoiselle Delph war eine von den Personen, die, ohne gerade intrigant zu sein, immer ein Geschäft haben, andere beschäftigen und bald diese bald jene Zwecke durchführen wollen. Sie hatte eine tüchtige Freundschaft zu mir gefaßt, und konnte mich um so eher verleiten länger zu verweilen, da ich in ihrem Hause wohnte, wo sie meinem Dableiben allerlei Vergnügliches vorhalten, und meiner Abreise allerlei Hindernisse in den Weg legen konnte. Wenn ich das Gespräch auf Lili lenken woll te, war sie nicht so gefällig und teilnehmend, wie ich gehofft hatte. Sie lobte vielmehr unsern beiderseitigen Vorsatz, uns unter den bewandten Umständen zu trennen, und behauptete, man müsse sich in das Unvermeidliche ergeben, das Unmögliche aus dem Sinne schlagen, und sich nach einem neuen Lebensinteresse umsehn. Planvoll, wie sie war, hatte sie dies nicht dem Zufall überlassen wollen, sondern sich schon zu meinem künftigen Unterkommen einen Entwurf gebildet, aus dem ich nun wohl sah, daß ihre letzte Einladung nach Heidelberg nicht so absichtlos gewesen, als es schien.

Kurfürst Karl Theodor nämlich, der für die Künste und Wissenschaften so viel getan, residierte noch zu Mannheim, und gerade weil der Hof katholisch, das Land aber protestantisch war, so hatte die letztre Partei alle Ursache, sich durch rüstige und hoffnungsvolle Männer zu verstärken. Nun sollte ich in Gottes Namen nach Italien gehn und dort meine Einsichten in dem Kunstfach ausbilden, indessen wolle man für mich arbeiten, es werde sich bei meiner Rückkunft ausweisen, ob die aufkeimende Neigung der Fräulein von Wrede gewachsen oder erloschen, und ob es rätlich sei, durch die Verbindung mit einer angesehnen Familie, mich und mein Glück in einem neuen Vaterlande zu begründen.

Dieses alles lehnte ich zwar nicht ab, allein mein planloses Wesen konnte sich mit der Planmäßigkeit meiner Freundin nicht ganz vereinigen; ich genoß das Wohlwollen des Augenblicks, Lilis Bild schwebte mir wachend und träumend vor und mischte sich in alles andre, was mir hätte gefallen oder mich zerstreuen können. Nun rief ich mir aber den Ernst meines großen Reiseunternehmens vor die Seele und beschloß, auf eine sanfte und artige Weise mich loszulösen und in einigen Tagen meinen Weg weiter fortzusetzen.

Bis tief in die Nacht hinein hatte Demoiselle Delph mir ihre Plane und was man für mich zu tun willens war, im einzelnen dargestellt, und ich konnte nicht anders als dankbar solche Gesinnungen verehren, obgleich die Absicht eines gewissen Kreises, sich durch mich und meine mögliche Gunst bei Hofe zu verstärken, nicht ganz zu verkennen war. Wir trennten uns erst gegen eins. Ich hatte nicht lange aber tief geschlafen, als das Horn eines Postillons mich weckte, der reitend vor dem Hause hielt. Bald darauf erschien Demoiselle Delph mit einem Licht und Brief in den Händen und trat vor mein Lager. »Da haben wir’s!« rief sie aus. »Lesen Sie, sagen Sie mir, was es ist. Gewiß kommt es von den Weimarischen. Ist es eine Einladung, so folgen Sie ihr nicht, und erinnern sich an unsre Gespräche.« Ich bat sie um das Licht und um eine Viertelstunde Einsamkeit. Sie verließ mich ungern. Ohne den Brief zu eröffnen, sah ich eine Weile vor mich hin. Die Stafette kam von Frankfurt, ich kannte Siegel und Hand, der Freund war also dort angekommen, er lud mich ein, und der Unglaube und Ungewißheit hatten uns übereilt. Warum sollte man nicht in einem ruhigen bürgerlichen Zustande auf einen sicher angekündigten Mann warten, dessen Reise durch so manche Zufälle verspätet werden konnte? Es fiel mir wie Schuppen von den Augen. Alle vorhergegangene Güte, Gnade, Zutrauen stellte sich mir lebhaft wieder vor, ich schämte mich fast meines wunderlichen Seitensprungs. Nun eröffnete ich den Brief, und alles war ganz natürlich zugegangen. Mein ausgebliebener Geleitsmann hatte auf den neuen Wagen, der von Straßburg kommen sollte, Tag für Tag, Stunde für Stunde, wie wir auf ihn geharrt, war alsdann Geschäfts wegen über Mannheim nach Frankfurt gegangen, und hatte dort zu seinem Schreck mich nicht gefunden. Durch eine Stafette sendete er gleich das eilige Blatt ab, worin er voraussetzte, daß ich sofort nach aufgeklärtem Irrtume zurückkehren und ihm nicht die Beschämung bereiten wolle, ohne mich in Weimar anzukommen.

