Dritter Teil

Es ist dafür gesorgt, daß die Bäume
nicht in den Himmel wachsen.

Eilftes Buch

Nachdem ich in jener Laube zu Sesenheim meine Erzählung vollendet, in welcher das Gemeine mit dem Unmöglichen anmutig genug wechselte, sah ich meine Hörerinnen, die sich schon bisher ganz eigen teilnehmend erwiesen hatten, von meiner seltsamen Darstellung aufs äußerste verzaubert. Sie baten mich inständig, ihnen das Märchen aufzuschreiben, damit sie es öfters unter sich und vorlesend mit andern wiederholen könnten. Ich versprach es um so lieber, als ich dadurch einen Vorwand zu Wiederholung des Besuchs und Gelegenheit zu näherer Verbindung mir zu gewinnen hoffte. Die Gesellschaft trennte sich einen Augenblick, und alle mochten fühlen, daß, nach einem so lebhaft vollbrachten Tag, der Abend einigermaßen matt werden könnte. Von dieser Sorge befreite mich mein Freund, der sich für uns die Erlaubnis erbat, sogleich Abschied nehmen zu dürfen, weil er, als ein fleißiger und in seinen Studien folgerechter akademischer Bürger, diese Nacht in Drusenheim zuzubringen und morgen zeitig in Straßburg zu sein wünsche.

Unser Nachtquartier erreichten wir beide schweigend; ich, weil ich einen Widerhaken im Herzen fühlte, der mich zurückzog, er, weil er etwas anderes im Sinne hatte, das er mir, als wir angelangt waren, sogleich mitteilte. – »Es ist doch wunderlich«, fing er an, »daß du gerade auf dieses Märchen verfallen bist. Hast du nicht bemerkt, daß es einen ganz besondern Eindruck machte?« – »Freilich«, versetzte ich darauf; »wie hätte ich nicht bemerken sollen, daß die Ältere bei einigen Stellen, mehr als billig, lachte, die Jüngere den Kopf schüttelte, daß ihr euch bedeutend ansaht, und daß du selbst beinah aus deiner Fassung gekommen wärest. Ich leugne nicht, es hätte mich fast irre gemacht: denn es fuhr mir durch den Kopf, daß es vielleicht unschicklich sei, den guten Kindern solche Fratzen zu erzählen, die ihnen besser unbekannt blieben, und ihnen von den Männern so schlechte Begriffe zu geben, als sie von der Figur des Abenteurers sich notwendig bilden müssen.« – »Keineswegs!« versetzte jener; »du errätst es nicht, und wie solltest du’s erraten? Die guten Kinder sind mit solchen Dingen gar nicht so unbekannt, als du glaubst: denn die große Gesellschaft um sie her gibt ihnen zu manchem Nachdenken Anlaß, und so ist überrhein gerade ein solches Ehepaar, wie du es, nur übertrieben und märchenhaft, schilderst. Er gerade so groß, derb und plump, sie niedlich und zierlich genug, daß er sie wohl auf der Hand tragen könnte. Ihr übriges Verhältnis, ihre Geschichte paßt ebenfalls so genau zu deiner Erzählung, daß die Mädchen mich ernstlich fragten, ob du die Personen kenntest und sie schalkhaft dargestellt hättest? Ich versicherte ›nein!‹ und du wirst wohl tun, das Märchen ungeschrieben zu lassen. Durch Zögern und Vorwände wollen wir schon eine Entschuldigung finden.«

Ich verwunderte mich sehr: denn ich hatte weder an ein diesrheinisches noch an ein überrheinisches Paar gedacht, ja ich hätte gar nicht anzugeben gewußt, wie ich auf den Einfall gekommen. In Gedanken mochte ich mich gern mit solchen Späßen, ohne weitere Beziehung, beschäftigen, und so, glaubte ich, sollte es auch andern sein, wenn ich sie erzählte.

Als ich in der Stadt wieder an meine Geschäfte kam, fühlte ich die Beschwerlichkeit derselben mehr als sonst: denn der zur Tätigkeit geborene Mensch übernimmt sich in Planen und überladet sich mit Arbeiten. Das gelingt denn auch ganz gut, bis irgend ein physisches oder moralisches Hindernis dazutritt, um das Unverhältnismäßige der Kräfte zu dem Unternehmen ins klare zu bringen.

Das Juristische trieb ich mit so viel Fleiß, als nötig war, um die Promotion mit einigen Ehren zu absolvieren; das Medizinische reizte mich, weil es mir die Natur nach allen Seiten, wo nicht aufschloß, doch gewahr werden ließ, und ich war daran durch Umgang und Gewohnheit gebunden; der Gesellschaft mußte ich auch einige Zeit und Aufmerksamkeit widmen: denn in manchen Familien war mir mehreres zu Lieb und zu Ehren geschehn. Aber alles dies wäre zu tragen und fortzuführen gewesen, hätte nicht das, was Herder mir auferlegt, unendlich auf mir gelastet. Er hatte den Vorhang zerrissen, der mir die Armut der deutschen Literatur bedeckte; er hatte mir so manches Vorurteil mit Grausamkeit zerstört; an dem vaterländischen Himmel blieben nur wenige bedeutende Sterne, indem er die übrigen alle nur als vorüberfahrende Schnuppen behandelte; ja, was ich von mir selbst hoffen und wähnen konnte, hatte er mir dermaßen verkümmert, daß ich an meinen eignen Fähigkeiten zu verzweifeln anfing. Zu gleicher Zeit jedoch riß er mich fort auf den herrlichen breiten Weg, den er selbst zu durchwandern geneigt war, machte mich aufmerksam auf seine Lieblingsschriftsteller, unter denen Swift und Hamann obenan standen, und schüttelte mich kräftiger auf, als er mich gebeugt hatte. Zu dieser vielfachen Verwirrung nunmehr eine angehende Leidenschaft, die, indem sie mich zu verschlingen drohte, zwar von jenen Zuständen mich abziehn, aber wohl schwerlich darüber erheben konnte. Dazu kam noch ein körperliches Übel, daß mir nämlich nach Tische die Kehle wie zugeschnürt war; welches ich erst später sehr leicht los wurde, als ich einem roten Wein, den wir in der Pension gewöhnlich und sehr gern tranken, entsagte. Diese unerträgliche Unbequemlichkeit hatte mich auch in Sesenheim verlassen, so daß ich mich dort doppelt vergnügt befand; als ich aber zu meiner städtischen Diät zurückkehrte, stellte sie sich zu meinem großen Verdruß sogleich wieder ein. Alles dies machte mich nachdenklich und mürrisch, und mein Äußeres mochte mit dem Innern übereinstimmen.

Verdrießlicher als jemals, weil eben nach Tische jenes Übel sich heftig eingefunden hatte, wohnte ich dem Klinikum bei. Die große Heiterkeit und Behaglichkeit, womit der verehrte Lehrer uns von Bett zu Bett führte, die genaue Bemerkung bedeutender Symptome, die Beurteilung des Gangs der Krankheit überhaupt, die schöne hippokratische Verfahrungsart, wodurch sich, ohne Theorie, aus einer eignen Erfahrung, die Gestalten des Wissens heraufgaben, die Schlußreden, mit denen er gewöhnlich seine Stunden zu krönen pflegte, das alles zog mich zu ihm und machte mir ein fremdes Fach, in das ich nur wie durch eine Ritze hineinsah, um desto reizender und lieber. Mein Abscheu gegen die Kranken nahm immer mehr ab, je mehr ich diese Zustände in Begriffe verwandeln lernte, durch welche die Heilung, die Wiederherstellung menschlicher Gestalt und Wesens als möglich erschien. Er mochte mich wohl, als einen seltsamen jungen Menschen, besonders ins Auge gefaßt und mir die wunderliche Anomalie, die mich zu seinen Stunden hinführte, verziehn haben. Diesmal schloß er seinen Vortrag nicht, wie sonst, mit einer Lehre, die sich auf irgend eine beobachtete Krankheit bezogen hätte, sondern sagte mit Heiterkeit: »Meine Herren! wir sehen einige Ferien vor uns. Benutzen sie dieselben, sich aufzumuntern; die Studien wollen nicht allein ernst und fleißig, sie wollen auch heiter und mit Geistesfreiheit behandelt werden. Geben Sie Ihrem Körper Bewegung, durchwandern Sie zu Fuß und zu Pferde das schöne Land; der Einheimische wird sich an dem Gewohnten erfreuen, und dem Fremden wird es neue Eindrücke geben und eine angenehme Erinnerung zurücklassen.«

Es waren unser eigentlich nur zwei, an welche diese Ermahnung gerichtet sein konnte; möge dem andern dieses Rezept ebenso eingeleuchtet haben als mir! Ich glaubte eine Stimme vom Himmel zu hören, und eilte was ich konnte, ein Pferd zu bestellen und mich sauber herauszuputzen. Ich schickte nach Weyland, er war nicht zu finden. Dies hielt meinen Entschluß nicht auf, aber leider verzogen sich die Anstalten, und ich kam nicht so früh weg, als ich gehofft hatte. So stark ich auch ritt, überfiel mich doch die Nacht. Der Weg war nicht zu verfehlen, und der Mond beleuchtete mein leidenschaftliches Unternehmen. Die Nacht war windig und schauerlich, ich sprengte zu, um nicht bis morgen früh auf ihren Anblick warten zu müssen.

Es war schon spät, als ich in Sesenheim mein Pferd einstellte. Der Wirt, auf meine Frage, ob wohl in der Pfarre noch Licht sei, versicherte mich, die Frauenzimmer seien eben erst nach Hause gegangen; er glaube gehört zu haben, daß sie noch einen Fremden erwarteten. Das war mir nicht recht; denn ich hätte gewünscht, der einzige zu sein. Ich eilte nach, um wenigstens, so spät noch, als der erste zu erscheinen. Ich fand die beiden Schwestern vor der Türe sitzend; sie schienen nicht sehr verwundert, aber ich war es, als Friedrike Olivien ins Ohr sagte, so jedoch, daß ich’s hörte: »Hab ich’s nicht gesagt? da ist er!« Sie führten mich ins Zimmer, und ich fand eine kleine Kollation aufgestellt. Die Mutter begrüßte mich als einen alten Bekannten; wie mich aber die Ältere bei Licht besah, brach sie in ein lautes Gelächter aus: denn sie konnte wenig an sich halten.

Nach diesem ersten etwas wunderlichen Empfang ward sogleich die Unterredung frei und heiter, und was mir diesen Abend verborgen blieb, erfuhr ich den andern Morgen. Friedrike hatte vorausgesagt, daß ich kommen würde; und wer fühlt nicht einiges Behagen beim Eintreffen einer Ahndung, selbst einer traurigen? Alle Vorgefühle, wenn sie durch das Ereignis bestätigt werden, geben dem Menschen einen höheren Begriff von sich selbst, es sei nun, daß er sich so zart fühlend glauben kann, um einen Bezug in der Ferne zu tasten, oder so scharfsinnig, um notwendige aber doch ungewisse Verknüpfungen gewahr zu werden. – Oliviens Lachen blieb auch kein Geheimnis; sie gestand, daß es ihr sehr lustig vorgekommen, mich diesmal geputzt und wohl ausstaffiert zu sehn; Friedrike hingegen fand es vorteilhaft, eine solche Erscheinung mir nicht als Eitelkeit auszulegen, vielmehr den Wunsch, ihr zu gefallen, darin zu erblicken.

Früh bei Zeiten rief mich Friedrike zum Spazierengehn; Mutter und Schwester waren beschäftigt, alles zum Empfang mehrerer Gäste vorzubereiten. Ich genoß an der Seite des lieben Mädchens der herrlichen Sonntagsfrühe auf dem Lande, wie sie uns der unschätzbare Hebel vergegenwärtigt hat. Sie schilderte mir die erwartete Gesellschaft und bat mich, ihr beizustehn, daß alle Vergnügungen wo möglich gemeinsam und in einer gewissen Ordnung möchten genossen werden. »Gewöhnlich«, sagte sie, »zerstreut man sich einzeln, Scherz und Spiel wird nur obenhin gekostet, so daß zuletzt für den einen Teil nichts übrig bleibt, als die Karten zu ergreifen, und für den andern, im Tanze sich auszurasen.«

Wir entwarfen demnach unsern Plan, was vor und nach Tische geschehn sollte, machten einander wechselseitig mit neuen geselligen Spielen bekannt, waren einig und vergnügt, als uns die Glocke nach der Kirche rief, wo ich denn, an ihrer Seite, eine etwas trockene Predigt des Vaters nicht zu lang fand.

Zeitverkürzend ist immer die Nähe der Geliebten, doch verging mir diese Stunde auch unter besonderem Nachdenken. Ich wiederholte mir die Vorzüge, die sie soeben aufs freiste vor mir entwickelte: besonnene Heiterkeit, Naivetät mit Bewußtsein, Frohsinn mit Voraussehn; Eigenschaften, die unverträglich scheinen, die sich aber bei ihr zusammenfanden und ihr Äußeres gar hold bezeichneten. Nun hatte ich aber auch ernstere Betrachtungen über mich selbst anzustellen, die einer freien Heiterkeit eher Eintrag taten.

Seitdem jenes leidenschaftliche Mädchen meine Lippen verwünscht und geheiligt (denn jede Weihe enthält ja beides), hatte ich mich, abergläubisch genug, in acht genommen, irgend ein Mädchen zu küssen, weil ich solches auf eine unerhörte geistige Weise zu beschädigen fürchtete. Ich überwand daher jede Lüsternheit, durch die sich der Jüngling gedrungen fühlt, diese viel oder wenig sagende Gunst einem reizenden Mädchen abzugewinnen. Aber selbst in der sittigsten Gesellschaft erwartete mich eine lästige Prüfung. Eben jene mehr oder minder geistreichen sogenannten kleinen Spiele, durch welche ein munterer jugendlicher Kreis gesammelt und vereinigt wird, sind großenteils auf Pfänder gegründet, bei deren Einforderung die Küsse keinen unbedeutenden Lösewert haben. Ich hatte mir nun ein für allemal vorgenommen, nicht zu küssen, und wie uns irgend ein Mangel oder Hindernis zu Tätigkeiten aufregt, zu denen man sich sonst nicht hingeneigt hätte, so bot ich alles auf, was an mir von Talent und Humor war, mich durchzuwinden und dabei vor der Gesellschaft und für die Gesellschaft eher zu gewinnen als zu verlieren. Wenn zu Einlösung eines Pfandes ein Vers verlangt werden sollte, so richtete man die Forderung meist an mich. Nun war ich immer vorbereitet und wußte bei solcher Gelegenheit etwas zum Lobe der Wirtin, oder eines Frauenzimmers, die sich am artigsten gegen mich erwiesen hatte, vorzubringen. Traf es sich, daß mir allenfalls ein Kuß auferlegt wurde, so suchte ich mich mit einer Wendung herauszuziehn, mit der man gleichfalls zufrieden war; und da ich Zeit gehabt hatte, vorher darüber nachzudenken, so fehlte es mir nicht an mannigfaltigen Zierlichkeiten; doch gelangen die aus dem Stegreife immer am besten.

Als wir nach Hause kamen, schwirrten die von mehreren Seiten angekommenen Gäste schon lustig durch einander, bis Friedrike sie sammelte und zu einem Spaziergang nach jenem schönen Platze lud und führte. Dort fand man eine reichliche Kollation und wollte mit geselligen Spielen die Stunde des Mittagessens erwarten. Hier wußte ich, in Einstimmung mit Friedriken, ob sie gleich mein Geheimnis nicht ahndete, Spiele ohne Pfänder, und Pfänderlösungen ohne Küsse zu bereiten und durchzuführen.

Meine Kunstfertigkeit und Gewandtheit war um so nötiger, als die mir sonst ganz fremde Gesellschaft geschwind ein Verhältnis zwischen mir und dem lieben Mädchen mochte geahndet haben, und sich nun schalkhaft alle Mühe gab, mir dasjenige aufzudringen, was ich heimlich zu vermeiden suchte. Denn bemerkt man in solchen Zirkeln eine angehende Neigung junger Personen, so sucht man sie verlegen zu machen oder näher zusammenzubringen, ebenso wie man in der Folge, wenn sich eine Leidenschaft erklärt hat, bemüht ist, sie wieder auseinander zu ziehen; wie es denn dem geselligen Menschen ganz gleichgültig ist, ob er nutzt oder schadet, wenn er nur unterhalten wird.

Ich konnte mit einiger Aufmerksamkeit an diesem Morgen Friedrikens ganzes Wesen gewahr werden, dergestalt, daß sie mir für die ganze Zeit immer dieselbe blieb. Schon die freundlichen, vorzüglich an sie gerichteten Grüße der Bauern gaben zu verstehn, daß sie ihnen wohltätig sei und ihr Behagen errege. Zu Hause stand die Ältere der Mutter bei; alles, was körperliche Anstrengung erforderte, ward nicht von Friedriken verlangt, man schonte sie, wie man sagte, ihrer Brust wegen.

Es gibt Frauenspersonen, die uns im Zimmer besonders wohl gefallen, andere, die sich besser im Freien ausnehmen; Friedrike gehörte zu den letztern. Ihr Wesen, ihre Gestalt trat niemals reizender hervor, als wenn sie sich auf einem erhöhten Fußpfad hinbewegte; die Anmut ihres Betragens schien mit der beblümten Erde, und die unverwüstliche Heiterkeit ihres Antlitzes mit dem blauen Himmel zu wetteifern. Diesen erquicklichen Äther, der sie umgab, brachte sie auch mit nach Hause, und es ließ sich bald bemerken, daß sie Verwirrungen auszugleichen und die Eindrücke kleiner unangenehmer Zufälligkeiten leicht wegzulöschen verstand.

Die reinste Freude, die man an einer geliebten Person finden kann, ist die, zu sehen, daß sie andere erfreut. Friedrikens Betragen in der Gesellschaft war allgemein wohltätig. Auf Spaziergängen schwebte sie, ein belebender Geist, hin und wider, und wußte die Lücken auszufüllen, welche hier und da entstehn mochten. Die Leichtigkeit ihrer Bewegungen haben wir schon gerühmt, und am allerzierlichsten war sie, wenn sie lief. So wie das Reh seine Bestimmung ganz zu erfüllen scheint, wenn es leicht über die keimenden Saaten wegfliegt, so schien auch sie ihre Art und Weise am deutlichsten auszudrücken, wenn sie, etwas Vergessenes zu holen, etwas Verlorenes zu suchen, ein entferntes Paar herbeizurufen, etwas Notwendiges zu bestellen, über Rain und Matten leichten Laufes hineilte. Dabei kam sie niemals außer Atem, und blieb völlig im Gleichgewicht; daher mußte die allzu große Sorge der Eltern für ihre Brust manchem übertrieben scheinen.

Der Vater, der uns manchmal durch Wiesen und Felder begleitete, war öfters nicht günstig gepaart. Ich gesellte mich deshalb zu ihm, und er verfehlte nicht, sein Lieblingsthema wieder anzustimmen und mich von dem vorgeschlagenen Bau des Pfarrhauses umständlich zu unterhalten. Er beklagte sich besonders, daß er die sorgfältig gefertigten Risse nicht wieder erhalten könne, um darüber nachzudenken und eine und die andere Verbesserung zu überlegen. Ich erwiderte darauf, es sei leicht, sie zu ersetzen, und erbot mich zur Fertigung eines Grundrisses, auf welchen doch vorerst alles ankomme. Er war es wohl zufrieden, und bei der nötigen Ausmessung sollte der Schulmeister an Hand gehen, welchen aufzuregen er denn auch sogleich forteilte, damit ja der Fuß – und Zollstab morgen früh bereit wäre.

Als er hinweggegangen war, sagte Friedrike: »Sie sind recht gut, die schwache Seite des lieben Vaters zu hegen, und nicht, wie die andern, die dieses Gespräch schon überdrüssig sind, ihn zu meiden oder davon abzubrechen. Freilich muß ich Ihnen bekennen, daß wir übrigen den Bau nicht wünschen; er würde der Gemeine zu hoch zu stehn kommen und uns auch. Neues Haus, neues Hausgeräte! Unsern Gästen würde es bei uns nicht wohler sein, sie sind nun einmal das alte Gebäude gewohnt. Hier können wir sie reichlich bewirten, dort fänden wir uns in einem weitern Raume beengt. So steht die Sache; aber unterlassen Sie nicht, gefällig zu sein, ich danke es Ihnen von Herzen.«

Ein anderes Frauenzimmer, das sich zu uns gesellte, fragte nach einigen Romanen, ob Friedrike solche gelesen habe. Sie verneinte es; denn sie hatte überhaupt wenig gelesen; sie war in einem heitern sittlichen Lebensgenuß aufgewachsen und demgemäß gebildet. Ich hatte den »Wakefield« auf der Zunge, allein ich wagte nicht, ihr ihn anzubieten; die Ähnlichkeit der Zustände war zu auffallend und zu bedeutend. – »Ich lese sehr gern Romane«, sagte sie; »man findet darin so hübsche Leute, denen man wohl ähnlich sehen möchte.«

Die Ausmessung des Hauses geschah des andern Morgens. Sie ging ziemlich langsam vonstatten, da ich in solchen Künsten so wenig gewandt war als der Schulmeister. Endlich kam ein leidlicher Entwurf zustande. Der Vater sagte mir seine Absicht und war nicht unzufrieden, als ich Urlaub nahm, um den Riß in der Stadt mit mehr Bequemlichkeit zu verfertigen. Friedrike entließ mich froh; sie war von meiner Neigung überzeugt, wie ich von der ihrigen, und die sechs Stunden schienen keine Entfernung mehr. Es war so leicht, mit der Diligence nach Drusenheim zu fahren und sich durch dieses Fuhrwerk, sowie durch ordentliche und außerordentliche Boten, in Verbindung zu erhalten, wobei George den Spediteur machen sollte.

In der Stadt angelangt, beschäftigte ich mich in den frühesten Stunden – denn an langen Schlaf war nicht mehr zu denken – mit dem Risse, den ich so sauber als möglich zeichnete. Indessen hatte ich ihr Bücher geschickt und ein kurzes freundliches Wort dazu geschrieben. Ich erhielt sogleich Antwort und erfreute mich ihrer leichten, hübschen, herzlichen Hand. Ebenso war Inhalt und Stil natürlich, gut, liebevoll, von innen heraus, und so wurde der angenehme Eindruck, den sie auf mich gemacht, immer erhalten und erneuert. Ich wiederholte mir die Vorzüge ihres holden Wesens nur gar zu gern, und nährte die Hoffnung, sie bald und auf längere Zeit wiederzusehn.

Es bedurfte nun nicht mehr eines Zurufs von seiten des braven Lehrers; er hatte mich durch jene Worte zur rechten Zeit so aus dem Grunde kuriert, daß ich ihn und seine Kranken nicht leicht wiederzusehen Lust hatte. Der Briefwechsel mit Friedriken wurde lebhafter. Sie lud mich ein zu einem Feste, wozu auch überrheinische Freunde kommen würden; ich sollte mich auf längere Zeit einrichten. Ich tat es, indem ich einen tüchtigen Mantelsack auf die Diligence packte; und in wenig Stunden befand ich mich in ihrer Nähe. Ich traf eine große und lustige Gesellschaft, nahm den Vater beiseite, überreichte ihm den Riß, über den er große Freude bezeigte; ich besprach mit ihm, was ich bei der Ausarbeitung gedacht hatte; er war außer sich vor Vergnügen, besonders lobte er die Reinlichkeit der Zeichnung: die hatte ich von Jugend auf geübt und mir diesmal auf dem schönsten Papier noch besondere Mühe gegeben. Allein dieses Vergnügen wurde unserm guten Wirte gar bald verkümmert, da er, gegen meinen Rat, in der Freude seines Herzens, den Riß der Gesellschaft vorlegte. Weit entfernt, daran die erwünschte Teilnahme zu äußern, achteten die einen diese köstliche Arbeit gar nicht; andere, die etwas von der Sache zu verstehn glaubten, machten es noch schlimmer: sie tadelten den Entwurf als nicht kunstgerecht, und als der Alte einen Augenblick nicht aufmerkte, handhabten sie diese saubern Blätter als Brouillons, und einer zog mit harten Bleistiftstrichen seine Verbesserungsvorschläge dergestalt derb über das zarte Papier, daß an Wiederherstellung der ersten Reinheit nicht zu denken war.

Den höchst verdrießlichen Mann, dem sein Vergnügen so schmählich vereitelt worden, vermochte ich kaum zu trösten, so sehr ich ihm auch versicherte, daß ich sie selbst nur für Entwürfe gehalten, worüber wir sprechen und neue Zeichnungen darauf bauen wollten. Er ging dem allen ungeachtet höchst verdrießlich weg, und Friedrike dankte mir für die Aufmerksamkeit gegen den Vater ebensosehr als für die Geduld bei der Unart der Mitgäste.

Ich aber kannte keinen Schmerz noch Verdruß in ihrer Nähe. Die Gesellschaft bestand aus jungen, ziemlich lärmenden Freunden, die ein alter Herr noch zu überbieten trachtete und noch wunderlicheres Zeug angab, als sie ausübten. Man hatte schon beim Frühstück den Wein nicht gespart; bei einem sehr wohl besetzten Mittagstische ließ man sich’s an keinem Genuß ermangeln, und allen schmeckte es, nach der angreifenden Leibesübung, bei ziemlicher Wärme, um so besser, und wenn der alte Amtmann des Guten ein wenig zu viel getan hatte, so war die Jugend nicht weit hinter ihm zurückgeblieben.

Ich war grenzenlos glücklich an Friedrikens Seite; gesprächig, lustig, geistreich, vorlaut, und doch durch Gefühl, Achtung und Anhänglichkeit gemäßigt. Sie in gleichem Falle, offen, heiter, teilnehmend und mitteilend. Wir schienen allein für die Gesellschaft zu leben und lebten bloß wechselseitig für uns.

Nach Tische suchte man den Schatten, gesellschaftliche Spiele wurden vorgenommen, und Pfänderspiele kamen an die Reihe. Bei Lösung der Pfänder ging alles jeder Art ins Übertriebene: Gebärden, die man verlangte, Handlungen, die man ausüben, Aufgaben, die man lösen sollte, alles zeigte von einer verwegenen Lust, die keine Grenzen kennt. Ich selbst steigerte diese wilden Scherze durch manchen Schwank, Friedrike glänzte durch manchen neckischen Einfall; sie erschien mir lieblicher als je; alle hypochondrischen abergläubischen Grillen waren mir verschwunden, und als sich die Gelegenheit gab, meine so zärtlich Geliebte recht herzlich zu küssen, versäumte ich’s nicht, und noch weniger versagte ich mir die Wiederholung dieser Freude.

Die Hoffnung der Gesellschaft auf Musik wurde endlich befriedigt, sie ließ sich hören und alles eilte zum Tanz. Die Allemanden, das Walzen und Drehen war Anfang, Mittel und Ende. Alle waren zu diesem Nationaltanz aufgewachsen; auch ich machte meinen geheimen Lehrmeisterinnen Ehre genug, und Friedrike, welche tanzte wie sie ging, sprang und lief, war sehr erfreut, an mir einen geübten Partner zu finden. Wir hielten meist zusammen, mußten aber bald Schicht machen, weil man ihr von allen Seiten zuredete, nicht weiter fortzurasen. Wir entschädigten uns durch einen einsamen Spaziergang Hand in Hand, und an jenem stillen Platze durch die herzlichste Umarmung und die treulichste Versicherung, daß wir uns von Grund aus liebten.

Ältere Personen, die vom Spiel aufgestanden waren, zogen uns mit sich fort. Bei der Abendkollation kam man ebenso wenig zu sich selbst; es ward bis tief in die Nacht getanzt, und an Gesundheiten sowie an andern Aufmunterungen zum Trinken fehlte es so wenig als am Mittag.

Ich hatte kaum einige Stunden sehr tief geschlafen, als ein erhitztes und in Aufruhr gebrachtes Blut mich aufweckte. In solchen Stunden und Lagen ist es, wo die Sorge, die Reue den wehrlos hingestreckten Menschen zu überfallen pflegen. Meine Einbildungskraft stellte mir zugleich die lebhaftesten Bilder dar; ich sehe Lucinden, wie sie, nach dem heftigen Kusse, leidenschaftlich von mir zurücktritt, mit glühender Wange, mit funkelnden Augen jene Verwünschung ausspricht, wodurch nur ihre Schwester bedroht werden soll, und wodurch sie unwissend fremde Schuldlose bedroht. Ich sehe Friedriken gegen ihr über stehn, erstarrt vor dem Anblick, bleich und die Folgen jener Verwünschung fühlend, von der sie nichts weiß. Ich finde mich in der Mitte, so wenig imstande die geistigen Wirkungen jenes Abenteuers abzulehnen, als jenen Unglück weissagenden Kuß zu vermeiden. Die zarte Gesundheit Friedrikens schien den gedrohten Unfall zu beschleunigen, und nun kam mir ihre Liebe zu mir recht unselig vor; ich wünschte über alle Berge zu sein.

Was aber noch Schmerzlicheres für mich im Hintergrunde lag, will ich nicht verhehlen. Ein gewisser Dünkel unterhielt bei mir jenen Aberglauben; meine Lippen – geweiht oder verwünscht – kamen mir bedeutender vor als sonst, und mit nicht geringer Selbstgefälligkeit war ich mir meines enthaltsamen Betragens bewußt, indem ich mir manche unschuldige Freude versagte, teils um jenen magischen Vorzug zu bewahren, teils um ein harmloses Wesen nicht zu verletzen, wenn ich ihn aufgäbe.

Nunmehr aber war alles verloren und unwiederbringlich; ich war in einen gemeinen Zustand zurückgekehrt, ich glaubte das liebste Wesen verletzt, ihr unwiederbringlich geschadet zu haben; und so war jene Verwünschung, anstatt daß ich sie hätte los werden sollen, von meinen Lippen in mein eignes Herz zurückgeschlagen.

Das alles raste zusammen in meinem durch Liebe und Leidenschaft, Wein und Tanz aufgeregten Blute, verwirrte mein Denken, peinigte mein Gefühl, so daß ich, besonders im Gegensatz mit den gestrigen behaglichen Freuden, mich in einer Verzweiflung fühlte, die ohne Grenzen schien. Glücklicherweise blickte durch eine Spalte im Laden das Tageslicht mich an, und alle Mächte der Nacht überwindend, stellte mich die hervortretende Sonne wieder auf meine Füße; ich war bald im Freien und schnell erquickt, wo nicht hergestellt.

Der Aberglaube, sowie manches andre Wähnen, verliert sehr leicht an seiner Gewalt, wenn er, statt unserer Eitelkeit zu schmeicheln, ihr in den Weg tritt, und diesem zarten Wesen eine böse Stunde machen will; wir sehen alsdann recht gut, daß wir ihn loswerden können, sobald wir wollen; wir entsagen ihm um so leichter, je mehr alles, was wir ihm entziehn, zu unserm Vorteil gereicht. Der Anblick Friedrikens, das Gefühl ihrer Liebe, die Heiterkeit der Umgebung, alles machte mir Vorwürfe, daß ich in der Mitte der glücklichsten Tage so traurige Nachtvögel bei mir beherbergen mögen; ich glaubte sie auf ewig verscheucht zu haben. Des lieben Mädchens immer mehr annäherndes zutrauliches Betragen machte mich durch und durch froh, und ich fand mich recht glücklich, daß sie mir diesmal beim Abschied öffentlich, wie andern Freunden und Verwandten, einen Kuß gab.

In der Stadt erwarteten mich gar manche Geschäfte und Zerstreuungen, aus denen ich mich oft, durch einen jetzt regelmäßig eingeleiteten Briefwechsel mit meiner Geliebten, zu ihr sammelte. Auch in Briefen blieb sie immer dieselbe; sie mochte etwas Neues erzählen, oder auf bekannte Begebenheiten anspielen, leicht schildern, vorübergehend reflektieren, immer war es, als wenn sie auch mit der Feder gehend, kommend, laufend, springend so leicht aufträte als sicher. Auch ich schrieb sehr gern an sie: denn die Vergegenwärtigung ihrer Vorzüge vermehrte meine Neigung auch in der Abwesenheit, so daß diese Unterhaltung einer persönlichen wenig nachgab, ja in der Folge mir sogar angenehmer, teurer wurde.

