Kapitel 6

Als der Abend herbeikam und die Freunde in einer weit umherschauenden Laube saßen, trat eine ansehnliche Figur auf die Schwelle, welche unser Freund sogleich für den Barbier von heute früh erkannte. Auf einen tiefen, stummen Bückling des Mannes erwiderte Lenardo: „Ihr kommt, wie immer, sehr gelegen und werdet nicht säumen, uns mit Eurem Talent zu erfreuen. – Ich kann Ihnen wohl“, fuhr er zu Wilhelm gewendet fort, „einiges von der Gesellschaft erzählen, deren Band zu sein ich mich rühmen darf. Niemand tritt in unsern Kreis, als wer gewisse Talente aufzuweisen hat, die zum Nutzen oder Vergnügen einer jeden Gesellschaft dienen würden. Dieser Mann ist ein derber Wundarzt, der in bedenklichen Fällen, wo Entschluss und körperliche Kraft gefordert wird, seinem Meister trefflich an der Seite zu stehen bereit ist. Was er als Bartkünstler leistet, davon können Sie ihm selbst ein Zeugnis geben. Hierdurch ist er uns ebenso nötig als willkommen. Da nun aber diese Beschäftigung gewöhnlich eine große und oft lästige Geschwätzigkeit mit sich führt, so hat er sich zu eigner Bildung eine Bedingung gefallen lassen; wie denn jeder, der unter uns leben will, sich von einer gewissen Seite bedingen muss, wenn ihm nach anderen Seiten hin die größere Freiheit gewährt ist. Dieser also hat nun auf die Sprache Verzicht getan, insofern etwas Gewöhnliches oder Zufälliges durch sie ausgedrückt wird; daraus aber hat sich ihm ein anderes Redetalent entwickelt, welches absichtlich, klug und erfreulich wirkt, die Gabe des Erzählens nämlich.

Sein Leben ist reich an wunderlichen Erfahrungen, die er sonst zu ungelegener Zeit schwätzend zersplitterte, nun aber, durch Schweigen genötigt, im stillen Sinn wiederholt und ordnet. Hiermit verbindet sich denn die Einbildungskraft und verleiht dem Geschehenen Leben und Bewegung. Mit besonderer Kunst und Geschicklichkeit weiß er wahrhafte Märchen und märchenhafte Geschichten zu erzählen, wodurch er oft zur schicklichen Stunde uns gar sehr ergötzt, wenn ihm die Zunge durch mich gelöst wird; wie ich denn gegenwärtig tue und ihm zugleich das Lob erteile, dass er sich in geraumer Zeit, seitdem ich ihn kenne, noch niemals wiederholt hat. Nun hoff’ ich, dass er auch diesmal, unserm teuren Gast zu Lieb’ und Ehren, sich besonders hervortun werde.“

Über das Gesicht des Rotmantels verbreitete sich eine geistreiche Heiterkeit, und er fing ungesäumt folgendermaßen zu sprechen an.

Die neue Melusine

Hochverehrte Herren! Da mir bekannt ist, dass Sie vorläufige Reden und Einleitungen nicht besonders lieben, so will ich ohne weiteres versichern, dass ich diesmal vorzüglich gut zu bestehen hoffe. Von mir sind zwar schon gar manche wahrhafte Geschichten zu hoher und allseitiger Zufriedenheit ausgegangen, heute aber darf ich sagen, dass ich eine zu erzählen habe, welche die bisherigen weit übertrifft und die, wiewohl sie mir schon vor einigen Jahren begegnet ist, mich noch immer in der Erinnerung unruhig macht, ja sogar eine endliche Entwicklung hoffen lässt. Sie möchte schwerlich ihresgleichen finden.

Vorerst sei gestanden, dass ich meinen Lebenswandel nicht immer so eingerichtet, um der nächsten Zeit, ja des nächsten Tages ganz sicher zu sein. Ich war in meiner Jugend kein guter Wirt und fand mich oft in mancherlei Verlegenheit. Einst nahm ich mir eine Reise vor, die mir guten Gewinn verschaffen sollte; aber ich machte meinen Zuschnitt ein wenig zu groß, und nachdem ich sie mit Extrapost angefangen und sodann auf der ordinären eine Zeitlang fortgesetzt hatte, fand ich mich zuletzt genötigt, dem Ende derselben zu Fuße entgegenzugehen.

Als ein lebhafter Bursche hatte ich von jeher die Gewohnheit, sobald ich in ein Wirtshaus kam, mich nach der Wirtin oder auch nach der Köchin umzusehen und mich schmeichlerisch gegen sie zu bezeigen, wodurch denn meine Zeche meistens vermindert wurde.

Eines Abends, als ich in das Posthaus eines kleinen Städtchens trat und eben nach meiner hergebrachten Weise verfahren wollte, rasselte gleich hinter mir ein schöner zweisitziger Wagen, mit vier Pferden bespannt, an der Türe vor. Ich wendete mich um und sah ein Frauenzimmer allein, ohne Kammerfrau, ohne Bedienten. Ich eilte sogleich, ihr den Schlag zu eröffnen und zu fragen, ob sie etwas zu befehlen habe. Beim Aussteigen zeigte sich eine schöne Gestalt, und ihr liebenswürdiges Gesicht war, wenn man es näher betrachtete, mit einem kleinen Zug von Traurigkeit geschmückt. Ich fragte nochmals, ob ich ihr in etwas dienen könne. – „O ja!“, sagte sie, „wenn Sie mir mit Sorgfalt das Kästchen, das auf dem Sitz steht, herausheben und hinauftragen wollen; aber ich bitte gar sehr, es recht stet zu tragen und im mindesten nicht zu bewegen oder zu rütteln.“ Ich nahm das Kästchen mit Sorgfalt, sie verschloss den Kutschenschlag, wir stiegen zusammen die Treppe hinauf, und sie sagte dem Gesinde, dass sie diese Nacht hier bleiben würde.

Nun waren wir allein in dem Zimmer; sie hieß mich das Kästchen auf den Tisch setzen, der an der Wand stand, und als ich an einigen ihrer Bewegungen merkte, dass sie allein zu sein wünschte, empfahl ich mich, indem ich ihr ehrerbietig, aber feurig die Hand küsste.

„Bestellen Sie das Abendessen für uns beide“, sagte sie darauf; und es lässt sich denken, mit welchem Vergnügen ich diesen Auftrag ausrichtete, wobei ich denn zugleich in meinem Übermut Wirt, Wirtin und Gesinde kaum über die Achsel ansah. Mit Ungeduld erwartete ich den Augenblick, der mich endlich wieder zu ihr führen sollte. Es war aufgetragen, wir setzten uns gegen einander über, ich labte mich zum ersten Mal seit geraumer Zeit an einem guten Essen und zugleich an einem so erwünschten Anblick; ja mir kam es vor, als wenn sie mit jeder Minute schöner würde.

Ihre Unterhaltung war angenehm, doch suchte sie alles abzulehnen, was sich auf Neigung und Liebe bezog. Es ward abgeräumt; ich zauderte, ich suchte allerlei Kunstgriffe, mich ihr zu nähern, aber vergebens; sie hielt mich durch eine gewisse Würde zurück, der ich nicht widerstehen konnte, ja ich musste wider meinen Willen zeitig genug von ihr scheiden.

Nach einer meist durchwachten und unruhig durchträumten Nacht war ich früh auf, erkundigte mich, ob sie Pferde bestellt habe; ich hörte ‚nein’ und ging in den Garten, sah sie angekleidet am Fenster stehen und eilte zu ihr hinauf. Als sie mir so schön und schöner als gestern entgegenkam, regte sich auf einmal in mir Neigung, Schalkheit und Verwegenheit; ich stürzte auf sie zu und fasste sie in meine Arme. „Englisches, unwiderstehliches Wesen!“, rief ich aus, „verzeih, aber es ist unmöglich!“ Mit unglaublicher Gewandtheit entzog sie sich meinen Armen, und ich hatte ihr nicht einmal einen Kuss auf die Wange drücken können. – „Halten Sie solche Ausbrüche einer plötzlichen leidenschaftlichen Neigung zurück, wenn Sie ein Glück nicht verscherzen wollen, das Ihnen sehr nahe liegt, das aber erst nach einigen Prüfungen ergriffen werden kann.“

„Fordere, was du willst, englischer Geist!“, rief ich aus, „aber bringe mich nicht zur Verzweiflung.“ Sie versetzte lächelnd: „Wollen Sie sich meinem Dienst widmen, so hören Sie die Bedingungen! Ich komme hierher, eine Freundin zu besuchen, bei der ich einige Tage zu verweilen gedenke; indessen wünsche ich, dass mein Wagen und dies Kästchen weiter gebracht werden. Wollen Sie es übernehmen? Sie haben dabei nichts zu tun, als das Kästchen mit Behutsamkeit in und aus dem Wagen zu heben, wenn es darin steht, sich daneben zu setzen und jede Sorge dafür zu tragen. Kommen Sie in ein Wirtshaus, so wird es auf einen Tisch gestellt, in eine besondere Stube, in der Sie weder wohnen noch schlafen dürfen. Sie verschließen die Zimmer jedes Mal mit diesem Schlüssel, der alle Schlösser auf- und zuschließt und dem Schloss die besondere Eigenschaft gibt, dass es niemand in der Zwischenzeit zu eröffnen imstande ist.“

Ich sah sie an, mir ward sonderbar zumute; ich versprach, alles zu tun, wenn ich hoffen könnte, sie bald wieder zu sehen, und wenn sie mir diese Hoffnung mit einem Kuss besiegelte. Sie tat es, und von dem Augenblick an war ich ihr ganz leibeigen geworden. Ich sollte nun die Pferde bestellen, sagte sie. Wir besprachen den Weg, den ich nehmen, die Orte, wo ich mich aufhalten und sie erwarten sollte. Sie drückte mir zuletzt einen Beutel mit Gold in die Hand, und ich meine Lippen auf ihre Hände. Sie schien gerührt beim Abschied, und ich wusste schon nicht mehr, was ich tat oder tun sollte.

Als ich von meiner Bestellung zurückkam, fand ich die Stubentür verschlossen. Ich versuchte gleich meinen Hauptschlüssel, und er machte sein Probestück vollkommen. Die Türe sprang auf, ich fand das Zimmer leer, nur das Kästchen stand auf dem Tisch, wo ich es hingestellt hatte.

Der Wagen war vorgefahren, ich trug das Kästchen sorgfältig hinunter und setzte es neben mich. Die Wirtin fragte: „Wo ist denn die Dame?“ Ein Kind antwortete: „Sie ist in die Stadt gegangen.“ Ich begrüßte die Leute und fuhr wie im Triumph von hinnen, der ich gestern Abend mit bestaubten Gamaschen hier angekommen war. Dass ich nun bei guter Muße diese Geschichte hin und her überlegte, das Geld zählte, mancherlei Entwürfe machte und immer gelegentlich nach dem Kästchen schielte, können Sie leicht denken. Ich fuhr nun stracks vor mich hin, stieg mehrere Stationen nicht aus und rastete nicht, bis ich zu einer ansehnlichen Stadt gelangt war, wohin sie mich beschieden hatte. Ihre Befehle wurden sorgfältig beobachtet, das Kästchen in ein besonderes Zimmer gestellt und ein paar Wachslichter daneben, unangezündet, wie sie auch verordnet hatte. Ich verschloss das Zimmer, richtete mich in dem meinigen ein und tat mir etwas zugute.

Eine Weile konnte ich mich mit dem Andenken an sie beschäftigen, aber gar bald wurde mir die Zeit lang. Ich war nicht gewohnt, ohne Gesellschaft zu leben; diese fand ich bald an Wirtstafeln und an öffentlichen Orten nach meinem Sinn. Mein Geld fing bei dieser Gelegenheit an zu schmelzen und verlor sich eines Abends völlig aus meinem Beutel, als ich mich unvorsichtig einem leidenschaftlichen Spiel überlassen hatte. Auf meinem Zimmer angekommen, war ich außer mir. Von Geld entblößt, mit dem Ansehen eines reichen Mannes eine tüchtige Zeche erwartend, ungewiss, ob und wann meine Schöne sich wieder zeigen würde, war ich in der größten Verlegenheit. Doppelt sehnte ich mich nach ihr und glaubte nun gar nicht mehr ohne sie und ohne ihr Geld leben zu können.

Nach dem Abendessen, das mir gar nicht geschmeckt hatte, weil ich es diesmal einsam zu genießen genötigt worden, ging ich in dem Zimmer lebhaft auf und ab, sprach mit mir selbst, verwünschte mich, warf mich auf den Boden, zerraufte mir die Haare und erzeigte mich ganz ungebärdig. Auf einmal höre ich in dem verschlossenen Zimmer nebenan eine leise Bewegung und kurz nachher an der wohlverwahrten Türe pochen. Ich raffe mich zusammen, greife nach dem Hauptschlüssel, aber die Flügeltüren springen von selbst auf, und im Schein jener brennenden Wachslichter kommt mir meine Schöne entgegen. Ich werfe mich ihr zu Füßen, küsse ihr Kleid, ihre Hände; sie hebt mich auf, ich wage nicht, sie zu umarmen, kaum sie anzusehen; doch gestehe ich ihr aufrichtig und reuig meinen Fehler. – „Er ist zu verzeihen“, sagte sie, „nur verspätet Ihr leider Euer Glück und meines. Ihr müsst nun abermals eine Strecke in die Welt hineinfahren, ehe wir uns wieder sehen. Hier ist noch mehr Gold“, sagte sie, „und hinreichend, wenn Ihr einigermaßen haushalten wollt. Hat Euch aber diesmal Wein und Spiel in Verlegenheit gesetzt, so hütet Euch nun vor Wein und Weibern und lasst mich auf ein fröhlicheres Wiedersehen hoffen.“

Sie trat über die Schwelle zurück, die Flügel schlugen zusammen; ich pochte, ich bat, aber nichts ließ sich weiter hören. Als ich den andern Morgen die Zeche verlangte, lächelte der Kellner und sagte: „So wissen wir doch, warum Ihr Eure Türen auf eine so künstliche und unbegreifliche Weise verschließt, dass kein Hauptschlüssel sie öffnen kann. Wir vermuteten bei Euch viel Geld und Kostbarkeiten; nun aber haben wir den Schatz die Treppe hinuntergehen sehn, und auf alle Weise schien er würdig, wohl verwahrt zu werden.“

Ich erwiderte nichts dagegen, zahlte meine Rechnung und stieg mit meinem Kästchen in den Wagen. Ich fuhr nun wieder in die Welt hinein mit dem festesten Vorsatz, auf die Warnung meiner geheimnisvollen Freundin künftig zu achten. Doch war ich kaum abermals in einer großen Stadt angelangt, so ward ich bald mit liebenswürdigen Frauenzimmern bekannt, von denen ich mich durchaus nicht losreißen konnte. Sie schienen mir ihre Gunst teuer anrechnen zu wollen; denn indem sie mich immer in einiger Entfernung hielten, verleiteten sie mich zu einer Ausgabe nach der andern, und da ich nur suchte, ihr Vergnügen zu befördern, dachte ich abermals nicht an meinen Beutel, sondern zahlte und spendete immerfort, so wie es eben vorkam. Wie groß war daher meine Verwunderung und mein Vergnügen, als ich nach einigen Wochen bemerkte, dass die Fülle des Beutels noch nicht abgenommen hatte, sondern dass er noch so rund und strotzend war wie anfangs. Ich wollte mich dieser schönen Eigenschaft näher versichern, setzte mich hin zu zählen, merkte mir die Summe genau und fing nun an, mit meiner Gesellschaft lustig zu leben wie vorher. Da fehlte es nicht an Land- und Wasserfahrten, an Tanz, Gesang und andern Vergnügungen. Nun bedurfte es aber keiner großen Aufmerksamkeit, um gewahr zu werden, dass der Beutel wirklich abnahm, eben als wenn ich ihm durch mein verwünschtes Zählen die Tugend, unzählbar zu sein, entwendet hätte. Indessen war das Freudenleben einmal im Gange, ich konnte nicht zurück, und doch war ich mit meiner Barschaft bald am Ende. Ich verwünschte meine Lage, schalt auf meine Freundin, die mich so in Versuchung geführt hatte, nahm es ihr übel auf, dass sie sich nicht wieder sehen lassen, sagte mich im Ärger von allen Pflichten gegen sie los und nahm mir vor, das Kästchen zu öffnen, ob vielleicht in demselben einige Hilfe zu finden sei. Denn war es gleich nicht schwer genug, um Geld zu enthalten, so konnten doch Juwelen darin sein, und auch diese wären mir sehr willkommen gewesen. Ich war im Begriff, den Vorsatz auszuführen, doch verschob ich ihn auf die Nacht, um die Operation recht ruhig vorzunehmen, und eilte zu einem Bankett, das eben angesagt war. Da ging es denn wieder hoch her, und wir waren durch Wein und Trompetenschall mächtig aufgeregt, als mir der unangenehme Streich passierte, dass beim Nachtisch ein älterer Freund meiner liebsten Schönheit, von Reisen kommend, unvermutet herein trat, sich zu ihr setzte und ohne große Umstände seine alten Rechte geltend zu machen suchte. Daraus entstand nun bald Unwille, Hader und Streit; wir zogen vom Leder, und ich ward mit mehreren Wunden halbtot nach Hause getragen.

Der Chirurgus hatte mich verbunden und verlassen, es war schon tief in der Nacht, mein Wärter eingeschlafen; die Tür des Seitenzimmers ging auf, meine geheimnisvolle Freundin trat herein und setzte sich zu mir ans Bett. Sie fragte nach meinem Befinden; ich antwortete nicht, denn ich war matt und verdrießlich. Sie fuhr fort, mit vielem Anteil zu sprechen, rieb mir die Schläfe mit einem gewissen Balsam, so dass ich mich geschwind und entschieden gestärkt fühlte, so gestärkt, dass ich mich erzürnen und sie ausschelten konnte. In einer heftigen Rede warf ich alle Schuld meines Unglücks auf sie, auf die Leidenschaft, die sie mir eingeflößt, auf ihr Erscheinen, ihr Verschwinden, auf die Langeweile, auf die Sehnsucht, die ich empfinden musste. Ich ward immer heftiger und heftiger, als wenn mich ein Fieber anfiele, und ich schwur ihr zuletzt, dass, wenn sie nicht die Meinige sein, mir diesmal nicht angehören und sich mit mir verbinden wolle, so verlange ich nicht länger zu leben; worauf ich entschiedene Antwort forderte. Als sie zaudernd mit einer Erklärung zurückhielt, geriet ich ganz außer mir, riss den doppelten und dreifachen Verband von den Wunden, mit der entschiedenen Absicht, mich zu verbluten. Aber wie erstaunte ich, als ich meine Wunden alle geheilt, meinen Körper schmuck und glänzend und sie in meinen Armen fand.

Nun waren wir das glücklichste Paar von der Welt. Wir baten einander wechselseitig um Verzeihung und wussten selbst nicht recht, warum. Sie versprach nun, mit mir weiter zu reisen, und bald saßen wir nebeneinander im Wagen, das Kästchen gegen uns über, am Platze der dritten Person. Ich hatte desselben niemals gegen sie erwähnt; auch jetzt fiel mir’s nicht ein, davon zu reden, ob es uns gleich vor den Augen stand und wir durch eine stillschweigende Übereinkunft beide dafür sorgten, wie es etwa die Gelegenheit geben mochte; nur dass ich es immer in und aus dem Wagen hob und mich wie vormals mit dem Verschluss der Türen beschäftigte.

Solange noch etwas im Beutel war, hatte ich immer fortbezahlt; als es mit meiner Barschaft zu Ende ging, ließ ich sie es merken. – „Dafür ist leicht Rat geschafft“, sagte sie und deutete auf ein Paar kleine Taschen, oben an der Seite des Wagens angebracht, die ich früher wohl bemerkt, aber nicht gebraucht hatte. Sie griff in die eine und zog einige Goldstücke heraus, sowie aus der andern einige Silbermünzen, und zeigte mir dadurch die Möglichkeit, jeden Aufwand, wie es uns beliebte, fortzusetzen. So reisten wir von Stadt zu Stadt, von Land zu Land, waren unter uns und mit andern froh, und ich dachte nicht daran, dass sie mich wieder verlassen könnte, um so weniger, als sie sich seit einiger Zeit entschieden guter Hoffnung befand, wodurch unsere Heiterkeit und unsere Liebe nur noch vermehrt wurde. Aber eines Morgens fand ich sie leider nicht mehr, und weil mir der Aufenthalt ohne sie verdrießlich war, machte ich mich mit meinem Kästchen wieder auf den Weg, versuchte die Kraft der beiden Taschen und fand sie noch immer bewährt.

Die Reise ging glücklich vonstatten, und wenn ich bisher über mein Abenteuer weiter nicht nachdenken mögen, weil ich eine ganz natürliche Entwicklung der wundersamen Begebenheiten erwartete, so ereignete sich doch gegenwärtig etwas, wodurch ich in Erstaunen, in Sorgen, ja in Furcht gesetzt wurde. Weil ich, um von der Stelle zu kommen, Tag und Nacht zu reisen gewohnt war, so geschah es, dass ich oft im Finstern fuhr und es in meinem Wagen, wenn die Laternen zufällig ausgingen, ganz dunkel war. Einmal bei so finsterer Nacht war ich eingeschlafen, und als ich erwachte, sah ich den Schein eines Lichtes an der Decke meines Wagens. Ich beobachtete denselben und fand, dass er aus dem Kästchen hervorbrach, das einen Riss zu haben schien, eben als wäre es durch die heiße und trockene Witterung der eingetretenen Sommerzeit gesprungen. Meine Gedanken an die Juwelen wurden wieder rege, ich vermutete, dass ein Karfunkel im Kästchen liege, und wünschte darüber Gewissheit zu haben. Ich rückte mich, so gut ich konnte, zurecht, so dass ich mit dem Aug unmittelbar den Riss berührte. Aber wie groß war mein Erstaunen, als ich in ein von Lichtern wohl erhelltes, mit viel Geschmack, ja Kostbarkeit möbliertes Zimmer hineinsah, gerade so als hätte ich durch die Öffnung eines Gewölbes in einen königlichen Saal hinab gesehn. Zwar konnte ich nur einen Teil des Raums beobachten, der mich auf das übrige schließen ließ. Ein Kaminfeuer schien zu brennen, neben welchem ein Lehnsessel stand. Ich hielt den Atem an mich und fuhr fort zu beobachten. Indem kam von der andern Seite des Saals ein Frauenzimmer mit einem Buch in den Händen, die ich sogleich für meine Frau erkannte, obschon ihr Bild nach dem allerkleinsten Maßstabe zusammengezogen war. Die Schöne setzte sich in den Sessel ans Kamin, um zu lesen, legte die Brände mit der niedlichsten Feuerzange zurecht, wobei ich deutlich bemerken konnte, das allerliebste kleine Wesen sei ebenfalls guter Hoffnung. Nun fand ich mich aber genötigt, meine unbequeme Stellung einigermaßen zu verrücken, und bald darauf, als ich wieder hineingehen und mich überzeugen wollte, dass es kein Traum gewesen, war das Licht verschwunden, und ich blickte in eine leere Finsternis.