So sehr sich auch mein Verstand und Gemüt gleich auf diese Seite neigte, so fehlte es doch meiner neuen Richtung auch nicht an einem bedeutenden Gegengewicht. Mein Vater hatte mir einen gar hübschen Reiseplan aufgesetzt und mir eine kleine Bibliothek mitgegeben, durch die ich mich vorbereiten und an Ort und Stelle leiten könnte. In müßigen Stunden hatte ich bisher keine andere Unterhaltung gehabt, sogar auf meiner letzten kleinen Reise im Wagen nichts anders gedacht. Jene herrlichen Gegenstände, die ich von Jugend auf durch Erzählung und Nachbildung aller Art kennen gelernt, sammelten sich vor meiner Seele, und ich kannte nichts Erwünschteres, als mich ihnen zu nähern, indem ich mich entschieden von Lili entfernte.

Ich hatte mich indes angezogen und ging in der Stube auf und ab. Meine ernste Wirtin trat herein. »Was soll ich hoffen?« rief sie aus. »Meine Beste«, sagte ich, »reden Sie mir nichts ein, ich bin entschlossen zurückzukehren; die Gründe habe ich selbst bei mir abgewogen, sie zu wiederholen würde nichts fruchten. Der Entschluß am Ende muß gefaßt werden, und wer soll ihn fassen als der, den er zuletzt angeht?« Ich war bewegt, sie auch, und es gab eine heftige Szene, die ich dadurch endigte, daß ich meinem Burschen befahl, Post zu bestellen. Vergebens bat ich meine Wirtin, sich zu beruhigen und den scherzhaften Abschied, den ich gestern abend bei der Gesellschaft genommen hatte, in einen wahren zu verwandeln, zu bedenken, daß es nur auf einen Besuch, auf eine Aufwartung für kurze Zeit angesehn sei, daß meine italienische Reise nicht aufgehoben, meine Rückkehr hier her nicht abgeschnitten sei. Sie wollte von nichts wissen und beunruhigte den schon Bewegten noch immer mehr. Der Wagen stand vor der Tür, aufgepackt war, der Postillon ließ das gewöhnliche Zeichen der Ungeduld erschallen, ich riß mich los, sie wollte mich noch nicht fahren lassen, und brachte künstlich genug die Argumente der Gegenwart alle vor, so daß ich endlich leidenschaftlich und begeistert die Worte Egmonts ausrief:

»Kind, Kind! nicht weiter! Wie von unsichtbaren Geistern gepeitscht, gehen die Sonnenpferde der Zeit mit unsers Schicksals leichtem Wagen durch, und uns bleibt nichts als, mutig gefaßt, die Zügel festzuhalten und bald rechts, bald links, vom Steine hier, vom Sturze da, die Räder abzulenken. Wohin es geht, wer weiß es? Erinnert er sich doch kaum, woher er kam.«

 
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