Denn jener Aberglaube hatte völlig weichen müssen. Er gründete sich zwar auf Eindrücke früherer Jahre, allein der Geist des Tags, das Rasche der Jugend, der Umgang mit, kalten, verständigen Männern, alles war ihm ungünstig, so daß sich nicht leicht jemand in meiner ganzen Umgebung gefunden hätte, dem nicht ein Bekenntnis meiner Grille vollkommen lächerlich gewesen wäre. Allein das Schlimmste war, daß jener Wahn, indem er floh, eine wahre Betrachtung über den Zustand zurückließ, in welchem sich immer junge Leute befinden, deren frühzeitige Neigungen sich keinen dauerhaften Erfolg versprechen dürfen. So wenig war mir geholfen, den Irrtum los zu sein, daß Verstand und Überlegung mir nur noch schlimmer in diesem Falle mitspielten. Meine Leidenschaft wuchs, je mehr ich den Wert des trefflichen Mädchens kennen lernte, und die Zeit rückte heran, da ich so viel Liebes und Gutes, vielleicht auf immer, verlieren sollte.

Wir hatten eine Zeitlang zusammen still und anmutig fortgelebt, als Freund Weyland die Schalkheit beging, den »Landpriester von Wakefield« nach Sesenheim mitzubringen und mir ihn, da vom Vorlesen die Rede war, unvermutet zu überreichen, als hätte es weiter gar nichts zu sagen. Ich wußte mich zu fassen und las so heiter und freimütig, als ich nur konnte. Auch die Gesichter meiner Zuhörer erheiterten sich sogleich, und es schien ihnen gar nicht unangenehm, abermals zu einer Vergleichung genötigt zu sein. Hatten sie zu Raymond und Melusine komische Gegenbilder gefunden, so erblickten sie hier sich selbst in einem Spiegel, der keineswegs verhäßlichte. Man gestand sich’s nicht ausdrücklich, aber man verleugnete es nicht, daß man sich unter Geistes- und Gefühlsverwandten bewege.

Alle Menschen guter Art empfinden bei zunehmender Bildung, daß sie auf der Welt eine doppelte Rolle zu spielen haben, eine wirkliche und eine ideelle, und in diesem Gefühl ist der Grund alles Edlen aufzusuchen. Was uns für eine wirkliche zugeteilt sei, erfahren wir nur allzu deutlich; was die zweite betrifft, darüber können wir selten ins klare kommen. Der Mensch mag seine höhere Bestimmung auf Erden oder im Himmel, in der Gegenwart oder in der Zukunft suchen, so bleibt er deshalb doch innerlich einem ewigen Schwanken, von außen einer immer störenden Einwirkung ausgesetzt, bis er ein für alle mal den Entschluß faßt, zu erklären, das Rechte sei das, was ihm gemäß ist.

Unter die läßlichsten Versuche, sich etwas Höheres anzubilden, sich einem Höheren gleich zu stellen, gehört wohl der jugendliche Trieb, sich mit Romanenfiguren zu vergleichen. Er ist höchst unschuldig, und, was man auch dagegen eifern mag, höchst unschädlich. Er unterhält uns in Zeiten, wo wir vor Langerweile umkommen oder zu leidenschaftlicher Unterhaltung greifen müßten.

Wie oft wiederholt man nicht die Litanei vom Schaden der Romane, und was ist es denn für ein Unglück, wenn ein artiges Mädchen, ein hübscher junger Mann sich an die Stelle der Person setzt, der es besser und schlechter geht als ihm selbst? Ist denn das bürgerliche Leben so viel wert, oder verschlingen die Bedürfnisse des Tags den Menschen so ganz, daß er jede schöne Forderung von sich ablehnen soll?

So sind als kleine Nebenzweige der romantisch-poetischen Fiktionen die historisch-poetischen Taufnamen, die sich an die Stelle der heiligen, nicht selten zum Ärgernis der taufenden Geistlichen, in die deutsche Kirche eingedrungen, ohne Zweifel anzusehn. Auch dieser Trieb, sein Kind durch einen wohlklingenden Namen, wenn er auch sonst nichts weiter hinter sich hätte, zu adeln, ist löblich, und diese Verknüpfung einer eingebildeten Welt mit der wirklichen verbreitet sogar über das ganze Leben der Person einen anmutigen Schimmer. Ein schönes Kind, welches wir mit Wohlgefallen Berta nennen, würden wir zu beleidigen glauben, wenn wir es Urselblandine nennen sollten. Gewiß, einem gebildeten Menschen, geschweige denn einem Liebhaber, würde ein solcher Name auf den Lippen stocken. Der kalt und einseitig urteilenden Welt ist nicht zu verargen, wenn sie alles, was phantastisch hervortritt, für lächerlich und verwerflich achtet; der denkende Kenner der Menschheit aber muß es nach seinem Werte zu würdigen wissen.

Für den Zustand der Liebenden an dem schönen Ufer des Rheins war diese Vergleichung, zu der sie ein Schalk genötigt hatte, von den anmutigsten Folgen. Man denkt nicht über sich, wenn man sich im Spiegel betrachtet, aber man fühlt sich und läßt sich gelten. So ist es auch mit jenen moralischen Nachbildern, an denen man seine Sitten und Neigungen, seine Gewohnheiten und Eigenheiten, wie im Schattenriß, erkennt und mit brüderlicher Innigkeit zu fassen und zu umarmen strebt.

Die Gewohnheit, zusammen zu sein, befestigte sich immer mehr; man wußte nicht anders, als daß ich diesem Kreis angehöre. Man ließ es geschehn und gehn, ohne gerade zu fragen, was daraus werden sollte. Und welche Eltern finden sich nicht genötigt, Töchter und Söhne in so schwebenden Zuständen eine Weile hinwalten zu lassen, bis sich etwas zufällig fürs Leben bestätigt, besser, als es ein lange angelegter Plan hätte hervorbringen können.

Man glaubte sowohl auf Friedrikens Gesinnungen als auch auf meine Rechtlichkeit, für die man, wegen jenes wunderlichen Enthaltens selbst von unschuldigen Liebkosungen, ein günstiges Vorurteil gefaßt hatte, völlig vertrauen zu können. Man ließ uns unbeobachtet, wie es überhaupt dort und damals Sitte war, und es hing von uns ab, in kleinerer oder größerer Gesellschaft, die Gegend zu durchstreifen und die Freunde der Nachbarschaft zu besuchen. Diesseits und jenseits des Rheins, in Hagenau, Fort Louis, Philippsburg, der Ortenau, fand ich die Personen zerstreut, die ich in Sesenheim vereinigt gesehn, jeden bei sich, als freundlichen Wirt, gastfrei und so gern Küche und Keller als Gärten und Weinberge, ja die ganze Gegend aufschließend. Die Rheininseln waren denn auch öfters ein Ziel unserer Wasserfahrten. Dort brachten wir ohne Barmherzigkeit die kühlen Bewohner des klaren Rheines in den Kessel, auf den Rost, in das siedende Fett, und hätten uns hier, in den traulichen Fischerhütten, vielleicht mehr als billig angesiedelt, hätten uns nicht die entsetzlichen Rheinschnaken nach einigen Stunden wieder weggetrieben. Über diese unerträgliche Störung einer der schönsten Lustpartien, wo sonst alles glückte, wo die Neigung der Liebenden mit dem guten Erfolge des Unternehmens nur zu wachsen schien, brach ich wirklich, als wir zu früh, ungeschickt und ungelegen nach Hause kamen, in Gegenwart des guten geistlichen Vaters, in gotteslästerliche Reden aus und versicherte, daß diese Schnaken allein mich von dem Gedanken abbringen könnten, als habe ein guter und weiser Gott die Welt erschaffen. Der alte fromme Herr rief mich dagegen ernstlich zur Ordnung und verständigte mich, daß diese Mücken und anderes Ungeziefer erst nach dem Falle unserer ersten Eltern entstanden, oder, wenn deren im Paradiese gewesen, daselbst nur angenehm gesummet und nicht gestochen hätten. Ich fühlte mich zwar sogleich besänftigt: denn ein Zorniger ist wohl zu begütigen, wenn es uns glückt, ihn zum Lächeln zu bringen; ich versicherte jedoch, es habe des Engels mit dem flammenden Schwerte gar nicht bedurft, um das sündige Ehepaar aus dem Garten zu treiben; er müsse mir vielmehr erlauben, mir vorzustellen, daß dies durch große Schnaken des Tigris und Euphrat geschehn sei. Und so hatte ich ihn wieder zum Lachen gebracht, denn der gute Mann verstand Spaß, oder ließ ihn wenigstens vorübergehn.

Ernsthafter jedoch und herzerhebender war der Genuß der Tags- und Jahreszeiten in diesem herrlichen Lande. Man durfte sich nur der Gegenwart hingeben, um diese Klarheit des reinen Himmels, diesen Glanz der reichen Erde, diese lauen Abende, diese warmen Nächte an der Seite der Geliebten oder in ihrer Nähe zu genießen. Monate lang beglückten uns reine ätherische Morgen, wo der Himmel sich in seiner ganzen Pracht wies, indem er die Erde mit überflüssigem Tau getränkt hatte; und damit dieses Schauspiel nicht zu einfach werde, türmten sich oft Wolken über die entfernten Berge, bald in dieser, bald in jener Gegend. Sie standen Tage, ja Wochen lang, ohne den reinen Himmel zu trüben, und selbst die vorübergehenden Gewitter erquickten das Land und verherrlichten das Grün, das schon wieder im Sonnenschein glänzte, ehe es noch abtrocknen konnte. Der doppelte Regenbogen, zweifarbige Säume eines dunkelgrauen, beinah schwarzen himmlischen Bandstreifens waren herrlicher, farbiger, entschiedener, aber auch flüchtiger, als ich sie irgend beobachtet.

Unter diesen Umgebungen trat unversehens die Lust zu dichten, die ich lange nicht gefühlt hatte, wieder hervor. Ich legte für Friedriken manche Lieder bekannten Melodien unter. Sie hätten ein artiges Bändchen gegeben; wenige davon sind übrig geblieben, man wird sie leicht aus meinen übrigen herausfinden.

Da ich meiner wunderlichen Studien und übrigen Verhältnisse wegen doch öfters nach der Stadt zurückzukehren genötigt war, so entsprang dadurch für unsere Neigung ein neues Leben, das uns vor allem Unangenehmen bewahrte, was an solche kleine Liebeshändel als verdrießliche Folge sich gewöhnlich zu schließen pflegt. Entfernt von mir arbeitete sie für mich, und dachte auf irgend eine neue Unterhaltung, wenn ich zurückkäme; entfernt von ihr beschäftigte ich mich für sie, um durch eine neue Gabe, einen neuen Einfall ihr wieder neu zu sein. Gemalte Bänder waren damals eben erst Mode geworden; ich malte ihr gleich ein paar Stücke und sendete sie mit einem kleinen Gedicht voraus, da ich diesmal länger, als ich gedacht, ausbleiben mußte. Um auch die dem Vater getane Zusage eines neuen und ausgearbeiteten Baurisses noch über Versprechen zu halten, beredete ich einen jungen Bauverständigen, statt meiner zu arbeiten. Dieser hatte so viel Lust an der Aufgabe als Gefälligkeit gegen mich, und ward noch mehr durch die Hoffnung eines guten Empfangs in einer so angenehmen Familie belebt. Er verfertigte Grundriß, Aufriß und Durchschnitt des Hauses; Hof und Garten war nicht vergessen; auch ein detaillierter, aber sehr mäßiger Anschlag war hinzugefügt, um die Möglichkeit der Ausführung eines weitläuftigen und kostspieligen Unternehmens als leicht und tulich vorzuspiegeln.

Diese Zeugnisse unserer freundschaftlichen Bemühungen verschafften uns den liebreichsten Empfang; und da der Vater sah, daß wir den besten Willen hatten, ihm zu dienen, so trat er mit noch einem Wunsche hervor; es war der, seine zwar hübsche aber einfarbige Chaise mit Blumen und Zieraten staffiert zu sehn. Wir ließen uns bereitwillig finden. Farben, Pinsel und sonstige Bedürfnisse wurden von den Krämern und Apothekern der nächsten Städte herbeigeholt. Damit es aber auch an einem Wakefieldschen Mißlingen nicht fehlen möchte, so bemerkten wir nur erst, als alles auf das fleißigste und bunteste gemalt war, daß wir einen falschen Firnis genommen hatten, der nicht trocknen wollte: Sonnenschein und Zugluft, reines und feuchtes Wetter, nichts wollte fruchten. Man mußte sich indessen eines alten Rumpelkastens bedienen, und es blieb uns nichts übrig, als die Verzierung mit mehr Mühe wieder abzureiben, als wir sie aufgemalt hatten. Die Unlust bei dieser Arbeit vergrößerte sich noch, als uns die Mädchen ums Himmelswillen baten, langsam und vorsichtig zu verfahren, um den Grund zu schonen; welcher denn doch, nach dieser Operation, zu seinem ursprünglichen Glanze nicht wieder zurückzubringen war.

Durch solche unangenehme kleine Zwischenfälligkeiten wurden wir jedoch so wenig als Doktor Primrose und seine liebenswürdige Familie in unserm heitern Leben gestört: denn es begegnete manches unerwartete Glück sowohl uns als auch Freunden und Nachbarn; Hochzeiten und Kindtaufen, Richtung eines Gebäudes, Erbschaft, Lotteriegewinn wurden wechselseitig verkündigt und mitgenossen. Wir trugen alle Freude, wie ein Gemeingut, zusammen und wußten sie durch Geist und Liebe zu steigern. Es war nicht das erste und letzte Mal, daß ich mich in Familien, in geselligen Kreisen befand, gerade im Augenblick ihrer höchsten Blüte, und wenn ich mir schmeicheln darf, etwas zu dem Glanz solcher Epochen beigetragen zu haben, so muß ich mir dagegen vorwerfen, daß solche Zeiten uns eben deshalb schneller vorübergeeilt und früher verschwunden.

Nun sollte aber unsere Liebe noch eine sonderbare Prüfung ausstehn. Ich will es Prüfung nennen, obgleich dies nicht das rechte Wort ist. Die ländliche Familie, der ich befreundet war, hatte verwandte Häuser in der Stadt, von gutem Ansehn und Ruf und in behaglichen Vermögensumständen. Die jungen Städter waren öfters in Sesenheim. Die ältern Personen, Mütter und Tanten, weniger beweglich, hörten so mancherlei von dem dortigen Leben, von der wachsenden Anmut der Töchter, selbst von meinem Einfluß, daß sie mich erst wollten kennen lernen, und, nachdem ich sie öfters besucht und auch bei ihnen wohl empfangen war, uns auch alle einmal beisammen zu sehen verlangten, zumal als sie jenen auch eine freundliche Gegenaufnahme schuldig zu sein glaubten.

Lange ward hierüber hin und her gehandelt. Die Mutter konnte sich schwer von der Haushaltung trennen, Olivie hatte einen Abscheu vor der Stadt, in die sie nicht paßte, Friedrike keine Neigung dahin; und so verzögerte sich die Sache, bis sie endlich dadurch entschieden ward, daß es mir unmöglich fiel, innerhalb vierzehn Tagen aufs Land zu kommen, da man sich denn lieber in der Stadt und mit einigem Zwange als gar nicht sehen wollte. Und so fand ich nun meine Freundinnen, die ich nur auf ländlicher Szene zu sehen gewohnt war, deren Bild mir nur auf einem Hintergrunde von schwankenden Baumzweigen, beweglichen Bächen, nickenden Blumenwiesen und einem meilenweit freien Horizonte bisher erschien – ich sah sie nun zum ersten Mal in städtischen, zwar weiten Zimmern, aber doch in der Enge, in Bezug auf Tapeten, Spiegel, Standuhren und Porzellanpuppen.

Das Verhältnis zu dem, was man liebt, ist so entschieden, daß die Umgebung wenig sagen will; aber daß es die gehörige, natürliche, gewohnte Umgebung sei, dies verlangt das Gemüt. Bei meinem lebhaften Gefühl für alles Gegenwärtige konnte ich mich nicht gleich in den Widerspruch des Augenblicks finden. Das anständige, ruhig-edle Betragen der Mutter paßte vollkommen in diesen Kreis, sie unterschied sich nicht von den übrigen Frauen; Olivie dagegen bewies sich ungeduldig, wie ein Fisch auf dem Strande. Wie sie mich sonst in dem Garten anrief oder auf dem Felde bei Seite winkte, wenn sie mir etwas Besonderes zu sagen hatte, so tat sie auch hier, indem sie mich in eine Fenstertiefe zog; sie tat es mit Verlegenheit und ungeschickt, weil sie fühlte, daß es nicht paßte, und es doch tat. Sie hatte mir das Unwichtigste von der Welt zu sagen, nichts als was ich schon wußte: daß es ihr entsetzlich weh sei, daß sie sich an den Rhein, über den Rhein, ja in die Türkei wünsche. Friedrike hingegen war in dieser Lage höchst merkwürdig Eigentlich genommen paßte sie auch nicht hinein; aber dies zeugte für ihren Charakter, daß sie, anstatt sich in diesen Zustand zu finden, unbewußt den Zustand nach sich modelte. Wie sie auf dem Lande mit der Gesellschaft gebarte, so tat sie es auch hier. Jeden Augenblick wußte sie zu beleben. Ohne zu beunruhigen, setzte sie alles in Bewegung und beruhigte gerade dadurch die Gesellschaft, die eigentlich nur von der Langenweile beunruhigt wird. Sie erfüllte damit vollkommen den Wunsch der städtischen Tanten, welche ja auch einmal, von ihrem Kanapee aus, Zeugen jener ländlichen Spiele und Unterhaltungen sein wollten. War dieses zur Genüge geschehn, so wurde die Garderobe, der Schmuck, und was die städtischen, französisch gekleideten Nichten besonders auszeichnete, betrachtet und ohne Neid bewundert. Auch mit mir machte Friedrike sich’s leicht, indem sie mich behandelte wie immer. Sie schien mir keinen an dern Vorzug zu geben, als den, daß sie ihr Begehren, ihre Wünsche eher an mich als an einen andern richtete und mich dadurch als ihren Diener anerkannte.

Diese Dienerschaft nahm sie einen der folgenden Tage mit Zuversicht in Anspruch, als sie mir vertraute, die Damen wünschten mich lesen zu hören. Die Töchter des Hauses hatten viel davon erzählt: denn in Sesenheim las ich, was und wann man’s verlangte. Ich war sogleich bereit, nur bat ich um Ruhe und Aufmerksamkeit auf mehrere Stunden. Dies ging man ein, und ich las an einem Abend den ganzen »Hamlet« ununterbrochen, in den Sinn des Stücks eindringend, wie ich es nur vermochte, mit Lebhaftigkeit und Leidenschaft mich ausdrückend, wie es der Jugend gegeben ist. Ich erntete großen Beifall. Friedrike hatte von Zeit zu Zeit tief geatmet und ihre Wangen eine fliegende Röte überzogen. Diese beiden Symptome eines bewegten zärtlichen Herzens, bei scheinbarer Heiterkeit und Ruhe von außen, waren mir nicht unbekannt und der einzige Lohn, nach dem ich strebte. Sie sammelte den Dank, daß sie mich veranlaßt hatte, mit Freuden ein, und versagte sich, nach ihrer zierlichen Weise, den kleinen Stolz nicht, in mir und durch mich geglänzt zu haben.

Dieser Stadtbesuch sollte nicht lange dauern, aber die Abreise verzögerte sich. Friedrike tat das Ihrige zur geselligen Unterhaltung, ich ließ es auch nicht fehlen; aber die reichen Hülfsquellen, die auf dem Lande so ergiebig sind, versiegten bald in der Stadt, und der Zustand ward um so peinlicher, als die Ältere nach und nach ganz aus der Fassung kam. Die beiden Schwestern waren die einzigen in der Gesellschaft, welche sich deutsch trugen. Friedrike hatte sich niemals anders gedacht und glaubte überall so recht zu sein, sie verglich sich nicht; aber Olivien war es ganz unerträglich, so mägdehaft ausgezeichnet in dieser vornehm erscheinenden Gesellschaft einherzugehn. Auf dem Lande bemerkte sie kaum die städtische Tracht an andern, sie verlangte sie nicht; in der Stadt konnte sie die ländliche nicht ertragen. Dies alles zu dem übrigen Geschicke städtischer Frauenzimmer, zu den hundert Kleinigkeiten einer ganz entgegengesetzten Umgebung wühlte einige Tage so in dem leidenschaftlichen Busen, daß ich alle schmeichelnde Aufmerksamkeit auf sie zu wenden hatte, um sie, nach dem Wunsche Friedrikens, zu begütigen. Ich fürchtete eine leidenschaftliche Szene. Ich sah den Augenblick, da sie sich mir zu Füßen werfen und mich bei allem Heiligen beschwören werde, sie aus diesem Zustande zu retten. Sie war himmlisch gut, wenn sie sich nach ihrer Weise behaben konnte, aber ein solcher Zwang setzte sie gleich in Mißbehagen und konnte sie zuletzt bis zur Verzweiflung treiben. Nun suchte ich zu beschleunigen, was die Mutter mit Olivien wünschte und was Friedriken nicht zuwider war. Diese im Gegensatze mit ihrer Schwester zu loben, enthielt ich mich nicht; ich sagte ihr, wie sehr ich mich freue, sie unverändert und auch in diesen Umgebungen so frei wie den Vogel auf den Zweigen zu finden. Sie war artig genug zu erwidern, daß ich ja da sei, sie wolle weder hinaus noch herein, wenn ich bei ihr wäre.

Endlich sah ich sie abfahren, und es fiel mir wie ein Stein vom Herzen: denn meine Empfindung hatte den Zustand von Friedriken und Olivien geteilt; ich war zwar nicht leidenschaftlich geängstigt wie diese, aber ich fühlte mich doch keineswegs wie jene behaglich.

Da ich eigentlich nach Straßburg gegangen war, um zu promovieren, so gehörte es freilich unter die Unregelmäßigkeiten meines Lebens, daß ich ein solches Hauptgeschäft als eine Nebensache betrachtete. Die Sorge wegen des Examens hatte ich mir auf eine sehr leichte Weise beiseitegeschafft; es war nun aber auch an die Disputation zu denken: denn von Frankfurt abreisend hatte ich meinem Vater versprochen und mir selbst fest vorgesetzt, eine solche zu schreiben. Es ist der Fehler derjenigen, die manches, ja viel vermögen, daß sie sich alles zutrauen, und die Jugend muß sogar in diesem Falle sein, damit nur etwas aus ihr werde. Eine Übersicht der Rechtswissenschaft und ihres ganzen Fachwerks hatte ich mir so ziemlich verschafft, einzelne rechtliche Gegenstände interessierten mich hinlänglich, und ich glaubte, da ich mir den braven Leyser zum Vorbild genommen hatte, mit meinem kleinen Menschenverstand ziemlich durchzukommen. Es zeigten sich große Bewegungen in der Jurisprudenz; es sollte mehr nach Billigkeit geurteilt werden; alle Gewohnheitsrechte sah man täglich gefährdet, und besonders dem Kriminalwesen stand eine große Veränderung bevor. Was mich selbst betraf, so fühlte ich wohl, daß mir zur Ausfüllung jener Rechtstopik, die ich mir gemacht hatte, unendlich vieles fehle; das eigentliche Wissen ging mir ab, und keine innere Richtung drängte mich zu diesen Gegenständen. Auch mangelte der Anstoß von außen, ja mich hatte eine ganz andere Fakultät mit fortgerissen. Überhaupt, wenn ich Interesse finden sollte, so mußte ich einer Sache irgend etwas abgewinnen, ich mußte etwas an ihr gewahr werden, das mir fruchtbar schien und Aussichten gab. So hatte ich mir einige Materien wohl gemerkt, auch sogar darauf gesammelt, und nahm auch meine Kollektaneen vor, überlegte das, was ich behaupten, das Schema, wonach ich die einzelnen Elemente ordnen wollte, nochmals, und arbeitete so eine Zeitlang; allein ich war klug genug, bald zu sehen, daß ich nicht fortkommen könne und daß, um eine besondere Materie abzuhandeln, auch ein besonderer und lang anhaltender Fleiß erforderlich sei, ja daß man nicht einmal ein solches Besondere mit Glück vollführen werde, wenn man nicht im Ganzen, wo nicht Meister, doch wenigstens Altgeselle sei.

Die Freunde, denen ich meine Verlegenheit mitteilte, fanden mich lächerlich, weil man über Theses ebenso gut, ja noch besser als über einen Traktat disputieren könne; in Straßburg sei das gar nicht ungewöhnlich. Ich ließ mich zu einem solchen Ausweg sehr geneigt finden, allein mein Vater, dem ich deshalb schrieb, verlangte ein ordentliches Werk, das ich, wie er meinte, sehr wohl ausfertigen könnte, wenn ich nur wollte, und mir die gehörige Zeit dazu nähme. Ich war nun genötigt, mich auf irgend ein Allgemeines zu werfen, und etwas zu wählen, was mir geläufig wäre. Die Kirchengeschichte war mir fast noch bekannter als die Weltgeschichte, und mich hatte von jeher der Konflikt, in welchem sich die Kirche, der öffentlich anerkannte Gottesdienst, nach zwei Seiten hin befindet und immer befinden wird, höchlich interessiert. Denn einmal liegt sie in ewigem Streit mit dem Staat, über den sie sich erheben, und sodann mit den einzelnen, die sie alle zu sich versammeln will. Der Staat von seiner Seite will ihr die Oberherrschaft nicht zugestehn, und die einzelnen widersetzen sich ihrem Zwangsrechte. Der Staat will alles zu öffentlichen, allgemeinen Zwecken, der einzelne zu häuslichen, herzlichen, gemütlichen. Ich war von Kindheit auf Zeuge solcher Bewegungen gewesen, wo die Geistlichkeit es bald mit ihren Oberen, bald mit der Gemeine verdarb. Ich hatte mir daher in meinem jugendlichen Sinne festgesetzt, daß der Staat, der Gesetzgeber, das Recht habe, einen Kultus zu bestimmen, nach welchem die Geistlichkeit lehren und sich benehmen solle, die Laien hingegen sich äußerlich und öffentlich genau zu richten hätten; übrigens sollte die Frage nicht sein, was jeder bei sich denke, fühle oder sinne. Dadurch glaubte ich alle Kollisionen auf einmal gehoben zu haben. Ich wählte deshalb zu meiner Disputation die erste Hälfte dieses Themas: daß nämlich der Gesetzgeber nicht allein berechtigt, sondern verpflichtet sei, einen gewissen Kultus festzusetzen, von welchem weder die Geistlichkeit noch die Laien sich lossagen dürften. Ich führte dieses Thema teils historisch, teils räsonierend aus, indem ich zeigte, daß alle öffentlichen Religionen durch Heerführer, Könige und mächtige Männer eingeführt worden, ja daß dieses sogar der Fall mit der christlichen sei. Das Beispiel des Protestantismus lag ja ganz nahe. Ich ging bei dieser Arbeit um so kühner zu Werke, als ich sie eigentlich nur meinen Vater zu befriedigen schrieb, und nichts sehnlicher wünschte und hoffte, als daß sie die Zensur nicht passieren möchte. Ich hatte noch von Behrisch her eine unüberwindliche Abneigung, etwas von mir gedruckt zu sehn, und mein Umgang mit Herdern hatte mir meine Unzulänglichkeit nur allzu deut lich aufgedeckt, ja ein gewisses Mißtrauen gegen mich selbst war dadurch völlig zur Reife gekommen.

Da ich diese Arbeit fast ganz aus mir selbst schöpfte, und das Latein geläufig sprach und schrieb, so verfloß mir die Zeit, die ich auf die Abhandlung verwendete, sehr angenehm. Die Sache hatte wenigstens einigen Grund; die Darstellung war, rednerisch genommen, nicht übel, das Ganze hatte eine ziemliche Rundung. Sobald ich damit zu Rande war, ging ich sie mit einem guten Lateiner durch, der, ob er gleich meinen Stil im ganzen nicht verbessern konnte, doch alle auffallenden Mängel mit leichter Hand vertilgte, so daß etwas zustande kam, das sich aufzeigen ließ. Eine reinliche Abschrift wurde meinem Vater sogleich zugeschickt, welcher zwar nicht billigte, daß keiner von den früher vorgenommenen Gegenständen ausgeführt worden sei, jedoch mit der Kühnheit des Unternehmens als ein völlig protestantisch Gesinnter wohl zufrieden war. Mein Seltsames wurde geduldet, meine Anstrengung gelobt, und er versprach sich von der Bekanntmachung dieses Werkchens eine vorzügliche Wirkung.

Ich überreichte nun meine Hefte der Fakultät, und diese betrug sich glücklicherweise so klug als artig. Der Dekan, ein lebhafter gescheiter Mann, fing mit vielen Lobeserhebungen meiner Arbeit an, ging dann zum Bedenklichen derselben über, welches er nach und nach in ein Gefährliches zu verwandeln wußte und damit schloß, daß es nicht rätlich sein möchte, diese Arbeit als akademische Dissertation bekannt zu machen. Der Aspirant habe sich der Fakultät als einen denkenden jungen Mann gezeigt, von dem sie das Beste hoffen dürfe; sie wolle mich gern, um die Sache nicht aufzuhalten, über Theses disputieren lassen. Ich könne ja in der Folge meine Abhandlung, wie sie vorliege oder weiter ausgearbeitet, lateinisch oder in einer andern Sprache herausgeben; dies würde mir, als einem Privatmann und Protestanten, überall leicht werden, und ich hätte mich des Beifalls um desto reiner und allgemeiner alsdann zu erfreuen. Kaum verbarg ich dem guten Manne, welchen Stein mir sein Zureden vom Herzen wälzte; bei jedem neuen Argument, das er vorbrachte, um mich durch seine Weigerung nicht zu betrüben oder zu erzürnen, ward es mir immer leichter im Gemüt, und ihm zuletzt auch, als ich ganz unerwartet seinen Gründen nichts entgegensetzte, sie vielmehr höchst einleuchtend fand und versprach, mich in allem nach seinem Rat und nach seiner Anleitung zu benehmen. Ich setzte mich nun wieder mit meinem Repetenten zusammen. Theses wurden ausgewählt und gedruckt, und die Disputation ging, unter Opposition meiner Tischgenossen, mit großer Lustigkeit, ja Leichtfertigkeit vorüber; da mir denn meine alte Übung, im »Corpus juris« aufzuschlagen, gar sehr zustatten kam, und ich für einen wohlunterrichteten Menschen gelten konnte. Ein guter herkömmlicher Schmaus beschloß die Feierlichkeit.

Mein Vater war indessen sehr unzufrieden, daß dieses Werkchen nicht als Disputation ordentlich gedruckt worden war, weil er gehofft hatte, ich sollte bei meinem Einzuge in Frankfurt Ehre damit einlegen. Er wollte es daher besonders herausgegeben wissen; ich stellte ihm aber vor, daß die Materie, die nur skizziert sei, künftig weiter ausgeführt werden müßte. Er hob zu diesem Zwecke das Manuskript sorgfältig auf, und ich habe es nach mehreren Jahren noch unter seinen Papieren gesehn.