Wie erstaunt, ja erschrocken ich war, lässt sich begreifen. Ich machte mir tausend Gedanken über diese Entdeckung und konnte doch eigentlich nichts denken. Darüber schlief ich ein, und als ich erwachte, glaubte ich eben nur geträumt zu haben; doch fühlte ich mich von meiner Schönen einigermaßen entfremdet, und indem ich das Kästchen nur desto sorgfältiger trug, wusste ich nicht, ob ich ihre Wiedererscheinung in völliger Menschengröße wünschen oder fürchten sollte.

Nach einiger Zeit trat denn wirklich meine Schöne gegen Abend in weißem Kleid herein, und da es eben im Zimmer dämmerte, so kam sie mir länger vor, als ich sie sonst zu sehen gewohnt war, und ich erinnerte mich, gehört zu haben, dass alle vom Geschlecht der Nixen und Gnomen bei einbrechender Nacht an Länge gar merklich zunähmen. Sie flog wie gewöhnlich in meine Arme, aber ich konnte sie nicht recht frohmütig an meine beklemmte Brust drücken.

„Mein Liebster“, sagte sie, „ich fühle nun wohl an deinem Empfang, was ich leider schon weiß. Du hast mich in der Zwischenzeit gesehn; du bist von dem Zustand unterrichtet, in dem ich mich zu gewissen Zeiten befinde; dein Glück und das meinige ist hiedurch unterbrochen, ja es steht auf dem Punkt, ganz vernichtet zu werden. Ich muss dich verlassen und weiß nicht, ob ich dich jemals wieder sehen werde.“ Ihre Gegenwart, die Anmut, mit der sie sprach, entfernte sogleich fast jede Erinnerung jenes Gesichtes, das mir schon bisher nur als ein Traum vorgeschwebt hatte. Ich umfing sie mit Lebhaftigkeit, überzeugte sie von meiner Leidenschaft, versicherte ihr meine Unschuld, erzählte ihr das Zufällige der Entdeckung, genug, ich tat so viel, dass sie selbst beruhigt schien und mich zu beruhigen suchte.

„Prüfe dich genau“, sagte sie, „ob diese Entdeckung deiner Liebe nicht geschadet habe, ob du vergessen kannst, dass ich in zweierlei Gestalten mich neben dir befinde, ob die Verringerung meines Wesens nicht auch deine Neigung vermindern werde.“

Ich sah sie an; schöner war sie als jemals, und ich dachte bei mir selbst: Ist es denn ein so großes Unglück, eine Frau zu besitzen, die von Zeit zu Zeit eine Zwergin wird, so dass man sie im Kästchen herumtragen kann? Wäre es nicht viel schlimmer, wenn sie zur Riesin würde und ihren Mann in den Kasten steckte? Meine Heiterkeit war zurückgekehrt. Ich hätte sie um alles in der Welt nicht fahren lassen. – „Bestes Herz“, versetzte ich, „lass uns bleiben und sein, wie wir gewesen sind. Könnten wir’s beide denn herrlicher finden! Bediene dich deiner Bequemlichkeit, und ich verspreche dir, das Kästchen nur desto sorgfältiger zu tragen. Wie sollte das Niedlichste, was ich in meinem Leben gesehn, einen schlimmen Eindruck auf mich machen? Wie glücklich würden die Liebhaber sein, wenn sie solche Miniaturbilder besitzen könnten! Und am Ende war es auch nur ein solches Bild, eine kleine Taschenspielerei. Du prüfst und neckst mich; du sollst aber sehen, wie ich mich halten werde.“

„Die Sache ist ernsthafter, als du denkst“, sagte die Schöne; „indessen bin ich recht wohl zufrieden, dass du sie leicht nimmst; denn für uns beide kann noch immer die heiterste Folge werden. Ich will dir vertrauen und von meiner Seite das Mögliche tun; nur versprich mir, dieser Entdeckung niemals vorwurfsweise zu gedenken. Dazu füg’ ich noch eine Bitte recht inständig: Nimm dich vor Wein und Zorn mehr als jemals in Acht.“

Ich versprach, was sie begehrte, ich hätte zu und immer zu versprochen; doch sie wendete selbst das Gespräch, und alles war im vorigen Gleis. Wir hatten nicht Ursache, den Ort unseres Aufenthaltes zu verändern; die Stadt war groß, die Gesellschaft vielfach, die Jahreszeit veranlasste manches Land- und Gartenfest.

Bei allen solchen Freuden war meine Frau sehr gern gesehen, ja von Männern und Frauen lebhaft verlangt. Ein gutes, einschmeichelndes Betragen, mit einer gewissen Hoheit verknüpft, machte sie jedermann lieb und ehrenwert. Überdies spielte sie herrlich die Laute und sang dazu, und alle geselligen Nächte mussten durch ihr Talent gekrönt werden.

Ich will nur gestehen, dass ich mir aus der Musik niemals viel habe machen können, ja sie hatte vielmehr auf mich eine unangenehme Wirkung. Meine Schöne, die mir das bald abgemerkt hatte, suchte mich daher niemals, wenn wir allein waren, auf diese Weise zu unterhalten; dagegen schien sie sich in Gesellschaft zu entschädigen, wo sie denn gewöhnlich eine Menge Bewunderer fand.

Und nun – warum sollte ich es leugnen? – Unsere letzte Unterredung, ungeachtet meines besten Willens, war doch nicht vermögend gewesen, die Sache ganz bei mir abzutun; vielmehr hatte sich meine Empfindungsweise gar seltsam gestimmt, ohne dass ich es mir vollkommen bewusst gewesen wäre. Da brach eines Abends in großer Gesellschaft der verhaltene Unmut los, und mir entsprang daraus der allergrößte Nachteil.

Wenn ich es jetzt recht bedenke, so liebte ich nach jener unglücklichen Entdeckung meine Schönheit viel weniger, und nun ward ich eifersüchtig auf sie, was mir vorher gar nicht eingefallen war. Abends bei Tafel, wo wir schräg gegen einander über in ziemlicher Entfernung saßen, befand ich mich sehr wohl mit meinen beiden Nachbarinnen, ein paar Frauenzimmern, die mir seit einiger Zeit reizend geschienen hatten. Unter Scherz- und Liebesreden sparte man des Weines nicht, indessen von der andern Seite ein paar Musikfreunde sich meiner Frau bemächtigt hatten und die Gesellschaft zu Gesängen, einzelnen und chormäßigen, aufzumuntern und anzuführen wussten. Darüber fiel ich in böse Laune; die beiden Kunstliebhaber schienen zudringlich; der Gesang machte mich ärgerlich, und als man gar von mir auch eine Solostrophe begehrte, so wurde ich wirklich aufgebracht, leerte den Becher und setzte ihn sehr unsanft nieder.

Durch die Anmut meiner Nachbarinnen fühlte ich mich sogleich zwar wieder gemildert; aber es ist eine böse Sache um den Ärger, wenn er einmal auf dem Weg ist. Er kochte heimlich fort, obgleich alles mich hätte sollen zur Freude, zur Nachgiebigkeit stimmen. Im Gegenteil wurde ich nur noch tückischer, als man eine Laute brachte und meine Schöne ihren Gesang zur Bewunderung aller übrigen begleitete. Unglücklicherweise erbat man sich eine allgemeine Stille. Also auch schwatzen sollte ich nicht mehr, und die Töne taten mir in den Zähnen weh. War es nun ein Wunder, dass endlich der kleinste Funke die Mine zündete?

Eben hatte die Sängerin ein Lied unter dem größten Beifall geendigt, als sie nach mir, und wahrlich recht liebevoll, herüber sah. Leider drangen die Blicke nicht bei mir ein. Sie bemerkte, dass ich einen Becher Wein hinunterschlang und einen neu anfüllte. Mit dem rechten Zeigefinger winkte sie mir lieblich drohend. „Bedenken Sie, dass es Wein ist!“, sagte sie, nicht lauter, als dass ich es hören konnte. – „Wasser ist für die Nixen!“, rief ich aus. – „Meine Damen“, sagte sie zu meinen Nachbarinnen, „kränzen Sie den Becher mit aller Anmut, dass er nicht zu oft leer werde.“ – „Sie werden sich doch nicht meistern lassen!“, zischelte mir die eine ins Ohr. – „Was will der Zwerg?“, rief ich aus, mich heftiger gebärdend, wodurch ich den Becher umstieß. „Hier ist viel verschüttet!“, rief die Wunderschöne, tat einen Griff in die Saiten, als wolle sie die Aufmerksamkeit der Gesellschaft aus dieser Störung wieder auf sich heranziehen. Es gelang ihr wirklich, umso mehr, als sie aufstand, aber nur, als wenn sie sich das Spiel bequemer machen wollte, und zu präludieren fort fuhr.

Als ich den roten Wein über das Tischtuch fließen sah, kam ich wieder zu mir selbst. Ich erkannte den großen Fehler, den ich begangen hatte, und war recht innerlich zerknirscht. Zum ersten Mal sprach die Musik mich an. Die erste Strophe, die sie sang, war ein freundlicher Abschied an die Gesellschaft, wie sie sich noch zusammen fühlen konnte; bei der folgenden Strophe floss die Sozietät gleichsam auseinander, jeder fühlte sich einzeln, abgesondert, niemand glaubte sich mehr gegenwärtig. Aber was soll ich denn von der letzten Strophe sagen? Sie war allein an mich gerichtet, die Stimme der gekränkten Liebe, die von Unmut und Übermut Abschied nimmt.

Stumm führte ich sie nach Hause und erwartete mir nichts Gutes. Doch kaum waren wir in unserm Zimmer angelangt, als sie sich höchst freundlich und anmutig, ja sogar schalkhaft erwies und mich zum glücklichsten aller Menschen machte.

Des andern Morgens sagte ich ganz getrost und liebevoll: „Du hast so manchmal, durch gute Gesellschaft aufgefordert, gesungen, so zum Beispiel gestern Abend das rührende Abschiedslied; singe nun auch einmal mir zuliebe ein hübsches, fröhliches Willkommen in dieser Morgenstunde, damit es uns werde, als wenn wir uns zum ersten Mal kennen lernten.“

„Das vermag ich nicht, mein Freund“, versetzte sie mit Ernst. „Das Lied von gestern Abend bezog sich auf unsere Scheidung, die nun sogleich vor sich gehen muss; denn ich kann dir nur sagen, die Beleidigung gegen Versprechen und Schwur hat für uns beide die schlimmsten Folgen; du verscherzest ein großes Glück, und auch ich muss meinen liebsten Wünschen entsagen.“

Als ich nun hierauf in sie drang und bat, sie möchte sich näher erklären, versetzte sie: „Das kann ich leider wohl, denn es ist doch um mein Belieben bei dir getan. Vernimm also, was ich dir lieber bis in die spätesten Zeiten verborgen hätte. Die Gestalt, in der du mich im Kästchen erblicktest, ist mir wirklich angeboren und natürlich; denn ich bin aus dem Stamm des Königs Eckwald, des mächtigen Fürsten der Zwerge, von dem die wahrhafte Geschichte so vieles meldet. Unser Volk ist noch immer wie vor alters tätig und geschäftig und auch daher leicht zu regieren. Du musst dir aber nicht vorstellen, dass die Zwerge in ihren Arbeiten zurückgeblieben sind. Sonst waren Schwerter, die den Feind verfolgten, wenn man sie ihm nachwarf, unsichtbar und geheimnisvoll bindende Ketten, undurchdringliche Schilder und dergleichen ihre berühmtesten Arbeiten. Jetzt aber beschäftigen sie sich hauptsächlich mit Sachen der Bequemlichkeit und des Putzes und übertreffen darin alle andern Völker der Erde. Du würdest erstaunen, wenn du unsere Werkstätten und Warenlager hindurchgehen solltest. Dies wäre nun alles gut, wenn nicht bei der ganzen Nation überhaupt, vorzüglich aber bei der königlichen Familie, ein besonderer Umstand einträte.“

Da sie einen Augenblick innehielt, ersuchte ich sie um fernere Eröffnung dieser wundersamen Geheimnisse, worin sie mir denn auch sogleich willfahrte.

„Es ist bekannt“, sagte sie, „dass Gott, sobald er die Welt erschaffen hatte, so dass alles Erdreich trocken war und das Gebirge mächtig und herrlich dastand, dass Gott, sage ich, sogleich vor allen Dingen die Zwerglein erschuf, damit auch vernünftige Wesen wären, welche seine Wunder im Innern der Erde auf Gängen und Klüften anstaunen und verehren könnten. Ferner ist bekannt, dass dieses kleine Geschlecht sich nachmals erhoben und sich die Herrschaft der Erde anzumaßen gedacht; weshalb denn Gott die Drachen erschaffen, um das Gezwerge ins Gebirge zurückzudrängen. Weil aber die Drachen sich in den großen Höhlen und Spalten selbst einzunisten und dort zu wohnen pflegten, auch viele derselben Feuer spieen und manch anderes Wüste begingen, so wurde dadurch den Zwerglein gar große Not und Kummer bereitet, dergestalt, dass sie nicht mehr wussten, wo aus noch ein, und sich daher zu Gott dem Herrn gar demütig und flehentlich wendeten, auch ihn im Gebet anriefen, er möchte doch dieses unsaubere Drachenvolk wieder vertilgen. Ob er nun aber gleich nach seiner Weisheit sein Geschöpf zu zerstören nicht beschließen mochte, so ging ihm doch der armen Zwerglein große Not dermaßen zu Herzen, dass er alsobald die Riesen erschuf, welche die Drachen bekämpfen und, wo nicht ausrotten, doch wenigstens vermindern sollten.

Als nun aber die Riesen so ziemlich mit den Drachen fertig geworden, stieg ihnen gleichfalls der Mut und Dünkel, weswegen sie gar manches Frevele, besonders auch gegen die guten Zwerglein, verübten, welche denn abermals in ihrer Not sich zu dem Herrn wandten, der sodann aus seiner Machtgewalt die Ritter schuf, welche die Riesen und Drachen bekämpfen und mit den Zwerglein in guter Eintracht leben sollten. Damit war denn das Schöpfungswerk von dieser Seite beschlossen, und es findet sich, dass nachher Riesen und Drachen sowie die Ritter und Zwerge immer zusammengehalten haben. Daraus kannst du nun ersehen, mein Freund, dass wir von dem ältesten Geschlecht der Welt sind, welches uns zwar zu Ehren gereicht, doch aber auch großen Nachteil mit sich führt.

Da nämlich auf der Welt nichts ewig bestehen kann, sondern alles, was einmal groß gewesen, klein werden und abnehmen muss, so sind auch wir in dem Fall, dass wir seit Erschaffung der Welt immer abnehmen und kleiner werden, vor allen andern aber die königliche Familie, welche wegen ihres reinen Blutes diesem Schicksal am ersten unterworfen ist. Deshalb haben unsere weisen Meister schon vor vielen Jahren den Ausweg erdacht, dass von Zeit zu Zeit eine Prinzessin aus dem königlichen Haus heraus ins Land gesendet werde, um sich mit einem ehrsamen Ritter zu vermählen, damit das Zwergengeschlecht wieder angefrischt und vom gänzlichen Verfall gerettet sei.“

Indessen meine Schöne diese Worte ganz treuherzig vorbrachte, sah ich sie bedenklich an, weil es schien, als ob sie Lust habe, mir etwas aufzubinden. Was ihre niedliche Herkunft betraf, daran hatte ich weiter keinen Zweifel; aber dass sie mich anstatt eines Ritters ergriffen hatte, das machte mir einiges Misstrauen, indem ich mich denn doch zu wohl kannte, als dass ich hätte glauben sollen, meine Vorfahren seien von Gott unmittelbar erschaffen worden.

Ich verbarg Verwunderung und Zweifel und fragte sie freundlich: „Aber sage mir, mein liebes Kind, wie kommst du zu dieser großen und ansehnlichen Gestalt? Denn ich kenne wenig Frauen, die sich dir an prächtiger Bildung vergleichen können.“ – „Das sollst du erfahren“, versetzte meine Schöne. „Es ist von jeher im Rat der Zwergenkönige hergebracht, dass man sich so lange als möglich vor jedem außerordentlichen Schritt in Acht nehme, welches ich denn auch ganz natürlich und billig finde. Man hätte vielleicht noch lange gezaudert, eine Prinzessin wieder einmal in das Land zu senden, wenn nicht mein nachgeborner Bruder so klein ausgefallen wäre, dass ihn die Wärterinnen sogar aus den Windeln verloren haben und man nicht weiß, wo er hingekommen ist. Bei diesem in den Jahrbüchern des Zwergenreiches ganz unerhörten Fall versammelte man die Weisen, und kurz und gut, der Entschluss ward gefasst, mich auf die Freite zu schicken.“

„Der Entschluss!“, rief ich aus, „das ist wohl alles schön und gut. Man kann sich entschließen, man kann etwas beschließen; aber einem Zwerglein diese Göttergestalt zu geben, wie haben eure Weisen dies zustande gebracht?“

„Es war auch schon“, sagte sie, „von unsern Ahnherren vorgesehen. In dem königlichen Schatz lag ein ungeheurer goldner Fingerring. Ich spreche jetzt von ihm, wie er mir vorkam, da er mir, als einem Kind, ehemals an seinem Ort gezeigt wurde; denn es ist derselbe, den ich hier am Finger habe; und nun ging man folgendergestalt zu Werk. Man unterrichtete mich von allem, was bevorstehe, und belehrte mich, was ich zu tun und zu lassen habe.

Ein köstlicher Palast, nach dem Muster des liebsten Sommeraufenthalts meiner Eltern, wurde verfertigt: Ein Hauptgebäude, Seitenflügel und was man nur wünschen kann. Er stand am Eingang einer großen Felskluft und verzierte sie aufs beste. An dem bestimmten Tage zog der Hof dorthin und meine Eltern mit mir. Die Armee paradierte, und vierundzwanzig Priester trugen auf einer köstlichen Bahre, nicht ohne Beschwerlichkeit, den wundervollen Ring. Er ward an die Schwelle des Gebäudes gelegt, gleich innerhalb, wo man über sie hinüber tritt. Manche Zeremonien wurden begangen, und nach einem herzlichen Abschied schritt ich zum Werk. Ich trat hinzu, legte die Hand an den Ring und fing sogleich merklich zu wachsen an. In wenig Augenblicken war ich zu meiner gegenwärtigen Größe angelangt, worauf ich den Ring sogleich an den Finger steckte. Nun im Nu verschlossen sich Fenster, Türen und Tore, die Seitenflügel zogen sich ins Hauptgebäude zurück, statt des Palastes stand ein Kästchen neben mir, das ich sogleich aufhob und mit mir fort trug, nicht ohne ein angenehmes Gefühl, so groß und so stark zu sein, zwar immer noch ein Zwerg gegen Bäume und Berge, gegen Ströme wie gegen Landstrecken, aber doch immer schon ein Riese gegen Gras und Kräuter, besonders aber gegen die Ameisen, mit denen wir Zwerge nicht immer in gutem Verhältnis stehen und deswegen oft gewaltig von ihnen geplagt werden.

Wie es mir auf meiner Wallfahrt erging, ehe ich dich fand, davon hätte ich viel zu erzählen. Genug, ich prüfte manchen, aber niemand als du schien mir wert, den Stamm des herrlichen Eckwald zu erneuern und zu verewigen.“

Bei allen diesen Erzählungen wackelte mir mitunter der Kopf, ohne dass ich ihn gerade geschüttelt hätte. Ich tat verschiedene Fragen, worauf ich aber keine sonderlichen Antworten erhielt, vielmehr zu meiner größten Betrübnis erfuhr, dass sie nach dem, was begegnet, notwendig zu ihren Eltern zurückkehren müsse. Sie hoffe zwar, wieder zu mir zu kommen, doch jetzt habe sie sich unvermeidlich zu stellen, weil sonst für sie so wie für mich alles verloren wäre. Die Beutel würden bald aufhören zu zahlen, und was sonst noch alles daraus entstehen könnte.

Da ich hörte, dass uns das Geld ausgehen dürfte, fragte ich nicht weiter, was sonst noch geschehen möchte. Ich zuckte die Achseln, ich schwieg, und sie schien mich zu verstehen.

Wir packten zusammen und setzten uns in den Wagen, das Kästchen gegen uns über, dem ich aber noch nichts von einem Palast ansehen konnte. So ging es mehrere Stationen fort. Postgeld und Trinkgeld wurden aus den Täschchen rechts und links bequem und reichlich bezahlt, bis wir endlich in eine gebirgige Gegend gelangten und kaum abgestiegen waren, als meine Schöne vorausging und ich auf ihr Geheiß mit dem Kästchen folgte. Sie führte mich auf ziemlich steilen Pfaden zu einem engen Wiesengrund, durch welchen sich eine klare Quelle bald stürzte, bald ruhig laufend schlängelte. Da zeigte sie mir eine erhöhte Fläche, hieß mich das Kästchen niedersetzen und sagte: „Lebe wohl, du findest den Weg gar leicht zurück; gedenke mein, ich hoffe, dich wieder zu sehen.“

In diesem Augenblick war mir’s, als wenn ich sie nicht verlassen könnte. Sie hatte gerade wieder ihren schönen Tag oder, wenn ihr wollt, ihre schöne Stunde. Mit einem so lieblichen Wesen allein, auf grüner Matte, zwischen Gras und Blumen, von Felsen beschränkt, von Wasser umrauscht, welches Herz wäre da wohl fühllos geblieben! Ich wollte sie bei der Hand fassen, sie umarmen, aber sie stieß mich zurück und bedrohte mich, obwohl noch immer liebreich genug, mit großer Gefahr, wenn ich mich nicht sogleich entfernte.

„Ist denn gar keine Möglichkeit“, rief ich aus, „dass ich bei dir bleibe, dass du mich bei dir behalten könntest?“ Ich begleitete diese Worte mit so jämmerlichen Gebärden und Tönen, dass sie gerührt schien und nach einigem Bedenken mir gestand, eine Fortdauer unserer Verbindung sei nicht ganz unmöglich. Wer war glücklicher als ich! Meine Zudringlichkeit, die immer lebhafter ward, nötigte sie endlich, mit der Sprache herauszurücken und mir zu entdecken, dass, wenn ich mich entschlösse, mit ihr so klein zu werden, als ich sie schon gesehen, so könnte ich auch jetzt bei ihr bleiben, in ihre Wohnung, in ihr Reich, zu ihrer Familie mit übertreten. Dieser Vorschlag gefiel mir nicht ganz; doch konnte ich mich einmal in diesem Augenblick nicht von ihr losreißen, und ans Wunderbare seit geraumer Zeit schon gewöhnt, zu raschen Entschlüssen aufgelegt, schlug ich ein und sagte, sie möchte mit mir machen, was sie wolle.

Sogleich musste ich den kleinen Finger meiner rechten Hand ausstrecken, sie stützte den ihrigen dagegen, zog mit der linken Hand den goldnen Ring ganz leise sich ab und ließ ihn herüber an meinen Finger laufen. Kaum war dies geschehen, so fühlte ich einen gewaltigen Schmerz am Finger, der Ring zog sich zusammen und folterte mich entsetzlich. Ich tat einen gewaltigen Schrei und griff unwillkürlich um mich her nach meiner Schönen, die aber verschwunden war. Wie mir indessen zumute gewesen, dafür wüsste ich keinen Ausdruck zu finden; auch bleibt mir nichts übrig zu sagen, als dass ich mich sehr bald in kleiner, niedriger Person neben meiner Schönen in einem Wald von Grashalmen befand. Die Freude des Wiedersehens nach einer kurzen und doch so seltsamen Trennung oder, wenn ihr wollt, einer Wiedervereinigung ohne Trennung, übersteigt alle Begriffe. Ich fiel ihr um den Hals, sie erwiderte meine Liebkosungen, und das kleine Paar fühlte sich so glücklich als das große.

Mit einiger Unbequemlichkeit stiegen wir nunmehr an einem Hügel hinauf; denn die Matte war für uns beinah ein undurchdringlicher Wald geworden. Doch gelangten wir endlich auf eine Blöße, und wie erstaunt war ich, dort eine große, geregelte Masse zu sehen, die ich doch bald für das Kästchen, in dem Zustand, wie ich es hingesetzt hatte, wieder erkennen musste.

„Gehe hin, mein Freund, und klopfe mit dem Ringe nur an, du wirst Wunder sehen“, sagte meine Geliebte. Ich trat hinzu und hatte kaum angepocht, so erlebte ich wirklich das größte Wunder. Zwei Seitenflügel bewegten sich hervor, und zugleich fielen wie Schuppen und Späne verschiedene Teile herunter, da mir denn Türen, Fenster, Säulengänge und alles, was zu einem vollständigen Palast gehört, auf einmal zu Gesicht kamen.

Wer einen künstlichen Schreibtisch von Röntgen gesehen hat, wo mit einem Zug viele Federn und Ressorts in Bewegung kommen, Pult und Schreibzeug, Brief- und Geldfächer sich auf einmal oder kurz nacheinander entwickeln, der wird sich eine Vorstellung machen können, wie sich jener Palast entfaltete, in welchen mich meine süße Begleiterin nunmehr hineinzog. In dem Hauptsaal erkannte ich sogleich das Kamin, das ich ehemals von oben gesehen, und den Sessel, worauf sie gesessen. Und als ich über mich blickte, glaubte ich wirklich noch etwas von dem Sprung in der Kuppel zu bemerken, durch den ich hereingeschaut hatte. Ich verschone euch mit Beschreibung des übrigen; genug, alles war geräumig, köstlich und geschmackvoll. Kaum hatte ich mich von meiner Verwunderung erholt, als ich von fern eine militärische Musik vernahm. Meine schöne Hälfte sprang vor Freuden auf und verkündigte mir mit Entzücken die Ankunft ihres Herrn Vaters. Hier traten wir unter die Türe und schauten, wie aus einer ansehnlichen Felskluft ein glänzender Zug sich bewegte. Soldaten, Bediente, Hausoffizianten und ein glänzender Hofstaat folgten hintereinander. Endlich erblickte man ein goldnes Gedränge und in demselben den König selbst. Als der ganze Zug vor dem Palast aufgestellt war, trat der König mit seiner nächsten Umgebung heran. Seine zärtliche Tochter eilte ihm entgegen, sie riss mich mit sich fort, wir warfen uns ihm zu Füßen, er hob mich sehr gnädig auf, und als ich vor ihn zu stehen kam, bemerkte ich erst, dass ich freilich in dieser kleinen Welt die ansehnlichste Statur hatte. Wir gingen zusammen nach dem Palast, da mich der König in Gegenwart seines ganzen Hofes mit einer wohl studierten Rede, worin er seine Überraschung, uns hier zu finden, ausdrückte, zu bewillkommnen geruhte, mich als seinen Schwiegersohn erkannte und die Trauungszeremonie auf morgen ansetzte.

Wie schrecklich ward mir auf einmal zumute, als ich von Heirat reden hörte; denn ich fürchtete mich bisher davor fast mehr als vor der Musik selbst, die mir doch sonst das Verhassteste auf Erden schien. Diejenigen, die Musik machen, pflegte ich zu sagen, stehen doch wenigstens in der Einbildung, untereinander einig zu sein und in Übereinstimmung zu wirken; denn wenn sie lange genug gestimmt und uns die Ohren mit allerlei Misstönen zerrissen haben, so glauben sie steif und fest, die Sache sei nunmehr aufs reine gebracht und ein Instrument passe genau zum andern. Der Kapellmeister selbst ist in diesem glücklichen Wahn, und nun geht es freudig los, unterdes uns andern immerfort die Ohren gellen. Bei dem Ehestand hingegen ist dies nicht einmal der Fall; denn ob er gleich nur ein Duett ist und man doch denken sollte, zwei Stimmen, ja zwei Instrumente müssten einigermaßen übereingestimmt werden können, so trifft es doch selten zu; denn wenn der Mann einen Ton angibt, so nimmt ihn die Frau gleich höher und der Mann wieder höher; da geht es denn aus dem Kammer- in den Chorton und immer so weiter hinauf, dass zuletzt die blasenden Instrumente selbst nicht folgen können. Und also, da mir die harmonische Musik zuwider bleibt, so ist mir noch weniger zu verdenken, dass ich die disharmonische gar nicht leiden kann.

Von allen Festlichkeiten, worunter der Tag hinging, mag und kann ich nicht erzählen; denn ich achtete gar wenig darauf. Das kostbare Essen, der köstliche Wein, nichts wollte mir schmecken. Ich sann und überlegte, was ich zu tun hätte. Doch da war nicht viel auszusinnen. Ich entschloss mich, als es Nacht wurde, kurz und gut, auf und davon zu gehen und mich irgendwo zu verbergen. Auch gelangte ich glücklich zu einer Steinritze, in die ich mich hineinzwängte und so gut als möglich verbarg. Mein erstes Bemühen darauf war, den unglücklichen Ring vom Finger zu schaffen, welches jedoch mir keineswegs gelingen wollte, vielmehr musste ich fühlen, dass er immer enger ward, sobald ich ihn abzuziehen gedachte, worüber ich heftige Schmerzen litt, die aber sogleich nachließen, sobald ich von meinem Vorhaben abstand.

Frühmorgens wach’ ich auf – denn meine kleine Person hatte sehr gut geschlafen – und wollte mich eben weiter umsehen, als es über mir wie zu regnen anfing. Es fiel nämlich durch Gras, Blätter und Blumen wie Sand und Grus in Menge herunter; allein wie entsetzte ich mich, als alles um mich her lebendig ward und ein unendliches Ameisenheer über mich niederstürzte. Kaum wurden sie mich gewahr, als sie mich von allen Seiten angriffen und, ob ich mich gleich wacker und mutig genug verteidigte, doch zuletzt auf solche Weise zudeckten, kneipten und peinigten, dass ich froh war, als ich mir zurufen hörte, ich solle mich ergeben. Ich ergab mich wirklich und gleich, worauf denn eine Ameise von ansehnlicher Statur sich mit Höflichkeit, ja mit Ehrfurcht näherte und sich sogar meiner Gunst empfahl. Ich vernahm, dass die Ameisen Alliierte meines Schwiegervaters geworden und dass er sie im gegenwärtigen Fall aufgerufen und verpflichtet, mich herbeizuschaffen. Nun war ich Kleiner in den Händen von noch Kleinern. Ich sah der Trauung entgegen und musste noch Gott danken, wenn mein Schwiegervater nicht zürnte, wenn meine Schöne nicht verdrießlich geworden.

Lasst mich nun von allen Zeremonien schweigen; genug, wir waren verheiratet. So lustig und munter es jedoch bei uns herging, so fanden sich dessen ungeachtet einsame Stunden, in denen man zum Nachdenken verleitet wird, und mir begegnete, was mir noch niemals begegnet war; was aber und wie, das sollt ihr vernehmen.

Alles um mich her war meiner gegenwärtigen Gestalt und meinen Bedürfnissen völlig gemäß, die Flaschen und Becher, einem kleinen Trinker wohl proportioniert, ja, wenn man will, verhältnismäßig besseres Maß als bei uns. Meinem kleinen Gaumen schmeckten die zarten Bissen vortrefflich, ein Kuss von dem Mündchen meiner Gattin war gar zu reizend, und ich leugne nicht, die Neuheit machte mir alle diese Verhältnisse höchst angenehm. Dabei hatte ich jedoch leider meinen vorigen Zustand nicht vergessen. Ich empfand in mir einen Maßstab voriger Größe, welches mich unruhig und unglücklich machte. Nun begriff ich zum ersten Mal, was die Philosophen unter ihren Idealen verstehen möchten, wodurch die Menschen so gequält sein sollen. Ich hatte ein Ideal von mir selbst und erschien mir manchmal im Traum wie ein Riese. Genug, die Frau, der Ring, die Zwergenfigur, so viele andere Bande machten mich ganz und gar unglücklich, dass ich auf meine Befreiung im Ernst zu denken begann.

Weil ich überzeugt war, dass der ganze Zauber in dem Ring verborgen liege, so beschloss ich, ihn abzuteilen. Ich entwendete deshalb dem Hofjuwelier einige Feilen. Glücklicherweise war ich links, und ich hatte in meinem Leben niemals etwas rechts gemacht. Ich hielt mich tapfer an die Arbeit; sie war nicht gering; denn das goldne Reifchen, so dünn es aussah, war in dem Verhältnis dichter geworden, als es sich aus seiner ersten Größe zusammengezogen hatte. Alle freien Stunden wendete ich unbeobachtet an dieses Geschäft und war klug genug, als das Metall bald durchgefeilt war, vor die Tür zu treten. Das war mir geraten; denn auf einmal sprang der goldne Reif mit Gewalt vom Finger, und meine Figur schoss mit solcher Heftigkeit in die Höhe, dass ich wirklich an den Himmel zu stoßen glaubte und auf alle Fälle die Kuppel unseres Sommerpalastes durchgestoßen, ja das ganze Sommergebäude durch meine frische Unbehilflichkeit zerstört haben würde.

Da stand ich nun wieder, freilich um so vieles größer, allein, wie mir vorkam, auch um vieles dümmer und unbehilflicher. Und als ich mich aus meiner Betäubung erholt, sah ich die Schatulle neben mir stehen, die ich ziemlich schwer fand, als ich sie aufhob und den Fußpfad hinunter nach der Station trug, wo ich denn gleich einspannen und fortfahren ließ. Unterwegs machte ich sogleich den Versuch, mit den Täschchen an beiden Seiten. An der Stelle des Geldes, welches ausgegangen schien, fand ich ein Schlüsselchen; es gehörte zur Schatulle, in welcher ich einen ziemlichen Ersatz fand. Solange das vorhielt, bediente ich mich des Wagens; nachher wurde dieser verkauft, um mich auf dem Postwagen fortzubringen. Die Schatulle schlug ich zuletzt los, weil ich immer dachte, sie sollte sich noch einmal füllen, und so kam ich denn endlich, obgleich durch einen ziemlichen Umweg, wieder an den Herd zur Köchin, wo ihr mich zuerst habt kennen lernen.

 
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Kapitel 7

Hersilie an Wilhelm

Bekanntschaften, wenn sie sich auch gleichgültig ankündigen, haben oft die wichtigsten Folgen, und nun gar die Ihrige, die gleich von Anfang nicht gleichgültig war. Der wunderliche Schlüssel kam in meine Hände als ein seltsames Pfand; nun besitze ich das Kästchen auch. Schlüssel und Kästchen, was sagen Sie dazu? Was soll man dazu sagen? Hören Sie, wie’s zuging:

Ein junger, feiner Mann lässt sich bei meinem Oheim melden und erzählt, dass der kuriose Antiquitätenkrämer, der mit Ihnen lange in Verbindung gestanden, vor kurzem gestorben sei und ihm die ganze merkwürdige Verlassenschaft übertragen, zugleich aber zur Pflicht gemacht habe, alles fremde Eigentum, was eigentlich nur deponiert sei, unverzüglich zurückzugeben. Eignes Gut beunruhige niemanden, denn man habe den Verlust allein zu ertragen; fremdes Gut jedoch zu bewahren, habe er sich nur in besondern Fällen erlaubt, ihm wolle er diese Last nicht aufbürden, ja er verbiete ihm, in väterlicher Liebe und Autorität, sich damit zu befassen. Und hiermit zog er das Kästchen hervor, das, wenn ich es schon aus der Beschreibung kannte, mir doch ganz vorzüglich in die Augen fiel.

Der Oheim, nachdem er es von allen Seiten besehen, gab es zurück und sagte: Auch er habe es sich zur Pflicht gemacht, in gleichem Sinn zu handeln und sich mit keiner Antiquität, sie sei auch noch so schön und wunderbar, zu belasten, wenn er nicht wisse, wem sie früher angehört und was für eine historische Merkwürdigkeit damit zu verknüpfen sei. Nun zeige dieses Kästchen weder Buchstaben noch Ziffer, weder Jahreszahl noch sonst eine Andeutung, woraus man den frühern Besitzer oder Künstler erraten könne, es sei ihm also völlig unnütz und ohne Interesse.

Der junge Mann stand in großer Verlegenheit und fragte nach einigem Besinnen, ob er nicht erlauben wolle, solches bei seinen Gerichten niederzulegen? Der Oheim lächelte, wandte sich zu mir und sprach: „Das wär’ ein hübsches Geschäft für dich, Hersilie; du hast ja auch allerlei Schmuck und zierliche Kostbarkeiten, leg’ es dazu; denn ich wollte wetten, der Freund, der dir nicht gleichgültig blieb, kommt gelegentlich wieder und holt es ab.“

Das muss ich nun so hinschreiben, wenn ich treu erzählen will, und sodann muss ich bekennen: Ich sah das Kästchen mit neidischen Augen an, und eine gewisse Habsucht bemächtigte sich meiner. Mir widerte, das herrliche, dem holden Felix vom Schicksal zugedachte Schatzkästlein in dem alteisernen, verrosteten Depositenkasten der Gerichtsstube zu wissen. Wünschelrutenartig zog sich die Hand darnach, mein bisschen Vernunft hielt sie zurück; ich hatte ja den Schlüssel, das durfte ich nicht entdecken; und sollte ich mir die Qual antun, das Schloss uneröffnet zu lassen, oder mich der unbefugten Kühnheit hingeben, es aufzuschließen! Allein ich weiß nicht, war es Wunsch oder Ahnung, ich stellte mir vor, Sie kämen, kämen bald, wären schon da, wenn ich auf mein Zimmer träte; genug, es war mir so wunderlich, so seltsam, so konfus, wie es mir immer geht, wenn ich aus meiner gleichmütigen Heiterkeit herausgenötigt werde. Ich sage nichts weiter, beschreibe nicht, entschuldige nicht; genug, hier liegt das Kästchen vor mir in meiner Schatulle, der Schlüssel daneben, und wenn Sie eine Art von Herz und Gemüt haben, so denken Sie, wie mir zumute ist, wie viele Leidenschaften sich in mir herumkämpfen, wie ich Sie herwünsche, auch wohl Felix dazu, dass es ein Ende werde, wenigstens dass eine Deutung vorgehe, was damit gemeint sei, mit diesem wunderbaren Finden, wieder Finden, Trennen und Vereinigen; und sollte ich auch nicht aus aller Verlegenheit gerettet werden, so wünsche ich wenigstens sehnlichste, dass diese sich aufkläre, sich endige, wenn mir auch, wie ich fürchte, etwas Schlimmeres begegnen sollte.

 
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Kapitel 8

Unter den Papieren, die uns zur Redaktion vorliegen, finden wir einen Schwank, den wir ohne weitere Vorbereitung hier einschalten, weil unsre Angelegenheiten immer ernsthafter werden und wir für dergleichen Unregelmäßigkeiten fernerhin keine Stelle finden möchten.

Im Ganzen möchte diese Erzählung dem Leser nicht unangenehm sein, wie sie St. Christoph am heitern Abend einem Kreis versammelter lustiger Gesellen vortrug.

Die gefährliche Wette

Es ist bekannt, dass die Menschen, sobald es ihnen einigermaßen wohl und nach ihrem Sinn geht, alsobald nicht wissen, was sie vor Übermut anfangen sollen; und so hatten denn auch mutwillige Studenten die Gewohnheit, während der Ferien scharenweis das Land zu durchziehen und nach ihrer Art Suiten zu reißen, welche freilich nicht immer die besten Folgen hatten. Sie waren gar verschiedener Art, wie sie das Burschenleben zusammenführt und bindet. Ungleich von Geburt und Wohlhabenheit, Geist und Bildung, aber alle gesellig in einem heitern Sinn miteinander sich fortbewegend und treibend. Mich aber wählten sie oft zum Gesellen; denn wenn ich schwerere Lasten trug als einer von ihnen, so mussten sie mir denn auch den Ehrentitel eines großen Suitiers erteilen, und zwar hauptsächlich deshalb, weil ich seltener, aber desto kräftiger meine Possen trieb, wovon denn folgendes ein Zeugnis geben mag.

Wir hatten auf unseren Wanderungen ein angenehmes Bergdorf erreicht, das bei einer abgeschiedenen Lage den Vorteil einer Poststation und in großer Einsamkeit ein paar hübsche Mädchen zu Bewohnerinnen hatte. Man wollte ausruhen, die Zeit verschleudern, verliebeln, eine Weile wohlfeiler leben und deshalb desto mehr Geld vergeuden.

Es war gerade nach Tisch, als einige sich im erhöhten, andere im erniedrigten Zustand befanden. Die einen lagen und schliefen ihren Rausch aus; die andern hätten ihn gern auf irgendeine mutwillige Weise ausgelassen. Wir hatten ein paar große Zimmer im Seitenflügel nach dem Hof zu. Eine schöne Equipage, die mit vier Pferden hereinrasselte, zog uns an die Fenster. Die Bedienten sprangen vom Bock und halfen einem Herrn von stattlichem, vornehmem Ansehen heraus, der ungeachtet seiner Jahre noch rüstig genug auftrat. Seine große, wohl gebildete Nase fiel mir zuerst ins Gesicht, und ich weiß nicht, was für ein böser Geist mich anhauchte, so dass ich in einem Augenblick den tollsten Plan erfand und ihn, ohne weiter zu denken, sogleich auszuführen begann.

„Was dünkt euch von diesem Herrn?“, fragte ich die Gesellschaft. – „Er sieht aus“, versetzte der eine, „als ob er nicht mit sich spaßen lasse.“ – „Ja, ja“, sagte der andre, „er hat ganz das Ansehen so eines vornehmen Rühr’-mich-nicht-an.“ – „Und dessen ungeachtet“, erwiderte ich ganz getrost, „was wettet ihr, ich will ihn bei der Nase zupfen, ohne dass mir deshalb etwas Übles widerfahre; ja ich will mir sogar dadurch einen gnädigen Herrn an ihm verdienen.“

„Wenn du es leistest“, sagte Raufbold, „so zahlt dir jeder einen Louisdor.“ – „Kassieren Sie das Geld für mich ein“, rief ich aus; „auf Sie verlasse ich mich.“ – „Ich möchte lieber einem Löwen ein Haar von der Schnauze raufen“, sagte der Kleine. – „Ich habe keine Zeit zu verlieren“, versetzte ich und sprang die Treppe hinunter.

Bei dem ersten Anblick des Fremden hatte ich bemerkt, dass er einen sehr starken Bart hatte, und vermutete, dass keiner von seinen Leuten rasieren könne. Nun begegnete ich dem Kellner und fragte: „Hat der Fremde nicht nach einem Barbier gefragt?“ – „Freilich!“, versetzte der Kellner, „und es ist eine rechte Not. Der Kammerdiener des Herrn ist schon zwei Tage zurückgeblieben. Der Herr will seinen Bart absolut los sein, und unser einziger Barbier, wer weiß, wo er in die Nachbarschaft hingegangen.“

„So meldet mich an“, versetzte ich, „führt mich als Bartscherer bei dem Herrn nur ein, und Ihr werdet Ehre mit mir einlegen.“ Ich nahm das Rasierzeug, das ich im Haus fand, und folgte dem Kellner.

Der alte Herr empfing mich mit großer Gravität, besah mich von oben bis unten, als ob er meine Geschicklichkeit aus mir herausphysiognomieren wollte. „Versteht Er Sein Handwerk?“, sagte er zu mir.

„Ich suche meinesgleichen“, versetzte ich, „ohne mich zu rühmen.“ Auch war ich meiner Sache gewiss; denn ich hatte früh die edle Kunst getrieben und war besonders deswegen berühmt, weil ich mit der linken Hand rasierte.

Das Zimmer, in welchem der Herr seine Toilette machte, ging nach dem Hof und war gerade so gelegen, dass unsere Freunde füglich hereinsehen konnten, besonders wenn die Fenster offen waren. An gehöriger Vorrichtung fehlte nichts mehr. Der Patron hatte sich gesetzt und das Tuch vorgenommen. Ich trat ganz bescheiden vor ihn hin und sagte: „Exzellenz! Mir ist bei Ausübung meiner Kunst das Besondere vorgekommen, dass ich die gemeinen Leute besser und zu mehrerer Zufriedenheit rasiert habe als die Vornehmen. Darüber habe ich denn lange nachgedacht und die Ursache bald da, bald dort gesucht, endlich aber gefunden, dass ich meine Sache in freier Luft viel besser mache als in verschlossenen Zimmern. Wollten Ew. Exzellenz deshalb erlauben, dass ich die Fenster aufmache, so würden Sie den Effekt zu eigener Zufriedenheit gar bald empfinden.“ Er gab es zu, ich öffnete das Fenster, gab meinen Freunden einen Wink und fing an, den starken Bart mit großer Anmut einzuseifen. Ebenso behänd und leicht strich ich das Stoppelfeld vom Boden weg, wobei ich nicht versäumte, als es an die Oberlippe kam, meinen Gönner bei der Nase zu fassen und sie merklich herüber und hinüber zu biegen, wobei ich mich so zu stellen wusste, dass die Wettenden zu ihrem größten Vergnügen erkennen und bekennen mussten, ihre Seite habe verloren.