Meine Promotion war am 6. August 1771 geschehn, den Tag darauf starb Schöpflin im fünfundsiebenzigsten Jahre. Auch ohne nähere Berührung hatte derselbe bedeutend auf mich eingewirkt: denn vorzügliche mitlebende Männer sind den größeren Sternen zu vergleichen, nach denen, solange sie nur über dem Horizont stehen, unser Auge sich wendet, und sich gestärkt und gebildet fühlt, wenn es ihm vergönnt ist, solche Vollkommenheiten in sich aufzunehmen. Die freigebige Natur hatte Schöpflinen ein vorteilhaftes Äußere verliehn, schlanke Gestalt, freundliche Augen, redseligen Mund, eine durchaus angenehme Gegenwart. Auch Geistesgaben erteilte sie ihrem Liebling nicht kärglich, und sein Glück war, ohne daß er sich mühsam angestrengt hätte, die Folge angeborner und ruhig ausgebildeter Verdienste. Er gehörte zu den glücklichen Menschen, welche Vergangenheit und Gegenwart zu vereinigen geneigt sind, die dem Lebensinteresse das historische Wissen anzuknüpfen verstehn. Im Badenschen geboren, in Basel und Straßburg erzogen, gehörte er dem paradiesischen Rheintal ganz eigentlich an, als einem ausgebreiteten wohlgelegenen Vaterlande. Auf historische und antiquarische Gegenstände hingewiesen, ergriff er sie munter durch eine glückliche Vorstellungskraft, und erhielt sie sich durch das bequemste Gedächtnis. Lern- und lehrbegierig wie er war, ging er einen gleich vorschreitenden Studien- und Lebensgang. Nun emergiert und eminiert er bald ohne Unterbrechung irgend einer Art; er verbreitet sich mit Leichtigkeit in der literarischen und bürgerlichen Welt: denn historische Kenntnisse reichen überall hin, und Leutseligkeit schließt sich überall an. Er reist durch Deutschland, Holland, Frankreich, Italien; kommt in Berührung mit allen Gelehrten seiner Zeit; er unterhält die Fürsten, und nur, wenn durch seine lebhafte Redseligkeit die Stunden der Tafel, der Audienz verlängert werden, ist er den Hofleuten lästig. Dagegen erwirbt er sich das Vertrauen der Staatsmänner, arbeitet für sie die gründlichsten Deduktionen und findet so überall einen Schauplatz für seine Talente. Man wünscht ihn an gar manchem Orte festzuhalten; allein er beharrt bei seiner Treue für Straßburg und den französischen Hof. Seine unverrückte deutsche Redlichkeit wird auch dort anerkannt, man schützt ihn sogar gegen den mächtigen Prätor Klinglin, der ihn heimlich anfeindet. Gesellig und gesprächig von Natur, verbreitet er sich, wie im Wissen und Geschäften, so auch im Umgange, und man begriffe kaum, wo er alle Zeit hergenommen, wüßten wir nicht, daß eine Abneigung gegen die Frauen ihn durch sein ganzes Leben begleitet, wodurch er so manche Tage und Stunden gewann, welche von frauenhaft Gesinnten glücklich vergeudet werden.

Übrigens gehört er auch als Autor dem gemeinen Wesen und als Redner der Menge. Seine Programme, seine Reden und Anreden sind dem besondern Tag, der eintretenden Feierlichkeit gewidmet, ja sein großes Werk »Alsatia illustrata« gehört dem Leben an, indem er die Vergangenheit wieder hervorruft, verblichene Gestalten auffrischt, den behauenen, den gebildeten Stein wieder belebt, erloschene, zerstückte Inschriften zum zweitenmal vor die Augen, vor den Sinn des Lesers bringt. Auf solche Weise erfüllt seine Tätigkeit das Elsaß und die Nachbarschaft; in Baden und der Pfalz behält er bis ins höchste Alter einen ununterbrochenen Einfluß; in Mannheim stiftet er die Akademie der Wissenschaften und erhält sich als Präsident derselben bis an seinen Tod.

Genähert habe ich mich diesem vorzüglichen Manne niemals als in einer Nacht, da wir ihm ein Fackelständchen brachten. Den mit Linden überwölbten Hof des alten Stiftgebäudes erfüllten unsere Pechfeuer mehr mit Rauch, als daß sie ihn erleuchtet hätten. Nach geendigtem Musikgeräusch kam er herab und trat unter uns; und hier war er recht an seinem Platze. Der schlank und wohl gewachsene heitere Greis stand mit leichtem freien Wesen würdig vor uns und hielt uns wert genug, eine wohlgedachte Rede, ohne Spur von Zwang und Pedantismus, väterlich liebevoll auszusprechen, so daß wir uns in dem Augenblick etwas dünkten, da er uns wie die Könige und Fürsten behandelte, die er öffentlich anzureden so oft berufen war. Wir ließen unsere Zufriedenheit überlaut vernehmen, Trompeten- und Paukenschall erklang wiederholt, und die allerliebste, hoffnungsvolle akademische Plebs verlor sich mit innigem Behagen nach Hause.

Seine Schüler und Studienverwandten, Koch und Oberlin, fanden zu mir schon ein näheres Verhältnis. Meine Liebhaberei zu altertümlichen Resten war leidenschaftlich. Sie ließen mich das Museum wiederholt betrachten, welches die Belege zu seinem großen Werke über Elsaß vielfach enthielt. Eben dieses Werk hatte ich erst nach jener Reise, wo ich noch Altertümer an Ort und Stelle gefunden, näher kennen gelernt, und nunmehr vollkommen gefördert, konnte ich mir, bei größern und kleinern Exkursionen, das Rheintal als römische Besitzung vergegenwärtigen und gar manchen Traum der Vorzeit mir wachend ausmalen.

Kaum hatte ich mir hierin einigermaßen aufgeholfen, als mich Oberlin zu den Denkmalen der Mittelzeit hinwies und mit den daher noch übrigen Ruinen und Resten, Siegeln und Dokumenten bekannt machte, ja eine Neigung zu den sogenannten Minnesingern und Heldendichtern einzuflößen suchte. Diesem wackeren Manne, sowie Herrn Koch, bin ich viel schuldig geworden, und wenn es ihrem Willen und Wunsche nach gegangen wäre, so hätte ich ihnen das Glück meines Lebens verdanken müssen. Damit verhielt es sich aber folgendergestalt.

Schöpflin, der sich in der höheren Sphäre des Staatsrechts zeitlebens bewegt hatte und den großen Einfluß wohl kannte, welchen solche und verwandte Studien bei Höfen und in Kabinetten einem fähigen Kopfe zu verschaffen geeignet sind, fühlte eine unüberwindliche, ja ungerechte Abneigung gegen den Zustand des Zivilisten, und hatte die gleiche Gesinnung den Seinigen eingeflößt. Obgenannte beide Männer, Freunde von Salzmann, hatten auf eine liebreiche Weise von mir Kenntnis genommen. Das leidenschaftliche Ergreifen äußerer Gegenstände, die Darstellungsart, womit ich die Vorzüge derselben herauszuheben und ihnen ein besonderes Interesse zu verleihen wußte, schätzten sie höher als ich selbst. Meine geringe, ich kann wohl sagen notdürftige Beschäftigung mit dem Zivilrechte war ihnen nicht unbemerkt geblieben; sie kannten mich genug, um zu wissen, wie leicht ich bestimmbar sei; aus meiner Lust zum akademischen Leben hatte ich auch kein Geheimnis gemacht, und sie dachten mich daher für Geschichte, Staatsrecht, Redekunst, erst nur im Vorübergehn, dann aber entschiedener, zu erwerben. Straßburg selbst bot Vorteile genug. Eine Aussicht auf die deutsche Kanzlei in Versailles, der Vorgang von Schöpflin, dessen Verdienst mir freilich unerreichbar schien, sollte zwar nicht zur Nachahmung, doch zur Nacheiferung reizen und vielleicht dadurch ein ähnliches Talent zur Ausbildung gelangen, welches sowohl dem, der sich dessen rühmen dürfte, ersprießlich, als andern, die es für sich zu gebrauchen dächten, nützlich sein könnte. Diese meine Gönner, und Salzmann mit ihnen, legten auf mein Gedächtnis und auf meine Fähigkeit, den Sinn der Sprachen zu fassen, einen großen Wert, und suchten hauptsächlich dadurch ihre Absichten und Vorschläge zu motivieren.

Wie nun aus allem diesem nichts geworden, und wie es gekommen, daß ich wieder von der französischen Seite auf die deutsche herübergetreten, gedenk ich hier zu entwickeln. Man erlaube mir, wie bisher, zum Übergange einige allgemeine Betrachtungen.

Es sind wenig Biographien, welche einen reinen, ruhigen, steten Fortschritt des Individuums darstellen können. Unser Leben ist, wie das Ganze, in dem wir enthalten sind, auf eine unbegreifliche Weise aus Freiheit und Notwendigkeit zusammengesetzt. Unser Wollen ist ein Vorausverkünden dessen, was wir unter allen Umständen tun werden. Diese Umstände aber ergreifen uns auf ihre eigne Weise. Das Was liegt in uns, das Wie hängt selten von uns ab, nach dem Warum dürfen wir nicht fragen, und deshalb verweist man uns mit Recht aufs Quia.

Die französische Sprache war mir von Jugend auf lieb; ich hatte sie in einem bewegteren Leben, und ein bewegteres Leben durch sie kennen gelernt. Sie war mir ohne Grammatik und Unterricht, durch Umgang und Übung, wie eine zweite Muttersprache zu eigen geworden. Nun wünschte ich mich derselben mit größerer Leichtigkeit zu bedienen, und zog deswegen Straßburg zum abermaligen akademischen Aufenthalt andern hohen Schulen vor; aber leider sollte ich dort gerade das Umgekehrte von meinen Hoffnungen erfahren, und von dieser Sprache, diesen Sitten eher ab-als ihnen zugewendet werden.

Die Franzosen, welche sich überhaupt eines guten Betragens befleißigen, sind gegen Fremde, die ihre Sprache zu reden anfangen, nachsichtig, sie werden niemanden über irgend einen Fehler auslachen, oder ihn deshalb ohne Umschweif tadeln. Da sie jedoch nicht wohl ertragen mögen, daß in ihrer Sprache gesündigt wird, so haben sie die Art, eben dasselbe, was man gesagt hat, mit einer anderen Wendung zu wiederholen und gleichsam höflich zu bekräftigen, sich dabei aber des eigentlichen Ausdrucks, den man hätte gebrauchen sollen, zu bedienen, und auf diese Weise den Verständigen und Aufmerksamen auf das Rechte und Gehörige zu führen.

So sehr man nun, wenn es einem Ernst ist, wenn man Selbstverleugnung genug hat, sich für einen Schüler zu geben, hiebei gewinnt und gefördert wird, so fühlt man sich doch immer einigermaßen gedemütiget, und, da man doch auch um der Sache willen redet, oft allzusehr unterbrochen, ja abgelenkt, und man läßt ungeduldig das Gespräch fallen. Dies begegnete besonders mir vor andern, indem ich immer etwas Interessantes zu sagen glaubte, dagegen aber auch etwas Bedeutendes vernehmen, und nicht immer bloß auf den Ausdruck zurückgewiesen sein wollte; ein Fall, der bei mir öfter eintrat, weil mein Französisch viel buntscheckiger war als das irgend eines andern Fremden. Von Bedienten, Kammerdienern und Schildwachen, jungen und alten Schauspielern, theatralischen Liebhabern, Bauern und Helden hatte ich mir die Redensarten, sowie die Akzentuationen gemerkt, und dieses babylonische Idiom sollte sich durch ein wunderliches Ingrediens noch mehr verwirren, indem ich den französischen reformierten Geistlichen gern zuhörte und ihre Kirchen um so lieber besuchte, als ein sonntägiger Spaziergang nach Bockenheim dadurch nicht allein erlaubt, sondern geboten war. Aber auch hiermit sollte es noch nicht genug sein: denn als ich in den Jünglingsjahren immer mehr auf die Deutschheit des sechzehnten Jahrhunderts gewiesen ward, so schloß ich gar bald auch die Franzosen jener herrlichen Epoche in diese Neigung mit ein. Montaigne, Amyot, Rabelais, Marot waren meine Freunde, und erregten in mir Anteil und Bewunderung. Alle diese verschiedenen Elemente bewegten sich nun in meiner Rede chaotisch durch einander, so daß für den Zuhörer die Intention über dem wunderlichen Ausdruck meist verloren ging, ja daß ein gebildeter Franzose mich nicht mehr höflich zurechtweisen, sondern geradezu tadeln und schulmeistern mußte. Abermals ging es mir also hier wie vordem in Leipzig, nur daß ich mich diesmal nicht auf das Recht meiner Vatergegend, so gut als andere Provinzen idiotisch zu sprechen, zurückziehn konnte, sondern hier, auf fremdem Grund und Boden, mich einmal hergebrachten Gesetzen fügen sollte.

Vielleicht hätten wir uns auch wohl hierein ergeben, wenn uns nicht ein böser Genius in die Ohren geraunt hätte, alle Bemühungen eines Fremden, Französisch zu reden, würden immer ohne Erfolg bleiben: denn ein geübtes Ohr höre den Deutschen, den Italiener, den Engländer unter seiner französischen Maske gar wohl heraus; geduldet werde man, aber keineswegs in den Schoß der einzig sprachseligen Kirche aufgenommen.

Nur wenige Ausnahmen gab man zu. Man nannte uns einen Herrn von Grimm, aber selbst Schöpflin sollte den Gipfel nicht erreicht haben. Sie ließen gelten, daß er früh die Notwendigkeit, sich vollkommen französisch auszudrücken, wohl eingesehn; sie billigten seine Neigung, sich jedermann mitzuteilen, besonders aber die Großen und Vornehmen zu unterhalten; lobten sogar, daß er, auf dem Schauplatz, wo er stand, die Landessprache zu der seinigen zu machen und sich möglichst zum französischen Gesellschafter und Redner auszubilden gesucht. Was hilft ihm aber das Verleugnen seiner Muttersprache, das Bemühen um eine fremde? Niemand kann er es recht machen. In der Gesellschaft will man ihn eitel finden: als wenn sich jemand ohne Selbstgefühl und Selbstgefälligkeit andern mitteilen möchte und könntet! Sodann versichern die feinen Welt- und Sprachkenner, er disseriere und dialogiere mehr, als daß er eigentlich konversiere. Jenes ward als Erb- und Grundfehler der Deutschen, dieses als die Kardinaltugend der Franzosen allgemein anerkannt. Als öffentlichem Redner geht es ihm nicht besser. Läßt er eine wohl ausgearbeitete Rede an den König oder die Fürsten drucken, so passen die Jesuiten auf, die ihm, als einem Protestanten, gram sind, und zeigen das Unfranzösische seiner Wendungen.

Anstatt uns nun hieran zu trösten und, als grünes Holz, dasjenige zu ertragen, was dem dürren auflag, so ärgerte uns dagegen diese pedantische Ungerechtigkeit; wir verzweifeln und überzeugen uns vielmehr an diesem auffallenden Beispiele, daß die Bemühung vergebens sei, den Franzosen durch die Sache genug zu tun, da sie an die äußern Bedingungen, unter welchen alles erscheinen soll, allzu genau gebunden sind. Wir fassen daher den umgekehrten Entschluß, die französische Sprache gänzlich abzulehnen und uns mehr als bisher mit Gewalt und Ernst der Muttersprache zu widmen.

Auch hiezu fanden wir im Leben Gelegenheit und Teilnahme. Elsaß war noch nicht lange genug mit Frankreich verbunden, als daß nicht noch bei alt und jung eine liebevolle Anhänglichkeit an alte Verfassung, Sitte, Sprache, Tracht sollte übrig geblieben sein. Wenn der Überwundene die Hälfte seines Daseins notgedrungen verliert, so rechnet er sich’s zur Schmach, die andere Hälfte freiwillig aufzugeben. Er hält daher an allem fest, was ihm die vergangene gute Zeit zurückrufen und die Hoffnung der Wiederkehr einer glücklichen Epoche nähren kann. Gar manche Einwohner von Straßburg bildeten zwar abgesonderte, aber doch dem Sinne nach verbundene kleine Kreise, welche durch die vielen Untertanen deutscher Fürsten, die unter französischer Hoheit ansehnliche Strecken Landes besaßen, stets vermehrt und rekrutiert wurden: denn Väter und Söhne hielten sich Studierens oder Geschäfts wegen länger oder kürzer in Straßburg auf.

An unserm Tische ward gleichfalls nichts wie Deutsch gesprochen. Salzmann drückte sich im Französischen mit vieler Leichtigkeit und Eleganz aus, war aber unstreitig dem Streben und der Tat nach ein vollkommener Deutscher; Lersen hätte man als Muster eines deutschen Jünglings aufstellen können; Meyer von Lindau schlenderte lieber auf gut deutsch, als daß er sich auf gut französisch hätte zusammennehmen sollen, und wenn unter den übrigen auch mancher zu gallischer Sprache und Sitte hinneigte, so ließen sie doch, solange sie bei uns waren, den allgemeinen Ton auch über sich schalten und walten.

Von der Sprache wendeten wir uns zu den Staatsverhältnissen. Zwar wußten wir von unserer Reichsverfassung nicht viel Löbliches zu sagen; wir gaben zu, daß sie aus lauter gesetzlichen Mißbräuchen bestehe, erhuben uns aber um desto höher über die französische gegenwärtige Verfassung, die sich in lauter gesetzlosen Mißbräuchen verwirre, deren Regierung ihre Energie nur am falschen Orte sehen lasse, und gestatten müsse, daß eine gänzliche Veränderung der Dinge schon in schwarzen Aussichten öffentlich prophezeit werde.

Blickten wir hingegen nach Norden, so leuchtete uns von dort Friedrich, der Polarstern, her, um den sich Deutschland, Europa, ja die Welt zu drehen schien. Sein Übergewicht in allem offenbarte sich am stärksten, als in der französischen Armee das preußische Exerzitium und sogar der preußische Stock eingeführt werden sollte. Wir verziehen ihm übrigens seine Vorliebe für eine fremde Sprache, da wir ja die Genugtuung empfanden, daß ihm seine französischen Poeten, Philosophen und Literatoren Verdruß zu machen fortfuhren und wiederholt erklärten, er sei nur als Eindringling anzusehn und zu behandeln.

Was uns aber von den Franzosen gewaltiger als alles andere entfernte, war die wiederholte unhöfliche Behauptung daß es den Deutschen überhaupt, sowie dem nach französischer Kultur strebenden Könige, an Geschmack fehle. Über diese Redensart, die, wie ein Refrain, sich an jedes Urteil anschloß, suchten wir uns durch Nichtachtung zu beruhigen; aufklären darüber konnten wir uns aber um so weniger, als man uns versichern wollte, schon Ménage habe gesagt, die französischen Schriftsteller besäßen alles, nur nicht Geschmack; so wie wir denn auch aus dem jetzt lebenden Paris zu erfahren hatten, daß die neusten Autoren sämtlich des Geschmacks ermangelten, und Voltaire selbst diesem höchsten Tadel nicht ganz entgehen könne. Schon früher und wiederholt auf die Natur gewiesen, wollten wir daher nichts gelten lassen als Wahrheit und Aufrichtigkeit des Gefühls, und den raschen derben Ausdruck desselben.

Freundschaft, Liebe, Brüderschaft,

Trägt die sich nicht von selber vor?

war Losung und Feldgeschrei, woran sich die Glieder unserer kleinen akademischen Horde zu erkennen und zu erquicken pflegten. Diese Maxime lag zum Grunde allen unsern geselligen Gelagen, bei welchen uns denn freilich manchen Abend Vetter Michel in seiner wohlbekannten Deutschheit zu besuchen nicht verfehlte.

Will man in dem bisher Erzählten nur äußere zufällige Anlässe und persönliche Eigenheiten finden, so hatte die französische Literatur an sich selbst gewisse Eigenschaften, welche den strebenden Jüngling mehr abstoßen als anziehn mußten. Sie war nämlich bejahrt und vornehm, und durch beides kann die nach Lebensgenuß und Freiheit umschauende Jugend nicht ergetzt werden.

Seit dem sechzehnten Jahrhundert hatte man den Gang der französischen Literatur niemals völlig unterbrochen gesehn, ja die innern politischen und religiösen Unruhen sowohl als die äußeren Kriege beschleunigten ihre Fortschritte; schon vor hundert Jahren aber, so hörte man allgemein behaupten, solle sie in ihrer vollen Blüte gestanden haben. Durch günstige Umstände sei auf einmal eine reichliche Ernte gereift und glücklich eingebracht worden, dergestalt, daß die größten Talente des achtzehnten Jahrhunderts sich nur bescheidentlich mit einer Nachlese begnügen müssen.

Indessen war aber doch auch gar manches veraltet, das Lustspiel am ersten, welches immer wieder aufgefrischt werden mußte, um sich, zwar minder vollkommen, aber doch mit neuem Interesse, dem Leben und den Sitten anzuschmiegen. Der Tragödien waren viele vom Theater verschwunden, und Voltaire ließ die jetzt dargebotene bedeutende Gelegenheit nicht aus den Händen, Corneilles Werke herauszugeben, um zu zeigen, wie mangelhaft sein Vorgänger gewesen sei, den er, der allgemeinen Stimme nach, nicht erreicht haben sollte.

Und eben dieser Voltaire, das Wunder seiner Zeit, war nun selbst bejahrt wie die Literatur, die er beinah ein Jahrhundert hindurch belebt und beherrscht hatte. Neben ihm existierten und vegetierten noch, in mehr oder weniger tätigem und glücklichem Alter, viele Literatoren, die nach und nach verschwanden. Der Einfluß der Sozietät auf die Schriftsteller nahm immer mehr überhand: denn die beste Gesellschaft, bestehend aus Personen von Geburt, Rang und Vermögen, wählte zu einer ihrer Hauptunterhaltungen die Literatur, und diese ward dadurch ganz gesellschaftlich und vornehm. Standespersonen und Literatoren bildeten sich wechselsweise, und mußten sich wechselsweise verbilden: denn alles Vornehme ist eigentlich ablehnend, und ablehnend ward auch die französische Kritik, verneinend, herunterziehend, mißredend. Die höhere Klasse bediente sich solcher Urteile gegen die Schriftsteller, die Schriftsteller, mit etwas weniger Anstand, verfuhren so unter einander, ja gegen ihre Gönner. Konnte man dem Publikum nicht imponieren, so suchte man es zu überraschen, oder durch Demut zu gewinnen; und so entsprang, abgesehen davon, was Kirche und Staat im Innersten bewegte, eine solche literarische Gärung, daß Voltaire selbst seiner vollen Tätigkeit, seines ganzen Übergewichts bedurfte, um sich über dem Strome der allgemeinen Nichtachtung empor zu halten. Schon hieß er laut ein altes eigenwilliges Kind; seine unermüdet fortgesetzten Bemühungen betrachtete man als eitles Bestreben eines abgelebten Alters; gewisse Grundsätze, auf denen er seine ganze Lebenszeit bestanden, deren Ausbreitung er seine Tage gewidmet, wollte man nicht mehr schätzen und ehren; ja seinen Gott, durch dessen Bekenntnis er sich von allem atheistischen Wesen loszusagen fortfuhr, ließ man ihm nicht mehr gelten; und so mußte er selbst, der Altvater und Patriarch, gerade wie sein jüngster Mitbewerber, auf den Augenblick merken, nach neuer Gunst haschen, seinen Freunden zu viel Gutes, seinen Feinden zu viel Übles erzeigen, und, unter dem Schein eines leidenschaftlich wahrheitsliebenden Strebens, unwahr und falsch handeln. War es denn wohl der Mühe wert, ein so tätiges großes Leben geführt zu haben, wenn es abhängiger enden sollte, als es angefangen hatte? Wie unerträglich ein solcher Zustand sei, entging seinem hohen Geiste, seiner zarten Reizbarkeit nicht; er machte sich manchmal sprung- und stoßweise Luft, ließ seiner Laune den Zügel schießen und hieb mit ein paar Fechterstreichen über die Schnur, wobei sich meist Freunde und Feinde unwillig gebärdeten: denn jedermann glaubte ihn zu übersehn, obschon niemand es ihm gleich tun konnte. Ein Publikum, das immer nur die Urteile alter Männer hört, wird gar zu leicht altklug, und nichts ist unzulänglicher als ein reifes Urteil, von einem unreifen Geiste aufgenommen.

Uns Jünglingen, denen, bei einer deutschen Natur-und Wahrheitsliebe, als beste Führerin im Leben und Lernen, die Redlichkeit gegen uns selbst und andere immer vor Augen schwebte, ward die parteiische Unredlichkeit Voltaires und die Verbildung so vieler würdigen Gegenstände immer mehr zum Verdruß, und wir bestärkten uns täglich in der Abneigung gegen ihn. Er hatte die Religion und die heiligen Bücher, worauf sie gegründet ist, um den sogenannten Pfaffen zu schaden, niemals genug herabsetzen können und mir dadurch manche unangenehme Empfindung erregt. Da ich nun aber gar vernahm, daß er, um die Überlieferung einer Sündflut zu entkräften, alle versteinte Muscheln leugnete, und solche nur für Naturspiele gelten ließ, so verlor er gänzlich mein Vertrauen: denn der Augenschein hatte mir auf dem Bastberge deutlich genug gezeigt, daß ich mich auf altem abgetrockneten Meeresgrund, unter den Exuvien seiner Ureinwohner befinde. Ja! diese Berge waren einstmals von Wellen bedeckt; ob vor oder während der Sündflut, das konnte mich nicht rühren, genug, das Rheintal war ein ungeheuerer See, eine unübersehliche Bucht gewesen; das konnte man mir nicht ausreden. Ich gedachte vielmehr in Kenntnis der Länder und Gebirge vorzuschreiten, es möchte sich daraus ergeben, was da wollte.

Bejahrt also und vornehm war an sich selbst und durch Voltairen die französische Literatur. Lasset uns diesem merkwürdigen Manne noch einige Betrachtung widmen!

Auf tätiges und geselliges Leben, auf Politik, auf Erwerb im großen, auf das Verhältnis zu den Herren der Erde und Benutzung dieses Verhältnisses, damit er selbst zu den Herren der Erde gehöre, dahin war von Jugend auf Voltaires Wunsch und Bemühung gewendet. Nicht leicht hat sich jemand so abhängig gemacht, um unabhängig zu sein. Auch gelang es ihm, die Geister zu unterjochen; die Nation fiel ihm zu. Vergebens entwickelten seine Gegner mäßige Talente und einen ungeheueren Haß; nichts gereichte zu seinem Schaden. Den Hof zwar konnte er nie mit sich versöhnen, aber dafür waren ihm fremde Könige zinsbar. Katharina und Friedrich die Großen, Gustav von Schweden, Christian von Dänemark, Poniatowski von Polen, Heinrich von Preußen, Karl von Braunschweig bekannten sich als seine Vasallen; sogar Päpste glaubten ihn durch einige Nachgiebigkeit kirren zu müssen. Daß Joseph der Zweite sich von ihm abhielt, gereichte diesem Fürsten nicht einmal zum Ruhme: denn es hätte ihm und Seinen Unternehmungen nicht geschadet, wenn er, bei so schönem Verstande, bei so herrlichen Gesinnungen, etwas geistreicher, ein besserer Schätzer des Geistes gewesen wäre.

Das, was ich hier gedrängt und in einigem Zusammenhange vortrage, tönte zu jener Zeit, als Ruf des Augenblicks, als ewig zwiespältiger Mißklang, unzusammenhängend und unbelehrend in unseren Ohren. Immer hörte man nur das Lob der Vorfahren. Man forderte etwas Gutes, Neues; aber immer das Neuste wollte man nicht. Kaum hatte auf dem längst erstarrten Theater ein Patriot nationalfranzösische, herzerhebende Gegenstände dargestellt, kaum hatte »Die Belagerung von Calais« sich einen enthusiastischen Beifall gewonnen, so sollte schon dieses Stück, mitsamt seinen vaterländischen Gesellen, hohl und in jedem Sinne verwerflich sein. Die Sittenschilderungen des Destouches, an denen ich mich als Knabe so oft ergetzt, hieß man schwach, der Name dieses Ehrenmannes war verschollen, und wie viel andere Schriftsteller müßte ich nicht nennen, um derentwillen ich den Vorwurf, als urteile ich wie ein Provinzler, habe erdulden müssen, wenn ich gegen jemand, der mit dem neusten literarischen Strome dahinfuhr, irgend einen Anteil an solchen Männern und ihren Werken gezeigt hatte.

So wurden wir andern deutschen Gesellen denn immer verdrießlicher. Nach unsern Gesinnungen, nach unserer Natureigenheit liebten wir die Eindrücke der Gegenstände festzuhalten, sie nur langsam zu verarbeiten, und, wenn es ja sein sollte, sie so spät als möglich fahren zu lassen. Wir waren überzeugt, durch treues Aufmerken, durch fortgesetzte Beschäftigung lasse sich allen Dingen etwas abgewinnen, und man müsse durch beharrlichen Eifer doch endlich auf einen Punkt gelangen, wo sich mit dem Urteil zugleich der Grund desselben aussprechen lasse. Auch verkannten wir nicht, daß die große und herrliche französische Welt uns manchen Vorteil und Gewinn darbiete: denn Rousseau hatte uns wahrhaft zugesagt. Betrachten wir aber sein Leben und sein Schicksal, so war er doch genötigt, den größten Lohn für alles, was er geleistet, darin zu finden, daß er unerkannt und vergessen in Paris leben durfte.

Wenn wir von den Enzyklopädisten reden hörten, oder einen Band ihres ungeheuren Werks aufschlugen, so war es uns zu Mute, als wenn man zwischen den unzähligen bewegten Spulen und Weberstühlen einer großen Fabrik hingeht, und vor lauter Schnarren und Rasseln; vor allem Aug und Sinne verwirrenden Mechanismus, vor lauter Unbegreiflichkeit einer auf das mannigfaltigste in einander greifenden Anstalt, in Betrachtung dessen, was alles dazu gehört, um ein Stück Tuch zu fertigen, sich den eignen Rock selbst verleidet fühlt, den man auf dem Leibe trägt.

Diderot war nahe genug mit uns verwandt; wie er denn in alle dem, weshalb ihn die Franzosen tadeln, ein wahrer Deutscher ist. Aber auch sein Standpunkt war schon zu hoch, sein Gesichtskreis zu weit, als daß wir uns hätten zu ihm stellen und an seine Seite setzen können. Seine Naturkinder jedoch, die er mit großer rednerischer Kunst herauszuheben und zu adeln wußte, behagten uns gar sehr, seine wackeren Wilddiebe und Schleichhändler entzückten uns, und dieses Gesindel hat in der Folge auf dem deutschen Parnaß nur allzu sehr gewuchert. So war er es denn auch, der, wie Rousseau, von dem geselligen Leben einen Ekelbegriff verbreitete, eine stille Einleitung zu jenen ungeheueren Weltveränderungen, in welchen alles Bestehende unterzugehen schien.

Uns ziemt jedoch, diese Betrachtungen noch an die Seite zu lehnen und zu bemerken, was genannte beide Männer auf Kunst gewirkt. Auch hier wiesen sie, auch von ihr drängten sie uns zur Natur.

Die höchste Aufgabe einer jeden Kunst ist, durch den Schein die Täuschung einer höheren Wirklichkeit zu geben. Ein falsches Bestreben aber ist, den Schein so lange zu verwirklichen, bis endlich nur ein gemeines Wirkliche übrig bleibt.

Als ein ideelles Lokal hatte die Bühne, durch Anwendung der perspektivischen Gesetze auf hinter einander gestellten Kulissen, den höchsten Vorteil erlangt, und nun wollte man diesen Gewinn mutwillig aufgeben, die Seiten des Theaters zuschließen und wirkliche Stubenwände formieren. Mit einem solchen Bühnenlokal sollte denn auch das Stück selbst, die Art zu spielen der Akteurs, kurz, alles zusammentreffen, und ein ganz neues Theater dadurch entspringen.

Die französischen Schauspieler hatten im Lustspiel den Gipfel des Kunstwahren erreicht. Der Aufenthalt in Paris, die Beobachtung des Äußern der Hofleute, die Verbindung der Akteurs und Aktricen durch Liebeshändel mit den höheren Ständen, alles trug dazu bei, die höchste Gewandtheit und Schicklichkeit des geselligen Lebens gleichfalls auf die Bühne zu verpflanzen, und hieran hatten die Naturfreunde wenig auszusetzen; doch glaubten sie einen großen Vorschritt zu tun, wenn sie ernsthafte und tragische Gegenstände, deren das bürgerliche Leben auch nicht ermangelt, zu ihren Stücken erwählten, sich der Prosa gleichfalls zu höherem Ausdruck bedienten, und so die unnatürlichen Verse zugleich mit der unnatürlichen Deklamation und Gestikulation allmählich verbannten.

Höchst merkwürdig ist es und nicht so allgemein beachtet, daß zu dieser Zeit selbst der alten strengen, rhythmischen, kunstreichen Tragödie mit einer Revolution gedroht ward, die nur durch große Talente und die Macht des Herkommens abgelenkt werden konnte.