Sehr stattlich bewegte sich der alte Herr gegen den Spiegel: Man sah, dass er sich mit einiger Gefälligkeit betrachtete, und wirklich, es war ein sehr schöner Mann. Dann wendete er sich zu mir mit einem feurigen, schwarzen, aber freundlichen Blick und sagte: „Er verdient, mein Freund, vor vielen seinesgleichen gelobt zu werden, denn ich bemerke an Ihm weit weniger Unarten als an andern. So fährt Er nicht zwei-, dreimal über dieselbige Stelle, sondern es ist mit einem Strich getan; auch streicht Er nicht, wie mehrere tun, sein Schermesser in der flachen Hand ab und führt den Unrat nicht der Person über die Nase. Besonders aber ist Seine Geschicklichkeit der linken Hand zu bewundern. Hier ist etwas für Seine Mühe“, fuhr er fort, indem er mir einen Gulden reichte. „Nur eines merk’ Er sich: Dass man Leute von Stande nicht bei der Nase fasst. Wird Er diese bäurische Sitte künftig vermeiden, so kann Er wohl noch in der Welt sein Glück machen.“

Ich verneigte mich tief, versprach alles mögliche, bat ihn, bei allenfallsiger Rückkehr mich wieder zu beehren, und eilte, was ich konnte, zu unseren jungen Gesellen, die mir zuletzt ziemlich Angst gemacht hatten; denn sie verführten ein solches Gelächter und ein solches Geschrei, sprangen wie toll in der Stube herum, klatschten und riefen, weckten die Schlafenden und erzählten die Begebenheit immer mit neuem Lachen und Toben, dass ich selbst, als ich ins Zimmer trat, die Fenster vor allen Dingen zumachte und sie um Gottes willen bat, ruhig zu sein, endlich aber mitlachen musste über das Aussehen einer närrischen Handlung, die ich mit so vielem Ernst durchgeführt hatte.

Als nach einiger Zeit sich die tobenden Wellen des Lachens einigermaßen gelegt hatten, hielt ich mich für glücklich; die Goldstücke hatte ich in der Tasche und den wohlverdienten Gulden dazu, und ich hielt mich für ganz wohl ausgestattet, welches mir um so erwünschter war, als die Gesellschaft beschlossen hatte, des andern Tages auseinander zu gehen. Aber uns war nicht bestimmt, mit Zucht und Ordnung zu scheiden. Die Geschichte war zu reizend, als dass man sie hätte bei sich behalten können, so sehr ich auch gebeten und beschworen hatte, nur bis zur Abreise des alten Herrn reinen Mund zu halten. Einer bei uns, der Fahrige genannt, hatte ein Liebesverständnis mit der Tochter des Hauses. Sie kamen zusammen, und Gott weiß, ob er sie nicht besser zu unterhalten wusste; genug, er erzählt ihr den Spaß, und so wollten sie sich nun zusammen totlachen. Dabei blieb es nicht, sondern das Mädchen brachte die Märe lachend weiter, und so mochte sie endlich noch kurz vor Schlafengehen an den alten Herrn gelangen.

Wir saßen ruhiger als sonst; denn es war den Tag über genug getobt worden, als auf einmal der kleine Kellner, der uns sehr zugetan war, herein sprang und rief: „Rettet euch, man wird euch totschlagen!“ Wir fuhren auf und wollten mehr wissen; er aber war schon zur Türe wieder hinaus. Ich sprang auf und schob den Nachtriegel vor; schon aber hörten wir an der Türe pochen und schlagen, ja wir glaubten zu hören, dass sie durch eine Axt gespalten werde. Maschinenmäßig zogen wir uns ins zweite Zimmer zurück, alle waren verstummt: „Wir sind verraten“, rief ich aus, „der Teufel hat uns bei der Nase!“

Raufbold griff nach seinem Degen, ich zeigte hier abermals meine Riesenkraft und schob ohne Beihilfe eine schwere Kommode vor die Türe, die glücklicherweise hereinwärts ging. Doch hörten wir schon das Gepolter im Vorzimmer und die heftigsten Schläge an unsere Türe.

Raufbold schien entschieden, sich zu verteidigen, wiederholt aber rief ich ihm und den übrigen zu: „Rettet euch! Hier sind Schläge zu fürchten nicht allein, aber Beschimpfung, das Schlimmere für den Edelgebornen.“ Das Mädchen stürzte herein, dieselbe, die uns verraten hatte, nun verzweifelnd, ihren Liebhaber in Todesgefahr zu wissen. „Fort, fort!“, rief sie und fasste ihn an, „fort, fort! Ich bring’ euch über Böden, Scheunen und Gänge. Kommt alle, der letzte zieht die Leiter nach.“

Alles stürzte nun zur Hintertür hinaus; ich hob noch einen Koffer auf die Kiste, um die schon hereinbrechenden Füllungen der belagerten Türe zurückzuschieben und festzuhalten. Aber meine Beharrlichkeit, mein Trutz wollte mir verderblich werden.

Als ich den übrigen nachzueilen rannte, fand ich die Leiter schon aufgezogen und sah alle Hoffnung, mich zu retten, gänzlich versperrt. Da steh’ ich nun, ich, der eigentliche Verbrecher, der ich mit heiler Haut, mit ganzen Knochen zu entrinnen schon aufgab. Und wer weiß – doch lasst mich immer dort in Gedanken stehen, da ich jetzt hier gegenwärtig euch das Märchen vorerzählen kann. Nur vernehmt noch, dass diese verwegene Suite sich in schlechte Folgen verlor.

Der alte Herr, tief gekränkt von Verhöhnung ohne Rache, zog sich’s zu Gemüte, und man behauptet, dieses Ereignis habe seinen Tod zur Folge gehabt, wo nicht unmittelbar, doch mitwirkend. Sein Sohn, den Tätern auf die Spur zu gelangen trachtend, erfuhr unglücklicherweise die Teilnahme Raufbolds, und erst nach Jahren hierüber ganz klar, forderte er diesen heraus, und eine Wunde, ihn, den schönen Mann, entstellend, ward ärgerlich für das ganze Leben. Auch seinem Gegner verdarb dieser Handel einige schöne Jahre, durch zufällig sich anschließende Ereignisse.

Da nun jede Fabel eigentlich etwas lehren soll, so ist euch allen, wohin die gegenwärtige gemeint sei, wohl überklar und deutlich.

 
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Kapitel 9

Der höchst bedeutende Tag war angebrochen: Heute sollten die ersten Schritte zur allgemeinen Fortwanderung eingeleitet werden, heut sollte sich’s entscheiden, wer denn wirklich in die Welt hinausgehen, oder wer lieber diesseits, auf dem zusammenhängenden Boden der alten Erde, verweilen und sein Glück versuchen wolle.

Ein munteres Lied erscholl in allen Straßen des heitern Fleckens; Massen taten sich zusammen, die einzelnen Glieder eines jeden Handwerks schlossen sich aneinander an, und so zogen sie, unter einstimmigem Gesang, nach einer durch das Los entschiedenen Ordnung in den Saal.

Die Vorgesetzten, wie wir Lenardo, Friedrich und den Amtmann bezeichnen wollen, waren eben im Begriff, ihnen zu folgen und den gebührenden Platz einzunehmen, als ein Mann von einnehmendem Wesen zu ihnen trat und sich die Erlaubnis ausbat, an der Versammlung teilnehmen zu können. Ihm wäre nichts abzuschlagen gewesen, so gesittet, zuvorkommend und freundlich war sein Betragen, wodurch eine imposante Gestalt, welche sowohl nach der Armee als dem Hof und dem geselligen Leben hindeutete, sich höchst anmutig erwies. Er trat mit den übrigen hinein, man überließ ihm einen Ehrenplatz; alle hatten sich gesetzt, Lenardo blieb stehen und fing folgendermaßen zu reden an:

„Betrachten wir, meine Freunde, des festen Landes bewohnteste Provinzen und Reiche, so finden wir überall, wo sich nutzbarer Boden hervortut, denselben bebaut, bepflanzt, geregelt, verschönt und in gleichem Verhältnis gewünscht, in Besitz genommen, befestigt und verteidigt. Da überzeugen wir uns denn von dem hohen Wert des Grundbesitzes und sind genötigt, ihn als das Erste, das Beste anzusehen, was dem Menschen werden könne. Finden wir nun, bei näherer Ansicht, Eltern- und Kinderliebe, innige Verbindung der Flur- und Stadtgenossen, somit auch das allgemeine patriotische Gefühl unmittelbar auf den Boden gegründet, dann erscheint uns jenes Ergreifen und Behaupten des Raums, im großen und kleinen, immer bedeutender und ehrwürdiger. Ja, so hat es die Natur gewollt! Ein Mensch, auf der Scholle geboren, wird ihr durch Gewohnheit angehörig, beide verwachsen miteinander, und sogleich knüpfen sich die schönsten Bande. Wer möchte denn wohl die Grundfeste alles Daseins widerwärtig berühren, Wert und Würde so schöner, einziger Himmelsgabe verkennen?

Und doch darf man sagen: Wenn das, was der Mensch besitzt, von großem Wert ist, so muss man demjenigen, was er tut und leistet, noch einen größern zuschreiben. Wir mögen daher bei völligem Überschauen den Grundbesitz als einen kleineren Teil der uns verliehenen Güter betrachten. Die meisten und höchsten derselben bestehen aber eigentlich im Beweglichen und in demjenigen, was durchs bewegte Leben gewonnen wird.

Hiernach uns umzusehen, werden wir Jüngeren besonders genötigt; denn hätten wir auch die Lust, zu bleiben und zu verharren, von unsern Vätern geerbt, so finden wir uns doch tausendfältig aufgefordert, die Augen vor weiterer Aus- und Umsicht keineswegs zu verschließen. Eilen wir deshalb schnell ans Meeresufer und überzeugen uns mit einem Blick, welch unermessliche Räume der Tätigkeit offen stehen, und bekennen wir schon bei dem bloßen Gedanken uns ganz anders aufgeregt.

Doch in solche grenzenlose Weiten wollen wir uns nicht verlieren, sondern unsere Aufmerksamkeit dem zusammenhängenden, weiten, breiten Boden so mancher Länder und Reiche zuwenden. Dort sehen wir große Strecken des Landes von Nomaden durchzogen, deren Städte beweglich, deren lebendig nährender Herdenbesitz überall hinzuleiten ist. Wir sehen sie inmitten der Wüste, auf großen grünen Weideplätzen, wie in erwünschten Häfen vor Anker liegen. Solche Bewegung, solches Wandern wird ihnen zur Gewohnheit, zum Bedürfnis; endlich betrachten sie die Oberfläche der Welt, als wäre sie nicht durch Berge gedämmt, nicht von Flüssen durchzogen. Haben wir doch den Nordosten gesehen sich gegen Südwesten bewegen, ein Volk das andere vor sich hertreiben, Herrschaft und Grundbesitz durchaus verändert.

Von übervölkerten Gegenden her wird sich eben dasselbe in dem großen Weltlauf noch mehrmals ereignen. Was wir von Fremden zu erwarten haben, wäre schwer zu sagen; wundersam aber ist es, dass durch eigene Übervölkerung wir uns einander innerlich drängen und, ohne erst abzuwarten, dass wir vertrieben werden, uns selbst vertreiben, das Urteil der Verbannung gegen einander selbst aussprechend.

Hier ist nun Zeit und Ort, ohne Verdruss und Missmut in unserm Busen einer gewissen Beweglichkeit Raum zu geben, die ungeduldige Lust nicht zu unterdrücken, die uns antreibt, Platz und Ort zu verändern. Doch was wir auch sinnen und vorhaben, geschehe nicht aus Leidenschaft, noch aus irgendeiner andern Nötigung, sondern aus einer dem besten Rat entsprechenden Überzeugung.

Man hat gesagt und wiederholt: ‚Wo mir’s wohl geht, ist mein Vaterland!’ Doch wäre dieser tröstliche Spruch noch besser ausgedrückt, wenn es hieße: ‚Wo ich nütze, ist mein Vaterland!’ Zu Hause kann einer unnütz sein, ohne dass es eben sogleich bemerkt wird; außen in der Welt ist der Unnütze gar bald offenbar. Wenn ich nun sage: ‚Trachte jeder, überall sich und andern zu nutzen’, so ist dies nicht etwa Lehre noch Rat, sondern der Ausspruch des Lebens selbst.

Nun beschaue man den Erdball und lasse das Meer vorerst unbeachtet, man lasse sich von dem Schiffsgewimmel nicht mit fortreißen und hefte den Blick auf das feste Land und staune, wie es mit einem sich wimmelnd durchkreuzenden Ameisengeschlecht übergossen ist. Hiezu hat Gott der Herr selbst Anlass gegeben, indem er, den babylonischen Turmbau verhindernd, das Menschengeschlecht in alle Welt zerstreute. Lasset uns ihn darum preisen, denn dieser Segen ist auf alle Geschlechter übergegangen.

Bemerket nun mit Heiterkeit, wie sich alle Jugend sogleich in Bewegung setzt. Da ihr der Unterricht weder im Haus noch an der Tür geboten wird, eilt sie alsobald nach Ländern und Städten, wohin sie der Ruf des Wissens und der Weisheit verlockt; nach empfangener schneller, mäßiger Bildung fühlt sie sich sogleich getrieben, weiter in der Welt umherzuschauen, ob sie da oder dort irgendeine nutzbare Erfahrung, zu ihren Zwecken behilflich, auffinden und erhaschen könne. Mögen sie denn ihr Glück versuchen! Wir aber gedenken sogleich vollendeter, ausgezeichneter Männer, jener edlen Naturforscher, die jeder Beschwerlichkeit, jeder Gefahr wissentlich entgegengehen, um der Welt die Welt zu eröffnen und durch das Unwegsamste hindurch Pfad und Bahn zu bereiten.

Seht aber auch auf glatten Heerstraßen Staub auf Staub in langen Wolkenzügen empor geregt, die Spur bezeichnend bequemer, überpackter Wägen, worin Vornehme, Reiche und so manche andere dahinrollen, deren verschiedene Denkweise und Absicht Yorik uns gar zierlich auseinandersetzt.

Möge nun aber der wackere Handwerker ihnen zu Fuß getrost nachschauen, dem das Vaterland zur Pflicht machte, fremde Geschicklichkeit sich anzueignen und nicht eher, als bis ihm dies gelungen, an den väterlichen Herd zurückzukehren. Häufiger aber begegnen wir auf unsern Wegen Marktenden und Handelnden; ein kleiner Krämer sogar darf nicht versäumen, von Zeit zu Zeit seine Bude zu verlassen, Messen und Märkte zu besuchen, um sich dem Großhändler zu nähern und seinen kleinen Vorteil am Beispiel, an der Teilnahme des Grenzenlosen zu steigern. Aber noch unruhiger durchkreuzt sich einzeln, zu Pferde, auf allen Haupt- und Nebenstraßen die Menge derer, die auf unsern Beutel auch gegen unser Wollen Anspruch zu machen beflissen sind. Muster aller Art und Preisverzeichnisse verfolgen uns in Stadt- und Landhäusern, und wohin wir uns auch flüchten mögen, geschäftig überraschen sie uns, Gelegenheit bietend, welche selbst aufzusuchen niemand in den Sinn gekommen wäre. Was soll ich aber nun von dem Volk sagen, das den Segen des ewigen Wanderns vor allen andern sich zueignet und durch seine bewegliche Tätigkeit die Ruhenden zu überlisten und die Mitwandernden zu überschreiten versteht? Wir dürfen weder Gutes noch Böses von ihnen sprechen; nichts Gutes, weil sich unser Bund vor ihnen hütet, nichts Böses, weil der Wanderer jeden Begegnenden freundlich zu behandeln, wechselseitigen Vorteils eingedenk, verpflichtet ist.

Nun aber vor allen Dingen haben wir der sämtlichen Künstler mit Teilnahme zu gedenken, denn sie sind auch durchaus in die Weltbewegung mit verflochten. Wandert nicht der Maler mit Staffelei und Palette von Gesicht zu Gesicht? Und werden seine Kunstgenossen nicht bald da-, bald dorthin berufen, weil überall zu bauen und zu bilden ist? Lebhafter jedoch schreitet der Musiker daher, denn er ist es eigentlich, der für ein neues Ohr neue Überraschung, für einen frischen Sinn frisches Erstaunen bereitet. Die Schauspieler sodann, wenn sie gleich Thespis’ Wagen verschmähen, ziehen doch noch immer in kleineren Chören umher, und ihre bewegliche Welt ist an jeder Stelle behänd genug auferbaut. Ebenso verändern sie einzeln, sogar ernste, vorteilhafte Verbindungen aufgebend, gern den Ort mit dem Orte, wozu ein gesteigertes Talent mit zugleich gesteigertem Bedürfnis Anlass und Vorwand gibt. Hierzu bereiten sie sich gewöhnlich dadurch vor, dass sie kein bedeutendes Brettergerüst des Vaterlandes unbestiegen lassen.

Hiernach werden wir sogleich gemahnt, auf den Lehrstand zu sehen; diesen findet ihr gleichfalls in fortdauernder Bewegung, ein Katheder um das andere wird betreten und verlassen, um den Samen eiliger Bildung ja nach allen Seiten hin reichlich auszuspenden. Emsiger aber und weiter ausgreifend sind jene frommen Seelen, die, das Heil den Völkern zu bringen, sich durch alle Weltteile zerstreuen. Dagegen pilgern andere, sich das Heil abzuholen; sie ziehen zu ganzen Scharen nach geweihter, wundertätiger Stelle, dort zu suchen und zu empfangen, was ihrem Innern zu Hause nicht verliehen ward.

Wenn uns nun diese sämtlich nicht in Verwunderung setzen, weil ihr Tun und Lassen ohne Wandern meist nicht denkbar wäre, so sollten wir diejenigen, die ihren Fleiß dem Boden widmen, doch wenigstens an denselben gefesselt halten. Keineswegs! Auch ohne Besitz lässt sich Benutzung denken, und wir sehen den eifrigen Landwirt eine Flur verlassen, die ihm als Zeitpächter Vorteil und Freude mehrere Jahre gewährt hat; ungeduldig forscht er nach gleichen oder größeren Vorteilen, es sei nah oder fern. Ja sogar der Eigentümer verlässt seinen erst gerodeten Neubruch, sobald er ihn durch Kultur einem weniger gewandten Besitzer erst angenehm gemacht hat; aufs neue dringt er in die Wüste, macht sich abermals in Wäldern Platz, zur Belohnung jenes ersten Bemühens einen doppelt und dreifach größern Raum, auf dem er vielleicht auch nicht zu beharren gedenkt.

Lassen wir ihn dort mit Bären und anderm Getier sich herumschlagen und kehren in die gebildete Welt zurück, wo wir es auch keineswegs beruhigter antreffen. Irgendein großes, geregeltes Reich beschaue man, wo der Fähigste sich als den Beweglichsten denken muss; nach dem Wink des Fürsten, nach Anordnung des Staatsrats wird der Brauchbare von einem Ort zum andern versetzt. Auch ihm gilt unser Zuruf: ‚Sucht überall zu nützen, überall seid ihr zu Hause.’ Sehen wir aber bedeutende Staatsmänner, obwohl ungern, ihren hohen Posten verlassen, so haben wir Ursache, sie zu bedauern, da wir sie weder als Auswanderer noch als Wanderer anerkennen dürfen: Nicht als Auswanderer, weil sie einen wünschenswerten Zustand entbehren, ohne dass irgendeine Aussicht auf bessere Zustände sich auch nur scheinbar eröffnete; nicht als Wanderer, weil ihnen anderer Orten auf irgendeine Weise nützlich zu sein selten vergönnt ist.

Zu einem eigenen Wanderleben jedoch ist der Soldat berufen; selbst im Frieden wird ihm bald dieser, bald jener Posten angewiesen; fürs Vaterland nah oder fern zu streiten, muss er sich immer beweglich erhalten; und nicht nur fürs unmittelbare Heil, sondern auch nach dem Sinn der Völker und Herrscher wendet er seinen Schritt allen Weltteilen zu, und nur wenigen ist es vergönnt, sich hie oder da anzusiedeln. Wie nun bei dem Soldaten die Tapferkeit als erste Eigenschaft obenan steht, so wird sie doch stets mit der Treue verbunden gedacht, deshalb wir denn gewisse, wegen ihrer Zuverlässigkeit gerühmte Völker, aus der Heimat gerufen, weltlichen und geistlichen Regenten als Leibwache dienen sehen.

Noch eine sehr bewegliche, dem Staat unentbehrliche Klasse erblicken wir in jenen Geschäftsmännern, welche, von Hof zu Hof gesandt, Fürsten und Minister umlagern und die ganze bewohnte Welt mit unsichtbaren Fäden überkreuzen. Auch deren ist keiner an Ort und Stelle auch nur einen Augenblick sicher; im Frieden sendet man die tüchtigsten von einer Weltgegend zur andern; im Krieg, dem siegenden Heere nachziehend, dem flüchtigen die Wege bahnend, sind sie immer eingerichtet, einen Ort um den andern zu verlassen, deshalb sie auch jederzeit einen großen Vorrat von Abschiedskarten mit sich führen.

Haben wir uns nun bisher auf jedem Schritt zu ehren gewusst, indem wir die vorzüglichste Masse tätiger Menschen als unsere Gesellen und Schicksalsgenossen angesprochen, so steht euch, teure Freunde, zum Abschluss noch die höchste Gunst bevor, indem ihr euch mit Kaisern, Königen und Fürsten verbrüdert findet. Denken wir zuerst segnend jenes edlen kaiserlichen Wanderers Hadrian, welcher zu Fuß, an der Spitze seines Heers den bewohnten, ihm unterworfenen Erdkreis durchschnitt und ihn so erst vollkommen in Besitz nahm. Denken wir mit Schaudern der Eroberer, jener gewaffneten Wanderer, gegen die kein Widerstreit helfen, Mauer und Bollwerk harmlose Völker nicht schirmen konnte; begleiten wir endlich mit redlichem Bedauern jene unglücklichen vertriebenen Fürsten, die, von dem Gipfel der Höhe herabsteigend, nicht einmal in die bescheidene Gilde tätiger Wanderer aufgenommen werden könnten.

Da wir uns nun alles dieses einander vergegenwärtigt und aufgeklärt, so wird kein beschränkter Trübsinn, keine leidenschaftliche Dunkelheit über uns walten. Die Zeit ist vorüber, wo man abenteuerlich in die weite Welt rannte; durch die Bemühungen wissenschaftlicher, weislich beschreibender, künstlerisch nachbildender Weltumreiser sind wir überall bekannt genug, dass wir ungefähr wissen, was zu erwarten sei.

Doch kann zu einer vollkommenen Klarheit der einzelne nicht gelangen. Unsere Gesellschaft aber ist darauf gegründet, dass jeder in seinem Maße, nach seinen Zwecken aufgeklärt werde. Hat irgendeiner ein Land im Sinn, wohin er seine Wünsche richtet, so suchen wir ihm das einzelne deutlich zu machen, was im ganzen seiner Einbildungskraft vorschwebte; uns wechselseitig einen Überblick der bewohnten und bewohnbaren Welt zu geben, ist die angenehmste, höchst belohnende Unterhaltung.

In solchem Sinn nun dürfen wir uns in einem Weltbund begriffen ansehen. Einfach groß ist der Gedanke, leicht die Ausführung durch Verstand und Kraft. Einheit ist allmächtig, deshalb keine Spaltung, kein Widerstreit unter uns. Insofern wir Grundsätze haben, sind sie uns allen gemein. Der Mensch, so sagen wir, lerne sich ohne dauernden äußeren Bezug zu denken, er suche das Folgerechte nicht an den Umständen, sondern in sich selbst; dort wird er’s finden, mit Liebe hegen und pflegen. Er wird sich ausbilden und einrichten, dass er überall zu Hause sei. Wer sich dem Notwendigsten widmet, geht überall am sichersten zum Ziel; andere hingegen, das Höhere, Zartere suchend, haben schon in der Wahl des Weges vorsichtiger zu sein. Doch was der Mensch auch ergreife und handhabe, der einzelne ist sich nicht hinreichend, Gesellschaft bleibt eines wackern Mannes höchstes Bedürfnis. Alle brauchbaren Menschen sollen in Bezug untereinander stehen, wie sich der Bauherr nach dem Architekten und dieser nach Maurer und Zimmermann umsieht.

Und so ist denn allen bekannt, wie und auf welche Weise unser Bund geschlossen und gegründet sei; niemand sehen wir unter uns, der nicht zweckmäßig seine Tätigkeit jeden Augenblick üben könnte, der nicht versichert wäre, dass er überall, wohin Zufall, Neigung, ja Leidenschaft ihn führen könnte, sich immer wohl empfohlen, aufgenommen und gefördert, ja von Unglücksfällen möglichst wiederhergestellt finden werde.

Zwei Pflichten sodann haben wir aufs strengste übernommen: Jeden Gottesdienst in Ehren zu halten, denn sie sind alle mehr oder weniger im Credo verfasst; ferner alle Regierungsformen gleichfalls gelten zu lassen und, da sie sämtlich eine zweckmäßige Tätigkeit fordern und befördern, innerhalb einer jeden uns, auf wie lange es auch sei, nach ihrem Willen und Wunsch zu bemühen. Schließlich halten wir’s für Pflicht, die Sittlichkeit ohne Pedanterei und Strenge zu üben und zu fördern, wie es die Ehrfurcht vor uns selbst verlangt, welche aus den drei Ehrfurchten entsprießt, zu denen wir uns sämtlich bekennen, auch alle in diese höhere, allgemeine Weisheit, einige sogar von Jugend auf, eingeweiht zu sein das Glück und die Freude haben. Dieses alles haben wir in der feierlichen Trennungsstunde nochmals bedenken, erklären, vernehmen und anerkennen, auch mit einem traulichen Lebewohl besiegeln wollen.

Bleibe nicht am Boden heften,

Frisch gewagt und frisch hinaus!

Kopf und Arm mit heitern Kräften

Überall sind sie zu Haus;

Wo wir uns der Sonne freuen,

Sind wir jede Sorge los.

Dass wir uns in ihr zerstreuen,

Darum ist die Welt so groß.“

 
 * 

Kapitel 10

Unter dem Schlussgesang richtete sich ein großer Teil der Anwesenden rasch empor und zog paarweise geordnet mit weit umher klingendem Schall den Saal hinaus. Lenardo, sich niedersetzend, fragte den Gast, ob er sein Anliegen hier öffentlich vorzutragen gedenke oder eine besondere Sitzung verlange. Der Fremde stand auf, begrüßte die Gesellschaft und begann folgende Rede:

„Hier ist es, gerade in solcher Versammlung, wo ich mich vorerst ohne weiteres zu erklären wünsche. Diese hier in Ruhe verbliebenen, dem Anblick nach sämtlich wackern Männer, geben schon durch ein solches Verharren deutlich Wunsch und Absicht zu erkennen, dem vaterländischen Grund und Boden auch fernerhin angehören zu wollen. Sie sind mir alle freundlich gegrüßt, denn ich darf erklären, dass ich ihnen sämtlich, wie sie sich hier ankündigen, ein hinreichendes Tagewerk auf mehrere Jahre anzubieten im Fall bin. Ich wünsche jedoch, aber erst nach kurzer Frist, eine nochmalige Zusammenkunft, weil es nötig ist, vor allen Dingen den würdigen Vorstehern, welche bisher diese wackern Leute zusammenhielten, meine Angelegenheit vertraulich zu offenbaren und sie von der Zuverlässigkeit meiner Sendung zu überzeugen. Sodann aber will es sich ziemen, mich mit den Verharrenden im Einzelnen zu besprechen, damit ich erfahre, mit welchen Leistungen sie mein stattliches Anerbieten zu erwidern gedenken.“

Hierauf begehrte Lenardo einige Frist, die nötigsten Geschäfte des Augenblicks zu besorgen, und nachdem diese bestimmt war, richtete sich die Masse der übrig gebliebenen anständig in die Höhe, gleichfalls paarweise unter einem mäßig geselligen Gesang aus dem Saal sich entfernend.

Odoard entdeckte sodann den zurückbleibenden beiden Führern seine Absichten und Vorsätze und legitimierte seine Berechtigung. Nun konnte er aber mit so vorzüglichen Menschen in fernerer Unterhaltung von dem Geschäft nicht Rechenschaft geben, ohne des menschlichen Grundes zu gedenken, worauf das Ganze eigentlich beruhe. Wechselseitige Erklärungen und Bekenntnisse tiefer Herzensangelegenheiten entfalteten sich hieraus bei fortgesetztem Gespräch. Bis tief in die Nacht blieb man zusammen und verwickelte sich immer unentwirrbarer in die Labyrinthe menschlicher Gesinnungen und Schicksale. Hier nun fand sich Odoard bewogen, nach und nach von den Angelegenheiten seines Geistes und Herzens fragmentarische Rechenschaft zu geben, deshalb denn auch von diesem Gespräch uns freilich nur unvollständige und unbefriedigende Kenntnis zugekommen. Doch sollen wir auch hier Friedrichs glücklichem Talent des Auffassens und Festhaltens die Vergegenwärtigung interessanter Szenen verdanken, sowie einige Aufklärung über den Lebensgang eines vorzüglichen Mannes, der uns zu interessieren anfängt, wenn es auch nur Andeutungen wären desjenigen, was in der Folge vielleicht ausführlicher und im Zusammenhang mitzuteilen ist.

Nicht zu weit

Es schlug zehn in der Nacht, und so war denn zur verabredeten Stunde alles bereit: Im bekränzten Sälchen zu vieren eine geräumige, artige Tafel gedeckt, mit feinem Nachtisch und Zuckerzierlichkeiten zwischen blinkenden Leuchtern und Blumen bestellt. Wie freuten sich die Kinder auf diese Nachkost, denn sie sollten mit zu Tisch sitzen; indessen schlichen sie umher, geputzt und maskiert, und weil Kinder nicht zu entstellen sind, erschienen sie als die niedlichsten Zwillingsgenien. Der Vater berief sie zu sich, und sie sagten das Festgespräch, zu ihrer Mutter Geburtstag gedichtet, bei weniger Nachhilfe gar schicklich her.

Die Zeit verstrich, von Viertel- zu Viertelstunde enthielt die gute Alte sich nicht, des Freundes Ungeduld zu vermehren. Mehrere Lampen, sagte sie, seien auf der Treppe dem Erlöschen ganz nahe, ausgesuchte Lieblingsspeisen der Gefeierten könnten übergar werden, so sei es zu befürchten. Die Kinder aus Langeweile fingen erst unartig an, und aus Ungeduld wurden sie unerträglich. Der Vater nahm sich zusammen, und doch wollte die angewohnte Gelassenheit ihm nicht zu Gebote stehen; er horchte sehnsüchtig auf die Wagen; einige rasselten unaufgehalten vorbei, ein gewisses Ärgernis wollte sich regen. Zum Zeitvertreib forderte er noch eine Repetition von den Kindern; diese, im Überdruss unachtsam, zerstreut und ungeschickt, sprachen falsch, keine Gebärde war mehr richtig, sie übertrieben wie Schauspieler, die nichts empfinden. Die Pein des guten Mannes wuchs mit jedem Moment, halb elf Uhr war vorüber; das Weitere zu schildern, überlassen wir ihm selbst.

„Die Glocke schlug elf, meine Ungeduld war bis zur Verzweiflung gesteigert, ich hoffte nicht mehr, ich fürchtete. Nun war mir bang, sie möchte herein treten, mit ihrer gewöhnlichen leichten Anmut sich flüchtig entschuldigen, versichern, dass sie sehr müde sei und sich betragen, als würfe sie mir vor, ich beschränke ihre Freuden. In mir kehrte sich alles um und um, und gar vieles, was ich Jahre her geduldet, lastete wiederkehrend auf meinem Geist. Ich fing an, sie zu hassen, ich wusste kein Betragen zu denken, wie ich sie empfangen sollte. Die guten Kinder, wie Engelchen herausgeputzt, schliefen ruhig auf dem Sofa. Unter meinen Füßen brannte der Boden, ich begriff, ich verstand mich nicht, und mir blieb nichts übrig als zu fliehen, bis nur die nächsten Augenblicke überstanden wären. Ich eilte, leicht und festlich angezogen wie ich war, nach der Haustüre. Ich weiß nicht, was ich der guten Alten für einen Vorwand hinstotterte, sie drang mir einen Überrock zu, und ich fand mich auf der Straße in einem Zustand, den ich seit langen Jahren nicht empfunden hatte. Gleich dem jüngsten leidenschaftlichen Menschen, der nicht wo ein noch aus weiß, rannt’ ich die Gassen hin und wider. Ich hätte das freie Feld gewonnen, aber ein kalter, feuchter Wind blies streng und widerwärtig genug, um meinen Verdruss zu begrenzen.“

Wir haben, wie an dieser Stelle auffallend zu bemerken ist, die Rechte des epischen Dichters uns anmaßend, einen geneigten Leser nur allzu schnell in die Mitte leidenschaftlicher Darstellung gerissen. Wir sehen einen bedeutenden Mann in häuslicher Verwirrung, ohne von ihm etwas weiter erfahren zu haben; deshalb wir denn für den Augenblick, um nur einigermaßen den Zustand aufzuklären, uns zu der guten Alten gesellen, horchend, was sie allenfalls vor sich hin, bewegt und verlegen, leise murmeln oder laut ausrufen möchte.

„Ich hab’ es längst gedacht, ich habe es vorausgesagt, ich habe die gnädige Frau nicht geschont, sie öfter gewarnt; aber es ist stärker wie sie. Wenn der Herr sich des Tags auf der Kanzlei, in der Stadt, auf dem Land in Geschäften abmüdet, so findet er abends ein leeres Haus oder Gesellschaft, die ihm nicht zusagt. Sie kann es nicht lassen. Wenn sie nicht immer Menschen, Männer um sich sieht, wenn sie nicht hin und widerfährt, sich an- und aus- und umziehen kann, ist es, als wenn ihr der Atem ausginge. Heute an ihrem Geburtstag fährt sie früh aufs Land. Gut! Wir machen indes hier alles zurecht; sie verspricht heilig, um neun Uhr zu Hause zu sein; wir sind bereit. Der Herr überhört die Kinder ein auswendig gelerntes artiges Gedicht, sie sind herausgeputzt; Lampen und Lichter, Gesottenes und Gebratenes, an gar nichts fehlt es, aber sie kommt nicht. Der Herr hat viel Gewalt über sich, er verbirgt seine Ungeduld, sie bricht aus. Er entfernt sich aus dem Haus so spät. Warum? Ist offenbar; aber wohin? Ich habe ihr oft mit Nebenbuhlerinnen gedroht, ehrlich und redlich. Bisher hab’ ich am Herrn nichts bemerkt; eine Schöne passt ihm längst auf, bemüht sich um ihn. Wer weiß, wie er bisher gekämpft hat. Nun bricht’s los, diesmal treibt ihn die Verzweiflung, seinen guten Willen nicht besser anerkannt zu sehen, bei Nacht aus dem Haus, da geb’ ich alles verloren. Ich sagt’ es ihr mehr als einmal, sie solle es nicht zu weit treiben.“

Suchen wir den Freund nun wieder auf und hören ihn selber.

„In dem angesehensten Gasthof sah ich unten Licht, klopfte am Fenster und fragte den herausschauenden Kellner mit bekannter Stimme: ob nicht Fremde angekommen oder angemeldet seien. Schon hatte er das Tor geöffnet, verneinte beides und bat mich herein zu treten. Ich fand es meiner Lage gemäß, das Märchen fortzusetzen, ersuchte ihn um ein Zimmer, das er mir gleich im zweiten Stock einräumte; der erste sollte, wie er meinte, für die erwarteten Fremden bleiben. Er eilte, einiges zu veranstalten, ich ließ es geschehen und verbürgte mich für die Zeche. So weit war’s vorüber; ich aber fiel wieder in meine Schmerzen zurück, vergegenwärtigte mir alles und jedes, erhöhte und milderte, schalt mich und suchte mich zu fassen, zu besänftigen: Ließe sich doch morgen früh alles wieder einleiten; ich dachte mir schon den Tag abermals im gewohnten Gang; dann aber kämpfte sich aufs neue der Verdruss unbändig hervor: Ich hatte nie geglaubt, dass ich so unglücklich sein könne.“

An dem edlen Mann, den wir hier so unerwartet über einen gering scheinenden Vorfall in leidenschaftlicher Bewegung sehen, haben unsere Leser gewiss schon in dem Grad teilgenommen, dass sie nähere Nachricht von seinen Verhältnissen zu erfahren wünschen. Wir benutzen die Pause, die hier in das nächtliche Abenteuer eintritt, indem er stumm und heftig in dem Zimmer auf und ab zu gehen fort fährt.

Wir lernen Odoard als den Sprössling eines alten Hauses kennen, auf welchen durch eine Folge von Generationen die edelsten Vorzüge vererbt worden. In der Militärschule gebildet, ward ihm ein gewandter Anstand zu eigen, der, mit den löblichsten Fähigkeiten des Geistes verbunden, seinem Betragen eine ganz besondere Anmut verlieh. Ein kurzer Hofdienst lehrte ihn die äußern Verhältnisse hoher Persönlichkeiten gar wohl einsehen, und als er nun hierauf, durch früh erworbene Gunst einer gesandtschaftlichen Sendung angeschlossen, die Welt zu sehen und fremde Höfe zu kennen Gelegenheit hatte, so tat sich die Klarheit seiner Auffassung und glückliches Gedächtnis des Vorgegangenen bis aufs genaueste, besonders aber ein guter Wille in Unternehmungen aller Art aufs baldigste hervor. Die Leichtigkeit des Ausdrucks in manchen Sprachen, bei einer freien und nicht aufdringlichen Persönlichkeit, führten ihn von einer Stufe zur andern; er hatte Glück bei allen diplomatischen Sendungen, weil er das Wohlwollen der Menschen gewann und sich dadurch in den Vorteil setzte, Misshelligkeiten zu schlichten, besonders auch die beiderseitigen Interessen bei gerechter Erwägung vorliegender Gründe zu befriedigen wusste.

Einen so vorzüglichen Mann sich anzueignen, war der erste Minister bedacht; er verheiratete ihm seine Tochter, ein Frauenzimmer von der heitersten Schönheit und gewandt in allen höheren geselligen Tugenden. Allein wie dem Lauf aller menschlichen Glückseligkeit sich je einmal ein Damm entgegenstellt, der ihn irgendwo zurückdrängt, so war es auch hier der Fall. An dem fürstlichen Hofe wurde Prinzessin Sophronie als Mündel erzogen, sie, der letzte Zweig ihres Astes, deren Vermögen und Anforderungen, wenn auch Land und Leute an den Oheim zurückfielen, noch immer bedeutend genug blieben; weshalb man sie denn, um weitläufige Erörterungen zu vermeiden, an den Erbprinzen, der freilich viel jünger war, zu verheiraten wünschte.

Odoard kam in Verdacht einer Neigung zu ihr, man fand, er habe sie in einem Gedicht unter dem Namen Aurora allzu leidenschaftlich gefeiert; hierzu gesellte sich eine Unvorsichtigkeit von ihrer Seite, indem sie mit eigner Charakterstärke gewissen Neckereien ihrer Gespielinnen trotzig entgegnete: Sie müsste keine Augen haben, wenn sie für solche Vorzüge blind sein sollte.

Durch seine Heirat wurde nun wohl ein solcher Verdacht beschwichtigt, aber durch heimliche Gegner dennoch im Stillen fortgenährt und gelegentlich wieder aufgeregt.

Die Staats- und Erbschaftsverhältnisse, ob man sie gleich so wenig als möglich zu berühren suchte, kamen doch manchmal zur Sprache. Der Fürst nicht sowohl als kluge Räte hielten es durchaus für nützlich, die Angelegenheit fernerhin ruhen zu lassen, während die stillen Anhänger der Prinzessin sie abgetan und dadurch die edle Dame in größerer Freiheit zu sehen wünschten, besonders da der benachbarte alte König, Sophronie verwandt und günstig, noch am Leben sei und sich zu väterlicher Einwirkung gelegentlich bereit erwiesen habe.

Odoard kam in Verdacht, bei einer bloß zeremoniellen Sendung dorthin das Geschäft, das man verspäten wollte, wieder in Anregung gebracht zu haben. Die Widersacher bedienten sich dieses Vorfalls, und der Schwiegervater, den er von seiner Unschuld überzeugt hatte, musste seinen ganzen Einfluss anwenden, um ihm eine Art von Statthalterschaft in einer entfernten Provinz zu erwirken. Er fand sich glücklich daselbst, alle seine Kräfte konnte er in Tätigkeit setzen, es war Notwendiges, Nützliches, Gutes, Schönes, Großes zu tun, er konnte Dauerndes leisten, ohne sich aufzuopfern, anstatt dass man in jenen Verhältnissen, gegen seine Überzeugung sich mit Vorübergehendem beschäftigend, gelegentlich selbst zugrunde geht.

Nicht so empfand es seine Gattin, welche nur in größern Zirkeln ihre Existenz fand und ihm nur später notgedrungen folgte. Er betrug sich so schonend als möglich gegen sie und begünstigte alle Surrogate ihrer bisherigen Glückseligkeit, des Sommers Landpartien in der Nachbarschaft, im Winter ein Liebhabertheater, Bälle und was sie sonst einzuleiten beliebte. Ja, er duldete einen Hausfreund, einen Fremden, der sich seit einiger Zeit eingeführt hatte, ob er ihm gleich keineswegs gefiel, da er ihm durchaus, bei seinem klaren Blick auf Menschen, eine gewisse Falschheit anzusehen glaubte.

Von allem diesem, was wir aussprechen, mag in dem gegenwärtigen, bedenklichen Augenblick einiges dunkel und trübe, ein anderes klar und deutlich ihm vor der Seele vorübergegangen sein. Genug, wenn wir nach dieser vertraulichen Eröffnung, zu der Friedrichs gutes Gedächtnis den Stoff mitgeteilt, uns abermals zu ihm wenden, so finden wir ihn wieder in dem Zimmer heftig auf und ab gehend, durch Gebärden und manche Ausrufungen einen innern Kampf offenbarend.

„In solchen Gedanken war ich heftig im Zimmer auf und ab gegangen, der Kellner hatte mir eine Tasse Bouillon gebracht, deren ich sehr bedurfte; denn über die sorgfältigsten Anstalten dem Fest zuliebe hatte ich nichts zu mir genommen, und ein köstlich Abendessen stand unberührt zu Hause. In dem Augenblick hörten wir ein Posthorn sehr angenehm die Straße herauf. ‚Der kommt aus dem Gebirge’, sagte der Kellner. Wir fuhren ans Fenster und sahen beim Schein zweier hell leuchtenden Wagenlaternen vierspännig, wohl bepackt vorfahren einen Herrschaftswagen. Die Bedienten sprangen vom Bock: ‚Da sind sie!’, rief der Kellner und eilte nach der Türe. Ich hielt ihn fest, ihm einzuschärfen, er solle ja nichts sagen, dass ich da sei, nicht verraten, dass etwas bestellt worden; er versprach’s und sprang davon.

Indessen hatte ich versäumt zu beobachten, wer ausgestiegen sei, und eine neue Ungeduld bemächtigte sich meiner; mir schien, der Kellner säume allzu lange, mir Nachricht zu geben. Endlich vernahm ich von ihm, die Gäste seien Frauenzimmer, eine ältliche Dame von würdigem Ansehen, eine mittlere von unglaublicher Anmut, ein Kammermädchen, wie man sie nur wünschen möchte. ‚Sie fing an’, sagte er, ‚mit Befehlen, fuhr fort mit Schmeicheln und fiel, als ich ihr schöntat, in ein heiter schnippisches Wesen, das ihr wohl das natürlichste sein mochte.’

‚Gar schnell bemerkte ich’, fuhr er fort, ‚die allgemeine Verwunderung, mich so alert und das Haus zu ihrem Empfang so bereit zu finden, die Zimmer erleuchtet, die Kamine brennend; sie machten sich’s bequem, im Saal fanden sie ein kaltes Abendessen; ich bot Bouillon an, die ihnen willkommen schien.’“

Nun saßen die Damen bei Tisch, die ältere speiste kaum, die schöne Liebliche gar nicht; das Kammermädchen, das sie Lucie nannten, ließ sich’s wohl schmecken und erhob dabei die Vorzüge des Gasthofes, erfreute sich der hellen Kerzen, des feinen Tafelzeugs, des Porzellans und aller Gerätschaften. Am lodernden Kamin hatte sie sich früher ausgewärmt und fragte nun den wieder eintretenden Kellner, ob man hier denn immer so bereit sei, zu jeder Stunde des Tags und der Nacht unvermutet ankommende Gäste zu bewirten. Dem jungen, gewandten Burschen ging es in diesem Falle wie Kindern, die wohl das Geheimnis verschweigen, aber, dass etwas Geheimes ihnen vertraut sei, nicht verbergen können. Erst antwortete er zweideutig, annähernd sodann, und zuletzt, durch die Lebhaftigkeit der Zofe, durch Hin- und Widerreden in die Enge getrieben, gestand er: Es sei ein Bedienter, es sei ein Herr gekommen, sei fort gegangen, wiedergekommen; zuletzt aber entfuhr es ihm, der Herr sei wirklich oben und gehe beunruhigt auf und ab. Die junge Dame sprang auf, die andern folgten; es sollte ein alter Herr sein, meinten sie hastig; der Kellner versicherte dagegen, er sei jung. Nun zweifelten sie wieder, er beteuerte die Wahrheit seiner Aussage. Die Verwirrung, die Unruhe vermehrte sich. Es müsse der Oheim sein, versicherte die Schöne; es sei nicht in seiner Art, erwiderte die Ältere. Niemand als er habe wissen können, dass sie in dieser Stunde hier eintreffen würden, versetzte jene beharrlich. Der Kellner aber beteuerte fort und fort, es sei ein junger, ansehnlicher, kräftiger Mann. Lucie schwur dagegen auf den Oheim: Dem Schalk, dem Kellner, sei nicht zu trauen, er widerspreche sich schon eine halbe Stunde.