Es stellte sich nämlich dem Schauspieler Lecain, der seine Helden mit besondrem theatralischen Anstand, mit Erhebung und Kraft spielte, und sich vom Natürlichen und Gewöhnlichen entfernt hielt, ein Mann gegenüber, mit Namen Aufresne, der aller Unnatur den Krieg erklärte und in seinem tragischen Spiel die höchste Wahrheit auszudrücken suchte. Dieses Verfahren mochte zu dem des übrigen Pariser Theaterpersonals nicht passen. Er stand allein, jene hielten sich an einander geschlossen, und er, hartnäckig genug auf seinem Sinne bestehend, verließ lieber Paris und kam durch Straßburg. Dort sahen wir ihn die Rolle des August im »Cinna«, des Mithridat und andere dergleichen mit der wahrsten natürlichsten Würde spielen. Als ein schöner großer Mann trat er auf, mehr schlank als stark, nicht eigentlich von imposantem, aber von edlem gefälligem Wesen. Sein Spiel war überlegt und ruhig, ohne kalt zu sein, und kräftig genug, wo es erfordert wurde. Er war ein sehr geübter Künstler, und von den wenigen, die das Künstliche ganz in die Natur und die Natur ganz in die Kunst zu verwandeln wissen. Diese sind es eigentlich, deren mißverstandene Vorzüge die Lehre von der falschen Natürlichkeit jederzeit veranlassen.

Und so will ich denn auch noch eines kleinen, aber merkwürdig Epoche machenden Werks gedenken: es ist Rousseaus »Pygmalion«. Viel könnte man darüber sagen: denn diese wunderliche Produktion schwankt gleichfalls zwischen Natur und Kunst, mit dem falschen Bestreben, diese in jene aufzulösen. Wir sehen einen Künstler, der das Vollkommenste geleistet hat, und doch nicht Befriedigung darin findet, seine Idee außer sich, kunstgemäß dargestellt und ihr ein höheres Leben verliehen zu haben; nein! sie soll auch in das irdische Leben zu ihm herabgezogen werden. Er will das Höchste, was Geist und Tat hervorgebracht, durch den gemeinsten Akt der Sinnlichkeit zerstören.

Alles dieses und manches andere, recht und töricht, wahr und halbwahr, das auf uns einwirkte, trug noch mehr bei, die Begriffe zu verwirren; wir trieben uns auf mancherlei Abwegen und Umwegen herum, und so ward von vielen Seiten auch jene deutsche literarische Revolution vorbereitet, von der wir Zeugen waren, und wozu wir, bewußt und unbewußt, willig oder unwillig, unaufhaltsam mitwirkten.

Auf philosophische Weise erleuchtet und gefördert zu werden, hatten wir keinen Trieb noch Hang, über religiose Gegenstände glaubten wir uns selbst aufgeklärt zu haben, und so war der heftige Streit französischer Philosophen mit dem Pfafftum uns ziemlich gleichgültig. Verbotene, zum Feuer verdammte Bücher, welche damals großen Lärmen machten, übten keine Wirkung auf uns. Ich gedenke statt aller des »Système de la nature«, das wir aus Neugier in die Hand nahmen. Wir begriffen nicht, wie ein solches Buch gefährlich sein könnte. Es kam uns so grau, so cimmerisch, so totenhaft vor, daß wir Mühe hatten, seine Gegenwart auszuhalten, daß wir davor wie vor einem Gespenste schauderten. Der Verfasser glaubt sein Buch ganz eigens zu empfehlen, wenn er in der Vorrede versichert, daß er, als ein abgelebter Greis, soeben in die Grube steigend, der Mit- und Nachwelt die Wahrheit verkünden wolle.

Wir lachten ihn aus: denn wir glaubten bemerkt zu haben, daß von alten Leuten eigentlich an der Welt nichts geschätzt werde, was liebenswürdig und gut an ihr ist. »Alte Kirchen haben dunkle Gläser! – Wie Kirschen und Beeren schmecken, muß man Kinder und Sperlinge fragen!« dies waren unsere Lust- und Leibworte; und so schien uns jenes Buch, als die rechte Quintessenz der Greisenheit, unschmackhaft, ja abgeschmackt. Alles sollte notwendig sein und deswegen kein Gott. Könnte es denn aber nicht auch notwendig einen Gott geben? fragten wir. Dabei gestanden wir freilich, daß wir uns den Notwendigkeiten der Tage und Nächte, der Jahreszeiten, der klimatischen Einflüsse, der physischen und animalischen Zustände nicht wohl entziehn könnten; doch fühlten wir etwas in uns, das als vollkommene Willkür erschien, und wieder etwas, das sich mit dieser Willkür ins Gleichgewicht zu setzen suchte.

Die Hoffnung, immer vernünftiger zu werden, uns von den äußeren Dingen, ja von uns selbst immer unabhängiger zu machen, konnten wir nicht aufgeben. Das Wort Freiheit klingt so schön, daß man es nicht entbehren könnte, und wenn es einen Irrtum bezeichnete.

Keiner von uns hatte das Buch hinausgelesen: denn wir fanden uns in der Erwartung getäuscht, in der wir es aufgeschlagen hatten. System der Natur ward angekündigt, und wir hofften also wirklich etwas von der Natur, unserer Abgöttin, zu erfahren. Physik und Chemie, Himmels- und Erdbeschreibung, Naturgeschichte und Anatomie und so manches andere hatte nun seit Jahren und bis auf den letzten Tag uns immer auf die geschmückte große Welt hingewiesen, und wir hätten gern von Sonnen und Sternen, von Planeten und Monden, von Bergen, Tälern, Flüssen und Meeren und von allem, was darin lebt und webt, das Nähere sowie das Allgemeinere erfahren. Daß hierbei wohl manches vorkommen müßte, was dem gemeinen Menschen als schädlich, der Geistlichkeit als gefährlich, dem Staat als unzuläßlich erscheinen möchte, daran hatten wir keinen Zweifel, und wir hofften, dieses Büchlein sollte nicht unwürdig die Feuerprobe bestanden haben. Allein wie hohl und leer ward uns in dieser tristen atheistischen Halbnacht zu Mute, in welcher die Erde mit allen ihren Gebilden, der Himmel mit allen seinen Gestirnen verschwand. Eine Materie sollte sein von Ewigkeit, und von Ewigkeit her bewegt, und sollte nun mit dieser Bewegung rechts und links und nach allen Seiten, ohne weiteres, die unendlichen Phänomene des Daseins hervorbringen. Dies alles wären wir sogar zufrieden gewesen, wenn der Verfasser wirklich aus seiner bewegten Materie die Welt vor unseren Augen aufgebaut hätte. Aber er mochte von der Natur so wenig wissen als wir: denn indem er einige allgemeine Begriffe hingepfahlt, verläßt er sie sogleich, um dasjenige, was höher als die Natur, oder als höhere Natur in der Natur erscheint, zur materiellen, schweren, zwar bewegten aber doch richtungs- und gestaltlosen Natur zu verwandeln, und glaubt dadurch recht viel gewonnen zu haben.

Wenn uns jedoch dieses Buch einigen Schaden gebracht hat, so war es der, daß wir aller Philosophie, besonders aber der Metaphysik, recht herzlich gram wurden und blieben, dagegen aber aufs lebendige Wissen, Erfahren, Tun und Dichten uns nur desto lebhafter und leidenschaftlicher hinwarfen.

So waren wir denn an der Grenze von Frankreich alles französischen Wesens auf einmal bar und ledig. Ihre Lebensweise fanden wir zu bestimmt und zu vornehm, ihre Dichtung kalt, ihre Kritik vernichtend, ihre Philosophie abstrus und doch unzulänglich, so daß wir auf dem Punkte standen, uns der rohen Natur wenigstens versuchsweise hinzugeben, wenn uns nicht ein anderer Einfluß schon seit langer Zeit zu höheren, freieren und ebenso wahren als dichterischen Weltansichten und Geistesgenüssen vorbereitet und uns erst heimlich und mäßig, dann aber immer offenbarer und gewaltiger beherrscht hätte.

Ich brauche kaum zu sagen, daß hier Shakespeare gemeint sei, und nachdem ich dieses ausgesprochen, bedarf es keiner weitern Ausführung. Shakespeare ist von den Deutschen mehr als von allen anderen Nationen, ja vielleicht mehr als von seiner eignen erkannt. Wir haben ihm alle Gerechtigkeit, Billigkeit und Schonung, die wir uns unter einander selbst versagen, reichlich zugewendet; vorzügliche Männer beschäftigten sich, seine Geistesgaben im günstigsten Lichte zu zeigen, und ich habe jederzeit, was man zu seiner Ehre, zu seinen Gunsten, ja ihn zu entschuldigen gesagt, gern unterschrieben. Die Einwirkung dieses außerordentlichen Geistes auf mich ist früher dargestellt, und über seine Arbeiten einiges versucht worden, welches Zustimmung gefunden hat; und so mag es hier an dieser allgemeinen Erklärung genug sein, bis ich eine Nachlese von Betrachtungen über so große Verdienste, die ich an dieser Stelle einzuschalten in Versuchung geriet, Freunden, die mich hören mögen, mitzuteilen im Falle bin.

Gegenwärtig will ich nur die Art, wie ich mit ihm bekannt geworden, näher anzeigen. Es geschah ziemlich früh, in Leipzig, durch Dodds »Beauties of Shakespeare«. Was man auch gegen solche Sammlungen sagen kann, welche die Autoren zerstückelt mitteilen, sie bringen doch manche gute Wirkung hervor. Sind wir doch nicht immer so gefaßt und so geistreich, daß wir ein ganzes Werk nach seinem Wert in uns aufzunehmen vermöchten. Streichen wir nicht in einem Buche Stellen an, die sich unmittelbar auf uns beziehen? Junge Leute besonders, denen es an durchgreifender Bildung fehlt, werden von glänzenden Stellen gar löblich aufgeregt, und so erinnere ich mich noch als einer der schönsten Epochen meines Lebens derjenigen, welche gedachtes Werk bei mir bezeichnete. Jene herrlichen Eigenheiten, die großen Sprüche, die treffenden Schilderungen, die humoristischen Züge, alles traf mich einzeln und gewaltig.

Nun erschien Wielands Übersetzung. Sie ward verschlungen, Freunden und Bekannten mitgeteilt und empfohlen. Wir Deutsche hatten den Vorteil, daß mehrere bedeutende Werke fremder Nationen auf eine leichte und heitere Weise zuerst herübergebracht wurden. Shakespeare prosaisch übersetzt, erst durch Wieland, dann durch Eschenburg, konnte als eine allgemein verständliche und jedem Leser gemäße Lektüre sich schnell verbreiten, und große Wirkung hervorbringen. Ich ehre den Rhythmus wie den Reim, wodurch Poesie erst zur Poesie wird, aber das eigentlich tief und gründlich Wirksame, das wahrhaft Ausbildende und Fördernde ist dasjenige, was vom Dichter übrig bleibt, wenn er in Prose übersetzt wird. Dann bleibt der reine vollkommene Gehalt, den uns ein blendendes Äußere oft, wenn er fehlt, vorzuspiegeln weiß, und, wenn er gegenwärtig ist, verdeckt. Ich halte daher zum Anfang jugendlicher Bildung prosaische Übersetzungen für vorteilhafter als die poetischen; denn es läßt sich bemerken, daß Knaben, denen ja doch alles zum Scherze dienen muß, sich am Schall der Worte, am Fall der Silben ergetzen, und durch eine Art von parodistischem Mutwillen den tiefen Gehalt des edelsten Werks zerstören. Deshalb gebe ich zu bedenken, ob nicht zunächst eine prosaische Übersetzung des Homer zu unternehmen wäre; aber freilich müßte sie der Stufe würdig sein, auf der sich die deutsche Literatur gegenwärtig befindet. Ich überlasse dies und das Vorgesagte unsern würdigen Pädagogen zur Betrachtung, denen ausgebreitete Erfahrung hierüber am besten zu Gebote steht. Nur will ich noch, zu Gunsten meines Vorschlags, an Luthers Bibelübersetzung erinnern: denn daß dieser treffliche Mann ein in dem verschiedensten Stile verfaßtes Werk und dessen dichterischen, geschichtlichen, gebietenden, lehrenden Ton uns in der Muttersprache wie aus einem Gusse überlieferte, hat die Religion mehr gefördert, als wenn er die Eigentümlichkeiten des Originals im einzelnen hätte nachbilden wollen. Vergebens hat man nachher sich mit dem Buche Hiob, den Psalmen und andern Gesängen bemüht, sie uns in ihrer poetischen Form genießbar zu machen. Für die Menge, auf die gewirkt werden soll, bleibt eine schlichte Übertragung immer die beste. Jene kritischen Übersetzungen, die mit dem Original wetteifern, dienen eigentlich nur zur Unterhaltung der Gelehrten untereinander.

Und so wirkte in unserer Straßburger Sozietät Shakespeare, übersetzt und im Original, stückweise und im ganzen, stellen- und auszugsweise, dergestalt, daß, wie man bibelfeste Männer hat, wir uns nach und nach in Shakespeare befestigten, die Tugenden und Mängel seiner Zeit, mit denen er uns bekannt macht, in unseren Gesprächen nachbildeten, an seinen Quibbles die größte Freude hatten, und durch Übersetzung derselben, ja durch originalen Mutwillen mit ihm wetteiferten. Hiezu trug nicht wenig bei, daß ich ihn vor allen mit großem Enthusiasmus ergriffen hatte. Ein freudiges Bekennen, daß etwas Höheres über mir schwebe, war ansteckend für meine Freunde, die sich alle dieser Sinnesart hingaben. Wir leugneten die Möglichkeit nicht, solche Verdienste näher zu erkennen, sie zu begreifen, mit Einsicht zu beurteilen; aber dies behielten wir uns für spätere Epochen vor: gegenwärtig wollten wir nur freudig teilnehmen, lebendig nachbilden, und, bei so großem Genuß, an dem Manne, der ihn uns gab, nicht forschen und mäkeln, vielmehr tat es uns wohl, ihn unbedingt zu verehren.

Will jemand unmittelbar erfahren, was damals in dieser lebendigen Gesellschaft gedacht, gesprochen und verhandelt worden, der lese den Aufsatz Herders über Shakespeare, in dem Hefte »Von deutscher Art und Kunst«; ferner Lenzens »Anmerkungen übers Theater«, denen eine Übersetzung von »Love’s labour’s lost« hinzugefügt war. Herder dringt in das Tiefere von Shakespeares Wesen und stellt es herrlich dar; Lenz beträgt sich mehr bilderstürmerisch gegen die Herkömmlichkeit des Theaters, und will denn eben all und überall nach Shakespearescher Weise gehandelt haben. Da ich diesen so talentvollen als seltsamen Menschen hier zu erwähnen veranlaßt werde, so ist wohl der Ort, versuchsweise einiges über ihn zu sagen. Ich lernte ihn erst gegen das Ende meines Straßburger Aufenthalts kennen. Wir sahen uns selten; seine Gesellschaft war nicht die meine, aber wir suchten doch Gelegenheit uns zu treffen, und teilten uns einander gern mit, weil wir, als gleichzeitige Jünglinge, ähnliche Gesinnungen hegten. Klein, aber nett von Gestalt, ein allerliebstes Köpfchen, dessen zierlicher Form niedliche etwas abgestumpfte Züge vollkommen entsprachen; blaue Augen, blonde Haare, kurz, ein Persönchen, wie mir unter nordischen Jünglingen von Zeit zu Zeit eins begegnet ist; einen sanften, gleichsam vorsichtigen Schritt, eine angenehme, nicht ganz fließende Sprache, und ein Betragen, das, zwischen Zurückhaltung und Schüchternheit sich bewegend, einem jungen Manne gar wohl anstand. Kleinere Gedichte, besonders seine eignen, las er sehr gut vor, und schrieb eine fließende Hand. Für seine Sinnesart wüßte ich nur das englische Wort whimsical, welches, wie das Wörterbuch ausweist, gar manche Seltsamkeiten in einem Begriff zusammenfaßt. Niemand war vielleicht eben deswegen fähiger als er, die Ausschweifungen und Auswüchse des Shakespeareschen Genies zu empfinden und nachzubilden. Die obengedachte Übersetzung gibt ein Zeugnis hievon. Er behandelt seinen Autor mit großer Freiheit, ist nichts weniger als knapp und treu, aber er weiß sich die Rüstung oder vielmehr die Possenjacke seines Vorgängers so gut anzupassen, sich seinen Gebärden so humoristisch gleichzustellen, daß er demjenigen, den solche Dinge anmuteten, gewiß Beifall abgewann.

Die Absurditäten der Clowns machten besonders unsere ganze Glückseligkeit, und wir priesen Lenzen als einen begünstigten Menschen, da ihm jenes Epitaphium des von der Prinzessin geschossenen Wildes folgendermaßen gelungen war:

Die schöne Prinzessin schoß und traf

Eines jungen Hirschleins Leben;

Es fiel dahin in schweren Schlaf,

Und wird ein Brätlein geben.

Der Jagdhund boll! – Ein L zu Hirsch,

So wird es denn ein Hirschel;

Doch setzt ein römisch L zu Hirsch,

So macht es fünfzig Hirschel.

Ich mache hundert Hirsche draus,

Schreib’ Hirschell mit zwei LLen.

Die Neigung zum Absurden, die sich frei und unbewunden bei der Jugend zu Tage zeigt, nachher aber immer mehr in die Tiefe zurücktritt, ohne sich deshalb gänzlich zu verlieren, war bei uns in voller Blüte, und wir suchten auch durch Originalspäße unsern großen Meister zu feiern. Wir waren sehr glorios, wenn wir der Gesellschaft etwas der Art vorlegen konnten, welches einigermaßen gebilligt wurde, wie z.B. folgendes auf einen Rittmeister, der auf einem wilden Pferde zu Schaden gekommen war:

Ein Ritter wohnt in diesem Haus,

Ein Meister auch daneben;

Macht man davon einen Blumenstrauß,

So wird’s einen Rittmeister geben.

Ist er nun Meister von dem Ritt,

Führt er mit Recht den Namen;

Doch nimmt der Ritt den Meister mit,

Weh ihm und seinem Samen!

Über solche Dinge ward sehr ernsthaft gestritten, ob sie des Clowns würdig oder nicht, und ob sie aus der wahrhaften reinen Narrenquelle geflossen, oder ob etwa Sinn und Verstand sich auf eine ungehörige und unzulässige Weise mit eingemischt hätten. Überhaupt aber konnten sich diese seltsamen Gesinnungen um so heftiger verbreiten, und um so mehrere waren im Falle daran teilzunehmen, als Lessing, der das große Vertrauen besaß, in seiner »Dramaturgie« eigentlich das erste Signal dazu gegeben hatte.

In so gestimmter und aufgeregter Gesellschaft gelang mir manche angenehme Fahrt nach dem oberen Elsaß, woher ich aber eben deshalb keine sonderliche Belehrung zurückbrachte. Die vielen kleinen Verse, die uns bei jeder Gelegenheit entquollen, und die wohl eine muntere Reisebeschreibung ausstatten konnten, sind verloren gegangen. In dem Kreuzgange der Abtei Molsheim bewunderten wir die farbigen Scheibengemälde; in der fruchtbaren Gegend zwischen Kolmar und Schlettstadt ertönten possierliche Hymnen an Ceres, indem der Verbrauch so vieler Früchte umständlich auseinander gesetzt und angepriesen, auch die wichtige Streitfrage über den freien oder beschränkten Handel derselben sehr lustig genommen wurde. In Ensisheim sahen wir den ungeheuren Aerolithen in der Kirche aufgehangen, und spotteten, der Zweifelsucht jener Zeit gemäß, über die Leichtgläubigkeit der Menschen, nicht vorahndend, daß dergleichen luftgeborene Wesen, wo nicht auf unsern eignen Acker herabfallen, doch wenigstens in unsern Kabinetten sollten verwahrt werden.

Einer mit hundert, ja tausend Gläubigen auf den Ottilienberg begangenen Wallfahrt denk ich noch immer gern. Hier, wo das Grundgemäuer eines römischen Kastells noch übrig, sollte sich in Ruinen und Steinritzen eine schöne Grafentochter, aus frommer Neigung, aufgehalten haben. Unfern der Kapelle, wo sich die Wanderer erbauen, zeigt man ihren Brunnen und erzählt gar manches Anmutige. Das Bild, das ich mir von ihr machte, und ihr Name prägte sich tief bei mir ein. Beide trug ich lange mit mir herum, bis ich endlich eine meiner zwar spätern, aber darum nicht minder geliebten Töchter damit ausstattete, die von frommen und reinen Herzen so günstig aufgenommen wurde.

Auch auf dieser Höhe wiederholt sich dem Auge das herrliche Elsaß, immer dasselbe und immer neu; ebenso wie man im Amphitheater, man nehme Platz wo man wolle, das ganze Volk übersieht, nur seine Nachbarn am deutlichsten, so ist es auch hier mit Büschen, Felsen, Hügeln, Wäldern, Feldern, Wiesen und Ortschaften in der Nähe und in der Ferne. Am Horizont wollte man uns sogar Basel zeigen; daß wir es gesehen, will ich nicht beschwören, aber das entfernte Blau der Schweizergebirge übte auch hier sein Recht über uns aus, indem es uns zu sich forderte, und, da wir nicht diesem Triebe folgen konnten, ein schmerzliches Gefühl zurückließ.

Solchen Zerstreuungen und Heiterkeiten gab ich mich um so lieber und zwar bis zur Trunkenheit hin, als mich mein leidenschaftliches Verhältnis zu Friedriken nunmehr zu ängstigen anfing. Eine solche jugendliche, aufs Geratewohl gehegte Neigung ist der nächtlich geworfenen Bombe zu vergleichen, die in einer sanften, glänzenden Linie aufsteigt, sich unter die Sterne mischt, ja einen Augenblick unter ihnen zu verweilen scheint, alsdann aber abwärts zwar wieder dieselbe Bahn, nur umgekehrt, bezeichnet, und zuletzt da, wo sie ihren Lauf geendet, Verderben hinbringt. Friedrike blieb sich immer gleich; sie schien nicht zu denken noch denken zu wollen, daß dieses Verhältnis sich so bald endigen könne. Olivie hingegen, die mich zwar auch ungern vermißte, aber doch nicht so viel als jene verlor, war voraussehender oder offener. Sie sprach manchmal mit mir über meinen vermutlichen Abschied und suchte über sich selbst und ihre Schwester sich zu trösten. Ein Mädchen, das einem Manne entsagt, dem sie ihre Gewogenheit nicht verleugnet, ist lange nicht in der peinlichen Lage, in der sich ein Jüngling befindet, der mit Erklärungen ebenso weit gegen ein Frauenzimmer herausgegangen ist. Er spielt immer eine leidige Figur: denn von ihm, als einem werdenden Manne, erwartet man schon eine gewisse Übersicht seines Zustandes, und ein entschiedener Leichtsinn will ihn nicht kleiden. Die Ursachen eines Mädchens, das sich zurückzieht, scheinen immer gültig, die des Mannes niemals.

Allein wie soll eine schmeichelnde Leidenschaft uns voraussehn lassen, wohin sie uns führen kann? Denn auch selbst alsdann, wenn wir schon ganz verständig auf sie Verzicht getan, können wir sie noch nicht loslassen; wir ergetzen uns an der lieblichen Gewohnheit, und sollte es auch auf eine veränderte Weise sein. So ging es auch mir. Wenngleich die Gegenwart Friedrikens mich ängstigte, so wußte ich doch nichts Angenehmeres, als abwesend an sie zu denken und mich mit ihr zu unterhalten. Ich kam seltner hinaus, aber unsere Briefe wechselten desto lebhafter. Sie wußte mir ihre Zustände mit Heiterkeit, ihre Gefühle mit Anmut zu vergegenwärtigen, so wie ich mir ihre Verdienste mit Gunst und Leidenschaft vor die Seele rief. Die Abwesenheit machte mich frei, und meine ganze Zuneigung blühte erst recht auf durch die Unterhaltung in der Ferne. Ich konnte mich in solchen Augenblicken ganz eigentlich über die Zukunft verblenden; zerstreut war ich genug durch das Fortrollen der Zeit und dringender Geschäfte. Ich hatte bisher möglich gemacht, das Mannigfaltigste zu leisten, durch immer lebhafte Teilnahme am Gegenwärtigen und Augenblicklichen; allein gegen das Ende drängte sich alles gar gewaltsam über einander, wie es immer zu gehn pflegt, wenn man sich von einem Orte loslösen soll.

Noch ein Zwischenereignis nahm mir die letzten Tage weg. Ich befand mich nämlich in ansehnlicher Gesellschaft auf einem Landhause, von wo man die Vorderseite des Münsters und den darüber emporsteigenden Turm gar herrlich sehn konnte. »Es ist schade«, sagte jemand, »daß das Ganze nicht fertig geworden und daß wir nur den einen Turm haben.« Ich versetzte dagegen: »Es ist mir ebenso leid, diesen einen Turm nicht ganz ausgeführt zu sehn; denn die vier Schnecken setzen viel zu stumpf ab, es hätten darauf noch vier leichte Turmspitzen gesollt, sowie eine höhere auf die Mitte, wo das plumpe Kreuz steht.«

Als ich diese Behauptung mit gewöhnlicher Lebhaftigkeit aussprach, redete mich ein kleiner muntrer Mann an und fragte: »Wer hat Ihnen das gesagt?« – »Der Turm selbst«, versetzte ich. »Ich habe ihn so lange und aufmerksam betrachtet, und ihm so viel Neigung erwiesen, daß er sich zuletzt entschloß, mir dieses offenbare Geheimnis zu gestehn.« – »Er hat Sie nicht mit Unwahrheit berichtet«, versetzte jener; »ich kann es am besten wissen, denn ich bin der Schaffner, der über die Baulichkeiten gesetzt ist. Wir haben in unserem Archiv noch die Originalrisse, welche dasselbe besagen, und die ich Ihnen zeigen kann.« – Wegen meiner nahen Abreise drang ich auf Beschleunigung dieser Gefälligkeit. Er ließ mich die unschätzbaren Rollen sehn; ich zeichnete geschwind die in der Ausführung fehlenden Spitzen durch ölgetränktes Papier und bedauerte, nicht früher von diesem Schatz unterrichtet gewesen zu sein. Aber so sollte es mir immer ergehn, daß ich durch Anschauen und Betrachten der Dinge erst mühsam zu einem Begriff gelangen mußte, der mir vielleicht nicht so auffallend und fruchtbar gewesen wäre, wenn man mir ihn überliefert hätte.

In solchem Drang und Verwirrung konnte ich doch nicht unterlassen, Friedriken noch einmal zu sehn. Es waren peinliche Tage, deren Erinnerung mir nicht geblieben ist. Als ich ihr die Hand noch vom Pferde reichte, standen ihr die Tränen in den Augen, und mir war sehr übel zu Mute. Nun ritt ich auf dem Fußpfade gegen Drusenheim, und da überfiel mich eine der sonderbarsten Ahndungen. Ich sah nämlich, nicht mit den Augen des Leibes, sondern des Geistes, mich mir selbst, denselben Weg, zu Pferde wieder entgegen kommen, und zwar in einem Kleide, wie ich es nie getragen: es war hechtgrau mit etwas Gold. Sobald ich mich aus diesem Traum aufschüttelte, war die Gestalt ganz hinweg. Sonderbar ist es jedoch, daß ich nach acht Jahren, in dem Kleide, das mir geträumt hatte, und das ich nicht aus Wahl, sondern aus Zufall gerade trug, mich auf demselben Wege fand, um Friedriken noch einmal zu besuchen. Es mag sich übrigens mit diesen Dingen wie es will verhalten, das wunderliche Trugbild gab mir in jenen Augenblicken des Scheidens einige Beruhigung. Der Schmerz, das herrliche Elsaß, mit allem, was ich darin erworben, auf immer zu verlassen, war gemildert, und ich fand mich, dem Taumel des Lebewohls endlich entflohn, auf einer friedlichen und erheiternden Reise so ziemlich wieder.

In Mannheim angelangt, eilte ich mit größter Begierde, den Antikensaal zu sehn, von dem man viel Rühmens machte. Schon in Leipzig, bei Gelegenheit der Winckelmannschen und Lessingschen Schriften, hatte ich viel von diesen bedeutenden Kunstwerken reden hören, desto weniger aber gesehn: denn außer Laokoon, dem Vater, und dem Faun mit den Krotalen befanden sich keine Abgüsse auf der Akademie; und was uns Oeser bei Gelegenheit dieser Bildnisse zu sagen beliebte, war freilich rätselhaft genug. Wie will man aber auch Anfängern von dem Ende der Kunst einen Begriff geben?

Direktor Verschaffelts Empfang war freundlich. Zu dem Saale führte mich einer seiner Gesellen, der, nachdem er mir aufgeschlossen, mich meinen Neigungen und Betrachtungen überließ. Hier stand ich nun, den wundersamsten Eindrücken ausgesetzt, in einem geräumigen, viereckten, bei außerordentlicher Höhe fast kubischen Saal, in einem durch Fenster unter dem Gesims von oben wohl erleuchteten Raum: die herrlichsten Statuen des Altertums nicht allein an den Wänden gereiht, sondern auch innerhalb der ganzen Fläche durch einander aufgestellt; ein Wald von Statuen, durch den man sich durchwinden, eine große ideale Volksgesellschaft, zwischen der man sich durchdrängen mußte. Alle diese herrlichen Gebilde konnten durch Auf- und Zuziehn der Vorhänge in das vorteilhafteste Licht gestellt werden; überdies waren sie auf ihren Postamenten beweglich und nach Belieben zu wenden und zu drehen.

Nachdem ich die erste Wirkung dieser unwiderstehlichen Masse eine Zeitlang geduldet hatte, wendete ich mich zu denen Gestalten, die mich am meisten anzogen, und wer kann leugnen, daß Apoll von Belvedere, durch seine mäßige Kolossalgröße, den schlanken Bau, die freie Bewegung, den siegenden Blick, auch über unsere Empfindung vor allen andern den Sieg davon trage? Sodann wendete ich mich zu Laokoon, den ich hier zuerst mit seinen Söhnen in Verbindung sah. Ich vergegenwärtigte mir so gut als möglich das, was über ihn verhandelt und gestritten worden war, und suchte mir einen Gesichtspunkt; allein ich ward bald da- bald dorthin gezogen. Der sterbende Fechter hielt mich lange fest, besonders aber hatte ich der Gruppe von Kastor und Pollux, diesen kostbaren, obgleich problematischen Resten, die seligsten Augenblicke zu danken. Ich wußte noch nicht, wie unmöglich es sei, sich von einem genießenden Anschaun sogleich Rechenschaft zu geben. Ich zwang mich zu reflektieren, und so wenig es mir gelingen wollte, zu irgend einer Art von Klarheit zu gelangen, so fühlte ich doch, daß jedes einzelne dieser großen versammelten Masse faßlich, ein jeder Gegenstand natürlich und in sich selbst bedeutend sei.

Auf Laokoon jedoch war meine größte Aufmerksamkeit gerichtet, und ich entschied mir die berühmte Frage, warum er nicht schreie, dadurch, daß ich mir aussprach, er könne nicht schreien. Alle Handlungen und Bewegungen der drei Figuren gingen mir aus der ersten Konzeption der Gruppe hervor. Die ganze so gewaltsame als kunstreiche Stellung des Hauptkörpers war aus zwei Anlässen zusammengesetzt, aus dem Streben gegen die Schlangen, und aus dem Fliehn vor dem augenblicklichen Biß. Um diesen Schmerz zu mildern, mußte der Unterleib eingezogen und das Schreien unmöglich gemacht werden. So entschied ich mich auch, daß der jüngere Sohn nicht gebissen sei, und wie ich mir sonst noch das Kunstreiche dieser Gruppe auszulegen suchte. Ich schrieb hierüber einen Brief an Oesern, der aber nicht sonderlich auf meine Auslegung achtete, sondern nur meinen guten Willen mit einer allgemeinen Aufmunterung erwiderte. Ich aber war glücklich genug, jenen Gedan ken festzuhalten und bei mir mehrere Jahre ruhen zu lassen, bis er sich zuletzt an meine sämtlichen Erfahrungen und Überzeugungen anschloß, in welchem Sinne ich ihn sodann bei Herausgabe der »Propyläen« mitteilte.

Nach eifriger Betrachtung so vieler erhabenen plastischen Werke sollte es mir auch an einem Vorschmack antiker Architektur nicht fehlen. Ich fand den Abguß eines Kapitells der Rotonde, und ich leugne nicht, daß beim Anblick jener so ungeheuren als eleganten Akanthblätter mein Glaube an die nordische Baukunst etwas zu wanken anfing.