Nach allem diesem musste der Kellner hinauf, dringend zu bitten, der Herr möge doch ja eilig herunterkommen, dabei auch zu drohen, die Damen würden heraufsteigen und selbst danken. „Es ist ein Wirrwarr ohne Grenzen“, fuhr der Kellner fort, „ich begreife nicht, warum Sie zaudern, sich sehen zu lassen; man hält Sie für einen alten Oheim, den man wieder zu umarmen leidenschaftlich verlangt. Gehen Sie hinunter, ich bitte. Sind denn das nicht die Personen, die Sie erwarteten? Verschmähen Sie ein allerliebstes Abenteuer nicht mutwillig; sehens- und hörenswert ist die junge Schöne, es sind die anständigsten Personen. Eilen Sie hinunter, sonst rücken sie Ihnen wahrlich auf die Stube.“

Leidenschaft erzeugt Leidenschaft. Bewegt, wie er war, sehnte er sich nach etwas Anderem, Fremdem. Er stieg hinab, in Hoffnung, sich mit den Ankömmlingen in heiterem Gespräch zu erklären, aufzuklären, fremde Zustände zu gewahren, sich zu zerstreuen; und doch war es ihm, als ging’ er einem bekannten ahnungsvollen Zustand entgegen. Nun stand er vor der Tür; die Damen, die des Oheims Tritte zu hören glaubten, eilten ihm entgegen, er trat ein. Welch ein Zusammentreffen! Welch ein Anblick! Die sehr Schöne tat einen Schrei und warf sich der Ältern um den Hals; der Freund erkannte sie beide, er schrak zurück, dann drängt’ es ihn vorwärts, er lag zu ihren Füßen und berührte ihre Hand, die er sogleich wieder losließ, mit dem bescheidensten Kuss. Die Silben ‚Au-ro-ra!’ erstarben auf seinen Lippen.

Wenden wir unsern Blick nunmehr nach dem Haus unsres Freundes, so finden wir daselbst ganz eigne Zustände. Die gute Alte wusste nicht, was sie tun oder lassen sollte; sie unterhielt die Lampen des Vorhauses und der Treppe; das Essen hatte sie vom Feuer gehoben, einiges war unwiederbringlich verdorben. Die Kammerjungfer war bei den schlafenden Kindern geblieben und hatte die vielen Kerzen der Zimmer gehütet, so ruhig und geduldig als jene verdrießlich hin- und herfahrend.

Endlich rollte der Wagen vor; die Dame stieg aus und vernahm, ihr Gemahl sei vor einigen Stunden abgerufen worden. Die Treppe hinaufsteigend, schien sie von der festlichen Erleuchtung keine Kenntnis zu nehmen. Nun erfuhr die Alte von dem Bedienten, ein Unglück sei unterwegs begegnet, der Wagen in einen Graben geworfen worden, und was alles nachher sich ereignet.

Die Dame trat ins Zimmer: „Was ist das für eine Maskerade?“, sagte sie, auf die Kinder deutend. „Es hätte Ihnen viel Vergnügen gemacht“, versetzte die Jungfer, „wären Sie einige Stunden früher angekommen.“ Die Kinder, aus dem Schlaf gerüttelt, sprangen auf und begannen, als sie die Mutter vor sich sahen, ihren eingelernten Spruch. Von beiden Seiten verlegen, ging es eine Weile; dann, ohne Aufmunterung und Nachhilfe, kam es zum Stocken; endlich brach es völlig ab, und die guten Kleinen wurden mit einigen Liebkosungen zu Bett geschickt. Die Dame sah sich allein, warf sich auf den Sofa und brach in bittre Tränen aus.

Doch es wird nun ebenfalls notwendig, von der Dame selbst und von dem, wie es scheint, übel abgelaufenen ländlichen Fest nähere Nachricht zu geben. Albertine war eine von den Frauenzimmern, denen man unter vier Augen nichts zu sagen hätte, die man aber sehr gern in großer Gesellschaft sieht. Dort erscheinen sie als wahre Zierden des Ganzen und als Reizmittel in jedem Augenblick einer Stockung. Ihre Anmut ist von der Art, dass sie, um sich zu äußern, sich bequem darzutun, einen gewissen Raum braucht; ihre Wirkungen verlangen ein größeres Publikum, sie bedürfen eines Elements, das sie trägt, das sie nötigt, anmutig zu sein; gegen den einzelnen wissen sie sich kaum zu betragen.

Auch hatte der Hausfreund bloß dadurch ihre Gunst und erhielt sich darin, weil er Bewegung auf Bewegung einzuleiten und immerfort, wenn auch keinen großen, doch einen heitern Kreis im Treiben zu erhalten wusste. Bei Rollenausteilungen wählte er sich die zärtlichen Väter und wusste durch ein anständiges, altkluges Benehmen über die jüngeren ersten, zweiten und dritten Liebhaber sich ein Übergewicht zu verschaffen.

Florine, Besitzerin eines bedeutenden Rittergutes in der Nähe, winters in der Stadt wohnend, verpflichtet gegen Odoard, dessen staatswirtliche Einrichtung zufälliger-, aber glücklicherweise ihrem Landsitz höchlich zugute kam und den Ertrag desselben in der Folge bedeutend zu vermehren die Aussicht gab, bezog sommers ihr Landgut und machte es zum Schauplatz vielfacher anständiger Vergnügungen. Geburtstage besonders wurden niemals verabsäumt und mannigfaltige Feste veranstaltet.

Florine war ein munteres, neckisches Wesen, wie es schien, nirgends anhänglich, auch keine Anhänglichkeit fordernd noch verlangend. Leidenschaftliche Tänzerin, schätzte sie die Männer nur, insofern sie sich gut im Takte bewegten; ewig rege Gesellschafterin, hielt sie denjenigen unerträglich, der auch nur einen Augenblick vor sich hinsah und nachzudenken schien; übrigens als heitere Liebhaberin, wie sie in jedem Stück, jeder Oper nötig sind, sich gar anmutig darstellend, weshalb denn zwischen ihr und Albertinen, welche die Anständigen spielte, sich nie ein Rangstreit hervortat.

Den eintretenden Geburtstag in guter Gesellschaft zu feiern, war aus der Stadt und aus dem Lande umher die beste Gesellschaft eingeladen. Einen Tanz, schon nach dem Frühstück begonnen, setzte man nach Tafel fort; die Bewegung zog sich in die Länge, man fuhr zu spät ab, und von der Nacht auf schlimmem Weg – doppelt schlimm, weil er eben gebessert wurde – ehe man’s dachte, schon überrascht, versah’s der Kutscher und warf in einen Graben. Unsere Schöne mit Florine und dem Hausfreunde fühlten sich in schlimmer Verwickelung; der letzte wusste sich schnell herauszuwinden, dann, über den Wagen sich biegend, rief er: „Florine, wo bist du?“ Albertine glaubte zu träumen; er fasste hinein und zog Florine, die oben lag, ohnmächtig hervor, bemühte sich um sie und trug sie endlich auf kräftigem Arm den wieder gefundenen Weg hin. Albertine stak noch im Wagen, Kutscher und Bedienter halfen ihr heraus, und gestützt auf den letzten suchte sie weiter zu kommen. Der Weg war schlimm, für Tanzschuhe nicht günstig; obgleich von dem Burschen unterstützt, strauchelte sie jeden Augenblick. Aber im Innern sah es noch wilder, noch wüster aus. Wie ihr geschah, wusste sie nicht, begriff sie nicht.

Allein als sie ins Wirtshaus trat, in der kleinen Stube Florine auf dem Bett, die Wirtin und Lelio um sie beschäftigt sah, ward sie ihres Unglücks gewiss. Ein geheimes Verhältnis zwischen dem untreuen Freund und der verräterischen Freundin offenbarte sich blitzschnell auf einmal: Sie musste sehen, wie diese, die Augen aufschlagend, sich dem Freund um den Hals warf, mit der Wonne einer neu wieder auflebenden zärtlichsten Aneignung, wie die schwarzen Augen wieder glänzten, eine frische Röte die blässlichen Wangen auf einmal wieder zierend färbte; wirklich sah sie verjüngt, reizend, allerliebst aus.

Albertine stand vor sich hinschauend, einzeln, kaum bemerkt; jene erholten sich, nahmen sich zusammen, der Schaden war geschehen; man war denn doch genötigt, sich wieder in den Wagen zu setzen, und in der Hölle selbst könnten widerwärtig Gesinnte, Verratene mit Verrätern so eng nicht zusammengepackt sein.

 
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Kapitel 11

Lenardo sowohl als Odoard waren einige Tage sehr lebhaft beschäftigt, jener, die Abreisenden mit allem Nötigen zu versehen, dieser, sich mit den Bleibenden bekannt zu machen, ihre Fähigkeiten zu beurteilen, um sie von seinen Zwecken hinreichend zu unterrichten. Indessen blieb Friedrich und unserm Freund Raum und Ruhe zu stiller Unterhaltung. Wilhelm ließ sich den Plan im allgemeinen vorzeichnen, und da man mit Landschaft und Gegend genugsam vertraut geworden, auch die Hoffnung besprochen war, in einem ausgedehnten Gebiet schnell eine große Anzahl Bewohner entwickelt zu sehen, so wendete sich das Gespräch, wie natürlich, zuletzt auf das, was Menschen eigentlich zusammenhält: Auf Religion und Sitte. Hierüber konnte denn der heitere Friedrich hinreichende Auskunft geben, und wir würden wohl Dank verdienen, wenn wir das Gespräch in seinem Lauf mitteilen könnten, das durch Frag’ und Antwort, durch Einwendung und Berichtigung sich gar löblich durchschlang und in mannigfaltigem Schwanken zu dem eigentlichen Zweck gefällig hinbewegte. Indessen dürfen wir uns so lange nicht aufhalten und geben lieber gleich die Resultate, als dass wir uns verpflichteten, sie erst nach und nach in dem Geist unsrer Leser hervortreten zu lassen. Folgendes ergab sich als die Quintessenz dessen, was verhandelt wurde:

Dass der Mensch ins Unvermeidliche sich füge, darauf dringen alle Religionen; jede sucht auf ihre Weise mit dieser Aufgabe fertig zu werden.

Die christliche hilft durch Glaube, Liebe, Hoffnung gar anmutig nach; daraus entsteht denn die Geduld, ein süßes Gefühl, welch eine schätzbare Gabe das Dasein bleibe, auch wenn ihm, anstatt des gewünschten Genusses, das widerwärtigste Leiden aufgebürdet wird. An dieser Religion halten wir fest, aber auf eine eigne Weise; wir unterrichten unsre Kinder von Jugend auf von den großen Vorteilen, die sie uns gebracht hat; dagegen von ihrem Ursprung, von ihrem Verlauf geben wir zuletzt Kenntnis. Alsdann wird uns der Urheber erst lieb und wert, und alle Nachricht, die sich auf ihn bezieht, wird heilig. In diesem Sinn, den man vielleicht pedantisch nennen mag, aber doch als folgerecht anerkennen muss, dulden wir keinen Juden unter uns; denn wie sollten wir ihm den Anteil an der höchsten Kultur vergönnen, deren Ursprung und Herkommen er verleugnet?

Hiervon ist unsre Sittenlehre ganz abgesondert; sie ist rein tätig und wird in den wenigen Geboten begriffen: Mäßigung im Willkürlichen, Emsigkeit im Notwendigen. Nun mag ein jeder diese lakonischen Worte nach seiner Art im Lebensgang benutzen, und er hat einen ergiebigen Text zu grenzenloser Ausführung.

Der größte Respekt wird allen eingeprägt für die Zeit, als für die höchste Gabe Gottes und der Natur und die aufmerksamste Begleiterin des Daseins. Die Uhren sind bei uns vervielfältigt und deuten sämtlich mit Zeiger und Schlag die Viertelstunden an, und um solche Zeichen möglichst zu vervielfältigen, geben die in unserm Land errichteten Telegraphen, wenn sie sonst nicht beschäftigt sind, den Lauf der Stunden bei Tag und bei Nacht an, und zwar durch eine sehr geistreiche Vorrichtung.

Unsre Sittenlehre, die also ganz praktisch ist, dringt nun hauptsächlich auf Besonnenheit, und diese wird durch Einteilung der Zeit, durch Aufmerksamkeit auf jede Stunde höchlichst gefördert. Etwas muss getan sein in jedem Moment, und wie wollt’ es geschehen, achtete man nicht auf das Werk wie auf die Stunde?

In Betracht, dass wir erst anfangen, legen wir großes Gewicht auf die Familienkreise. Den Hausvätern und Hausmüttern denken wir große Verpflichtungen zuzuteilen; die Erziehung wird bei uns um so leichter, als jeder für sich selbst, Knecht und Magd, Diener und Dienerin, stehen muss.

Gewisse Dinge freilich müssen nach einer gewissen gleichförmigen Einheit gebildet werden: Lesen, Schreiben, Rechnen mit Leichtigkeit der Masse zu überliefern, übernimmt der Abbé; seine Methode erinnert an den wechselsweisen Unterricht, doch ist sie geistreicher; eigentlich aber kommt alles darauf an, zu gleicher Zeit Lehrer und Schüler zu bilden.

Aber noch eines wechselseitigen Unterrichts will ich erwähnen: Der Übung, anzugreifen und sich zu verteidigen. Hier ist Lothario in seinem Feld; seine Manöver haben etwas Ähnliches von unsern Feldjägern; doch kann er nicht anders als original sein.

Hierbei bemerke ich, dass wir im bürgerlichen Leben keine Glocken, im soldatischen keine Trommeln haben; dort wie hier ist Menschenstimme, verbunden mit Blasinstrumenten, hinreichend. Das alles ist schon da gewesen und ist noch da; die schickliche Anwendung desselben aber ist dem Geist überlassen, der es auch allenfalls wohl erfunden hätte.

Das größte Bedürfnis eines Staats ist das einer mutigen Obrigkeit, und daran soll es dem unsrigen nicht fehlen; wir alle sind ungeduldig, das Geschäft anzutreten, munter und überzeugt, dass man einfach anfangen müsse. So denken wir nicht an Justiz, aber wohl an Polizei. Ihr Grundsatz wird kräftig ausgesprochen: Niemand soll dem andern unbequem sein; wer sich unbequem erweist, wird beseitigt, bis er begreift, wie man sich anstellt, um geduldet zu werden. Ist etwas Lebloses, Unvernünftiges in dem Fall, so wird dies gleichmäßig beiseite gebracht.

In jedem Bezirk sind drei Polizeidirektoren, die alle acht Stunden wechseln, schichtweise, wie im Bergwerk, das auch nicht stillstehen darf, und einer unsrer Männer wird bei Nachtzeit vorzüglich bei der Hand sein.

Sie haben das Recht, zu ermahnen, zu tadeln, zu schelten und zu beseitigen; finden sie es nötig, so rufen sie mehr oder weniger Geschworne zusammen. Sind die Stimmen gleich, so entscheidet der Vorsitzende nicht, sondern es wird das Los gezogen, weil man überzeugt ist, dass bei gegeneinander stehenden Meinungen es immer gleichgültig ist, welche befolgt wird.

Wegen der Majorität haben wir ganz eigne Gedanken; wir lassen sie freilich gelten im notwendigen Weltlauf, im höhern Sinn haben wir aber nicht viel Zutrauen auf sie. Doch darüber darf ich mich nicht weiter auslassen.

Fragt man nach der höhern Obrigkeit, die alles lenkt, so findet man sie niemals an einem Ort; sie zieht beständig umher, um Gleichheit in den Hauptsachen zu erhalten und in lässlichen Dingen einem jeden seinen Willen zu gestatten. Ist dies doch schon einmal im Lauf der Geschichte da gewesen: Die deutschen Kaiser zogen umher, und diese Einrichtung ist dem Sinn freier Staaten am allergemäßesten. Wir fürchten uns vor einer Hauptstadt, ob wir schon den Punkt in unsern Besitzungen sehen, wo sich die größte Anzahl von Menschen zusammenhalten wird. Dies aber verheimlichen wir, dies mag nach und nach und wird noch früh genug entstehen.

Dieses sind im allgemeinsten die Punkte, über die man meistens einig ist, doch werden sie beim Zusammentreten von mehrern oder auch wenigern Gliedern immer wieder aufs neue durchgesprochen. Die Hauptsache wird aber sein, wenn wir uns an Ort und Stelle befinden. Den neuen Zustand, der aber dauern soll, spricht eigentlich das Gesetz aus. Unsre Strafen sind gelind; Ermahnung darf sich jeder erlauben, der ein gewisses Alter hinter sich hat; missbilligen und schelten nur der anerkannte Älteste; bestrafen nur eine zusammen berufene Zahl.

Man bemerkt, dass strenge Gesetze sich sehr bald abstumpfen und nach und nach loser werden, weil die Natur immer ihre Rechte behauptet. Wir haben lässliche Gesetze, um nach und nach strenger werden zu können; unsre Strafen bestehen vorerst in Absonderung von der bürgerlichen Gesellschaft, gelinder, entschiedener, kürzer und länger nach Befund. Wächst nach und nach der Besitz der Staatsbürger, so zwackt man ihnen auch davon ab, weniger oder mehr, wie sie verdienen, dass man ihnen von dieser Seite wehtue.

Allen Gliedern des Bandes ist davon Kenntnis gegeben, und bei angestelltem Examen hat sich gefunden, dass jeder von den Hauptpunkten auf sich selbst die schicklichste Anwendung macht. Die Hauptsache bleibt nur immer, dass wir die Vorteile der Kultur mit hinübernehmen und die Nachteile zurücklassen. Branntweinschenken und Lesebibliotheken werden bei uns nicht geduldet; wie wir uns aber gegen Flaschen und Bücher verhalten, will ich lieber nicht eröffnen: Dergleichen Dinge wollen getan sein, wenn man sie beurteilen soll.

Und in eben diesem Sinne hält der Sammler und Ordner dieser Papiere mit andern Anordnungen zurück, welche unter der Gesellschaft selbst noch als Probleme zirkulieren und welche zu versuchen man vielleicht an Ort und Stelle nicht rätlich findet; um desto weniger Beifall dürfte man sich versprechen, wenn man derselben hier umständlich erwähnen wollte.

 
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Kapitel 12

Die zu Odoardos Vortrag angesetzte Frist war gekommen, welcher, nachdem alles versammelt und beruhigt war, folgendermaßen zu reden begann: „Das bedeutende Werk, an welchem teilzunehmen ich diese Masse wackerer Männer einzuladen habe, ist Ihnen nicht ganz unbekannt, denn ich habe ja schon im allgemeinen mit Ihnen davon gesprochen. Aus meinen Eröffnungen geht hervor, dass in der alten Welt so gut wie in der neuen Räume sind, welche einen bessern Anbau bedürfen, als ihnen bisher zuteil ward. Dort hat die Natur große, weite Strecken ausgebreitet, wo sie unberührt und eingewildert liegt, dass man sich kaum getraut, auf sie loszugehen und ihr einen Kampf anzubieten. Und doch ist es leicht für den Entschlossenen, ihr nach und nach die Wüsteneien abzugewinnen und sich eines teilweisen Besitzes zu versichern. In der alten Welt ist es das Umgekehrte. Hier ist überall ein teilweiser Besitz schon ergriffen, mehr oder weniger durch undenkliche Zeit das Recht dazu geheiligt; und wenn dort das Grenzenlose als unüberwindliches Hindernis erscheint, so setzt hier das Einfachbegrenzte beinahe noch schwerer zu überwindende Hindernisse entgegen. Die Natur ist durch Emsigkeit, der Mensch durch Gewalt oder Überredung zu nötigen.

Wird der einzelne Besitz von der ganzen Gesellschaft für heilig geachtet, so ist er es dem Besitzer noch mehr. Gewohnheit, jugendliche Eindrücke, Achtung für Vorfahren, Abneigung gegen den Nachbar und hunderterlei Dinge sind es, die den Besitzer starr und gegen jede Veränderung widerwillig machen. Je älter dergleichen Zustände sind, je verflochtener, je geteilter, desto schwieriger wird es, das Allgemeine durchzuführen, das, indem es dem Einzelnen etwas nähme, dem Ganzen und durch Rück- und Mitwirkung auch jenem wieder unerwartet zugute käme.

Schon mehrere Jahre steh’ ich im Namen meines Fürsten einer Provinz vor, die, von seinen Staaten getrennt, lange nicht so, wie es möglich wäre, benutzt wird. Eben diese Abgeschlossenheit oder Eingeschlossenheit, wenn man will, hindert, dass bisher keine Anstalt sich treffen ließ, die den Bewohnern Gelegenheit gegeben hätte, das, was sie vermögen, nach außen zu verbreiten, und von außen zu empfangen, was sie bedürfen.

Mit unumschränkter Vollmacht gebot ich in diesem Land. Manches Gute war zu tun, aber doch immer nur ein beschränktes; dem Bessern waren überall Riegel vorgeschoben, und das Wünschenswerteste schien in einer andern Welt zu liegen.

Ich hatte keine andere Verpflichtung, als gut hauszuhalten. Was ist leichter als das! Ebenso leicht ist es, Missbräuche zu beseitigen, menschlicher Fähigkeiten sich zu bedienen, den Bestrebsamen nachzuhelfen. Dies alles ließ sich mit Verstand und Gewalt recht bequem leisten, dies alles tat sich gewissermaßen von selbst. Aber wohin besonders meine Aufmerksamkeit, meine Sorge sich richtete, dies waren die Nachbarn, die nicht mit gleichen Gesinnungen, am wenigsten mit gleicher Überzeugung ihre Landesteile regierten und regieren ließen.

Beinahe hätte ich mich resigniert und mich innerhalb meiner Lage am besten gehalten und das Herkömmliche, so gut als es sich tun ließ, benutzt; aber ich bemerkte auf einmal, das Jahrhundert komme mir zu Hilfe. Jüngere Beamte wurden in der Nachbarschaft angestellt; sie hegten gleiche Gesinnungen, aber freilich nur im allgemeinen wohlwollend, und pflichteten nach und nach meinen Plänen zu allseitiger Verbindung um so eher bei, als mich das Los traf, die größeren Aufopferungen zuzugestehen, ohne dass gerade jemand merkte, auch der größere Vorteil neige sich auf meine Seite.

So sind nun unser drei über ansehnliche Landesstrecken zu gebieten befugt, unsre Fürsten und Minister sind von der Redlichkeit und Nützlichkeit unsrer Vorschläge überzeugt; denn es gehört freilich mehr dazu, seinen Vorteil im Großen als im Kleinen zu übersehen. Hier zeigt uns immer die Notwendigkeit, was wir zu tun und zu lassen haben, und da ist denn schon genug, wenn wir diesen Maßstab ans Gegenwärtige legen; dort aber sollen wir eine Zukunft erschaffen, und wenn auch ein durchdringender Geist den Plan dazu fände, wie kann er hoffen, andere darin einstimmen zu sehen?

Noch würde dies dem einzelnen nicht gelingen; die Zeit, welche die Geister frei macht, öffnet zugleich ihren Blick ins Weitere, und im Weiteren lässt sich das Größere leicht erkennen; und eins der stärksten Hindernisse menschlicher Handlungen wird leichter zu entfernen. Dieses besteht nämlich darin, dass die Menschen wohl über die Zwecke einig werden, viel seltener aber über die Mittel, dahin zu gelangen. Denn das wahre Große hebt uns über uns selbst hinaus und leuchtet uns vor wie ein Stern; die Wahl der Mittel aber ruft uns in uns selbst zurück, und da wird der Einzelne gerade, wie er war, und fühlt sich ebenso isoliert, als hätt’ er vorher nicht ins Ganze gestimmt.

Hier also haben wir zu wiederholen: Das Jahrhundert muss uns zu Hilfe kommen, die Zeit an die Stelle der Vernunft treten und in einem erweiterten Herzen der höhere Vorteil den niedern verdrängen.

Hier sei es genug; und wär’ es zu viel für den Augenblick, in der Folge werd’ ich einen jeden Teilnehmer daran erinnern. Genaue Vermessungen sind geschehen, die Straßen bezeichnet, die Punkte bestimmt, wo man die Gasthöfe und in der Folge vielleicht die Dörfer heranrückt. Zu aller Art von Baulichkeiten ist Gelegenheit, ja Notwendigkeit vorhanden. Treffliche Baumeister und Techniker bereiten alles vor; Risse und Anschläge sind gefertigt; die Absicht ist, größere und kleinere Akkorde abzuschließen und so mit genauer Kontrolle die bereitliegenden Geldsummen, zur Verwunderung des Mutterlandes, zu verwenden; da wir denn der schönsten Hoffnung leben, es werde sich eine vereinte Tätigkeit nach allen Seiten von nun an entwickeln.

Worauf ich nun aber die sämtlichen Teilnehmer aufmerksam zu machen habe, weil es vielleicht auf ihre Entschließung Einfluss haben könnte, ist die Einrichtung, die Gestalt, in welche wir alle Mitwirkenden vereinigen und ihnen eine würdige Stellung unter sich und gegen die übrige bürgerliche Welt zu schaffen gedenken.

Sobald wir jenen bezeichneten Boden betreten, werden die Handwerke sogleich für Künste erklärt und durch die Bezeichnung ‚strenge Künste’ von den ‚freien’ entschieden getrennt und abgesondert. Diesmal kann hier nur von solchen Beschäftigungen die Rede sein, welche den Aufbau sich zur Angelegenheit machen; die sämtlichen hier anwesenden Männer, jung und alt, bekennen sich zu dieser Klasse.

Zählen wir sie her in der Folge, wie sie den Bau in die Höhe richten und nach und nach zur Wohnbarkeit befördern.

Die Steinmetzen nenn’ ich voraus, welche den Grund- und Eckstein vollkommen bearbeiten, den sie mit Beihilfe der Maurer am rechten Ort in der genauesten Bezeichnung nieder senken. Die Maurer folgen hierauf, die auf den streng untersuchten Grund das Gegenwärtige und Zukünftige wohl befestigen. Früher oder später bringt der Zimmermann seine vorbereiteten Kontignationen herbei, und so steigt nach und nach das Beabsichtigte in die Höhe. Den Dachdecker rufen wir eiligst herbei; im Innern bedürfen wir des Tischers, Glasers, Schlossers, und wenn ich den Tüncher zuletzt nenne, so geschieht es, weil er mit seiner Arbeit zur verschiedensten Zeit eintreten kann, um zuletzt dem Ganzen in- und auswendig einen gefälligen Schein zu geben. Mancher Hilfsarbeiten gedenk’ ich nicht, nur die Hauptsache verfolgend.

Die Stufen von Lehrling, Gesell und Meister müssen aufs strengste beobachtet werden; auch können in diesen viele Abstufungen gelten, aber Prüfungen können nicht sorgfältig genug sein. Wer herantritt, weiß, dass er sich einer strengen Kunst ergibt, und er darf keine lässlichen Forderungen von ihr erwarten; ein einziges Glied, das in einer großen Kette bricht, vernichtet das Ganze. Bei großen Unternehmungen wie bei großen Gefahren muss der Leichtsinn verbannt sein.

Gerade hier muss die strenge Kunst der freien zum Muster dienen und sie zu beschämen trachten. Sehen wir die so genannten freien Künste an, die doch eigentlich in einem höhern Sinne zu nehmen und zu nennen sind, so findet man, dass es ganz gleichgültig ist, ob sie gut oder schlecht betrieben werden. Die schlechteste Statue steht auf ihren Füßen wie die beste, eine gemalte Figur schreitet mit verzeichneten Füßen gar munter vorwärts, ihre missgestalteten Arme greifen gar kräftig zu, die Figuren stehen nicht auf dem richtigen Plan, und der Boden fällt deswegen nicht zusammen. Bei der Musik ist es noch auffallender; die gellende Fiedel einer Dorfschenke erregt die wackern Glieder aufs kräftigste, und wir haben die unschicklichsten Kirchenmusiken gehört, bei denen der Gläubige sich erbaute. Wollt ihr nun gar auch die Poesie zu den freien Künsten rechnen, so werdet ihr freilich sehen, dass diese kaum weiß, wo sie eine Grenze finden soll. Und doch hat jede Kunst ihre innern Gesetze, deren Nichtbeobachtung aber der Menschheit keinen Schaden bringt; dagegen die strengen Künste dürfen sich nichts erlauben. Den freien Künstler darf man loben, man kann an seinen Vorzügen Gefallen finden, wenngleich seine Arbeit bei näherer Untersuchung nicht Stich hält.

#Betrachten wir aber die beiden, sowohl die freien als strengen Künste, in ihren vollkommensten Zuständen, so hat sich diese vor Pedanterei und Bocksbeutelei, jene vor Gedankenlosigkeit und Pfuscherei zu hüten. Wer sie zu leiten hat, wird hierauf aufmerksam machen, Missbräuche und Mängel werden dadurch verhütet werden.

Ich wiederhole mich nicht, denn unser ganzes Leben wird eine Wiederholung des Gesagten sein; ich bemerke nur noch folgendes: Wer sich einer strengen Kunst ergibt, muss sich ihr fürs Leben widmen. Bisher nannte man sie Handwerk, ganz angemessen und richtig; die Bekenner sollten mit der Hand wirken, und die Hand, soll sie das, so muss ein eigenes Leben sie beseelen, sie muss eine Natur für sich sein, ihre eignen Gedanken, ihren eignen Willen haben, und das kann sie nicht auf vielerlei Weise.“

Nachdem der Redende mit noch einigen hinzugefügten guten Worten geschlossen hatte, richteten die sämtlichen Anwesenden sich auf, und die Gewerke, anstatt abzuziehen, bildeten einen regelmäßigen Kreis vor der Tafel der anerkannten Oberen. Odoard reichte den sämtlichen ein gedrucktes Blatt umher, wovon sie nach einer bekannten Melodie mäßig munter ein zutrauliches Lied sangen:

Bleiben, Gehen, Gehen, Bleiben

Sei fortan dem Tücht’gen gleich;

Wo wir Nützliches betreiben,

Ist der werteste Bereich.

Dir zu folgen, wird ein Leichtes,

Wer gehorcht, der erreicht es,

Zeig’ ein festes Vaterland.

Heil dem Führer! Heil dem Band!

Du verteilest Kraft und Bürde

Und erwägst es ganz genau,

Gibst dem Alten Ruh und Würde,

Jünglingen Geschäft und Frau.

Wechselseitiges Vertrauen

Wird ein reinlich Häuschen bauen,

Schließen Hof und Gartenzaun,

Auch der Nachbarschaft vertraun.

Wo an wohl gebahnten Straßen

Man in neuer Schenke weilt,

Wo dem Fremdling reicher Maßen

Ackerfeld ist zugeteilt,

Siedeln wir uns an mit andern.

Eilt, eilt, einzuwandern

In das feste Vaterland.

Heil dir Führer! Heil dir Band!

 
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Kapitel 13

Eine vollkommene Stille schloss sich an diese lebhafte Bewegung der vergangenen Tage. Die drei Freunde blieben allein gegen einander über stehen, und es ward gar bald merkbar, dass zwei von ihnen, Lenardo und Friedrich, von einer sonderbaren Unruhe bewegt wurden; sie verbargen nicht, dass sie beide ungeduldig seien, für ihren Teil in der Abreise von diesem Ort sich gehindert zu sehen. Sie erwarteten einen Boten, hieß es, und es kam indessen nichts Vernünftiges, nichts Entscheidendes zur Sprache.

Endlich kommt der Bote, ein bedeutendes Paket überbringend, worüber sich Friedrich sogleich herwirft, um es zu eröffnen. Lenardo hält ihn ab und spricht: „Lass es unberührt, leg’ es vor uns nieder auf den Tisch; wir wollen es ansehen, denken und vermuten, was es enthalten möge. Denn unser Schicksal ist seiner Bestimmung näher, und wenn wir nicht selbst Herren darüber sind, wenn es von dem Verstand, von den Empfindungen anderer abhängt, ein Ja oder Nein, ein So oder So zu erwarten ist, dann ziemt es, ruhig zu stehen, sich zu fassen, sich zu fragen, ob man es erdulden würde, und wenn es ein so genanntes Gottesurteil wäre, wo uns auferlegt ist, die Vernunft gefangen zu nehmen.“

„Du bist nicht so gefasst, als du scheinen willst“, versetzte Friedrich, „bleibe deswegen allein mit deinen Geheimnissen und schalte darüber nach Belieben, mich berühren sie auf alle Fälle nicht; aber lass mich indes diesem alten, geprüften Freunde den Inhalt offenbaren und die zweifelhaften Zustände vorlegen, die wir ihm schon so lange verheimlicht haben.“ Mit diesen Worten riss er unsern Freund mit sich weg, und schon unterwegs rief er aus: „Sie ist gefunden, längst gefunden! Und es ist nur die Frage, wie es mit ihr werden soll.“

„Das wusst’ ich schon“, sagte Wilhelm, „denn Freunde offenbaren einander gerade das am deutlichsten, was sie einander verschweigen; die letzte Stelle des Tagebuchs, wo sich Lenardo gerade mitten im Gebirge des Briefes erinnert, den ich ihm schrieb, rief mir in der Einbildungskraft im ganzen Umgang des Geistes und Gefühls jenes gute Wesen hervor; ich sah ihn schon mit dem nächsten Morgen sich ihr nähern, sie anerkennen und was daraus mochte gefolgt sein. Da will ich denn aber aufrichtig gestehen, dass nicht Neugierde, sondern ein redlicher Anteil, den ich ihr gewidmet habe, mich über euer Schweigen und Zurückhalten beunruhigte.“

„Und in diesem Sinn“, rief Friedrich, „bist du gerade bei diesem angekommenen Paket hauptsächlich mit interessiert; der Verfolg des Tagebuchs war an Makarie gesandt, und man wollte dir durch Erzählung das ernst-anmutige Ereignis nicht verkümmern. Nun sollst du’s auch gleich haben; Lenardo hat gewiss indessen ausgepackt, und das braucht er nicht zu seiner Aufklärung.“

Friedrich sprang hiermit nach alter Art hinweg, sprang wieder herbei und brachte das versprochene Heft. „Nun muss ich aber auch erfahren“, rief er, „was aus uns werden wird.“ Hiermit war er wieder entsprungen, und Wilhelm las:

Lenardos Tagebuch

Fortsetzung

Freitag, den 19.

Da man heute nicht säumen durfte, um zeitig zu Frau Susanne zu gelangen, so frühstückte man eilig mit der ganzen Familie, dankte mit versteckten Glückwünschen und hinterließ dem Geschirrfasser, welcher zurückblieb, die den Jungfrauen zugedachten Geschenke, etwas reichlicher und bräutlicher als die vorgestrigen, sie ihm heimlich zuschiebend, worüber der gute Mann sich sehr erfreut zeigte.

Diesmal war der Weg früh zurückgelegt; nach einigen Stunden erblickten wir in einem ruhigen, nicht allzu weiten, flachen Tal, dessen eine felsige Seite von Wellen des klarsten Sees leicht bespült sich widerspiegelte, wohl und anständig gebaute Häuser, um welche ein besserer, sorgfältig gepflegter Boden, bei sonniger Lage, einiges Gartenwesen begünstigte. In das Haupthaus durch den Garnboten eingeführt und Frau Susanne vorgestellt, fühlte ich etwas ganz Eigenes, als sie uns freundlich ansprach und versicherte: Es sei ihr sehr angenehm, dass wir Freitags kämen, als dem ruhigsten Tag der Woche, da Donnerstags abends die gefertigte Ware zum See und in die Stadt geführt werde. Dem einfallenden Garnboten, welcher sagte: „Die bringt wohl Daniel jederzeit hinunter!“, versetzte sie: „Gewiss, er versieht das Geschäft so löblich und treu, als wenn es sein eigenes wäre.“ – „Ist doch auch der Unterschied nicht groß“, versetzte jener; übernahm einige Aufträge von der freundlichen Wirtin und eilte, seine Geschäfte in den Seitentälern zu vollbringen, versprach in einigen Tagen wiederzukommen und mich abzuholen.

Mir war indessen ganz wunderlich zumute; mich hatte gleich beim Eintritt eine Ahnung befallen, dass es die Ersehnte sei; beim längeren Hinblick war sie es wieder nicht, konnte es nicht sein, und doch beim Wegblicken, oder wenn sie sich umkehrte, war sie es wieder; eben wie im Traum Erinnerung und Phantasie ihr Wesen gegeneinander treiben.

Einige Spinnerinnen, die mit ihrer Wochenarbeit gezögert hatten, brachten sie nach; die Herrin, mit freundlichster Ermahnung zum Fleiß, marktete mit ihnen, überließ aber, um sich mit dem Gast zu unterhalten, das Geschäft an zwei Mädchen, welche sie Gretchen und Lieschen nannte, und welche ich um desto aufmerksamer betrachtete, als ich ausforschen wollte, wie sie mit der Schilderung des Geschirrfassers allenfalls zusammenträfen. Diese beiden Figuren machten mich ganz irre und zerstörten alle Ähnlichkeit zwischen der Gesuchten und der Hausfrau.

Aber ich beobachtete diese nur desto genauer, und sie schien mir allerdings das würdigste, liebenswürdigste Wesen von allen, die ich auf meiner Gebirgsreise erblickte. Schon war ich von dem Gewerbe unterrichtet genug, um mit ihr über das Geschäft, welches sie gut verstand, mit Kenntnis sprechen zu können; meine einsichtige Teilnahme erfreute sie sehr, und als ich fragte, woher sie ihre Baumwolle beziehe, deren großen Transport übers Gebirge ich vor einigen Tagen gesehen; so erwiderte sie, dass eben dieser Transport ihr einen ansehnlichen Vorrat mitgebracht. Die Lage ihres Wohnorts sei auch deshalb so glücklich, weil die nach dem See hinunterführende Hauptstraße etwa nur eine Viertelstunde ihres Tals hinabwärts vorbeigehe, wo sie denn entweder in Person oder durch einen Faktor die ihr von Triest bestimmten und adressierten Ballen in Empfang nehme, wie denn das vorgestern auch geschehen.

Sie ließ nun den neuen Freund in einen großen, lüftigen Keller hineingehen, wo der Vorrat aufgehoben wird, damit die Baumwolle nicht zu sehr austrockne, am Gewicht verliere und weniger geschmeidig werde. Dann fand ich auch, was ich schon im Einzelnen kannte, meistenteils hier versammelt; sie deutete nach und nach auf dies und jenes, und ich nahm verständigen Anteil. Indessen wurde sie stiller; aus ihren Fragen konnt’ ich erraten, sie vermute, dass ich vom Handwerk sei. Denn sie sagte, da die Baumwolle soeben angekommen, so erwarte sie nun bald einen Kommis oder Teilnehmer der Triester Handlung, der nach einer bescheidenen Ansicht ihres Zustandes die schuldige Geldpost abholen werde; diese liege bereit für einen jeden, welcher sich legitimieren könne.

Einigermaßen verlegen suchte ich auszuweichen und blickte ihr nach, als sie eben einiges anzuordnen durchs Zimmer ging; sie erschien mir wie Penelope unter den Mägden.

Sie kehrt zurück, und mich dünkt, es sei was Eigenes in ihr vorgegangen. – „Sie sind denn nicht vom Kaufmannsstand?“, sagte sie, „ich weiß nicht, woher mir das Vertrauen kommt, und wie ich mich unterfangen mag, das Ihrige zu verlangen; erdringen will ich’s nicht, aber gönnen Sie mir’s, wie es Ihnen ums Herz ist.“ Dabei sah mich ein fremdes Gesicht mit so ganz bekannten erkennenden Augen an, dass ich mich ganz durchdrungen fühlte und mich kaum zu fassen wusste. Meine Knie, mein Verstand wollten mir versagen, als man sie glücklicherweise sehr eilig abrief. Ich konnte mich erholen, meinen Vorsatz stärken, solang als möglich an mich zu halten; denn es schwebte mir vor, als wenn abermals ein unseliges Verhältnis mich bedrohe.

Gretchen, ein gesetztes, freundliches Kind, führte mich ab, mir die künstlichen Gewebe vorzuzeigen; sie tat es verständig und ruhig; ich schrieb, um ihr Aufmerksamkeit zu beweisen, was sie mir vorsagte, in meine Schreibtafel, wo es noch steht zum Zeugnis eines bloß mechanischen Verfahrens, denn ich hatte ganz anderes im Sinn; es lautet folgendermaßen:

„Der Eintrag von getretener sowohl als gezogener Weberei geschieht, je nachdem das Muster es erfordert, mit weißem, lose gedrehtem so genannten Muggengarn, mitunter auch mit türkischrot gefärbten, desgleichen mit blauen Garnen, welche ebenfalls zu Streifen und Blumen verbraucht werden.

Beim Scheren ist das Gewebe auf Walzen gewunden, die einen tischförmigen Rahmen bilden, um welchen her mehrere arbeitende Personen sitzen.“

Lieschen, die unter den Scherenden gesessen, steht auf, gesellt sich zu uns, ist geschäftig, dreinzureden, und zwar auf eine Weise, um jene durch Widerspruch nur irrezumachen; und als ich Gretchen dessen ungeachtet mehr Aufmerksamkeit bewies, so fuhr Lieschen umher, um etwas zu holen, zu bringen, und streifte dabei, ohne durch die Enge des Raums genötigt zu sein, mit ihrem zarten Ellenbogen zweimal merklich bedeutend an meinem Arm hin, welches mir nicht sonderlich gefallen wollte.

Die Gute-Schöne (sie verdient überhaupt, besonders aber alsdann so zu heißen, wenn man sie mit den übrigen vergleicht) holte mich in den Garten ab, wo wir der Abendsonne genießen sollten, eh’ sie sich hinter das hohe Gebirge versteckte. Ein Lächeln schwebte um ihre Lippen, wie es wohl erscheint, wenn man etwas Erfreuliches zu sagen zaudert; auch mir war es in dieser Verlegenheit gar lieblich zumute. Wir gingen nebeneinander her, ich getraute mir nicht, ihr die Hand zu reichen, so gern ich’s getan hätte; wir schienen uns beide vor Worten und Zeichen zu fürchten, wodurch der glückliche Fund nur allzu bald ins Gemeine offenbar werden könnte. Sie zeigte mir einige Blumentöpfe, worin ich aufgekeimte Baumwollenstauden erkannte. – „So nähren und pflegen wir die für unser Geschäfte unnützen, ja widerwärtigen Samenkörner, die mit der Baumwolle einen so weiten Weg zu uns machen. Es geschieht aus Dankbarkeit, und es ist ein eigen Vergnügen, dasjenige lebendig zu sehen, dessen abgestorbene Reste unser Dasein beleben. Sie sehen hier den Anfang, die Mitte ist Ihnen bekannt, und heute Abend, wenn’s Glück gut ist, einen erfreulichen Abschluss.

Wir als Fabrikanten selbst oder ein Faktor bringen unsre die Woche über eingegangene Ware Donnerstag abends in das Marktschiff und langen so, in Gesellschaft von andern, die gleiches Geschäft treiben, mit dem frühesten Morgen am Freitag in der Stadt an. Hier trägt nun ein jeder seine Ware zu den Kaufleuten, die im Großen handeln, und sucht sie so gut als möglich abzusetzen, nimmt auch wohl den Bedarf von roher Baumwolle allenfalls an Zahlungsstatt.

Aber nicht allein den Bedarf an rohen Stoffen für die Fabrikation nebst dem baren Verdienst holen die Marktleute in der Stadt, sondern sie versehen sich auch daselbst mit allerlei andern Dingen zum Bedürfnis und Vergnügen. Wo einer aus der Familie in die Stadt zu Markt gefahren, da sind Erwartungen, Hoffnungen und Wünsche, ja sogar oft Angst und Furcht rege. Es entsteht Sturm und Gewitter, und man ist besorgt, das Schiff nehme Schaden! Die Gewinnsüchtigen harren und möchten erfahren, wie der Verkauf der Waren ausgefallen, und berechnen schon im voraus die Summe des reinen Erwerbs; die Neugierigen warten auf die Neuigkeiten aus der Stadt, die Putzliebenden auf die Kleidungsstücke oder Modesachen, die der Reisende etwa mitzubringen Auftrag hatte; die Leckern endlich und besonders die Kinder auf die Esswaren, und wenn es auch nur Semmeln wären.

Die Abfahrt aus der Stadt verzieht sich gewöhnlich bis gegen Abend; dann belebt sich der See allmählich, und die Schiffe gleiten segelnd, oder durch die Kraft der Ruder getrieben, über seine Fläche hin; jedes bemüht sich, dem andern vorzukommen; und die, denen es gelingt, verhöhnen wohl scherzend die, welche zurückzubleiben sich genötigt sehen.

Es ist ein erfreuliches, schönes Schauspiel um die Fahrt auf dem See, wenn der Spiegel desselben mit den anliegenden Gebirgen vom Abendrot erleuchtet sich warm und allmählich tiefer und tiefer schattiert, die Sterne sichtbar werden, die Abendbetglocken sich hören lassen, in den Dörfern am Ufer sich Lichter entzünden, im Wasser wider scheinend, dann der Mond aufgeht und seinen Schimmer über die kaum bewegte Fläche streut. Das reiche Gelände flieht vorüber, Dorf um Dorf, Gehöft um Gehöft bleiben zurück; endlich in die Nähe der Heimat gekommen, wird in ein Horn gestoßen, und sogleich sieht man im Berg hier und dort Lichter erscheinen, die sich nach dem Ufer herab bewegen; ein jedes Haus, das einen Angehörigen im Schiff hat, sendet jemanden, um das Gepäck tragen zu helfen.