Dieses große und bei mir durchs ganze Leben wirksame frühzeitige Schauen war dennoch für die nächste Zeit von geringen Folgen. Wie gern hätte ich mit dieser Darstellung ein Buch angefangen, anstatt daß ich’s damit ende: denn kaum war die Türe des herrlichen Saals hinter mir zugeschlossen, so wünschte ich mich selbst wieder zu finden, ja ich suchte jene Gestalten eher, als lästig, aus meiner Einbildungskraft zu entfernen, und nur erst durch einen großen Umweg sollte ich in diesen Kreis zurückgeführt werden. Indessen ist die stille Fruchtbarkeit solcher Eindrücke ganz unschätzbar, die man genießend, ohne zersplitterndes Urteil in sich aufnimmt. Die Jugend ist dieses höchsten Glücks fähig, wenn sie nicht kritisch sein will, sondern das Vortreffliche und Gute, ohne Untersuchung und Sonderung, auf sich wirken läßt.

 
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Zwölftes Buch

Der Wanderer war nun endlich gesünder und froher nach Hause gelangt als das erstemal, aber in seinem ganzen Wesen zeigte sich doch etwas Überspanntes, welches nicht völlig auf geistige Gesundheit deutete. Gleich zu Anfang brachte ich meine Mutter in den Fall, daß sie zwischen meines Vaters rechtlichem Ordnungsgeist und meiner vielfachen Exzentrizität die Vorfälle in ein gewisses Mittel zu richten und zu schlichten beschäftigt sein mußte. In Mainz hatte mir ein harfespielender Knabe so wohl gefallen, daß ich ihn, weil die Messe gerade vor der Türe war, nach Frankfurt einlud, ihm Wohnung zu geben und ihn zu befördern versprach. In diesem Ereignis trat wieder einmal diejenige Eigenheit hervor, die mich in meinem Leben so viel gekostet hat, daß ich nämlich gern sehe, wenn jüngere Wesen sich um mich versammeln und an mich anknüpfen, wodurch ich denn freilich zuletzt mit ihrem Schicksal belastet werde. Eine unangenehme Erfahrung nach der andern konnte mich von dem angebornen Trieb nicht zurückbringen, der noch gegenwärtig, bei der deutlichsten Überzeugung, von Zeit zu Zeit mich irre zu führen droht. Meine Mutter, klärer als ich, sah wohl voraus, wie sonderbar es meinem Vater vorkommen müßte, wenn ein musikali scher Meßläufer von einem so ansehnlichen Hause her zu Gasthöfen und Schenken ginge, sein Brot zu verdienen; daher sorgte sie in der Nachbarschaft für Herberge und Kost desselben; ich empfahl ihn meinen Freunden, und so befand sich das Kind nicht übel. Nach mehreren Jahren sah ich ihn wieder, wo er größer und tölpischer geworden war, ohne in seiner Kunst viel zugenommen zu haben. Die wackere Frau, mit dem ersten Probestück des Ausgleichens und Vertuschens wohl zufrieden, dachte nicht, daß sie diese Kunst in der nächsten Zeit durchaus nötig haben würde. Der Vater, in seinen verjährten Liebhabereien und Beschäftigungen ein zufriedenes Leben führend, war behaglich, wie einer, der trotz allen Hindernissen und Verspätungen seine Plane durchsetzt. Ich hatte nun promoviert, der erste Schritt zu dem fernern bürgerlichen, stufenweisen Lebensgange war getan. Meine Disputation hatte seinen Beifall, ihn beschäftigte die nähere Betrachtung derselben und manche Vorbereitung zu einer künftigen Herausgabe. Während meines Aufenthalts im Elsaß hatte ich viel kleine Gedichte, Aufsätze, Reisebemerkungen und manches fliegende Blatt geschrieben. Diese zu rubrizieren, zu ordnen, die Vollendung zu verlangen unterhielt ihn, und so war er froh in der Erwartung, daß meine bisher unüberwundene Abneigung, etwas dieser Dinge gedruckt zu sehn, sich nächstens verlieren werde. Die Schwester hatte einen Kreis von verständigen und liebenswürdigen Frauenzimmern um sich versammelt. Ohne herrisch zu sein, herrschte sie über alle, indem ihr Verstand gar manches übersehn und ihr guter Wille vieles ausgleichen konnte, sie auch überdies in dem Fall war, eher die Vertraute als die Rivalin zu spielen. Von ältern Freunden und Bekannten fand ich an Horn den unveränderlich treuen Freund und heiteren Gesellschafter; mit Riese ward ich auch vertraut, der meinen Scharfsinn zu üben und zu prüfen nicht verfehlte, indem er, durch anhaltenden Widerspruch, einem dogmatischen Enthusiasmus, in welchen ich nur gar zu gern verfiel, Zweifel und Verneinung entgegensetzte. Andere traten nach und nach zu diesem Kreis, deren ich künftig gedenke; jedoch standen unter den Personen, die mir den neuen Aufenthalt in meiner Vaterstadt angenehm und fruchtbar machten, die Gebrüder Schlosser allerdings obenan. Der ältere, Hieronymus, ein gründlicher und eleganter Rechtsgelehrter, hatte als Sachwalter ein allgemeines Vertrauen. Unter seinen Büchern und Akten, in Zimmern, wo die größte Ordnung herrschte, war sein liebster Aufenthalt; dort hab ich ihn niemals anders als heiter und teilnehmend gefunden. Auch in größerer Gesellschaft erwies er sich angenehm und unterhaltend: denn sein Geist war, durch eine ausgebreitete Lektüre, mit allem Schönen der Vorwelt geziert. Er verschmähte nicht, bei Gelegenheit, durch geistreiche lateinische Gedichte die geselligen Freuden zu vermehren; wie ich denn noch verschiedene scherzhafte Distichen von ihm besitze, die er unter einige von mir gezeichnete Porträte seltsamer, allgemein bekannter Frankfurter Karikaturen geschrieben hatte. Öfters beriet ich mich mit ihm über meinen einzuleitenden Lebens- und Geschäftsgang, und hätten mich nicht hundertfältige Neigungen, Leidenschaften und Zerstreuungen von diesem Wege fortgerissen, er würde mir der sicherste Führer geworden sein.

Näher an Alter stand mir sein Bruder Georg, der sich von Treptow, aus den Diensten des Herzogs Eugen von Würtemberg, wieder zurückgezogen hatte. An Weltkenntnis, an praktischem Geschick vorgeschritten, war er in seiner Übersicht der deutschen und auswärtigen Literatur auch nicht zurückgeblieben. Er schrieb, wie vormals, gern in allen Sprachen, regte mich aber dadurch nicht weiter an, da ich, mich dem Deutschen ausschließlich widmend, die übrigen nur insoweit kultivierte, daß ich die besten Autoren im Original einigermaßen zu lesen imstande war. Seine Rechtschaffenheit zeigte sich immer als dieselbe, ja die Bekanntschaft mit der Welt mochte ihn veranlaßt haben, strenger, sogar starrer auf seinen wohlmeinenden Gesinnungen zu beharren.

Durch diese beiden Freunde ward ich denn auch gar bald mit Merck bekannt, dem ich durch Herdern, von Straßburg aus, nicht ungünstig angekündigt war. Dieser eigne Mann, der auf mein Leben den größten Einfluß gehabt, war von Geburt ein Darmstädter. Von seiner früheren Bildung wüßte ich wenig zu sagen. Nach vollendeten Studien führte er einen Jüngling nach der Schweiz, wo er eine Zeitlang blieb, und beweiht zurückkam. Als ich ihn kennen lernte, war er Kriegszahlmeister in Darmstadt. Mit Verstand und Geist geboren, hatte er sich sehr schöne Kenntnisse, besonders der neueren Literaturen, erworben, und sich in der Welt- und Menschengeschichte nach allen Zeiten und Gegenden umgesehn. Treffend und scharf zu urteilen war ihm gegeben. Man schätzte ihn als einen wackern entschlossenen Geschäftsmann und fertigen Rechner. Mit Leichtigkeit trat er überall ein, als ein sehr angenehmer Gesellschafter für die, denen er sich durch beißende Züge nicht furchtbar gemacht hatte. Er war lang und hager von Gestalt, eine hervordringende spitze Nase zeichnete sich aus, hellblaue, vielleicht graue Augen gaben seinem Blick, der aufmerkend hin und wider ging, etwas Tigerartiges. Lavaters »Physiognomik« hat uns sein Profil aufbewahrt. In seinem Charakter lag ein wunderbares Mißverhältnis: von Natur ein braver, edler, zuverlässiger Mann, hatte er sich gegen die Welt erbittert, und ließ diesen grillenkranken Zug dergestalt in sich walten, daß er eine unüberwindliche Neigung fühlte, vorsätzlich ein Schalk, ja ein Schelm zu sein. Verständig, ruhig, gut in einem Augenblick, konnte es ihm in dem andern einfallen, wie die Schnecke ihre Hörner hervorstreckt, irgend etwas zu tun, was einen andern kränkte, verletzte, ja was ihm schädlich ward. Doch wie man gern mit etwas Gefährlichem umgeht, wenn man selber davor sicher zu sein glaubt, so hatte ich eine desto größere Neigung, mit ihm zu leben und seiner guten Eigenschaften zu genießen, da ein zuversichtliches Gefühl mich ahnden ließ, daß er seine schlimme Seite nicht gegen mich kehren werde. Wie er sich nun, durch diesen sittlich unruhigen Geist, durch dieses Bedürfnis, die Menschen hämisch und tückisch zu behandeln, von einer Seite das gesellige Leben verdarb, so widersprach eine andere Unruhe, die er auch recht sorgfältig in sich nährte, seinem innern Behagen. Er fühlte nämlich einen gewissen dilettantischen Produktionstrieb, dem er um so mehr nachhing, als er sich in Prosa und Versen leicht und glücklich ausdrückte, und unter den schönen Geistern jener Zeit eine Rolle zu spielen gar wohl wagen durfte. Ich besitze selbst noch poetische Episteln von ungemeiner Kühnheit, Derbheit und Swiftischer Galle, die sich durch originelle Ansichten der Personen und Sachen höchlich auszeichnen, aber zugleich mit so verletzender Kraft geschrieben sind, daß ich sie nicht einmal gegenwärtig publizieren möchte, sondern sie entweder vertilgen, oder als auffallende Dokumente des geheimen Zwiespalts in unserer Literatur der Nachwelt aufbewahren muß. Daß er jedoch bei allen seinen Arbeiten verneinend und zerstörend zu Werke ging, war ihm selbst unangenehm, und er sprach es oft aus, er beneide mich um meine unschuldige Darstellungslust, welche aus der Freude an dem Vorbild und dem Nachgebildeten entspringe.

Übrigens hätte ihm sein literarischer Dilettantismus eher Nutzen als Schaden gebracht, wenn er nicht den unwiderstehlichen Trieb gefühlt hätte, auch im technischen und merkantilischen Fach aufzutreten. Denn wenn er einmal seine Fähigkeiten zu verwünschen anfing, und außer sich war, die Ansprüche an ein ausübendes Talent nicht genialisch genug befriedigen zu können, so ließ er bald die bildende, bald die Dichtkunst fahren und sann auf fabrikmäßige kaufmännische Unternehmungen, welche Geld einbringen sollten, indem sie ihm Spaß machten.

In Darmstadt befand sich übrigens eine Gesellschaft von sehr gebildeten Männern. Geheimerat von Hesse, Minister des Landgrafen, Professor Petersen, Rektor Wenck und andere waren die Einheimischen, zu deren Wert sich manche fremde Benachbarte und viele Durchreisende abwechselnd gesellten. Die Geheimerätin von Hesse und ihre Schwester, Demoiselle Flachsland, waren Frauenzimmer von seltenen Verdiensten und Anlagen, die letztre, Herders Braut, doppelt interessant durch ihre Eigenschaften und ihre Neigung zu einem so vortrefflichen Manne.

Wie sehr dieser Kreis mich belebte und förderte, wäre nicht auszusprechen. Man hörte gern die Vorlesung meiner gefertigten oder angefangenen Arbeiten, man munterte mich auf, wenn ich offen und umständlich erzählte, was ich eben vorhatte, und schalt mich, wenn ich bei jedem neuen Anlaß das Früherbegonnene zurücksetzte. »Faust« war schon vorgeruckt, »Götz von Berlichingen« baute sich nach und nach in meinem Geiste zusammen, das Studium des funfzehnten und sechzehnten Jahrhunderts beschäftigte mich, und jenes Münstergebäude hatte einen sehr ernsten Eindruck in mir zurückgelassen, der als Hintergrund zu solchen Dichtungen gar wohl dastehn konnte.

Was ich über jene Baukunst gedacht und gewähnt hatte, schrieb ich zusammen. Das erste, worauf ich drang, war, daß man sie deutsch und nicht gotisch nennen, nicht für ausländisch, sondern für vaterländisch halten solle; das zweite, daß man sie nicht mit der Baukunst der Griechen und Römer vergleichen dürfe, weil sie aus einem ganz anderen Prinzip entsprungen sei. Wenn jene, unter einem glücklicheren Himmel, ihr Dach auf Säulen ruhen ließen, so entstand ja schon an und für sich eine durchbrochene Wand. Wir aber, die wir uns durchaus gegen die Witterung schützen, und mit Mauern überall umgeben müssen, haben den Genius zu verehren, der Mittel fand, massiven Wänden Mannigfaltigkeit zu geben, sie dem Scheine nach zu durchbrechen und das Auge würdig und erfreulich auf der großen Fläche zu beschäftigen. Dasselbe galt von den Türmen, welche nicht, wie die Kuppeln, nach innen einen Himmel bilden, sondern außen gen Himmel streben, und das Dasein des Heiligtums, das sich an ihre Base gelagert, weit umher den Ländern verkünden sollten. Das Innere dieser würdigen Gebäude wagte ich nur durch poetisches Anschauen und durch fromme Stimmung zu berühren.

Hätte ich diese Ansichten, denen ich ihren Wert nicht absprechen will, klar und deutlich, in vernehmlichem Stil abzufassen beliebt, so hätte der Druckbogen »Von deutscher Baukunst, D. M. Ervini a Steinbach« schon damals, als ich ihn herausgab, mehr Wirkung getan und die vaterländischen Freunde der Kunst früher aufmerksam gemacht; so aber verhüllte ich, durch Hamanns und Herders Beispiel verführt, diese ganz einfachen Gedanken und Betrachtungen in eine Staubwolke von seltsamen Worten und Phrasen, und verfinsterte das Licht, das mir aufgegangen war, für mich und andere. Demungeachtet wurden diese Blätter gut aufgenommen und in dem Herderschen Heft »Von deutscher Art und Kunst« nochmals abgedruckt.

Wenn ich mich nun, teils aus Neigung, teils zu dichterischen und andern Zwecken, mit vaterländischen Altertümern sehr gern beschäftigte und sie mir zu vergegenwärtigen suchte; so ward ich durch die biblischen Studien und durch religiöse Anklänge von Zeit zu Zeit wieder abgelenkt, da ja Luthers Leben und Taten, die in dem sechzehnten Jahrhundert so herrlich hervorglänzen, mich immer wieder zu den Heiligen Schriften und zu Betrachtung religiöser Gefühle und Meinungen hinleiten mußten. Die Bibel als ein zusammengetragenes, nach und nach entstandenes, zu verschiedenen Zeiten überarbeitetes Werk anzusehn, schmeichelte meinem kleinen Dünkel, indem diese Vorstellungsart noch keineswegs herrschend, viel weniger in dem Kreis aufgenommen war, in welchem ich lebte. Was den Hauptsinn betraf, hielt ich mich an Luthers Ausdruck, im einzelnen ging ich wohl zur Schmidischen wörtlichen Übersetzung, und suchte mein weniges Hebräisch dabei so gut als möglich zu benutzen. Daß in der Bibel sich Widersprüche finden, wird jetzt niemand in Abrede sein. Diese suchte man dadurch auszugleichen, daß man die deutlichste Stelle zum Grunde legte, und die widersprechende, weniger klare jener anzuähnlichen bemüht war. Ich dagegen wollte durch Prüfung herausfinden, welche Stelle den Sinn der Sache am meisten ausspräche; an diese hielt ich mich und verwarf die anderen als untergeschoben.

Denn schon damals hatte sich bei mir eine Grundmeinung festgesetzt, ohne daß ich zu sagen wüßte, ob sie mir eingeflößt, ob sie bei mir angeregt worden, oder ob sie aus eignem Nachdenken entsprungen sei. Es war nämlich die: bei allem, was uns überliefert, besonders aber schriftlich überliefert werde, komme es auf den Grund, auf das Innere, den Sinn, die Richtung des Werks an; hier liege das Ursprüngliche, Göttliche, Wirksame, Unantastbare, Unverwüstliche, und keine Zeit, keine äußere Einwirkung noch Bedingung könne diesem innern Urwesen etwas anhaben, wenigstens nicht mehr als die Krankheit des Körpers einer wohlgebildeten Seele. So sei nun Sprache, Dialekt, Eigentümlichkeit, Stil und zuletzt die Schrift als Körper eines jeden geistigen Werks anzusehn; dieser, zwar nah genug mit dem Innern verwandt, sei jedoch der Verschlimmerung, dem Verderbnis ausgesetzt: wie denn überhaupt keine Überlieferung ihrer Natur nach ganz rein gegeben und, wenn sie auch rein gegeben würde, in der Folge jederzeit vollkommen verständlich sein könnte, jenes wegen Unzulänglichkeit der Organe, durch welche überliefert wird, dieses wegen des Unterschieds der Zeiten, der Orte, besonders aber wegen der Verschiedenheit menschlicher Fähigkeiten und Denkweisen; weshalb denn ja auch die Ausleger sich niemals vergleichen werden.

Das Innere, Eigentliche einer Schrift, die uns besonders zusagt, zu erforschen, sei daher eines jeden Sache, und dabei vor allen Dingen zu erwägen, wie sie sich zu unserm eignen Innern verhalte, und inwiefern durch jene Lebenskraft die unsrige erregt und befruchtet werde; alles Äußere hingegen, was auf uns unwirksam, oder einem Zweifel unterworfen sei, habe man der Kritik zu überlassen, welche, wenn sie auch imstande sein sollte, das Ganze zu zerstückeln und zu zersplittern, dennoch niemals dahin gelangen würde, uns den eigentlichen Grund, an dem wir festhalten, zu rauben, ja uns nicht einen Augenblick an der einmal gefaßten Zuversicht irre zu machen.

Diese aus Glauben und Schauen entsprungene Überzeugung, welche in allen Fällen, die wir für die wichtigsten erkennen, anwendbar und stärkend ist, liegt zum Grunde meinem sittlichen sowohl als literarischen Lebensbau, und ist als ein wohl angelegtes und reichlich wucherndes Kapital anzusehn, ob wir gleich in einzelnen Fällen zu fehlerhafter Anwendung verleitet werden können. Durch diesen Begriff ward mir denn die Bibel erst recht zugänglich. Ich hatte sie, wie bei dem Religionsunterricht der Protestanten geschieht, mehrmals durchlaufen, ja, mich mit derselben sprungweise, von vorn nach hinten und umgekehrt, bekannt gemacht. Die derbe Natürlichkeit des Alten Testaments und die zarte Naivetät des Neuen hatte mich im einzelnen angezogen; als ein Ganzes wollte sie mir zwar niemals recht entgegentreten, aber die verschiedenen Charakter der verschiedenen Bücher machten mich nun nicht mehr irre: ich wußte mir ihre Bedeutung der Reihe nach treulich zu vergegenwärtigen und hatte überhaupt zu viel Gemüt an dieses Buch verwandt, als daß ich es jemals wieder hätte entbehren sollen. Eben von dieser gemütlichen Seite war ich gegen alle Spöttereien geschützt, weil ich deren Unredlichkeit sogleich einsah. Ich verabscheute sie nicht nur, sondern ich konnte darüber in Wut geraten, und ich erinnere mich noch genau, daß ich in kindlich fanatischem Eifer Voltairen, wenn ich ihn hätte habhaft werden können, wegen seines »Sauls« gar wohl erdrosselt hätte. Jede Art von redlicher Forschung dagegen sagte mir höchlich zu, die Aufklärungen über des Orients Lokalität und Kostüm, welche immer mehr Licht verbreiteten, nahm ich mit Freuden auf, und fuhr fort, allen meinen Scharfsinn an den so werten Überlieferungen zu üben.

Man weiß, wie ich schon früher mich in den Zustand der Urwelt, die uns das erste Buch Mosis schildert, einzuweihen suchte. Weil ich nun schrittweise und ordentlich zu verfahren dachte, so griff ich, nach einer langen Unterbrechung, das zweite Buch an. Allein welch ein Unterschied! Gerade wie die kindliche Fülle aus meinem Leben verschwunden war, so fand ich auch das zweite Buch von dem ersten durch eine ungeheure Kluft getrennt. Das völlige Vergessen vergangener Zeit spricht sich schon aus in den wenigen bedeutenden Worten: »Da kam ein neuer König auf in Ägypten, der wußte nichts von Joseph.« Aber auch das Volk, wie die Sterne des Himmels unzählbar, hatte beinah den Ahnherrn vergessen, dem Jehovah gerade dieses nunmehr erfüllte Versprechen unter dem Sternenhimmel getan hatte. Ich arbeitete mich mit unsäglicher Mühe, mit unzulänglichen Hülfsmitteln und Kräften durch die fünf Bücher und geriet dabei auf die wunderlichsten Einfälle. Ich glaubte gefunden zu haben, daß nicht unsere Zehn Gebote auf den Tafeln gestanden, daß die Israeliten keine vierzig Jahre, sondern nur kurze Zeit durch die Wüste gewandert, und ebenso bildete ich mir ein, über den Charakter Mosis ganz neue Aufschlüsse geben zu können.

Auch das Neue Testament war vor meinen Untersuchungen nicht sicher; ich verschonte es nicht mit meiner Sonderungslust, aber aus Liebe und Neigung stimmte ich doch in jenes heilsame Wort mit ein: »Die Evangelisten mögen sich widersprechen, wenn sich nur das Evangelium nicht widerspricht.« – Auch in dieser Region glaubte ich allerhand Entdeckungen zu machen. Jene Gabe der Sprachen, am Pfingstfeste in Glanz und Klarheit erteilt, deutete ich mir auf eine etwas abstruse Weise, nicht geeignet, sich viele Teilnehmer zu verschaffen.

In eine der Hauptlehren des Luthertums, welche die Brüdergemeine noch geschärft hatte, das Sündhafte im Menschen als vorwaltend anzusehn, versuchte ich mich zu schicken, obgleich nicht mit sonderlichem Glück. Doch hatte ich mir die Terminologie dieser Lehre so ziemlich zu eigen gemacht, und bediente mich derselben in einem Briefe, den ich unter der Maske eines Landgeistlichen an einen neuen Amtsbruder zu erlassen beliebte. Das Hauptthema desselbigen Schreibens war jedoch die Losung der damaligen Zeit, sie hieß Toleranz, und galt unter den besseren Köpfen und Geistern.

Solche Dinge, die nach und nach entstanden, ließ ich, um mich an dem Publikum zu versuchen, im folgenden Jahre auf meine Kosten drucken, verschenkte sie, oder gab sie der Eichenbergischen Buchhandlung, um sie so gut als möglich zu verhöken, ohne daß mir dadurch einiger Vorteil zugewachsen wäre. Hier und da gedenkt eine Rezension derselben, bald günstig, bald ungünstig, doch gleich waren sie verschollen. Mein Vater bewahrte sie sorgfältig in seinem Archiv, sonst würde ich kein Exemplar davon besitzen. Ich werde sie, sowie einiges Ungedruckte der Art, was ich noch vorgefunden, der neuen Ausgabe meiner Werke hinzufügen.

Da ich mich nun sowohl zu dem sibyllinischen Stil solcher Blätter als zu der Herausgabe derselben eigentlich durch Hamann hatte verleiten lassen, so scheint mir hier eine schickliche Stelle, dieses würdigen einflußreichen Mannes zu gedenken, der uns damals ein ebenso großes Geheimnis war, als er es immer dem Vaterlande geblieben ist. Seine »Sokratischen Denkwürdigkeiten« erregten Aufsehen, und waren solchen Personen besonders lieb, die sich mit dem blendenden Zeitgeiste nicht vertragen konnten. Man ahndete hier einen tiefdenkenden gründlichen Mann, der, mit der offenbaren Welt und Literatur genau bekannt, doch auch noch etwas Geheimes, Unerforschliches gelten ließ, und sich darüber auf eine ganz eigne Weise aussprach. Von denen, die damals die Literatur des Tags beherrschten, ward er freilich für einen abstrusen Schwärmer gehalten, eine aufstrebende Jugend aber ließ sich wohl von ihm anziehn. Sogar die Stillen im Lande, wie sie halb im Scherz, halb im Ernst genannt wurden, jene frommen Seelen, welche, ohne sich zu irgend einer Gesellschaft zu bekennen, eine unsichtbare Kirche bildeten, wendeten ihm ihre Aufmerksamkeit zu, und meiner Klettenberg, nicht weniger ihrem Freunde Moser war der »Magus aus Norden« eine willkommene Erscheinung. Man setzte sich um so mehr mit ihm in Verhältnis, als man erfahren hatte, daß er, von knappen häuslichen Um ständen gepeinigt, sich dennoch diese schöne und hohe Sinnesweise zu erhalten verstand. Bei dem großen Einflusse des Präsidenten von Moser wäre es leicht gewesen, einem so genügsamen Manne ein leidliches und bequemes Dasein zu verschaffen. Die Sache war auch eingeleitet, ja man hatte sich so weit schon verständigt und genähert, daß Hamann die weite Reise von Königsberg nach Darmstadt unternahm. Als aber der Präsident zufällig abwesend war, kehrte jener wunderliche Mann, aus welchem Anlaß weiß man nicht, sogleich wieder zurück; man blieb jedoch in einem freundlichen Briefverhältnis. Ich besitze noch zwei Schreiben des Königsbergers an seinen Gönner, die von der wundersamen Großheit und Innigkeit ihres Verfassers Zeugnis ablegen.

Aber ein so gutes Verständnis sollte nicht lange dauern. Diese frommen Menschen hatten sich jenen auch nach ihrer Weise fromm gedacht, sie hatten ihn als den Magus aus Norden mit Ehrfurcht behandelt, und glaubten, daß er sich auch so fort in ehrwürdigem Betragen darstellen würde. Allein er hatte schon durch die »Wolken, ein Nachspiel Sokratischer Denkwürdigkeiten« einigen Anstoß gegeben, und da er nun gar die »Kreuzzüge des Philologen« herausgab, auf deren Titelblatt nicht allein das Ziegenprofil eines gehörnten Pans zu sehen war, sondern auch auf einer der ersten Seiten ein großer, in Holz geschnittener Hahn, taktgebend jungen Hähnchen, die mit Noten in den Krallen vor ihm da standen, sich höchst lächerlich zeigte, wodurch gewisse Kirchenmusiken, die der Verfasser nicht billigen mochte, scherzhaft durchgezogen werden sollten: so entstand unter den Wohl-und Zartgesinnten ein Mißbehagen, welches man dem Verfasser merken ließ, der denn auch, dadurch nicht erbaut, einer engeren Vereinigung sich entzog. Unsere Aufmerksamkeit auf diesen Mann hielt jedoch Herder immer lebendig, der, mit seiner Braut und uns in Korrespondenz bleibend, alles, was von jenem merkwürdigen Geiste nur ausging, sogleich mitteilte. Darunter gehörten denn auch seine Rezensionen und Anzeigen, eingerückt in die »Königsberger Zeitung«, die alle einen höchst sonderbaren Charakter trugen. Ich besitze eine meist vollständige Sammlung seiner Schriften und einen sehr bedeutenden handschriftlichen Aufsatz über Herders Preisschrift, den Ursprung der Sprache betreffend, worin er dieses Herdersche Probestück, auf die eigenste Art, mit wunderlichen Schlaglichtern beleuchtet.

Ich gebe die Hoffnung nicht auf, eine Herausgabe der Hamannschen Werke entweder selbst zu besorgen, oder wenigstens zu befördern, und alsdann, wenn diese wichtigen Dokumente wieder vor den Augen des Publikums liegen, möchte es Zeit sein, über den Verfasser, dessen Natur und Wesen das Nähere zu besprechen; inzwischen will ich noch einiges hier schon beibringen, um so mehr, als noch vorzügliche Männer leben, die ihm auch ihre Neigung geschenkt, und deren Beistimmung oder Zurechtweisung mir sehr willkommen sein würde. Das Prinzip, auf welches die sämtlichen Äußerungen Hamanns sich zurückführen lassen, ist dieses: »Alles, was der Mensch zu leisten unternimmt, es werde nun durch Tat oder Wort oder sonst hervorgebracht, muß aus sämtlichen vereinigten Kräften entspringen; alles Vereinzelte ist verwerflich.« Eine herrliche Maxime! aber schwer zu befolgen. Von Leben und Kunst mag sie freilich gelten; bei jeder Überlieferung durchs Wort hingegen, die nicht gerade poetisch ist, findet sich eine große Schwierigkeit: denn das Wort muß sich ablösen, es muß sich vereinzeln, um etwas zu sagen, zu bedeuten. Der Mensch, indem er spricht, muß für den Augenblick einseitig werden; es gibt keine Mitteilung, keine Lehre ohne Sonderung. Da nun aber Hamann ein für allemal dieser Trennung widerstrebte, und, wie er in einer Einheit empfand, imaginierte, dachte, so auch sprechen wollte, und das gleiche von andern verlangte; so trat er mit seinem eignen Stil und mit allem, was die andern hervorbringen konnten, in Widerstreit. Um das Unmögliche zu leisten, greift er daher nach allen Elementen; die tiefsten geheimsten Anschauungen, wo sich Natur und Geist im Verborgenen begegnen, erleuchtende Verstandesblitze, die aus einem solchen Zusammentreffen hervorstrahlen, bedeutende Bilder, die in diesen Regionen schweben, andringende Sprüche der heiligen und Profanskribenten, und was sich sonst noch humoristisch hinzufügen mag, alles dieses bildet die wunderbare Gesamtheit seines Stils, seiner Mitteilungen. Kann man sich nun in der Tiefe nicht zu ihm gesellen, auf den Höhen nicht mit ihm wandeln, der Gestalten, die ihm vorschweben, sich nicht bemächtigen, aus einer unendlich ausgebreiteten Literatur nicht gerade den Sinn einer nur angedeuteten Stelle herausfinden; so wird es um uns nur trüber und dunkler, je mehr wir ihn studieren, und diese Finsternis wird mit den Jahren immer zunehmen, weil seine Anspielungen auf bestimmte, im Leben und in der Literatur augenblicklich herrschende Eigenheiten vorzüglich gerichtet waren. Unter meiner Sammlung befinden sich einige seiner gedruckten Bogen, wo er an dem Rande eigenhändig die Stellen zitiert hat, auf die sich seine Andeutungen beziehn. Schlägt man sie auf, so gibt es abermals ein zweideutiges Doppellicht, das uns höchst angenehm erscheint, nur muß man durchaus auf das Verzicht tun, was man gewöhnlich Verstehen nennt. Solche Blätter verdienen auch deswegen sibyllinisch genannt zu werden, weil man sie nicht an und für sich betrachten kann, sondern auf Gelegenheit warten muß, wo man etwa zu ihren Orakeln seine Zuflucht nähme. Jedesmal, wenn man sie aufschlägt, glaubt man etwas Neues zu finden, weil der einer jeden Stelle inwohnende Sinn uns auf eine vielfache Weise berührt und aufregt.

Persönlich habe ich ihn nie gesehn, auch kein unmittelbares Verhältnis zu ihm durch Briefe gehabt. Mir scheint er in Lebens- und Freundschaftsverhältnissen höchst klar gewesen zu sein und die Bezüge der Menschen untereinander und auf ihn sehr richtig gefühlt zu haben. Alle Briefe, die ich von ihm sah, waren vortrefflich und viel deutlicher als seine Schriften, weil hier der Bezug auf Zeit und Umstände sowie auf persönliche Verhältnisse klarer hervortrat. Soviel glaubte ich jedoch durchaus zu ersehn, daß er, die Überlegenheit seiner Geistesgaben aufs naivste fühlend, sich jederzeit für etwas weiser und klüger gehalten als seine Korrespondenten, denen er mehr ironisch als herzlich begegnete. Gälte dies auch nur von einzelnen Fällen, so war es für mich doch die Mehrzahl, und Ursache, daß ich mich ihm zu nähern niemals Verlangen trug.

Zwischen Herder und uns waltete dagegen ein gemütlich literarischer Verkehr höchst lebhaft fort, nur schade, daß er sich niemals ruhig und rein erhalten konnte. Aber Herder unterließ sein Necken und Schelten nicht; Mercken brauchte man nicht viel zu reizen, der mich denn auch zur Ungeduld aufzuregen wußte. Weil nun Herder unter allen Schriftstellern und Menschen Swiften am meisten zu ehren schien, so hieß er unter uns gleichfalls der Dechant, und dieses gab abermals zu mancherlei Irrungen und Verdrießlichkeiten Anlaß.

Demungeachtet freuten wir uns höchlich, als wir vernahmen, daß er in Bückeburg sollte angestellt werden, welches ihm doppelt Ehre brachte: denn sein neuer Patron hatte den höchsten Ruf als ein einsichtiger, tapferer, obwohl sonderbarer Mann gewonnen. Thomas Abbt war in diesen Diensten bekannt und berühmt geworden, dem Verstorbenen klagte das Vaterland nach und freute sich an dem Denkmal, das ihm sein Gönner gestiftet. Nun sollte Herder an der Stelle des zu früh Verblichenen alle diejenigen Hoffnungen erfüllen, welche sein Vorgänger so würdig erregt hatte.

Die Epoche, worin dieses geschah, gab einer solchen Anstellung doppelten Glanz und Wert; denn mehrere deutsche Fürsten folgten schon dem Beispiel des Grafen von der Lippe, daß sie nicht bloß gelehrte und eigentlich geschäftsfähige, sondern auch geistreiche und vielversprechende Männer in ihre Dienste aufnahmen. Es hieß: Klopstock sei von dem Markgrafen Karl von Baden berufen worden, nicht zu eigentlichem Geschäftsdienst, sondern um, durch seine Gegenwart, Anmut und Nutzen der höheren Gesellschaft mitzuteilen. So wie nun hierdurch das Ansehn auch dieses vortrefflichen Fürsten wuchs, der allem Nützlichen und Schönen seine Aufmerksamkeit schenkte, so mußte die Verehrung für Klopstock gleichfalls nicht wenig zunehmen. Lieb und wert war alles, was von ihm ausging; sorgfältig schrieben wir die Oden ab und die Elegien, wie sie ein jeder habhaft werden konnte. Höchst vergnügt waren wir daher, als die große Landgräfin Karoline von Hessen-Darmstadt eine Sammlung derselben veranstaltete, und eins der wenigen Exemplare in unsere Hände kam, das uns instand setzte, die eignen handschriftlichen Sammlungen zu vervollzähligen. Daher sind uns jene ersten Lesarten lange Zeit die liebsten geblieben, ja wir haben uns noch oft an Gedichten, die der Verfasser nachher verworfen, erquickt und erfreut. So wahr ist, daß das aus einer schönen Seele hervordringende Leben nur um desto freier wirkt, je weniger es durch Kritik in das Kunstfach herübergezogen erscheint.

Klopstock hatte sich und andern talentvollen Männern, durch seinen Charakter und sein Betragen, Ansehn und Würde zu verschaffen gewußt; nun sollten sie ihm aber auch wo möglich die Sicherung und Verbesserung ihres häuslichen Bestandes verdanken. Der Buchhandel nämlich bezog sich in früherer Zeit mehr auf bedeutende, wissenschaftliche Fakultätswerke, auf stehende Verlagsartikel, welche mäßig honoriert wurden. Die Produktion von poetischen Schriften aber wurde als etwas Heiliges angesehn, und man hielt es beinah für Simonie, ein Honorar zu nehmen oder zu steigern. Autoren und Verleger standen in dem wunderlichsten Wechselverhältnis. Beide erschienen, wie man es nehmen wollte, als Patrone und als Klienten. Jene, die, neben ihrem Talent, gewöhnlich als höchst sittliche Menschen vom Publikum betrachtet und verehrt wurden, hatten einen geistigen Rang und fühlten sich durch das Glück der Arbeit belohnt; diese begnügten sich gern mit der zweiten Stelle und genossen eines ansehnlichen Vorteils: nun aber setzte die Wohlhabenheit den reichen Buchhändler wieder über den armen Poeten, und so stand alles in dem schönsten Gleichgewicht. Wechselseitige Großmut und Dankbarkeit war nicht selten: Breitkopf und Gottsched blieben lebenslang Hausgenossen; Knickerei und Niederträchtigkeit, besonders der Nachdrucker, waren noch nicht im Schwange.

Demungeachtet war unter den deutschen Autoren eine allgemeine Bewegung entstanden. Sie verglichen ihren eignen, sehr mäßigen, wo nicht ärmlichen Zustand mit dem Reichtum der angesehenen Buchhändler, sie betrachteten, wie groß der Ruhm eines Gellert, eines Rabener sei, und in welcher häuslichen Enge ein allgemein beliebter deutscher Schriftsteller sich behelfen müsse, wenn er sich nicht durch sonst irgend einen Erwerb das Leben erleichterte. Auch die mittleren und geringern Geister fühlten ein lebhaftes Verlangen, ihre Lage verbessert zu sehn, sich von Verlegern unabhängig zu machen.

Nun trat Klopstock hervor und bot seine »Gelehrtenrepublik« auf Subskription an. Obgleich die spätern Gesänge des »Messias«, teils ihres Inhalts, teils der Behandlung wegen, nicht die Wirkung tun konnten wie die frühern, die, selbst rein und unschuldig, in eine reine und unschuldige Zeit kamen; so blieb doch die Achtung gegen den Dichter immer gleich, der sich, durch die Herausgabe seiner Oden, die Herzen, Geister und Gemüter vieler Menschen zugewendet hatte. Viele wohldenkende Männer, darunter mehrere von großem Einfluß, erboten sich, Vorausbezahlung anzunehmen, die auf einen Louisdor gesetzt war, weil es hieß, daß man nicht sowohl das Buch bezahlen, als den Verfasser, bei dieser Gelegenheit, für seine Verdienste um das Vaterland belohnen sollte. Hier drängte sich nun jedermann hinzu, selbst Jünglinge und Mädchen, die nicht viel aufzuwenden hatten, eröffneten ihre Sparbüchsen; Männer und Frauen, der obere, der mittlere Stand trugen zu dieser heiligen Spende bei, und es kamen vielleicht tausend Pränumeranten zusammen. Die Erwartung war aufs höchste gespannt, das Zutrauen so groß als möglich.

Hiernach mußte das Werk, bei seiner Erscheinung, den seltsamsten Erfolg von der Welt haben; zwar immer von bedeutendem Wert, aber nichts weniger als allgemein ansprechend. Wie Klopstock über Poesie und Literatur dachte, war in Form einer alten deutschen Druidenrepublik dargestellt, seine Maximen über das Echte und Falsche in lakonischen Kernsprüchen angedeutet, wobei jedoch manches Lehrreiche der seltsamen Form aufgeopfert wurde. Für Schriftsteller und Literatoren war und ist das Buch unschätzbar, konnte aber auch nur in diesem Kreise wirksam und nützlich sein. Wer selbst gedacht hatte, folgte dem Denker, wer das Echte zu suchen und zu schätzen wußte, fand sich durch den gründlichen braven Mann belehrt; aber der Liebhaber, der Leser ward nicht aufgeklärt, ihm blieb das Buch versiegelt, und doch hatte man es in alle Hände gegeben, und indem jedermann ein vollkommen brauchbares Werk erwartete, erhielten die meisten ein solches, dem sie auch nicht den mindesten Geschmack abgewinnen konnten. Die Bestürzung war allgemein, die Achtung gegen den Mann aber so groß, daß kein Murren, kaum ein leises Murmeln entstand. Die junge schöne Welt verschmerzte den Verlust und verschenkte nun scherzend die teuer erworbenen Exemplare. Ich erhielt selbst mehrere von guten Freundinnen, deren keines aber mir geblieben ist.

Diese dem Autor gelungene, dem Publikum aber mißlungene Unternehmung hatte die böse Folge, daß nun so bald nicht mehr an Subskription und Pränumeration zu denken war; doch hatte sich jener Wunsch zu allgemein verbreitet, als daß der Versuch nicht hätte erneuert werden sollen. Dieses nun im großen und ganzen zu tun, erbot sich die Dessauische Verlagshandlung. Hier sollten Gelehrte und Verleger, in geschlossenem Bund, des zu hoffenden Vorteils beide verhältnismäßig genießen. Das so lange peinlich empfundene Bedürfnis erweckte hier abermals ein großes Zutrauen, das sich aber nicht lange erhalten konnte, und leider schieden die Teilhaber nach kurzen Bemühungen mit wechselseitigem Schaden auseinander.

Eine rasche Mitteilung war jedoch unter den Literaturfreunden schon eingeleitet; die Musenalmanache verbanden alle jungen Dichter, die Journale den Dichter mit den übrigen Schriftstellern. Meine Lust am Hervorbringen war grenzenlos; gegen mein Hervorgebrachtes verhielt ich mich gleichgültig; nur wenn ich es mir und andern in geselligem Kreise froh wieder vergegenwärtigte, erneute sich die Neigung daran. Auch nahmen viele gern an meinen größern und kleinern Arbeiten teil, weil ich einen jeden, der sich nur einigermaßen zum Hervorbringen geneigt und geschickt fühlte, etwas in seiner eignen Art unabhängig zu leisten, dringend nötigte, und von allen gleichfalls wieder zu neuem Dichten und Schreiben aufgefordert wurde. Dieses wechselseitige, bis zur Ausschweifung gehende Hetzen und Treiben gab jedem nach seiner Art einen fröhlichen Einfluß, und aus diesem Quirlen und Schaffen, aus diesem Leben und Lebenlassen, aus diesem Nehmen und Geben, welches mit freier Brust, ohne irgend einen theoretischen Leitstern, von so viel Jünglingen, nach eines jeden angebornem Charakter, ohne Rücksichten getrieben wurde, entsprang jene berühmte, berufene und verrufene Literarepoche, in welcher eine Masse junger genialer Männer, mit aller Mutigkeit und aller Anmaßung, wie sie nur einer solchen Jahreszeit eigen sein mag, hervorbrachen, durch Anwendung ihrer Kräfte manche Freude, manches Gute, durch den Mißbrauch derselben manchen Verdruß und manches Übel stifteten; und gerade die aus dieser Quelle entspringenden Wirkungen und Gegenwirkungen sind das Hauptthema dieses Bandes.

Woran sollen aber junge Leute das höchste Interesse finden, wie sollen sie unter ihresgleichen Interesse erregen, wenn die Liebe sie nicht beseelt, und wenn nicht Herzensangelegenheiten, von welcher Art sie auch sein mögen, in ihnen lebendig sind? Ich hatte im stillen eine verlorene Liebe zu beklagen; dies machte mich mild und nachgiebig, und der Gesellschaft angenehmer als in glänzenden Zeiten, wo mich nichts an einen Mangel oder einen Fehltritt erinnerte, und ich ganz ungebunden vor mich hinstürmte.

Die Antwort Friedrikens auf einen schriftlichen Abschied zerriß mir das Herz. Es war dieselbe Hand, derselbe Sinn, dasselbe Gefühl, die sich zu mir, die sich an mir herangebildet hatten. Ich fühlte nun erst den Verlust, den sie erlitt, und sah keine Möglichkeit ihn zu ersetzen, ja nur ihn zu lindern. Sie war mir ganz gegenwärtig; stets empfand ich, daß sie mir fehlte, und, was das Schlimmste war, ich konnte mir mein eignes Unglück nicht verzeihen. Gretchen hatte man mir genommen, Annette mich verlassen, hier war ich zum erstenmal schuldig; ich hatte das schönste Herz in seinem Tiefsten verwundet, und so war die Epoche einer düsteren Reue, bei dem Mangel einer gewohnten erquicklichen Liebe, höchst peinlich, ja unerträglich. Aber der Mensch will leben; daher nahm ich aufrichtigen Teil an andern, ich suchte ihre Verlegenheiten zu entwirren, und, was sich trennen wollte, zu verbinden, damit es ihnen nicht ergehen möchte wie mir. Man pflegte mich daher den Vertrauten zu nennen, auch, wegen meines Umherschweifens in der Gegend, den Wanderer. Dieser Beruhigung für mein Gemüt, die mir nur unter freiem Himmel, in Tälern, auf Höhen, in Gefilden und Wäldern zuteil ward, kam die Lage von Frankfurt zustatten, das zwischen Darmstadt und Homburg mitten inne lag, zwei angenehmen Orten, die durch Verwandtschaft beider Höfe in gutem Verhältnis standen. Ich gewöhnte mich, auf der Straße zu leben, und wie ein Bote zwischen dem Gebirg und dem flachen Lande hin und her zu wandern. Oft ging ich allein oder in Gesellschaft durch meine Vaterstadt, als wenn sie mich nichts anginge, speiste in einem der großen Gasthöfe in der Fahrgasse und zog nach Tische meines Wegs weiter fort. Mehr als jemals war ich gegen offene Welt und freie Natur gerichtet. Unterwegs sang ich mir seltsame Hymnen und Dithyramben, wovon noch eine, unter dem Titel »Wanderers Sturmlied«, übrig ist. Ich sang diesen Halbunsinn leidenschaftlich vor mich hin, da mich ein schreckliches Wetter unterweges traf, dem ich entgegen gehn mußte.

Mein Herz war ungerührt und unbeschäftigt: ich vermied gewissenhaft alles nähere Verhältnis zu Frauenzimmern, und so blieb mir verborgen, daß mich Unaufmerksamen und Unwissenden ein liebevoller Genius heimlich umschwebe. Eine zarte liebenswürdige Frau hegte im stillen eine Neigung zu mir, die ich nicht gewahrte, und mich eben deswegen in ihrer wohltätigen Gesellschaft desto heiterer und anmutiger zeigte. Erst mehrere Jahre nachher, ja erst nach ihrem Tode, erfuhr ich das geheime himmlische Lieben, auf eine Weise, die mich erschüttern mußte; aber ich war schuldlos und konnte ein schuldloses Wesen rein und redlich betrauern, und um so schöner, als die Entdeckung gerade in eine Epoche fiel, wo ich, ganz ohne Leidenschaft, mir und meinen geistigen Neigungen zu leben das Glück hatte.

Aber zu der Zeit, als der Schmerz über Friedrikens Lage mich beängstigte, suchte ich, nach meiner alten Art, abermals Hülfe bei der Dichtkunst. Ich setzte die hergebrachte poetische Beichte wieder fort, um durch diese selbstquälerische Büßung einer innern Absolution würdig zu werden. Die beiden Marien in »Götz von Berlichingen« und »Clavigo«, und die beiden schlechten Figuren, die ihre Liebhaber spielen, möchten wohl Resultate solcher reuigen Betrachtungen gewesen sein.

Wie man aber Verletzungen und Krankheiten in der Jugend rasch überwindet, weil ein gesundes System des organischen Lebens für ein krankes einstehen und ihm Zeit lassen kann, auch wieder zu gesunden, so traten körperliche Übungen glücklicherweise, bei mancher günstigen Gelegenheit, gar vorteilhaft hervor, und ich ward zu frischem Ermannen, zu neuen Lebensfreuden und Genüssen vielfältig aufgeregt. Das Reiten verdrängte nach und nach jene schlendernden, melancholischen, beschwerlichen und doch langsamen und zwecklosen Fußwanderungen; man kam schneller, lustiger und bequemer zum Zweck. Die jüngern Gesellen führten das Fechten wieder ein; besonders aber tat sich, bei eintretendem Winter, eine neue Welt vor uns auf, indem ich mich zum Schlittschuhfahren, welches ich nie versucht hatte, rasch entschloß, und es in kurzer Zeit, durch Übung, Nachdenken und Beharrlichkeit, so weit brachte als nötig ist, um eine frohe und belebte Eisbahn mitzugenießen, ohne sich gerade auszeichnen zu wollen.

Diese neue frohe Tätigkeit waren wir denn auch Klopstocken schuldig, seinem Enthusiasmus für diese glückliche Bewegung, den Privatnachrichten bestätigten, wenn seine Oden davon ein unverwerfliches Zeugnis ablegen. Ich erinnere mich ganz genau, daß, an einem heiteren Frostmorgen, ich aus dem Bette springend mir jene Stellen zurief:

Schon von dem Gefühle der Gesundheit froh,

Hab’ ich, weit hinab, weiß an dem Gestade gemacht

Den bedeckenden Kristall.

Wie erhellt des Winters werdender Tag

Sanft den See! Glänzenden Reif, Sternen gleich,

Streute die Nacht über ihn aus!

Mein zaudernder und schwankender Entschluß war sogleich bestimmt, und ich flog sträcklings dem Orte zu, wo ein so alter Anfänger mit einiger Schicklichkeit seine ersten Übungen anstellen konnte. Und fürwahr! diese Kraftäußerung verdiente wohl von Klopstock empfohlen zu werden, die uns mit der frischesten Kindheit in Berührung setzt, den Jüngling seiner Gelenkheit ganz zu genießen aufruft, und ein stockendes Alter abzuwehren geeignet ist. Auch hingen wir dieser Lust unmäßig nach. Einen herrlichen Sonnentag so auf dem Eise zu verbringen, genügte uns nicht; wir setzten unsere Bewegung bis spät in die Nacht fort. Denn wie andere Anstrengungen den Leib ermüden, so verleiht ihm diese eine immer neue Schwungkraft. Der über den nächtlichen, weiten, zu Eisfeldern überfrorenen Wiesen aus den Wolken hervortretende Vollmond, die unserm Lauf entgegensäuselnde Nachtluft, des bei abnehmendem Wasser sich senkenden Eises ernsthafter Donner, unserer eigenen Bewegungen sonderbarer Nachhall vergegenwärtigten uns Ossiansche Szenen ganz vollkommen. Bald dieser bald jener Freund ließ in deklamatorischem Halbgesange eine Klopstockische Ode ertönen, und wenn wir uns im Dämmerlichte zusammenfanden, erscholl das ungeheuchelte Lob des Stifters unserer Freuden.

Und sollte der unsterblich nicht sein,

Der Gesundheit uns und Freuden erfand,

Die das Roß mutig im Lauf niemals gab,

Welche der Ball selber nicht hat?

Solchen Dank verdient sich ein Mann, der irgend ein irdisches Tun durch geistige Anregung zu veredeln und würdig zu verbreiten weiß!

Und so wie talentreiche Kinder, deren Geistesgaben schon früh wundersam ausgebildet sind, sich, wenn sie nur dürfen, den einfachsten Knabenspielen wieder zuwenden, vergaßen wir nur allzu leicht unseren Beruf zu ernsteren Dingen; doch regte gerade diese oft einsame Bewegung, dieses gemächliche Schweben im Unbestimmten, gar manche meiner innern Bedürfnisse wieder auf, die eine Zeitlang geschlafen hatten, und ich bin solchen Stunden die schnellere Ausbildung älterer Vorsätze schuldig geworden.

Die dunkleren Jahrhunderte der deutschen Geschichte hatten von jeher meine Wißbegierde und Einbildungskraft beschäftigt. Der Gedanke, den Götz von Berlichingen in seiner Zeitumgebung zu dramatisieren, war mir höchlich lieb und wert. Ich las die Hauptschriftsteller fleißig; dem Werke »De pace publica« von Datt widmete ich alle Aufmerksamkeit; ich hatte es emsig durchstudiert, und mir jene seltsamen Einzelnheiten möglichst veranschaulicht. Diese zu sittlichen und poetischen Absichten hin gerichteten Bemühungen konnte ich auch nach einer anderen Seite brauchen, und da ich nunmehr Wetzlar besuchen sollte, war ich geschichtlich vorbereitet genug: denn das Kammergericht war doch auch in Gefolge des Landfriedens entstanden, und die Geschichte desselben konnte für einen bedeutenden Leitfaden durch die verworrenen deutschen Ereignisse gelten. Gibt doch die Beschaffenheit der Gerichte und der Heere die genauste Einsicht in die Beschaffenheit irgend eines Reichs. Die Finanzen selbst, deren Einfluß man für so wichtig hält, kommen viel weniger in Betracht: denn wenn es dem Ganzen fehlt, so darf man dem Einzelnen nur abnehmen, was er mühsam zusammengescharrt und – gehalten hat, und so ist der Staat immer reich genug.

Was mir in Wetzlar begegnete, ist von keiner großen Bedeutung, aber es kann ein höheres Interesse einflößen, wenn man eine flüchtige Geschichte des Kammergerichts nicht verschmähen will, um sich den ungünstigen Augenblick zu vergegenwärtigen, in welchem ich daselbst anlangte.

Die Herren der Erde sind es vorzüglich dadurch, daß sie, wie im Kriege die Tapfersten und Entschlossensten, so im Frieden die Weisesten und Gerechtesten um sich versammeln können. Auch zu dem Hofstaat eines deutschen Kaisers gehörte ein solches Gericht, das ihn, bei seinen Zügen durch das Reich, immer begleitete. Aber weder diese Sorgfalt noch das Schwabenrecht, welches im südlichen Deutschland, das Sachsenrecht, welches im nördlichen galt, weder die zu Aufrechthaltung derselben bestellten Richter, noch die Austräge der Ebenbürtigen, weder die Schiedsrichter, durch Vertrag anerkannt, noch gütliche Vergleiche, durch die Geistlichen gestiftet, nichts konnte den aufgereizten ritterlichen Fehdegeist stillen, der bei den Deutschen durch innern Zwist, durch fremde Feldzüge, besonders aber durch die Kreuzfahrten, ja durch Gerichtsgebräuche selbst aufgeregt, genährt und zur Sitte geworden. Dem Kaiser sowie den mächtigern Ständen waren die Plackereien höchst verdrießlich, wodurch die Kleinen einander selbst, und, wenn sie sich verbanden, auch den Größern lästig wurden. Gelähmt war alle Kraft nach außen, wie die Ordnung nach innen gestört; überdies lastete noch das Femgericht auf einem großen Teile des Vaterlands, von dessen Schrecknissen man sich einen Begriff machen kann, wenn man denkt, daß es in eine geheime Polizei ausartete, die sogar zuletzt in die Hände von Privatleuten gelangte.

Diesen Unbilden einigermaßen zu steuern, ward vieles umsonst versucht, bis endlich die Stände ein Gericht aus eignen Mitteln dringend in Vorschlag brachten. Dieser, so wohlgemeint er auch sein mochte, deutete doch immer auf Erweiterung der ständischen Befugnisse, auf eine Beschränkung der kaiserlichen Macht. Unter Friedrich dem Dritten verzögert sich die Sache; sein Sohn Maximilian, von außen gedrängt, gibt nach. Er bestellt den Oberrichter, die Stände senden die Beisitzer. Es sollten ihrer vierundzwanzig sein, anfangs begnügt man sich mit zwölfen.

Ein allgemeiner Fehler, dessen sich die Menschen bei ihren Unternehmungen schuldig machen, war auch der erste und ewige Grundmangel des Kammergerichts: zu einem großen Zwecke wurden unzulängliche Mittel angewendet. Die Zahl der Assessoren war zu klein; wie sollte von ihnen die schwere und weitläuftige Aufgabe gelöst werden! Allein wer sollte auf eine hinlängliche Einrichtung dringen? Der Kaiser konnte eine Anstalt nicht begünstigen, die mehr wider als für ihn zu wirken schien; weit größere Ursache hatte er, sein eignes Gericht, seinen eignen Hofrat auszubilden. Betrachtet man dagegen das Interesse der Stände, so konnte es ihnen eigentlich nur um Stillung des Bluts zu tun sein, ob die Wunde geheilt würde, lag ihnen nicht so nah; und nun noch gar ein neuer Kostenaufwand! Man mochte sich’s nicht ganz deutlich gemacht haben, daß durch diese Anstalt jeder Fürst seine Dienerschaft vermehre, freilich zu einem entschiedenen Zwecke, aber wer gibt gern Geld fürs Notwendige? Jedermann wäre zufrieden, wenn er das Nützliche um Gottes willen haben könnte.

Anfangs sollten die Beisitzer von Sporteln leben, dann erfolgte eine mäßige Bewilligung der Stände; beides war kümmerlich. Aber dem großen und auffallenden Bedürfnis abzuhelfen, fanden sich willige, tüchtige, arbeitsame Männer, und das Gericht ward eingesetzt. Ob man einsah, daß hier nur von Linderung, nicht von Heilung des Übels die Rede sei, oder ob man sich, wie in ähnlichen Fällen, mit der Hoffnung schmeichelte, mit wenigem vieles zu leisten, ist nicht zu entscheiden; genug, das Gericht diente mehr zum Vorwande, die Unruhstifter zu bestrafen, als daß es gründlich dem Unrecht vorgebeugt hätte. Allein es ist kaum beisammen, so erwächst ihm eine Kraft aus sich selbst, es fühlt die Höhe, auf die es gestellt ist, es erkennt seine große politische Wichtigkeit. Nun sucht es sich durch auffallende Tätigkeit ein entschiedneres Ansehn zu erwerben; frisch arbeiten sie weg alles, was kurz abgetan werden kann und muß, was über den Augenblick entscheidet, oder was sonst leicht beurteilt werden kann, und so erscheinen sie im ganzen Reiche wirksam und würdig. Die Sachen von schwererem Gehalt hingegen, die eigentlichen Rechtshändel, blieben im Rückstand, und es war kein Unglück. Dem Staate liegt nur daran, daß der Besitz gewiß und sicher sei; ob man mit Recht besitze, kann ihn weniger kümmern. Deswegen erwuchs aus der nach und nach aufschwellenden ungeheuren Anzahl von verspäteten Prozessen dem Reiche kein Schade. Gegen Leute, die Gewalt brauchten, war ja vorgesehn, und mit diesen konnte man fertig werden, die übrigen, die rechtlich um den Besitz stritten, sie lebten, genossen oder darbten, wie sie konnten; sie starben, verdarben, verglichen sich; das alles war aber nur Heil oder Unheil einzelner Familien, das Reich ward nach und nach beruhigt. Denn dem Kammergericht war ein gesetzliches Faustrecht gegen die Ungehorsamen in die Hände gegeben; hätte man den Bannstrahl schleudern können, dieser wäre wirksamer gewesen.

Jetzo aber, bei der bald vermehrten, bald verminderten Anzahl der Assessoren, bei manchen Unterbrechungen, bei Verlegung des Gerichts von einem Ort an den andern, mußten diese Reste, diese Akten ins Unendliche anwachsen. Nun flüchtete man in Kriegsnot einen Teil des Archivs von Speyer nach Aschaffenburg, einen Teil nach Worms, der dritte fiel in die Hände der Franzosen, welche ein Staatsarchiv erobert zu haben glaubten, und hernach geneigt gewesen wären, sich dieses Papierwusts zu entledigen, wenn nur jemand die Fuhren hätte daran wenden wollen.

Bei den westfälischen Friedensunterhandlungen sahen die versammelten tüchtigen Männer wohl ein, was für ein Hebel erfordert werde, um jene sisyphische Last vom Platze zu bewegen. Nun sollten fünfzig Assessoren angestellt werden, diese Zahl ist aber nie erreicht worden: man begnügte sich abermals mit der Hälfte, weil der Aufwand zu groß schien; allein hätten die Interessenten sämtlich ihren Vorteil bei der Sache gesehn, so wäre das Ganze gar wohl zu leisten gewesen. Um fünfundzwanzig Beisitzer zu besolden, waren ohngefähr einhunderttausend Gulden nötig; wie leicht hätte Deutschland das Doppelte herbeigeschafft. Der Vorschlag, das Kammergericht mit eingezogenen geistlichen Gütern auszustatten, konnte nicht durchgehn: denn wie sollten sich beide Religionsteile zu dieser Aufopferung verstehn? Die Katholiken wollten nicht noch mehr verlieren, und die Protestanten das Gewonnene jeder zu innern Zwecken verwenden. Die Spaltung des Reichs in zwei Religionsparteien hatte auch hier, in mehrerem Betracht, den schlimmsten Einfluß. Nun verminderte sich der Anteil der Stände an diesem ihrem Gericht immer mehr: die mächtigern suchten sich von dem Verbande loszulösen; Freibriefe, vor keinem obern Gerichtshofe belangt zu werden, wurden immer lebhafter gesucht; die größeren blieben mit den Zahlungen zurück, und die kleineren, die sich in der Matrikel ohnehin bevorteilt glaubten, säumten, solange sie konnten.

Wie schwer war es daher, den zahltägigen Bedarf zu den Besoldungen aufzubringen. Hieraus entsprang ein neues Geschäft, ein neuer Zeitverlust für das Kammergericht; früher hatten die jährlichen sogenannten Visitationen dafür gesorgt. Fürsten in Person, oder ihre Räte, begaben sich nur auf Wochen oder Monate an den Ort des Gerichts, untersuchten die Kassen, erforschten die Reste und übernahmen das Geschäft, sie beizutreiben. Zugleich, wenn etwas in dem Rechts- und Gerichtsgange stocken, irgend ein Mißbrauch einschleichen wollte, waren sie befugt, dem abzuhelfen. Gebrechen der Anstalt sollten sie entdecken und heben, aber persönliche Verbrechen der Glieder zu untersuchen und zu bestrafen, ward erst später ein Teil ihrer Pflicht. Weil aber Prozessierende den Lebenshauch ihrer Hoffnungen immer noch einen Augenblick verlängern wollen, und deshalb immer höhere Instanzen suchen und hervorrufen; so wurden diese Visitatoren auch ein Revisionsgericht, vor dem man erst in bestimmten, offenbaren Fällen Wiederherstellung, zuletzt aber in allen Aufschub und Verewigung des Zwists zu finden hoffte: wozu denn auch die Berufung an den Reichstag, und das Bestreben beider Religionsparteien, sich einander, wo nicht aufzuwiegen, doch im Gleichgewicht zu erhalten, das Ihrige beitrugen.

Denkt man sich aber, was dieses Gericht ohne solche Hindernisse, ohne so störende und zerstörende Bedingungen, hätte sein können; so kann man es sich nicht merkwürdig und wichtig genug ausbilden. Wäre es gleich anfangs mit einer hinreichenden Anzahl von Männern besetzt gewesen, hätte man diesen einen zulänglichen Unterhalt gesichert; unübersehbar wäre bei der Tüchtigkeit deutscher Männer der ungeheure Einfluß geworden, zu dem diese Gesellschaft hätte gelangen können. Den Ehrentitel Amphiktyonen, den man ihnen nur rednerisch zuteilte, würden sie wirklich verdient haben; ja sie konnten sich zu einer Zwischenmacht erheben, beides, dem Oberhaupt und den Gliedern ehrwürdig.

Aber weit entfernt von so großen Wirkungen, schleppte das Gericht, außer etwa eine kurze Zeit unter Karl dem Fünften und vor dem Dreißigjährigen Kriege, sich nur kümmerlich hin. Man begreift oft nicht, wie sich nur Männer finden konnten zu diesem undankbaren und traurigen Geschäft. Aber was der Mensch täglich treibt, läßt er sich, wenn er Geschick dazu hat, gefallen, sollte er auch nicht gerade sehen, daß etwas dabei herauskomme. Der Deutsche besonders ist von einer solchen ausharrenden Sinnesart, und so haben sich drei Jahrhunderte hindurch die würdigsten Männer mit diesen Arbeiten und Gegenständen beschäftigt. Eine charakteristische Galerie solcher Bilder würde noch jetzt Anteil erregen und Mut einflößen.

Denn gerade in solchen anarchischen Zeiten tritt der tüchtige Mann am festesten auf, und der das Gute will, findet sich recht an seinem Platze. So stand z.B. das Direktorium Fürstenbergs noch immer in gesegnetem Andenken, und mit dem Tode dieses vortrefflichen Manns beginnt die Epoche vieler verderblichen Mißbräuche.

Aber alle diese späteren und früheren Gebrechen entsprangen aus der ersten, einzigen Quelle: aus der geringen Personenzahl. Verordnet war, daß die Beisitzer in einer entschiedenen Folge und nach bestimmter Ordnung vortragen sollten. Ein jeder konnte wissen, wann die Reihe ihn treffen werde, und welchen seiner ihm obliegenden Prozesse; er konnte darauf hinarbeiten, er konnte sich vorbereiten. Nun häuften sich aber die unseligen Reste; man mußte sich entschließen, wichtigere Rechtshändel auszuheben und außer der Reihe vorzutragen. Die Beurteilung der Wichtigkeit einer Sache vor der andern ist, bei dem Zudrang von bedeutenden Fällen, schwer, und die Auswahl läßt schon Gunst zu; aber nun trat noch ein anderer bedenklicher Fall ein. Der Referent quälte sich und das Gericht mit einem schweren verwickelten Handel, und zuletzt fand sich niemand, der das Urteil einlösen wollte. Die Parteien hatten sich verglichen, auseinander gesetzt, waren gestorben, hatten den Sinn geändert. Daher beschloß man, nur diejenigen Gegenstände vorzunehmen, welche erinnert wurden. Man wollte von der fortdauernden Beharrlichkeit der Parteien überzeugt sein, und hiedurch ward den größten Gebrechen die Einleitung gegeben: denn wer seine Sache empfiehlt, muß sie doch jemand empfehlen, und wem empföhle man sie besser als dem, der sie unter Händen hat. Diesen, ordnungsgemäß, geheim zu halten ward unmöglich: denn bei so viel mitwissenden Subalternen, wie sollte derselbe verborgen bleiben? Bittet man um Beschleunigung, so darf man ja wohl auch um Gunst bitten: denn eben daß man seine Sache betreibt, zeigt ja an, daß man sie für gerecht hält. Geradezu wird man es vielleicht nicht tun, gewiß aber am ersten durch Untergeordnete; diese müssen gewonnen werden, und so ist die Einleitung zu allen Intrigen und Bestechungen gegeben.

Kaiser Joseph, nach eignem Antriebe und in Nachahmung Friedrichs, richtete zuerst seine Aufmerksamkeit auf die Waffen und die Justiz. Er faßte das Kammergericht ins Auge; herkömmliche Ungerechtigkeiten, eingeführte Mißbräuche waren ihm nicht unbekannt geblieben. Auch hier sollte aufgeregt, gerüttelt und getan sein. Ohne zu fragen, ob es sein kaiserlicher Vorteil sei, ohne die Möglichkeit eines glücklichen Erfolgs vorauszusehn, brachte er die Visitation in Vorschlag, und übereilte ihre Eröffnung. Seit hundertundsechsundsechzig Jahren hatte man keine ordentliche Visitation zustande gebracht; ein ungeheurer Wust von Akten lag aufgeschwollen und wuchs jährlich, da die siebzehn Assessoren nicht einmal imstande waren, das Laufende wegzuarbeiten. Zwanzigtausend Prozesse hatten sich aufgehäuft, jährlich konnten sechzig abgetan werden, und das Doppelte kam hinzu. Auch auf die Visitatoren wartete keine geringe Anzahl von Revisionen, man wollte ihrer funfzigtausend zählen. Überdies hinderte so mancher Mißbrauch den Gerichtsgang; als das Bedenklichste aber von allem erschienen im Hintergrunde die persönlichen Verbrechen einiger Assessoren.

Als ich nach Wetzlar gehn sollte, war die Visitation schon einige Jahre im Gange, die Beschuldigten suspendiert, die Untersuchung weitvorgerückt; und weil nun die Kenner und Meister des deutschen Staatsrechts diese Gelegenheit nicht vorbeilassen durften, ihre Einsichten zu zeigen und sie dem gemeinen Besten zu widmen, so waren mehrere gründliche wohlgesinnte Schriften erschienen, aus denen sich, wer nur einige Vorkenntnisse besaß, gründlich unterrichten konnte. Ging man bei dieser Gelegenheit in die Reichsverfassung und die von derselben handelnden Schriften zurück, so war es auffallend, wie der monstrose Zustand dieses durchaus kranken Körpers, der nur durch ein Wunder am Leben erhalten ward, gerade den Gelehrten am meisten zusagte. Denn der ehrwürdige deutsche Fleiß, der mehr auf Sammlung und Entwickelung von Einzelnheiten als auf Resultate losging, fand hier einen unversiegbaren Anlaß zu immer neuer Beschäftigung, und man mochte nun das Reich dem Kaiser, die kleinern den größern Ständen, die Katholiken den Protestanten entgegensetzen, immer gab es, nach dem verschiedenen Interesse, notwendig verschiedene Meinungen, und immer Gelegenheit zu neuen Kämpfen und Gegenreden.

Da ich mir alle diese ältern und neuern Zustände möglichst vergegenwärtigt hatte, konnte ich mir von meinem Wetzlarschen Aufenthalt unmöglich viel Freude versprechen. Die Aussicht war nicht reizend, in einer zwar wohl gelegenen, aber kleinen und übel gebauten Stadt eine doppelte Welt zu finden: erst die einheimische alte hergebrachte, dann eine fremde neue, jene scharf zu prüfen beauftragt, ein richtendes und ein gerichtetes Gericht; manchen Bewohner in Furcht und Sorge, er möchte auch noch mit in die verhängte Untersuchung gezogen werden; angesehene, so lange für würdig geltende Personen der schändlichsten Missetaten überwiesen und zu schimpflicher Bestrafung bezeichnet: das alles zusammen machte das traurigste Bild und konnte nicht anreizen, tiefer in ein Geschäft einzugehen, das, an sich selbst verwickelt, nun gar durch Untaten so verworren erschien.

Daß mir, außer dem deutschen Zivil- und Staatsrechte, hier nichts Wissenschaftliches sonderlich begegnen, daß ich aller poetischen Mitteilung entbehren würde, glaubte ich vorauszusehn, als mich, nach einigem Zögern, die Lust meinen Zustand zu verändern, mehr als der Trieb nach Kenntnissen, in diese Gegend hinführte. Allein wie verwundert war ich, als mir, anstatt einer sauertöpfischen Gesellschaft, ein drittes akademisches Leben entgegensprang. An einer großen Wirtstafel traf ich beinah sämtliche Gesandtschaftsuntergeordnete, junge muntere Leute, beisammen; sie nahmen mich freundlich auf, und es blieb mir schon den ersten Tag kein Geheimnis, daß sie ihr mittägiges Beisammensein durch eine romantische Fiktion erheitert hatten. Sie stellten nämlich, mit Geist und Munterkeit, eine Rittertafel vor. Obenan saß der Heermeister, zur Seite desselben der Kanzler, sodann die wichtigsten Staatsbeamten; nun folgten die Ritter, nach ihrer Anciennetät; Fremde hingegen, die zusprachen, mußten mit den untersten Plätzen vorlieb nehmen, und für sie war das Gespräch meist unverständlich, weil sich in der Gesellschaft die Sprache, außer den Ritterausdrücken, noch mit manchen Anspielungen bereichert hatte. Einem jeden war ein Rittername zugelegt, mit einem Beiworte. Mich nannten sie Götz von Berlichingen, den Redlichen. Jenen verdiente ich mir durch meine Aufmerksamkeit für den biedern deutschen Altvater, und diesen durch die aufrichtige Neigung und Ergebenheit gegen die vorzüglichen Männer, die ich kennen lernte. Dem Grafen von Kielmannsegg bin ich bei diesem Aufenthalt vielen Dank schuldig geworden. Er war der Ernsteste von allen, höchst tüchtig und zuverlässig. Von Goué, ein schwer zu entziffernder und zu beschreibender Mann, eine derbe, breite, hannövrische Figur, still in sich gekehrt. Es fehlte ihm nicht an Talenten mancher Art. Man hegte von ihm die Vermutung, daß er ein natürlicher Sohn sei; auch liebte er ein gewisses geheimnisvolles Wesen, und verbarg seine eigensten Wünsche und Vorsätze unter mancherlei Seltsamkeiten, wie er denn die eigentliche Seele des wunderlichen Ritterbundes war, ohne daß er nach der Stelle des Heermeisters gestrebt hätte. Vielmehr ließ er, da gerade zu der Zeit dies Haupt der Ritterschaft abging, einen andern wählen und übte durch diesen seinen Einfluß. So wußte er auch manche kleine Zufälligkeiten dahin zu lenken, daß sie bedeutend erschienen und in fabelhaften Formen durchgeführt werden konnten. Bei diesem allen aber konnte man keinen ernsten Zweck bemerken; es war ihm bloß zu tun, die Langeweile, die er und seine Kollegen bei dem verzögerten Geschäft empfinden mußten, zu erheitern, und den leeren Raum, wäre es auch nur mit Spinnegewebe, auszufüllen. Übrigens wurde dieses fabelhafte Fratzenspiel mit äußerlichem großen Ernst betrieben, ohne daß jemand lächerlich finden durfte, wenn eine gewisse Mühle als Schloß, der Müller als Burgherr behandelt wurde, wenn man »Die vier Haimonskinder« für ein kanonisches Buch erklärte und Abschnitte daraus, bei Zeremonien, mit Ehrfurcht vorlas. Der Ritterschlag selbst geschah mit hergebrachten, von mehreren Ritterorden entlehnten Symbolen. Ein Hauptanlaß zum Scherze war ferner der, daß man das Offenbare als ein Geheimnis behandelte; man trieb die Sache öffentlich, und es sollte nicht davon gesprochen werden. Die Liste der sämtlichen Ritter ward gedruckt, mit so viel Anstand als ein Reichstagskalender; und wenn Familien darüber zu spotten und die ganze Sache für absurd und lächerlich zu erklären wagten, so ward, zu ihrer Bestrafung, so lange intrigiert, bis man einen ernsthaften Ehemann, oder nahen Verwandten, beizutreten und den Ritterschlag anzunehmen bewogen hatte; da denn über den Verdruß der Angehörigen eine herrliche Schadenfreude entstand.

In dieses Ritterwesen verschlang sich noch ein seltsamer Orden, welcher philosophisch und mystisch sein sollte, und keinen eigentlichen Namen hatte. Der erste Grad hieß der Übergang, der zweite des Übergangs Übergang, der dritte des Übergangs Übergang zum Übergang, und der vierte des Übergangs Übergang zu des Übergangs Übergang. Den hohen Sinn dieser Stufenfolge auszulegen, war nun die Pflicht der Eingeweihten, und dieses geschah nach Maßgabe eines gedruckten Büchleins, in welchem jene seltsamen Worte auf eine noch seltsamere Weise erklärt, oder vielmehr amplifiziert waren. Die Beschäftigung mit diesen Dingen war der erwünschteste Zeitverderb. Behrischens Torheit und Lenzens Verkehrtheit schienen sich hier vereinigt zu haben; nur wiederhole ich, daß auch nicht eine Spur von Zweck hinter diesen Hüllen finden war.

Ob ich nun gleich zu solchen Possen sehr gern beiriet, auch zuerst die Perikopen aus den »Vier Haimonskindern« in Ordnung brachte, und Vorschläge tat, wie sie bei Festen und Feierlichkeiten vorgelesen werden sollten, auch selbst sie mit großer Emphase vorzutragen verstand; so hatte ich mich doch schon früher an solchen Dingen müde getrieben, und als ich daher meine Frankfurter und Darmstädter Umgebung vermißte, war es mir höchst lieb, Gottern gefunden zu haben, der sich mit aufrichtiger Neigung an mich schloß, und dem ich ein herzliches Wohlwollen erwiderte. Sein Sinn war zart, klar und heiter, sein Talent geübt und geregelt; er befleißigte sich der französischen Eleganz und freute sich des Teils der englischen Literatur, der sich mit sittlichen und angenehmen Gegenständen beschäftigt. Wir brachten viele vergnügte Stunden zusammen zu, in denen wir uns wechselseitig unsere Kenntnisse, Vorsätze und Neigungen mitteilten. Er regte mich zu manchen kleinen Arbeiten an, zumal da er, mit den Göttingern in Verhältnis stehend, für Boies Almanach auch von meinen Gedichten etwas verlangte.

Dadurch kam ich mit jenen in einige Berührung, die sich, jung und talentvoll, zusammenhielten, und nachher so viel und mannigfaltig wirkten. Die beiden Grafen Stolberg, Bürger, Voß, Hölty und andere waren im Glauben und Geiste um Klopstock versammelt, dessen Wirkung sich nach allen Seiten hin erstreckte. In einem solchen, sich immer mehr erweiternden deutschen Dichterkreise entwickelte sich zugleich, mit so mannigfaltigen poetischen Verdiensten, auch noch ein anderer Sinn, dem ich keinen ganz eigentlichen Namen zu geben wüßte. Man könnte ihn das Bedürfnis der Unabhängigkeit nennen, welches immer im Frieden entspringt, und gerade da, wo man eigentlich nicht abhängig ist. Im Kriege erträgt man die rohe Gewalt so gut man kann, man fühlt sich wohl physisch und ökonomisch verletzt, aber nicht moralisch; der Zwang beschämt niemanden, und es ist kein schimpflicher Dienst, der Zeit zu dienen; man gewöhnt sich, von Feind und Freund zu leiden, man hat Wünsche und keine Gesinnungen. Im Frieden hingegen tut sich der Freiheitssinn der Menschen immer mehr hervor, und je freier man ist, desto freier will man sein. Man will nichts über sich dulden: wir wollen nicht beengt sein, niemand soll beengt sein, und dies zarte ja kranke Gefühl erscheint in schönen Seelen unter der Form der Gerechtigkeit. Dieser Geist und Sinn zeigte sich damals überall, und gerade da nur wenige bedrückt waren, wollte man auch diese von zufälligem Druck befrein, und so entstand eine gewisse sittliche Befehdung, Einmischung der einzelnen ins Regiment, die, mit löblichen Anfängen, zu unabsehbar unglücklichen Folgen hinführte.

Voltaire hat durch den Schutz, den er der Familie Calas angedeihen ließ, großes Aufsehn erregt und sich ehrwürdig gemacht. Für Deutschland fast noch auffallender und wichtiger war das Unternehmen Lavaters gegen den Landvogt gewesen. Der ästhetische Sinn, mit dem jugendlichen Mut verbunden, strebte vorwärts, und da man noch vor kurzem studierte, um zu Ämtern zu gelangen, so fing man nun an den Aufseher der Beamten zu machen, und die Zeit war nah, wo der Theater- und Romanendichter seine Bösewichter am liebsten unter Ministern und Amtleuten aufsuchte. Hieraus entstand eine halb eingebildete, halb wirkliche Welt von Wirkung und Gegenwirkung, in der wir späterhin die heftigsten Angebereien und Verhetzungen erlebt haben, welche sich die Verfasser von Zeitschriften und Tagblättern, mit einer Art von Wut, unter dem Schein der Gerechtigkeit erlaubten, und um so unwiderstehlicher dabei zu Werke gingen, als sie das Publikum glauben machten, vor ihm sei der wahre Gerichtshof: töricht! da kein Publikum eine exekutive Gewalt hat, und in dem zerstückten Deutschland die öffentliche Meinung niemanden nutzte oder schadete.

Unter uns jungen Leuten ließ sich zwar nichts von jener Art spüren, welche tadelnswert gewesen wäre; aber eine gewisse ähnliche Vorstellung hatte sich unsrer bemächtigt, die, aus Poesie, Sittlichkeit und einem edlen Bestreben zusammengeflossen, zwar unschädlich aber doch fruchtlos war.

Durch die »Hermannsschlacht« und die Zueignung derselben an Joseph den Zweiten hatte Klopstock eine wunderbare Anregung gegeben. Die Deutschen, die sich vom Druck der Römer befreiten, waren herrlich und mächtig dargestellt, und dieses Bild gar wohl geeignet, das Selbstgefühl der Nation zu erwecken. Weil aber im Frieden der Patriotismus eigentlich nur darin besteht, daß jeder vor seiner Türe kehre, seines Amts warte, auch seine Lektion lerne, damit es wohl im Hause stehe; so fand das von Klopstock erregte Vaterlandsgefühl keinen Gegenstand, an dem es sich hätte üben können. Friedrich hatte die Ehre eines Teils der Deutschen gegen eine verbundene Welt gerettet, und es war jedem Gliede der Nation erlaubt, durch Beifall und Verehrung dieses großen Fürsten, teil an seinem Siege zu nehmen; aber wo denn nun hin mit jenem erregten kriegerischen Trotzgefühl? welche Richtung sollte es nehmen, und welche Wirkung hervorbringen? Zuerst war es bloß poetische Form, und die nachher so oft gescholtenen, ja lächerlich gefundenen Bardenlieder häuften sich durch diesen Trieb, durch diesen Anstoß. Keine äußeren Feinde waren zu bekämpfen; nun bildete man sich Tyrannen, und dazu mußten die Fürsten und ihre Diener ihre Gestalten erst im allgemeinen, sodann nach und nach im besondern hergeben; und hier schloß sich die Poesie an jene oben gerügte Einmischung in die Rechtspflege mit Heftigkeit an, und es ist merkwürdig, Gedichte aus jener Zeit zu sehn, die ganz in einem Sinne geschrieben sind, wodurch alles Obere, es sei nun monarchisch oder aristokratisch, aufgehoben wird.

Was mich betraf, so fuhr ich fort, die Dichtkunst zum Ausdruck meiner Gefühle und Grillen zu benutzen. Kleine Gedichte, wie »Der Wanderer«, fallen in diese Zeit; sie wurden in den »Göttinger Musenalmanach« aufgenommen. Was aber von jener Sucht in mich eingedrungen sein mochte, davon strebte ich mich kurz nachher im »Götz von Berlichingen« zu befrein, indem ich schilderte, wie in wüsten Zeiten der wohldenkende brave Mann allenfalls an die Stelle des Gesetzes und der ausübenden Gewalt zu treten sich entschließt, aber in Verzweiflung ist, wenn er dem anerkannten verehrten Oberhaupt zweideutig, ja abtrünnig erscheint.

Durch Klopstocks Oden war denn auch in die deutsche Dichtkunst nicht sowohl die nordische Mythologie, als vielmehr die Nomenklatur ihrer Gottheiten eingeleitet; und ob ich gleich mich sonst gern alles dessen bediente, was mir gereicht ward; so konnte ich es doch nicht von mir gewinnen, mich derselben zu bedienen, und zwar aus folgenden Ursachen. Ich hatte die Fabeln der »Edda« schon längst aus der Vorrede zu Mallets »Dänischer Geschichte« kennen gelernt, und mich derselben sogleich bemächtigt; sie gehörten unter diejenigen Märchen, die ich, von einer Gesellschaft aufgefordert, am liebsten erzählte. Herder gab mir den Resenius in die Hände, und machte mich mit den Heldensagen mehr bekannt. Aber alle diese Dinge, wie wert ich sie hielt, konnte ich nicht in den Kreis meines Dichtungsvermögens aufnehmen; wie herrlich sie mir auch die Einbildungskraft anregten, entzogen sie sich doch ganz dem sinnlichen Anschaun, indessen die Mythologie der Griechen, durch die größten Künstler der Welt in sichtliche, leicht einzubildende Gestalten verwandelt, noch vor unsern Augen in Menge dastand. Götter ließ ich überhaupt nicht viel auftreten, weil sie mir noch außerhalb der Natur, die ich nachzubilden verstand, ihren Wohnsitz hatten. Was hätte mich nun gar bewegen sollen, Wodan für Jupiter, und Thor für Mars zu setzen, und, statt der südlichen genau umschriebenen Figuren, Nebelbilder, ja bloße Wortklänge in meine Dichtungen einzuführen? Von einer Seite schlossen sie sich vielmehr an die Ossianschen gleichfalls formlosen Helden, nur derber und riesenhafter an, von der andern lenkte ich sie nach dem heiteren Märchen hin: denn der humoristische Zug, der durch die ganze nordische Mythe durchgeht, war mir höchst lieb und bemerkenswert. Sie schien mir die einzige, welche durchaus mit sich selbst scherzt, einer wunderlichen Dynastie von Göttern abenteuerliche Riesen, Zauberer und Ungeheuer entgegensetzt, die nur beschäftigt sind, die höchsten Personen während ihres Regiments zu irren, zum besten zu haben, und hinterdrein mit einem schmählichen unvermeidlichen Untergang zu bedrohen.

Ein ähnliches, wo nicht gleiches Interesse gewannen mir die indischen Fabeln ab, die ich aus Dappers Reisen zuerst kennen lernte, und gleichfalls mit großer Lust in meinen Märchenvorrat hineinzog. Der Altar des Ram gelang mir vorzüglich im Nacherzählen, und ungeachtet der großen Mannigfaltigkeit der Personen dieses Märchens blieb doch der Affe Hannemann der Liebling meines Publikums. Aber auch diese unförmlichen und überförmlichen Ungeheuer konnten mich nicht eigentlich poetisch befriedigen; sie lagen zu weit von dem Wahren ab, nach welchem mein Sinn unablässig hinstrebte.

Doch gegen alle diese kunstwidrigen Gespenster sollte mein Sinn für das Schöne durch die herrlichste Kraft geschützt werden. Glücklich ist immer die Epoche einer Literatur, wenn große Werke der Vergangenheit wieder einmal auftauen und an die Tagesordnung kommen, weil sie alsdann eine vollkommen frische Wirkung hervorbringen. Auch das Homerische Licht ging uns neu wieder auf, und zwar recht im Sinne der Zeit, die ein solches Erscheinen höchst begünstigte: denn das beständige Hinweisen auf Natur bewirkte zuletzt, daß man auch die Werke der Alten von dieser Seite betrachten lernte. Was mehrere Reisende zu Aufklärung der Heiligen Schriften getan, leisteten andere für den Homer. Durch Guys ward man eingeleitet, Wood gab der Sache den Schwung. Eine Göttinger Rezension des anfangs sehr seltenen Originals machte uns mit der Absicht bekannt, und belehrte uns, wie weit sie ausgeführt worden. Wir sahen nun nicht mehr in jenen Gedichten ein angespanntes und aufgedunsenes Heldenwesen, sondern die abgespiegelte Wahrheit einer uralten Gegenwart, und suchten uns dieselbe möglichst heranzuziehen. Zwar wollte uns zu gleicher Zeit nicht völlig in den Sinn, wenn behauptet wurde, daß, um die Homerischen Naturen recht zu verstehn, man sich mit den wilden Völkern und ihren Sitten bekannt machen müsse, wie sie uns die Reisebeschreiber der neuen Welten schildern: denn es ließ sich doch nicht leugnen, daß sowohl Europäer als Asiaten in den Homerischen Gedichten schon auf einem hohen Grade der Kultur dargestellt worden, vielleicht auf einem höhern, als die Zeiten des Trojanischen Kriegs mochten genossen haben. Aber jene Maxime war doch mit dem herrschenden Naturbekenntnis übereinstimmend, und insofern mochten wir sie gelten lassen.

Bei allen diesen Beschäftigungen, die sich auf Menschenkunde im höheren Sinne, sowie auf Dichtkunst im nächsten und lieblichsten bezogen, mußte ich doch jeden Tag erfahren, daß ich mich in Wetzlar aufhielt. Das Gespräch über den Zustand des Visitationsgeschäftes und seiner immer wachsenden Hindernisse, die Entdeckung neuer Gebrechen klang stündlich durch. Hier war nun abermals das Heilige Römische Reich versammelt, nicht bloß zu äußerlichen Feierlichkeiten, sondern zu einem ins Allertiefste greifenden Geschäfte. Aber auch hier mußte mir jener halbleere Speisesaal am Krönungstage einfallen, wo die geladenen Gäste außen blieben, weil sie zu vornehm waren. Hier hatten sie sich zwar eingefunden, aber man mußte noch schlimmere Symptome gewahr werden. Der Unzusammenhalt des Ganzen, das Widerspiel der Teile kamen fortwährend zum Vorschein, und es war kein Geheimnis geblieben, daß Fürsten untereinander sich die Absicht vertraulich mitgeteilt hatten: man müsse sehn, ob man nicht, bei dieser Gelegenheit, dem Oberhaupt etwas abgewinnen könne?

Welchen üblen Eindruck das kleine Detail aller Anekdoten von Nachlässigkeiten und Versäumnissen, Ungerechtigkeiten und Bestechungen auf einen jungen Menschen machen mußte, der das Gute wollte und sein Inneres in diesem Sinne bearbeitete, wird jeder Redliche mitfühlen. Wo soll unter solchen Umständen Ehrfurcht vor dem Gesetz und dem Richter entspringen? Aber hätte man auch auf die Wirkungen der Visitation das größte Zutrauen gesetzt, hätte man glauben können, daß sie völlig ihre hohe Bestimmung erfüllen werde; für einen frohen vorwärts schreitenden Jüngling war doch hier kein Heil zu finden. Die Förmlichkeiten dieses Prozesses an sich gingen alle auf ein Verschleifen; wollte man einigermaßen wirken und etwas bedeuten, so mußte man nur immer demjenigen dienen, der unrecht hatte, stets dem Beklagten, und in der Fechtkunst der verdrehenden und ausweichenden Streiche recht gewandt sein.

Ich verlor mich daher einmal über das andre, da mir, in dieser Zerstreuung, keine ästhetische Arbeiten gelingen wollten, in ästhetische Spekulationen; wie denn alles Theoretisieren auf Mangel oder Stockung von Produktionskraft hindeutet. Früher mit Mercken, nunmehr manchmal mit Gottern, machte ich den Versuch, Maximen auszufinden, wonach man beim Hervorbringen zu Werke gehn könnte. Aber weder mir noch ihnen wollte es gelingen. Merck war Zweifler und Eklektiker, Gotter hielt sich an solche Beispiele, die ihm am meisten zusagten. Die Sulzersche Theorie war angekündigt, mehr für den Liebhaber als für den Künstler. In diesem Gesichtskreise werden vor allem sittliche Wirkungen gefordert, und hier entsteht sogleich ein Zwiespalt zwischen der hervorbringenden und benutzenden Klasse; denn ein gutes Kunstwerk kann und wird zwar moralische Folgen haben, aber moralische Zwecke vom Künstler fordern, heißt ihm sein Handwerk verderben.

Was die Alten über diese wichtigen Gegenstände gesagt, hatte ich seit einigen Jahren fleißig, wo nicht in einer Folge studiert, doch sprungweise gelesen. Aristoteles, Cicero, Quintilian, Longin, keiner blieb unbeachtet, aber das half mir nichts: denn alle diese Männer setzten eine Erfahrung voraus, die mir abging. Sie führten mich in eine an Kunstwerken unendlich reiche Welt, sie entwickelten die Verdienste vortrefflicher Dichter und Redner, von deren meisten uns nur die Namen übrig geblieben sind, und überzeugten mich nur allzu lebhaft, daß erst eine große Fülle von Gegenständen vor uns liegen müsse, ehe man darüber denken könne, daß man erst selbst etwas leisten, ja daß man fehlen müsse, um seine eignen Fähigkeiten und die der andern kennen zu lernen. Meine Bekanntschaft mit so vielem Guten jener alten Zeiten war doch immer nur schul- und buchmäßig und keineswegs lebendig, da es doch, besonders bei den gerühmtesten Rednern, auffiel, daß sie sich durchaus im Leben gebildet hatten, und daß man von den Eigenschaften ihres Kunstcharakters niemals sprechen konnte, ohne ihren persönlichen Gemütscharakter zugleich mitzuerwähnen. Bei Dichtern schien dies weniger der Fall; überall aber trat Natur und Kunst nur durch Leben in Berührung, und so blieb das Resultat von allem meinen Sinnen und Trachten jener alte Vorsatz, die innere und äußere Natur zu erforschen, und in liebevoller Nachahmung sie eben selbst walten zu lassen.

Zu diesen Wirkungen, welche weder Tag noch Nacht in mir ruhten, lagen zwei große, ja ungeheure Stoffe vor mir, deren Reichtum ich nur einigermaßen zu schätzen brauchte, um etwas Bedeutendes hervorzubringen. Es war die ältere Epoche, in welche das Leben Götzens von Berlichingen fällt, und die neuere, deren unglückliche Blüte im »Werther« geschildert ist.

Von der historischen Vorbereitung zu der ersten Arbeit habe ich bereits gesprochen; die ethischen Anlässe zu der zweiten sollen gegenwärtig eingeleitet werden.

Jener Vorsatz, meine innere Natur nach ihren Eigenheiten gewähren, und die äußere nach ihren Eigenschaften auf mich einfließen zu lassen, trieb mich an das wunderliche Element, in welchem »Werther« ersonnen und geschrieben ist. Ich suchte mich innerlich von allem Fremden zu entbinden, das Äußere liebevoll zu betrachten, und alle Wesen, vom menschlichen an, so tief hinab, als sie nur faßlich sein möchten, jedes in seiner Art auf mich wirken zu lassen. Da durch entstand eine wundersame Verwandtschaft mit den einzelnen Gegenständen der Natur, und ein inniges Anklingen, ein Mitstimmen ins Ganze, so daß ein jeder Wechsel, es sei der Ortschaften und Gegenden, oder der Tags- und Jahreszeiten, oder was sonst sich ereignen konnte, mich aufs innigste berührte. Der malerische Blick gesellte sich zu dem dichterischen, die schöne ländliche, durch den freundlichen Fluß belebte Landschaft vermehrte meine Neigung zur Einsamkeit und begünstigte meine stillen nach allen Seiten hin sich ausbreitenden Betrachtungen.

Aber seitdem ich jenen Familienkreis zu Sesenheim und nun wieder meinen Freundeszirkel zu Frankfurt und Darmstadt verlassen, war mir eine Leere im Busen geblieben, die ich auszufüllen nicht vermochte; ich befand mich daher in einer Lage, wo uns die Neigung, sobald sie nur einigermaßen verhüllt auftritt, unversehens überschleichen und alle guten Vorsätze vereiteln kann.

Und indem nun der Verfasser zu dieser Stufe seines Unternehmens gelangt, fühlt er sich zum erstenmal bei der Arbeit leicht ums Herz: denn von nun an wird dieses Buch erst, was es eigentlich sein soll. Es hat sich nicht als selbständig angekündigt; es ist vielmehr bestimmt, die Lücken eines Autorlebens auszufüllen, manches Bruchstück zu ergänzen und das Andenken verlorner und verschollener Wagnisse zu erhalten. Was aber schon getan ist, soll und kann nicht wiederholt werden; auch würde der Dichter jetzt die verdüsterten Seelenkräfte vergebens aufrufen, umsonst von ihnen fordern, daß sie jene lieblichen Verhältnisse wieder vergegenwärtigen möchten, welche ihm den Aufenthalt im Lahntale so hoch verschönten. Glücklicherweise hatte der Genius schon früher dafür gesorgt und ihn angetrieben, in vermögender Jugendzeit das nächst Vergangene festzuhalten, zu schildern und kühn genug zur günstigen Stunde öffentlich aufzustellen. Daß hier das Büchlein »Werther« gemeint sei, bedarf wohl keiner nähern Bezeichnung; von den darin aufgeführten Personen aber, sowie von den dargestellten Gesinnungen, wird nach und nach einiges zu eröffnen sein.

Unter den jungen Männern, welche, der Gesandtschaft zugegeben, sich zu ihrem künftigen Dienstlauf vorüben sollten, fand sich einer, den wir kurz und gut den Bräutigam zu nennen pflegten. Er zeichnete sich aus durch ein ruhiges gleiches Betragen, Klarheit der Ansichten, Bestimmtheit im Handeln und Reden. Seine heitere Tätigkeit, sein anhaltender Fleiß empfahl ihn dergestalt den Vorgesetzten, daß man ihm eine baldige Anstellung versprach. Hiedurch berechtigt, unternahm er, sich mit einem Frauenzimmer zu verloben, das seiner Gemütsart und seinen Wünschen völlig zusagte. Nach dem Tode ihrer Mutter hatte sie sich als Haupt einer zahlreichen jüngeren Familie höchst tätig erwiesen und den Vater in seinem Witwerstand allein aufrecht erhalten, so daß ein künftiger Gatte von ihr das gleiche für sich und seine Nachkommenschaft hoffen und ein entschiedenes häusliches Glück erwarten konnte. Ein jeder gestand, auch ohne diese Lebenszwecke eigennützig für sich im Auge zu haben, daß sie ein wünschenswertes Frauenzimmer sei. Sie gehörte zu denen, die, wenn sie nicht heftige Leidenschaften einflößen, doch ein allgemeines Gefallen zu erregen geschaffen sind. Eine leicht aufgebaute, nett gebildete Gestalt, eine reine gesunde Natur und die daraus entspringende frohe Lebenstätigkeit, eine unbefangene Behandlung des täglich Notwendigen, das alles war ihr zusammen gegeben. In der Betrachtung solcher Eigenschaften ward auch mir immer wohl, und ich gesellte mich gern zu denen, die sie besaßen; und wenn ich nicht immer Gelegenheit fand, ihnen wirkliche Dienste zu leisten, so teilte ich mit ihnen lieber als mit andern den Genuß jener unschuldigen Freuden, die der Jugend immer zur Hand sind und ohne große Bemühung und Aufwand ergriffen werden. Da es nun ferner ausgemacht ist, daß die Frauen sich nur für einander putzen und unter einander den Putz zu steigern unermüdet sind; so waren mir diejenigen die liebsten, welche mit einfacher Reinlichkeit dem Freunde, dem Bräutigam die stille Versicherung geben, daß es eigentlich nur für ihn geschehen, und daß ohne viel Umstände und Aufwand ein ganzes Leben so fortgeführt werden könne.

Solche Personen sind nicht allzu sehr mit sich selbst beschäftigt; sie haben Zeit, die Außenwelt zu betrachten, und Gelassenheit genug, sich nach ihr zu richten, sich ihr gleichzustellen; sie werden klug und verständig ohne Anstrengung, und bedürfen zu ihrer Bildung wenig Bücher. So war die Braut. Der Bräutigam, bei seiner durchaus rechtlichen und zutraulichen Sinnesart, machte jeden, den er schätzte, bald mit ihr bekannt, und sah gern, weil er den größten Teil des Tages den Geschäften eifrig oblag, wenn seine Verlobte, nach vollbrachten häuslichen Bemühungen, sich sonst unterhielt und sich gesellig auf Spaziergängen und Landpartien mit Freunden und Freundinnen ergetzte. Lotte – denn so wird sie denn doch wohl heißen – war anspruchslos in doppeltem Sinne: erst ihrer Natur nach, die mehr auf ein allgemeines Wohlwollen als auf besondere Neigungen gerichtet war, und dann hatte sie sich ja für einen Mann bestimmt, der, ihrer wert, sein Schicksal an das ihrige fürs Leben zu knüpfen sich bereit erklären mochte. Die heiterste Luft wehte in ihrer Umgebung. Ja, wenn es schon ein angenehmer Anblick ist, zu sehen, daß Eltern ihren Kindern eine ununterbrochene Sorgfalt widmen, so hat es noch etwas Schöneres, wenn Geschwister Geschwistern das gleiche leisten. Dort glauben wir mehr Naturtrieb und bürgerliches Herkommen, hier mehr Wahl und freies Gemüt zu erblicken.

Der neue Ankömmling, völlig frei von allen Banden, sorglos in der Gegenwart eines Mädchens, das, schon versagt, den gefälligsten Dienst nicht als Bewerbung auslegen und sich desto eher daran erfreuen konnte, ließ sich ruhig gehen, war aber bald dergestalt eingesponnen und gefesselt, und zugleich von dem jungen Paare so zutraulich und freundlich behandelt, daß er sich selbst nicht mehr kannte. Müßig und träumerisch, weil ihm keine Gegenwart genügte, fand er das, was ihm abging, in einer Freundin, die, indem sie fürs ganze Jahr lebte, nur für den Augenblick zu leben schien. Sie mochte ihn gern zu ihrem Begleiter; er konnte bald ihre Nähe nicht missen, denn sie vermittelte ihm die Alltagswelt, und so waren sie, bei einer ausgedehnten Wirtschaft, auf dem Acker und den Wiesen, auf dem Krautland wie im Garten, bald unzertrennliche Gefährten. Erlaubten es dem Bräutigam seine Geschäfte, so war er an seinem Teil dabei; sie hatten sich alle drei an einander gewöhnt, ohne es zu wollen, und wußten nicht, wie sie dazu kamen, sich nicht entbehren zu können. So lebten sie, den herrlichen Sommer hin, eine echt deutsche Idylle, wozu das fruchtbare Land die Prosa, und eine reine Neigung die Poesie hergab. Durch reife Kornfelder wandernd erquickten sie sich am taureichen Morgen; das Lied der Lerche, der Schlag der Wachtel waren ergetzliche Töne, heiße Stunden folgten, ungeheure Gewitter brachen herein, man schloß sich nur desto mehr an einander, und mancher kleine Familienverdruß war leicht ausgelöscht durch fortdauernde Liebe. Und so nahm ein gemeiner Tag den andern auf, und alle schienen Festtage zu sein; der ganze Kalender hätte müssen rot gedruckt werden. Verstehen wird mich, wer sich erinnert, was von dem glücklich-unglücklichen Freunde der Neuen Heloise geweissagt worden: »Und zu den Füßen seiner Geliebten sitzend, wird er Hanf brechen, und er wird wünschen Hanf zu brechen, heute, morgen und übermorgen, ja sein ganzes Leben.«

Nur wenig, aber gerade so viel als nötig sein mag, kann ich nunmehr von einem jungen Manne sagen, dessen Name in der Folgezeit nur allzu oft genannt worden. Es war Jerusalem, der Sohn des frei und zart denkenden Gottesgelehrten. Auch er war bei einer Gesandtschaft angestellt: seine Gestalt gefällig, mittlerer Größe, wohlgebaut; ein mehr rundes als längliches Gesicht; weiche ruhige Züge und was sonst noch einem hübschen blonden Jüngling zukommen mag; blaue Augen sodann, mehr anziehend als sprechend zu nennen. Seine Kleidung war die unter den Niederdeutschen, in Nachahmung der Engländer, hergebrachte: blauer Frack, ledergelbe Weste und Unterkleider, und Stiefeln mit braunen Stolpen. Der Verfasser hat ihn nie besucht, auch nicht bei sich gesehen; manchmal traf er ihn bei Freunden. Die Äußerungen des jungen Mannes waren mäßig, aber wohlwollend. Er nahm an den verschiedensten Produktionen teil; besonders liebte er solche Zeichnungen und Skizzen, in welchen man einsamen Gegenden ihren stillen Charakter abgewonnen hatte. Er teilte bei solchen Gelegenheiten Geßnersche Radierungen mit, und munterte die Liebhaber auf, darnach zu studieren. An allem jenen Ritterwesen und Mummenspiel nahm er wenig oder keinen Anteil, lebte sich und seinen Gesinnungen. Man sprach von einer entschiedenen Leidenschaft zu der Gattin eines Freundes. Öffentlich sah man sie nie miteinander. Überhaupt wußte man wenig von ihm zu sagen, außer daß er sich mit der englischen Literatur beschäftige. Als der Sohn eines wohlhabenden Mannes brauchte er sich weder ängstlich Geschäften zu widmen, noch um baldige Anstellung dringend zu bewerben.

Jene Geßnerschen Radierungen vermehrten die Lust und den Anteil an ländlichen Gegenständen, und ein kleines Gedicht, welches wir in unsern engern Kreis mit Leidenschaft aufnahmen, ließ uns von nun an nichts anders mehr beachten. Das »Deserted village« von Goldsmith mußte jedermann auf jener Bildungsstufe, in jenem Gesinnungskreise höchlich zusagen. Nicht als lebendig oder wirksam, sondern als ein vergangenes, verschwundenes Dasein ward alles das geschildert, was man so gern mit Augen sah, was man liebte, schätzte, in der Gegenwart leidenschaftlich aufsuchte, um jugendlich munter teil daran zu nehmen. Fest- und Feiertage auf dem Lande, Kirchweihen und Jahrmärkte, dabei unter der Dorflinde erst die ernste Versammlung der Ältesten, verdrängt von der heftigern Tanzlust der Jüngern, und wohl gar die Teilnahme gebildeter Stände. Wie schicklich erschienen diese Vergnügungen, gemäßigt durch einen braven Landgeistlichen, der auch dasjenige, was allenfalls übergriff, was zu Händeln und Zwist Anlaß geben konnte, gleich zu schlichten und abzutun verstand. Auch hier fanden wir unsern ehrlichen Wakefield wieder, in seinem wohlbekannten Kreise, aber nicht mehr wie er leibte und lebte, sondern als Schatten, zurückgerufen durch des elegischen Dichters leise Klagetöne. Schon der Gedanke dieser Darstellung ist einer der glücklichsten, sobald einmal der Vorsatz gefaßt ist, ein unschuldiges Vergangene mit anmutiger Trauer wieder heranzufordern. Und wie gelungen ist in jedem Sinne dem Engländer dieses gemütliche Vorhaben! Ich teilte den Enthusiasmus für dieses allerliebste Gedicht mit Gottern, dem die von uns beiden unternommene Übersetzung besser als mir geglückt ist: denn ich hatte allzu ängstlich die zarte Bedeutsamkeit des Originals in unserer Sprache nachzubilden getrachtet, und war daher wohl mit einzelnen Stellen, nicht aber mit dem Ganzen übereingekommen.

Ruht nun, wie man sagt, in der Sehnsucht das größte Glück, und darf die wahre Sehnsucht nur auf ein Unerreichbares gerichtet sein; so traf wohl alles zusammen, um den Jüngling, den wir gegenwärtig auf seinen Irrgängen begleiten, zum glücklichsten Sterblichen zu machen. Die Neigung zu einer versagten Braut, das Bestreben, Meisterstücke fremder Literatur der unsrigen zu erwerben und anzueignen, die Bemühung, Naturgegenstände nicht nur mit Worten, sondern auch mit Griffel und Pinsel ohne eigentliche Technik, nachzuahmen: jedes einzeln wäre schon hinreichend gewesen das Herz zu schwellen und die Brust zu beklemmen. Damit aber der so süß Leidende aus diesen Zuständen gerissen und ihm zu neuer Unruhe neue Verhältnisse bereitet würden, so ergab sich folgendes.

In Gießen befand sich Höpfner, Professor der Rechte. Er war als tüchtig in seinem Fach, als denkender und wackerer Mann, von Mercken und Schlossern anerkannt und höchlich geehrt. Schon längst hatte ich seine Bekanntschaft gewünscht, und nun, als jene beiden Freunde bei ihm einen Besuch abzustatten gedachten, um über literarische Gegenstände zu unterhandeln, ward beliebt, daß ich, bei dieser Gelegen heit, mich gleichfalls nach Gießen begeben sollte. Weil wir aber, wie es in dem Übermut froher und friedlicher Zeiten zu geschehn pflegt, nicht leicht etwas auf geradem Wege vollbringen konnten, sondern, wie wahrhafte Kinder, auch dem Notwendigen irgend einen Scherz abzugewinnen suchten; so sollte ich, als der Unbekannte, in fremder Gestalt erscheinen, und meiner Lust, verkleidet aufzutreten, hier abermals Genüge tun. An einem heiteren Morgen, vor Sonnenaufgang, schritt ich daher von Wetzlar an der Lahn hin, das liebliche Tal hinauf; solche Wanderungen machten wieder mein größtes Glück. Ich erfand, verknüpfte, arbeitete durch, und war in der Stille mit mir selbst heiter und froh; ich legte mir zurecht, was die ewig widersprechende Welt mir ungeschickt und verworren aufgedrungen hatte. Am Ziele meines Weges angelangt, suchte ich Höpfners Wohnung und pochte an seine Studierstube. Als er mir »Herein!« gerufen hatte, trat ich bescheidentlich vor ihn, als ein Studierender, der von Akademien sich nach Hause verfügen und unterwegs die würdigsten Männer wollte kennen lernen. Auf seine Fragen nach meinen näheren Verhältnissen war ich vorbereitet; ich erzählte ein glaubliches prosaisches Märchen, womit er zufrieden schien, und als ich mich hierauf für einen Juristen angab, bestand ich nicht übel: denn ich kannte sein Verdienst in diesem Fach und wußte, daß er sich eben mit dem Naturrecht beschäftigte. Doch stockte das Gespräch einigemal, und es schien, als wenn er einem Stammbuch oder meiner Beurlaubung entgegensähe. Ich wußte jedoch immer zu zaudern, indem ich Schlossern gewiß erwartete, dessen Pünktlichkeit mir bekannt war. Dieser kam auch wirklich, ward von seinem Freund bewillkommnet, und nahm, als er mich von der Seite angesehn, wenig Notiz von mir. Höpfner aber zog mich ins Gespräch und zeigte sich durchaus als einen humanen wohlwollenden Mann. Endlich empfahl ich mich und eilte nach dem Wirtshause, wo ich mit Mercken einige flüchtige Worte wechselte und das Weitere verabredete.

Die Freunde hatten sich vorgenommen, Höpfnern zu Tische zu bitten und zugleich jenen Christian Heinrich Schmid, der in dem deutschen Literarwesen zwar eine sehr untergeordnete, aber doch eine Rolle spielte. Auf diesen war der Handel eigentlich angelegt, und er sollte für manches, was er gesündigt hatte, auf eine lustige Weise bestraft werden. Als die Gäste sich in dem Speisesaale versammelt hatten, ließ ich durch den Kellner fragen, ob die Herren mir erlauben wollten mitzuspeisen? Schlosser, dem ein gewisser Ernst gar wohl zu Gesicht stand, widersetzte sich, weil sie ihre freundschaftliche Unterhaltung nicht durch einen Dritten wollten gestört wissen. Auf das Andringen des Kellners aber und die Fürsprache Höpfners, der versicherte, daß ich ein leidlicher Mensch sei, wurde ich eingelassen, und betrug mich zu Anfang der Tafel bescheiden und verschämt. Schlosser und Merck taten sich keinen Zwang an, und ergingen sich über manches so offen, als wenn kein Fremder dabei wäre. Die wichtigsten literarischen Angelegenheiten sowie die bedeutendsten Männer kamen zur Sprache. Ich erwies mich nun etwas kühner, und ließ mich nicht stören, wenn Schlosser mir manchmal ernstlich, Merck spöttisch etwas abgab; doch richtete ich auf Schmiden alle meine Pfeile, die seine mir wohlbekannten Blößen scharf und sicher trafen.

Ich hatte mich bei meinem Nößel Tischwein mäßig verhalten; die Herren aber ließen sich besseren reichen, und ermangelten nicht, auch mir davon mitzuteilen. Nachdem viele Angelegenheiten des Tags durchgesprochen waren, zog sich die Unterhaltung ins Allgemeine, und man behandelte die Frage, die, solange es Schriftsteller gibt, sich immer wiederholen wird, ob nämlich die Literatur im Auf- oder Absteigen, im Vor- oder Rückschritt begriffen sei? Diese Frage, worüber sich besonders Alte und Junge, Angehende und Abtretende selten vergleichen, sprach man mit Heiterkeit durch, ohne daß man gerade die Absicht gehabt hätte, sich darüber entschieden zu verständigen. Zuletzt nahm ich das Wort und sagte: »Die Literaturen, scheint es mir, haben Jahrszeiten, die, miteinander abwechselnd, wie in der Natur, gewisse Phänomene hervorbringen, und sich der Reihe nach wiederholen. Ich glaube daher nicht, daß man irgend eine Epoche einer Literatur im ganzen loben oder tadeln könne; besonders sehe ich nicht gerne, wenn man gewisse Talente, die von der Zeit hervorgerufen werden, so hoch erhebt und rühmt, andere dagegen schilt und niederdrückt. Die Kehle der Nachtigall wird durch das Frühjahr aufgeregt, zugleich aber auch die Gurgel des Kuckucks. Die Schmetterlinge, die dem Auge so wohl tun, und die Mücken, welche dem Gefühl so verdrießlich fallen, werden durch eben die Sonnenwärme hervorgerufen; beherzigte man dies, so würde man dieselbigen Klagen nicht alle zehn Jahre wieder erneuert hören, und die vergebliche Mühe, dieses und jenes Mißfällige auszurotten, würde nicht so oft verschwendet werden.« Die Gesellschaft sah mich mit Verwunderung an, woher mir so viele Weisheit und so viele Toleranz käme? Ich aber fuhr ganz gelassen fort, die literarischen Erscheinungen mit Naturprodukten zu vergleichen, und ich weiß nicht, wie ich sogar auf die Mollusken kam, und allerlei Wunderliches von ihnen herauszusetzen wußte. Ich sagte, es seien dies Geschöpfe, denen man zwar eine Art von Körper, ja sogar eine gewisse Gestalt nicht ableugnen könne; da sie aber keine Knochen hätten, so wüßte man doch nichts Rechts mit ihnen anzufangen, und sie seien nichts Besseres als ein lebendiger Schleim; jedoch müsse das Meer auch solche Bewohner haben. Da ich das Gleichnis über die Gebühr fortsetzte, um den gegenwärtigen Schmid und diese Art der charakterlosen Literatoren zu bezeichnen, so ließ man mich bemerken, daß ein zu weit ausgedehntes Gleichnis zuletzt gar nichts mehr sei. – »So will ich auf die Erde zurückkehren!« versetzte ich, »und vom Efeu sprechen. Wie jene keine Knochen, so hat dieser keinen Stamm, mag aber gern überall, wo er sich anschmiegt, die Hauptrolle spielen. An alte Mauern gehört er hin, an denen ohnehin nichts mehr zu verderben ist, von neuen Gebäuden entfernt man ihn billig; die Bäume saugt er aus, und am allerunerträglichsten ist er mir, wenn er an einem Pfahl hinaufklettert und versichert, hier sei ein lebendiger Stamm, weil er ihn umlaubt habe.«

Ungeachtet man mir abermals die Dunkelheit und Unanwendbarkeit meiner Gleichnisse vorwarf, ward ich immer lebhafter gegen alle parasitische Kreaturen, und machte, soweit meine damaligen Naturkenntnisse reichten, meine Sachen noch ziemlich artig. Ich sang zuletzt ein Vivat allen selbständigen Männern, ein Pereat den Andringlingen, ergriff nach Tische Höpfners Hand, schüttelte sie derb, erklärte ihn für den bravsten Mann von der Welt, und umarmte ihn sowie die andern zuletzt recht herzlich. Der wackere neue Freund glaubte wirklich zu träumen, bis endlich Schlosser und Merck das Rätsel auflösten und der entdeckte Scherz eine allgemeine Heiterkeit verbreitete, in welche Schmid selbst mit einstimmte, der durch Anerkennung seiner wirklichen Verdienste, und durch unsere Teilnahme an seinen Liebhabereien, wieder begütigt wurde.

Diese geistreiche Einleitung konnte nicht anders als den literarischen Kongreß beleben und begünstigen, auf den es eigentlich angesehn war. Merck, bald ästhetisch, bald literarisch, bald kaufmännisch tätig, hatte den wohldenkenden, unterrichteten, in so vielen Fächern kenntnisreichen Schlosser angeregt, die »Frankfurter Gelehrten Anzeigen« in diesem Jahr herauszugeben. Sie hatten sich Höpfnern und andere Akademiker in Gießen, in Darmstadt einen verdienten Schulmann, den Rektor Wenck, und sonst manchen wackeren Mann zugesellt. Jeder hatte in seinem Fach historische und theoretische Kenntnisse genug, und der Zeitsinn ließ diese Männer nach einem Sinne wirken. Die zwei ersten Jahrgänge dieser Zeitung (denn nachher kam sie in andere Hände) geben ein wundersames Zeugnis, wie ausgebreitet die Einsicht, wie rein die Übersicht, wie redlich der Wille der Mitarbeiter gewesen. Das Humane und Weltbürgerliche wird befördert; wackere und mit Recht berühmte Männer werden gegen Zudringlichkeit aller Art geschützt; man nimmt sich ihrer an gegen Feinde, besonders auch gegen Schüler, die das Überlieferte nun zum Schaden ihrer Lehrer mißbrauchen. Am interessantesten sind beinah die Rezensionen über andere Zeitschriften, die Berliner »Bibliothek«, den »Deutschen Merkur«; wo man die Gewandtheit in so vielen Fächern, die Einsicht sowie die Billigkeit mit Recht bewundert.

Was mich betrifft, so sahen sie wohl ein, daß mir nicht mehr als alles zum eigentlichen Rezensenten fehle. Mein historisches Wissen hing nicht zusammen, die Geschichte der Welt, der Wissenschaften, der Literatur hatte mich nur epochenweis, die Gegenstände selbst aber nur teil- und massenweis angezogen. Die Möglichkeit, mir die Dinge auch außer ihrem Zusammenhange lebendig zu machen und zu vergegenwärtigen, setzte mich in den Fall, in einem Jahrhundert, in einer Abteilung der Wissenschaft völlig zu Hause zu sein, ohne daß ich weder von dem Vorhergehenden noch von dem Nachfolgenden irgend unterrichtet gewesen wäre. Ebenso war ein gewisser theoretisch-praktischer Sinn in mir aufgegangen, daß ich von den Dingen, mehr wie sie sein sollten als wie sie waren, Rechenschaft geben konnte, ohne eigentlichen philosophischen Zusammenhang, aber sprungweise treffend. Hiezu kam eine sehr leichte Fassungskraft und ein freundliches Aufnehmen der Meinungen anderer, wenn sie nur nicht mit meinen Überzeugungen in geradem Widerspruch standen.

Jener literarische Verein ward überdies durch eine lebhafte Korrespondenz und, bei der Nähe der Ortschaften, durch öftere persönliche Unterhandlungen begünstigt. Wer das Buch zuerst gelesen hatte, der referierte, manchmal fand sich ein Korreferent; die Angelegenheit ward besprochen, an verwandte angeknüpft, und hatte sich zuletzt ein gewisses Resultat ergeben, so übernahm einer die Redaktion. Dadurch sind mehrere Rezensionen so tüchtig als lebhaft, so angenehm als befriedigend. Mir fiel sehr oft die Rolle des Protokollführers zu; meine Freunde erlaubten mir, auch innerhalb ihrer Arbeiten zu scherzen, und sodann bei Gegenständen, denen ich mich gewachsen fühlte, die mir besonders am Herzen lagen, selbständig aufzutreten. Vergebens würde ich unternehmen, darstellend oder betrachtend, den eigentlichen Geist und Sinn jener Tage wieder hervorzurufen, wenn nicht die beiden Jahrgänge gedachter Zeitung mir die entschiedensten Dokumente selbst anböten. Auszüge von Stellen, an denen ich mich wieder erkenne, mögen mit ähnlichen Aufsätzen künftig am schicklichen Ort erscheinen.

Bei einem so lebhaften Austausch von Kenntnissen, Meinungen, Überzeugungen lernte ich Höpfnern sehr bald näher kennen und gewann ihn lieb. Sobald wir allein waren, sprach ich mit ihm über Gegenstände seines Fachs, welches ja auch mein Fach sein sollte, und fand eine sehr natürlich zusammenhängende Aufklärung und Belehrung. Ich war mir damals noch nicht deutlich bewußt, daß ich wohl aus Büchern und im Gespräch, nicht aber durch den zusammenhängenden Kathedervortrag etwas lernen konnte. Das Buch erlaubte mir, bei einer Stelle zu verweilen, ja rückwärts zu sehen, welches der mündliche Vortrag und der Lehrer nicht gestatten konnte. Manchmal ergriff mich zu Anfang der Stunde ein Gedanke, dem ich nachhing, darüber das Folgende verlor und ganz aus dem Zusammenhang geriet. Und so war es mir auch in den juristischen Kollegien ergangen, weshalb ich gar manchen Anlaß nehmen konnte, mich mit Höpfnern zu besprechen, der denn sehr gern in meine Zweifel und Bedenken einging, auch manche Lücke ausglich, so daß in mir der Wunsch entstand, in Gießen bei ihm zu verweilen, um mich an ihm zu unterrichten, ohne mich doch von meinen wetzlarischen Neigungen allzu weit zu entfernen. Gegen diesen meinen Wunsch arbeiteten die beiden Freunde erst unwissend, sodann wissentlich: denn beide eilten nicht allein selbst von hier wegzukommen, sondern beide hatten sogar ein Interesse, mich aus dieser Gegend wegzubringen.

Schlosser entdeckte mir, daß er erst in ein freundschaftliches, dann in ein näheres Verhältnis zu meiner Schwester gekommen sei, und daß er sich nach einer baldigen Anstellung umsehe, um sich mit ihr zu verbinden. Diese Erklärung machte mich einigermaßen betroffen, ob ich sie gleich in meiner Schwester Briefen schon längst hätte finden sollen; aber wir gehen leicht über das hinweg, was die gute Meinung, die wir von uns selbst hegen, verletzen könnte, und ich bemerkte nun erst, daß ich wirklich auf meine Schwester eifersüchtig sei: eine Empfindung, die ich mir um so weniger verbarg, als seit meiner Rückkehr von Straßburg unser Verhältnis noch viel inniger geworden war. Wieviel Zeit hatten wir nicht gebraucht, um uns wechselseitig die kleinen Herzensangelegenheiten, Liebes- und andere Händel mitzuteilen, die in der Zwischenzeit vorgefallen waren! und hatte sich nicht auch im Felde der Einbildungskraft vor mir eine neue Welt aufgetan, in die ich sie doch auch einführen mußte? Meine eignen kleinen Machwerke, eine weit ausgebreitete Weltpoesie mußten ihr nach und nach bekannt werden. So übersetzte ich ihr aus dem Stegreife solche Homerische Stellen, an denen sie zunächst Anteil nehmen konnte. Die Clarkesche wörtliche Übersetzung las ich deutsch, so gut es gehen wollte, herunter, mein Vortrag verwandelte sich gewöhnlich in metrische Wendungen und Endungen, und die Lebhaftigkeit, womit ich die Bilder gefaßt hatte, die Gewalt, womit ich sie aussprach, hoben alle Hindernisse einer verschränkten Wortstellung; dem, was ich geistreich hingab, folgte sie mit dem Geiste. Manche Stunden des Tags unterhielten wir uns auf diese Weise; versammelte sich hingegen ihre Gesellschaft, so wurden der Wolf Fenris und der Affe Hannemann einstimmig hervorgerufen, und wie oft habe ich nicht die berühmte Geschichte, wie Thor und seine Begleiter von den zauberischen Riesen geäfft werden, umständlich wiederholen müssen! Daher ist mir auch von allen diesen Dichtungen ein so angenehmer Eindruck geblieben, daß sie noch immer unter das Werteste gehören, was meine Einbildungskraft sich hervorrufen mag. In mein Verhältnis zu den Darmstädtern hatte ich meine Schwester auch hineingezogen, und sogar meine Wanderungen und Entfernungen mußten unser Band fester knüpfen, da ich mich von allem, was mir begegnete, brieflich mit ihr unterhielt, ihr jedes kleine Gedicht, wenn es auch nur ein Ausrufungszeichen gewesen wäre, sogleich mitteilte, und ihr zunächst alle Briefe, die ich erhielt, und alle Antworten, die ich darauf erteilte, sehen ließ. Alle diese lebhafte Regung hatte seit meiner Abreise von Frankfurt gestockt, mein Aufenthalt zu Wetzlar war zu einer solchen Unterhaltung nicht ausgiebig genug, und dann mochte die Neigung zu Lotten den Aufmerksamkeiten gegen meine Schwester Eintrag tun; genug, sie fühlte sich allein, vielleicht vernachlässigt, und gab um so eher den redlichen Bemühungen eines Ehrenmanns Gehör, welcher, ernst und verschlossen, zuverlässig und schätzenswert, ihr seine Neigung, mit der er sonst sehr kargte, leidenschaftlich zugewendet hatte. Ich mußte mich nun wohl darein ergeben, und meinem Freunde sein Glück gönnen, indem ich mir jedoch heimlich mit Selbstvertrauen zu sagen nicht unterließ, daß, wenn der Bruder nicht abwesend gewesen wäre, es mit dem Freunde so weit nicht hätte gedeihen können.

Meinem Freund und vermutlichen Schwager war nun freilich sehr daran gelegen, daß ich nach Hause zurückkehrte, weil durch meine Vermittelung ein freierer Umgang möglich ward, dessen das Gefühl dieses von zärtlicher Neigung unvermutet getroffenen Mannes äußerst zu bedürfen schien. Er nahm daher, als er sich bald entfernte, von mir das Versprechen, daß ich ihm zunächst folgen wollte.

Von Mercken, der eben freie Zeit hatte, hoffte ich nun, daß er seinen Aufenthalt in Gießen verlängern würde, damit ich einige Stunden des Tags mit meinem guten Höpfner zubringen könnte, indessen der Freund seine Zeit an die »Frankfurter Gelehrten Anzeigen« wendete; allein er war nicht zu bewegen, und wie meinen Schwager die Liebe, so trieb diesen der Haß von der Universität hinweg. Denn wie es angeborene Antipathien gibt, so wie gewisse Menschen die Katzen nicht leiden können, andern dieses oder jenes in der Seele zuwider ist, so war Merck ein Todfeind aller akademischen Bürger, die nun freilich zu jener Zeit in Gießen sich in der tiefsten Roheit gefielen. Mir waren sie ganz recht: ich hätte sie wohl auch als Masken in eins meiner Fastnachtsspiele brauchen können; aber ihm verdarb ihr Anblick bei Tage, und des Nachts ihr Gebrüll jede Art von gutem Humor. Er hatte die schönste Zeit seiner jungen Tage in der französischen Schweiz zugebracht und nachher den erfreulichen Umgang von Hof-, Welt- und Geschäftsleuten und gebildeten Literatoren genossen; mehrere Militärpersonen, in denen ein Streben nach Geisteskultur rege geworden, suchten ihn auf, und so bewegte er sein Leben in einem sehr gebildeten Zirkel. Daß ihn daher jenes Unwesen ärgerte, war nicht zu verwundern; allein seine Abneigung gegen die Studiosen war wirklich leidenschaftlicher, als es einem gesetzten Mann geziemte, wiewohl er mich durch seine geistreichen Schilderungen ihres ungeheuerlichen Aussehns und Betragens sehr oft zum Lachen brachte. Höpfners Einladungen und mein Zureden halfen nichts, ich mußte baldmöglichst mit ihm nach Wetzlar wandern.

Kaum konnte ich erwarten, bis ich ihn bei Lotten eingeführt; allein seine Gegenwart in diesem Kreise geriet mir nicht zum Gedeihen: denn wie Mephistopheles, er mag hintreten wohin er will, wohl schwerlich Segen mitbringt; so machte er mir, durch seine Gleichgültigkeit gegen diese geliebte Person, wenn er mich auch nicht zum Wanken brachte, doch wenigstens keine Freude. Ich konnte es wohl voraussehen, wenn ich mich erinnert hätte, daß gerade solche schlanke zierliche Personen, die eine lebendige Heiterkeit um sich her verbreiten, ohne weitere Ansprüche zu machen, ihm nicht sonderlich gefielen. Er zog sehr schnell die junonische Gestalt einer ihrer Freundinnen vor, und da es ihm an Zeit gebrach, ein näheres Verhältnis anzuknüpfen; so schalt er mich recht bitter aus, daß ich mich nicht um diese prächtige Gestalt bemüht, um so mehr, da sie frei, ohne irgend ein Verhältnis sich befinde. Ich verstehe eben meinen Vorteil nicht, meinte er, und er sehe höchst ungern auch hier meine besondere Liebhaberei, die Zeit zu verderben.

Wenn es gefährlich ist, einen Freund mit den Vorzügen seiner Geliebten bekannt zu machen, weil er sie wohl auch reizend und begehrenswürdig finden möchte; so ist die umgekehrte Gefahr nicht geringer, daß er uns durch seine Abstimmung irre machen kann. Dieses war zwar hier der Fall nicht: denn ich hatte mir das Bild ihrer Liebenswürdigkeit tief genug eingedruckt, als daß es so leicht auszulöschen gewesen wäre; aber seine Gegenwart, sein Zureden beschleunigte doch den Entschluß, den Ort zu verlassen. Er stellte mir eine Rheinreise, die er eben mit Frau und Sohn zu machen im Begriff sei, so reizend vor, und erregte die Sehnsucht, diejenigen Gegenstände endlich mit Augen zu sehn, von denen ich so oft mit Neid hatte erzählen hören. Nun, als er sich entfernt hatte, trennte ich mich von Charlotten zwar mit reinerem Gewissen als von Friedriken, aber doch nicht ohne Schmerz. Auch dieses Verhältnis war durch Gewohnheit und Nachsicht leidenschaftlicher als billig von meiner Seite geworden; sie dagegen und ihr Bräutigam hielten sich mit Heiterkeit in einem Maße, das nicht schöner und liebenswürdiger sein konnte, und die eben hieraus entspringende Sicherheit ließ mich jede Gefahr vergessen. Indessen konnte ich mir nicht verbergen, daß diesem Abenteuer sein Ende bevorstehe: denn von der zunächst erwarteten Beförderung des jungen Mannes hing die Verbindung mit dem liebenswürdigen Mädchen ab; und da der Mensch, wenn er einigermaßen resolut ist, auch das Notwendige selbst zu wollen übernimmt, so faßte ich den Entschluß, mich freiwillig zu entfernen, ehe ich durch das Unerträgliche vertrieben würde.

 
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