Wir liegen höher hinauf; aber jedes von uns hat oft genug diese Fahrt mitbestanden, und was das Geschäft betrifft, so sind wir alle von gleichem Interesse.“

Ich hatte ihr mit Verwunderung zugehört, wie gut und schön sie das alles sprach, und konnte mich der offenen Bemerkung nicht enthalten, wie sie in dieser rauen Gegend bei einem so mechanischen Geschäft zu solcher Bildung habe gelangen können. Sie versetzte, mit einem allerliebsten, beinahe schalkhaften Lächeln vor sich hingehend: „Ich bin in einer schönern und freundlichem Gegend geboren, wo vorzügliche Menschen herrschen und hausen, und ob ich gleich als Kind mich wild und unbändig erwies, so war doch der Einfluss geistreicher Besitzer auf ihre Umgebung unverkennbar. Die größte Wirkung jedoch auf ein junges Wesen tat eine fromme Erziehung, die ein gewisses Gefühl des Rechtlichen und Schicklichen, als von Allgegenwart göttlicher Liebe getragen, in mir entwickelte. Wir wanderten aus“, fuhr sie fort – das feine Lächeln verließ ihren Mund, eine unterdrückte Träne füllte das Auge – „wir wanderten weit, weit, von einer Gegend zur andern, durch fromme Fingerzeige und Empfehlungen geleitet; endlich gelangten wir hierher, in diese höchst tätige Gegend; das Haus, worin Sie mich finden, war von gleich gesinnten Menschen bewohnt; man nahm uns treulich auf, mein Vater sprach dieselbe Sprache, in demselben Sinn, wir schienen bald zur Familie zu gehören.

In allen Haus- und Handwerksgeschäften griff ich tüchtig ein, und alles, über welches Sie mich nun gebieten sehen, habe ich stufenweise gelernt, geübt und vollbracht. Der Sohn des Hauses, wenig Jahre älter als ich, wohl gebaut und schön von Antlitz, gewann mich lieb und machte mich zu seiner Vertrauten. Er war von tüchtiger und zugleich feiner Natur; die Frömmigkeit, wie sie im Haus geübt wurde, fand bei ihm keinen Eingang, sie genügte ihm nicht; er las heimlich Bücher, die er sich in der Stadt zu verschaffen wusste, von der Art, die dem Geist eine allgemeinere, freiere Richtung geben, und da er bei mir gleichen Trieb, gleiches Naturell vermerkte, so war er bemüht, nach und nach mir dasjenige mitzuteilen, was ihn so innig beschäftigte. Endlich, da ich in alles einging, hielt er nicht länger zurück, mir sein ganzes Geheimnis zu eröffnen, und wir waren wirklich ein ganz wunderliches Paar, welches auf einsamen Spaziergängen sich nur von solchen Grundsätzen unterhielt, welche den Menschen selbstständig machen, und dessen wahrhaftes Neigungsverhältnis nur darin zu bestehen schien, einander wechselseitig in solchen Gesinnungen zu bestärken, wodurch die Menschen sonst voneinander völlig entfernt werden.“

Ob ich gleich sie nicht scharf ansah, sondern nur von Zeit zu Zeit wie zufällig aufblickte, bemerkt’ ich doch mit Verwunderung und Anteil, dass ihre Gesichtszüge durchaus den Sinn ihrer Worte zugleich ausdrückten. Nach einem augenblicklichen Stillschweigen erheiterte sich ihr Gesicht: „Ich muss“, sagte sie, „auf Ihre Hauptfrage ein Bekenntnis tun, damit Sie meine Wohlredenheit, die manchmal nicht ganz natürlich scheinen möchte, sich besser erklären können.

Leider mussten wir beide uns vor den übrigen verstellen, und ob wir gleich uns sehr hüteten, nicht zu lügen und im groben Sinn falsch zu sein, so waren wir es doch im zartern, indem wir den viel besuchten Brüder- und Schwesterversammlungen nicht beizuwohnen nirgends Entschuldigung finden konnten. Weil wir aber dabei gar manches gegen unsere Überzeugung hören mussten, so ließ er mich sehr bald begreifen und einsehen, dass nicht alles vom freien Herzen gehe, sondern dass viel Wortkram, Bilder, Gleichnisse, herkömmliche Redensarten und wiederholt anklingende Zeilen sich immerfort wie um eine gemeinsame Achse herumdrehten. Ich merkte nun besser auf und machte mir die Sprache so zu eigen, dass ich allenfalls eine Rede so gut als irgendein Vorsteher hätte halten wollen. Erst ergötzte der Gute sich daran, endlich beim Überdruss ward er ungeduldig, dass ich, ihn zu beschwichtigen, den entgegen gesetzten Weg einschlug, ihm nur desto aufmerksamer zuhörte, ihm seinen herzlich treuen Vortrag wohl acht Tage später wenigstens mit annähernder Freiheit und nicht ganz unähnlichem geistigem Wesen zu wiederholen wusste.

So wuchs unser Verhältnis zum innigsten Bande, und eine Leidenschaft zu irgendeinem Wahren, Guten, sowie zu möglicher Ausübung desselben, war eigentlich, was uns vereinigte.

Indem ich nun bedenke, was Sie veranlasst haben mag, zu einer solchen Erzählung mich zu bewegen, so war es meine lebhafte Beschreibung vom glücklich vollbrachten Markttage. Verwundern Sie sich darüber nicht; denn gerade war es eine frohe, herzliche Betrachtung holder und erhabener Naturszenen, was mich und meinen Bräutigam in ruhigen und geschäftlosen Stunden am schönsten unterhielt. Treffliche vaterländische Dichter hatten das Gefühl in uns erregt und genährt: Hallers Alpen, Geßners Idyllen, Kleists Frühling wurden oft von uns wiederholt, und wir betrachteten die uns umgebende herrliche Welt bald von ihrer anmutigen, bald von ihrer erhabenen Seite

Noch gern erinnere ich mich, wie wir beide, scharf- und weitsichtig, uns um die Wette und oft hastig auf die bedeutenden Erscheinungen der Erde und des Himmels aufmerksam zu machen suchten, einander vorzueilen und zu überbieten trachteten. Dies war die schönste Erholung, nicht nur vom täglichen Geschäft, sondern auch von jenen ernsten Gesprächen, die uns oft nur zu tief in unser eigenes Innere versenkten und uns dort zu beunruhigen drohten.

In diesen Tagen kehrte ein Reisender bei uns ein, wahrscheinlich unter geborgtem Namen; wir dringen nicht weiter in ihn, da er sogleich durch sein Wesen uns Vertrauen einflößt, da er sich im ganzen höchst sittlich benimmt, sowie anständig aufmerksam in unsern Versammlungen. Von meinem Freund in den Gebirgen umhergeführt, zeigt er sich ernst, einsichtig und kenntnisreich. Auch ich geselle mich zu ihren sittlichen Unterhaltungen, wo alles nach und nach zur Sprache kommt, was einem innern Menschen bedeutend werden kann; da bemerkt er denn gar bald in unserer Denkweise in Absicht auf die göttlichen Dinge etwas Schwankendes. Die religiösen Ausdrücke waren uns trivial geworden, der Kern, den sie enthalten sollten, war uns entfallen. Da ließ er uns die Gefahr unsres Zustandes bemerken, wie bedenklich die Entfernung vom Überlieferten sein müsse, an welches von Jugend auf sich so viel angeschlossen; sie sei höchst gefährlich bei der Unvollständigkeit besonders des eignen Innern. Freilich eine täglich und stündlich durchgeführte Frömmigkeit werde zuletzt nur Zeitvertreib und wirke wie eine Art von Polizei auf den äußeren Anstand, aber nicht mehr auf den tiefen Sinn; das einzige Mittel dagegen sei, aus eigener Brust sittlich gleich geltende, gleich wirksame, gleich beruhigende Gesinnungen hervorzurufen.

Die Eltern hatten unsre Verbindung stillschweigend vorausgesetzt, und ich weiß nicht, wie es geschah, die Gegenwart des neuen Freundes beschleunigte die Verlobung; es schien sein Wunsch, diese Bestätigung unsres Glücks in dem stillen Kreis zu feiern, da er denn auch mit anhören musste, wie der Vorsteher die Gelegenheit ergriff, uns an den Bischof von Laodicea und an die große Gefahr der Lauheit, die man uns wollte angemerkt haben, zu erinnern. Wir besprachen noch einige Mal diese Gegenstände, und er ließ uns ein hierauf bezügliches Blatt zurück, welches ich oft in der Folge wieder anzusehen Ursache fand.

Er schied nunmehr, und es war, als wenn mit ihm alle guten Geister gewichen wären. Die Bemerkung ist nicht neu, wie die Erscheinung eines vorzüglichen Menschen in irgendeinem Zirkel Epoche macht und bei seinem Scheiden eine Lücke sich zeigt, in die sich öfters ein zufälliges Unheil hineindrängt. Und nun lassen Sie mich einen Schleier über das Nächstfolgende werfen. Durch einen Zufall ward meines Verlobten kostbares Leben, seine herrliche Gestalt plötzlich zerstört; er wendete standhaft seine letzten Stunden dazu an, sich mit mir Trostlosen verbunden zu sehen und mir die Rechte an seinem Erbteil zu sichern. Was aber diesen Fall den Eltern umso schmerzlicher machte, war, dass sie kurz vorher eine Tochter verloren hatten und sich nun im eigentlichen Sinn verwaist sahen, worüber ihr zartes Gemüt dergestalt angegriffen wurde, dass sie ihr Leben nicht lange fristeten. Sie gingen den lieben Ihrigen bald nach, und mich ereilte noch ein anderes Unheil, dass mein Vater, vom Schlag gerührt, zwar noch sinnliche Kenntnis von der Welt, aber weder geistige noch körperliche Tätigkeit gegen dieselbe behalten hat. Und so bedurfte ich denn freilich in der größten Not und Absonderung jener Selbstständigkeit, in der ich mich, glückliche Verbindung und frohes Mitleben hoffend, frühzeitig geübt und noch vor kurzem durch die rein belebenden Worte des geheimnisvollen Durchreisenden recht eigentlich gestärkt hatte.

Doch darf ich nicht undankbar sein, da mir in diesem Zustand noch ein tüchtiger Gehilfe geblieben ist, der als Faktor alles das besorgt, was in solchen Geschäften als Pflicht männlicher Tätigkeit erscheint. Kommt er heut Abend aus der Stadt zurück, und Sie haben ihn kennen gelernt, so erfahren Sie mein wunderbares Verhältnis zu ihm.“

Ich hatte manches dazwischen gesprochen und durch beifälligen, vertraulichen Anteil ihr Herz immer mehr aufzuschließen und ihre Rede im Fluss zu erhalten getrachtet. Ich vermied nicht, dasjenige ganz nahe zu berühren, was noch nicht völlig ausgesprochen war; auch sie rückte immer näher zu, und wir waren so weit, dass bei der geringsten Veranlassung das offenbare Geheimnis ins Wort getreten wäre.

Sie stand auf und sagte: „Lassen Sie uns zum Vater gehen!“ Sie eilte voraus, und ich folgte ihr langsam; ich schüttelte den Kopf über die wundersame Lage, in der ich mich befand. Sie ließ mich in eine hintere, sehr reinliche Stube treten, wo der gute Alte unbeweglich im Sessel saß. Er hatte sich wenig verändert. Ich ging auf ihn zu, er sah mich erst starr, dann mit lebhafteren Augen an; seine Züge erheiterten sich, er versuchte, die Lippen zu bewegen, und als ich die Hand hinreichte, seine ruhende zu fassen, ergriff er die meine von selbst, drückte sie und sprang auf, die Arme gegen mich ausstreckend. „O Gott!“, rief er, „der Junker Lenardo! Er ist’s, er ist es selbst!“ Ich konnte mich nicht enthalten, ihn an mein Herz zu schließen; er sank in den Stuhl zurück, die Tochter eilte hinzu, ihm beizustehen; auch sie rief: „Er ist’s! Sie sind es, Lenardo!“

Die jüngere Nichte war herbeigekommen; sie führten den Vater, der auf einmal wieder gehen konnte, der Kammer zu, und gegen mich gewendet, sprach er ganz deutlich: „Wie glücklich, glücklich! Bald sehen wir uns wieder!“

Ich stand vor mich hinschauend und denkend; Mariechen kam zurück und reichte mir ein Blatt mit dem Vermelden, es sei dasselbige, wovon gesprochen. Ich erkannte sogleich Wilhelms Handschrift, sowie vorhin seine Person aus der Beschreibung mir entgegengetreten war; mancherlei fremde Gesichter schwärmten um mich her, es war eine eigene Bewegung im Vorhaus. Und dann ist es ein widerwärtiges Gefühl, aus dem Enthusiasmus einer reinen Wiedererkennung, aus der Überzeugung dankbaren Erinnerns, der Anerkennung einer wunderbaren Lebensfolge und was alles Warmes und Schönes dabei in uns entwickelt werden mag, auf einmal zu der schroffen Wirklichkeit einer zerstreuten Alltäglichkeit zurückgeführt zu werden.

Diesmal war der Freitagabend überhaupt nicht so heiter und lustig, wie er sonst wohl sein mochte; der Faktor war nicht mit dem Marktschiff aus der Stadt zurückgekehrt, er meldete nur in einem Brief, dass ihn Geschäfte erst morgen oder übermorgen zurückgehen ließen; er werde mit anderer Gelegenheit kommen, auch alles Bestellte und Versprochene mitbringen. Die Nachbarn, welche, jung und alt, in Erwartung wie gewöhnlich zusammengekommen waren, machten verdrießliche Gesichter, Lieschen besonders, die ihm entgegengegangen war, schien sehr übler Laune.

Ich hatte mich in mein Zimmer geflüchtet, das Blatt in der Hand haltend, ohne hineinzugehen, denn es hatte mir schon heimlichen Verdruss gemacht, aus jener Erzählung zu vernehmen, dass Wilhelm die Verbindung beschleunigt habe. „Alle Freunde sind so, alle sind Diplomaten; statt unser Vertrauen redlich zu erwidern, folgen sie ihren Ansichten, durchkreuzen unsre Wünsche und missleiten unser Schicksal!“ So rief ich aus, doch kam ich bald von meiner Ungerechtigkeit zurück, gab dem Freund Recht, besonders die jetzige Stellung bedenkend, und enthielt mich nicht weiter, das folgende zu lesen.

Jeder Mensch findet sich von den frühsten Momenten seines Lebens an, erst unbewusst, dann halb, endlich ganz bewusst, immerfort bedingt, begrenzt in seiner Stellung. Weil aber niemand Zweck und Ziel seines Daseins kennt, vielmehr das Geheimnis desselben von höchster Hand verborgen wird, so tastet er nur, greift zu, lässt fahren, steht still, bewegt sich, zaudert und übereilt sich, und auf wie mancherlei Weise denn alle Irrtümer entstehen, die uns verwirren.

Sogar der Besonnenste ist im täglichen Weltleben genötigt, klug für den Augenblick zu sein, und gelangt deswegen im Allgemeinen zu keiner Klarheit. Selten weiß er sicher, wohin er sich in der Folge zu wenden und was er eigentlich zu tun und zu lassen habe.

Glücklicherweise sind alle diese und noch hundert andere wundersame Fragen durch euren unaufhaltsam tätigen Lebensgang beantwortet. Fahrt fort in unmittelbarer Beachtung der Pflicht des Tages und prüft dabei die Reinheit eures Herzens und die Sicherheit eures Geistes. Wenn ihr sodann in freier Stunde aufatmet und euch zu erheben Raum findet, so gewinnt ihr auch gewiss eine richtige Stellung gegen das Erhabene, dem wir uns auf jede Weise verehrend hinzugeben, jedes Ereignis mit Ehrfurcht zu betrachten und eine höhere Leitung darin zu erkennen haben.

Sonnabend, den 20.

Vertieft in Gedanken, auf deren wunderlichen Irrgängen mich eine fühlende Seele teilnehmend gern begleiten wird, war ich mit Tagesanbruch am See und auf und ab spaziert; die Hausfrau – ich fühlte mich sehr zufrieden, sie nicht als Witwe denken zu dürfen – zeigte sich erwünscht erst am Fenster, dann an der Türe; sie erzählte mir, der Vater habe gut geschlafen, sei heiter aufgewacht und habe mit deutlichen Worten eröffnet, dass er im Bett bleiben, mich heute nicht, morgen aber erst nach dem Gottesdienst zu sehen wünsche, wo er sich gewiss recht gestärkt fühlen werde. Sie sagte mir darauf, dass sie mich heute viel werde allein lassen – es sei für sie ein sehr beschäftigter Tag –, kam herunter und gab mir Rechenschaft davon.

Ich hörte ihr zu, nur um sie zu hören, dabei überzeugt’ ich mich, dass sie von der Sache durchdrungen, davon als einer herkömmlichen Pflicht angezogen und mit Willen beschäftigt schien. Sie fuhr fort: „Es ist gewöhnlich und eingerichtet, dass das Gewebe gegen das Ende der Woche fertig sei und am Sonnabend Nachmittag zu dem Verlagsherrn getragen werde, der solches durchsieht, misst und wägt, um zu erforschen, ob die Arbeit ordentlich und fehlerfrei, auch ob ihm an Gewicht und Maß das Gehörige eingeliefert worden, und wenn alles richtig befunden ist, sodann den verabredeten Weberlohn zahlt. Seinerseits ist nun er bemüht, das gewebte Stück von allen etwa anhängenden Fäden und Knoten zu reinigen, solches aufs zierlichste zu legen, die schönste, fehlerfreiste Seite oben vors Auge zu bringen und so die Ware höchst annehmlich zu machen.“

Indessen kamen aus dem Gebirge viele Weberinnen, ihre Ware ins Haus tragend, worunter ich auch die erblickte, welche unsern Geschirrfasser beschäftigte. Sie dankte mir gar lieblich für das zurückgelassene Geschenk und erzählte mit Anmut: Der Herr Geschirrfasser sei bei ihnen, arbeite heute an ihrem leer stehenden Weberstuhl und habe ihr beim Abschied versichert: was er an ihm tue, solle Frau Susanne gleich der Arbeit ansehen. Darauf ging sie, wie die übrigen, ins Haus, und ich konnte mich nicht enthalten, die liebe Wirtin zu fragen: „Ums Himmels willen! Wie kommen Sie zu dem wunderlichen Namen?“ – „Es ist“, versetzte sie, „der dritte, den man mir aufbürdet; ich ließ es gerne zu, weil meine Schwiegereltern es wünschten, denn es war der Name ihrer verstorbenen Tochter, an deren Stelle sie mich eintreten ließen, und der Name bleibt doch immer der schönste, lebendigste Stellvertreter der Person.“ Darauf versetzte ich: „Ein vierter ist schon gefunden: Ich würde Sie Gute-Schöne nennen, insofern es von mir abhinge.“ Sie machte eine gar lieblich-demütige Verbeugung und wusste ihr Entzücken über die Genesung des Vaters mit der Freude, mich wieder zu sehen, so zu verbinden und zu steigern, dass ich in meinem Leben nichts Schmeichelhafteres und Erfreulicheres glaubte gehört und gefühlt zu haben.

Die Schöne-Gute, doppelt und dreifach ins Haus zurückgerufen, übergab mich einem verständigen, unterrichteten Mann, der mir die Merkwürdigkeiten des Gebirges zeigen sollte. Wir gingen zusammen, bei schönstem Wetter, durch reich abwechselnde Gegenden. Aber man überzeugt sich wohl, dass weder Fels noch Wald, noch Wassersturz, noch weniger Mühlen und Schmiedewerkstatt, sogar künstlich genug in Holz arbeitende Familien nicht mir irgendeine Aufmerksamkeit abgewinnen konnten. Indessen war der Wandergang für den ganzen Tag angelegt; der Bote trug ein feines Frühstück im Ränzel, zu Mittag fanden wir ein gutes Essen im Zechenhaus eines Bergwerks, wo niemand recht aus mir klug werden konnte, indem tüchtigen Menschen nichts leidiger vorkommt als ein leeres, Teilnahme heuchelndes Unteilnehmen.

Am wenigsten aber begriff mich der Bote, an welchen eigentlich der Garnträger mich gewiesen hatte, mit großem Lob meiner schönen technischen Kenntnisse und des besonderen Interesses an solchen Dingen. Auch von meinem vielen Aufschreiben und Bemerken hatte jener gute Mann erzählt, worauf sich denn der Berggenosse gleichfalls eingerichtet hatte. Lange wartete mein Begleiter, dass ich meine Schreibtafel hervorholen sollte, nach welcher er denn auch endlich, einigermaßen ungeduldig, fragte.

Sonntag, den 21.

Mittag kam beinahe herbei, eh’ ich die Freundin wieder ansichtig werden konnte. Der Hausgottesdienst, bei dem sie mich nicht gegenwärtig wünschte, war indessen gehalten; der Vater hatte demselben beigewohnt und, die erbaulichsten Worte deutlich und vernehmlich sprechend, alle Anwesenden und sie selbst bis zu den herzlichsten Tränen gerührt. „Es waren“, sagte sie, „bekannte Sprüche, Reime, Ausdrücke und Wendungen, die ich hundert Mal gehört und als an hohlen Klängen mich geärgert hatte; diesmal flossen sie aber so herzlich zusammengeschmolzen, ruhig glühend, von Schlacken rein, wie wir das erweichte Metall in der Rinne hinfließen sehen. Es war mir angst und bange, er möchte sich in diesen Ergießungen aufzehren, jedoch ließ er sich ganz munter zu Bett führen; er wollte, sagte er, sich sammeln und den Gast, sobald er Kraft genug fühle, zu sich rufen lassen.“

Nach Tisch ward unser Gespräch lebhafter und vertraulicher; aber ebendeshalb konnte ich mehr empfinden und bemerken, dass sie etwas zurückhielt, dass sie mit beunruhigenden Gedanken kämpfte, wie es ihr auch nicht ganz gelang, ihr Gesicht zu erheitern. Nachdem ich hin und her versucht, sie zur Sprache zu bringen, so gestand ich aufrichtig, dass ich ihr eine gewisse Schwermut, einen Ausdruck von Sorge anzusehen glaubte; seien es häusliche oder Handelsbedrängnisse, sie solle sich mir eröffnen; ich wäre reich genug, eine alte Schuld ihr auf jede Weise abzutragen.

Sie verneinte lächelnd, dass dies der Fall sei. „Ich habe“, fuhr sie fort, „wie Sie zuerst herein traten, einen von denen Herren zu sehen geglaubt, die mir in Triest Kredit machen, und war mit mir selbst wohl zufrieden, als ich mein Geld vorrätig wusste, man mochte die ganze Summe oder einen Teil verlangen. Was mich aber drückt, ist doch eine Handelssorge, leider nicht für den Augenblick, nein! Für alle Zukunft. Das überhand nehmende Maschinenwesen quält und ängstigt mich: Es wälzt sich heran wie ein Gewitter, langsam, langsam; aber es hat seine Richtung genommen, es wird kommen und treffen. Schon mein Gatte war von diesem traurigen Gefühl durchdrungen. Man denkt daran, man spricht davon, und weder Denken noch Reden kann Hilfe bringen. Und wer möchte sich solche Schrecknisse gern vergegenwärtigen! Denken Sie, dass viele Täler sich durchs Gebirge schlingen, wie das, wodurch Sie herabkamen; noch schwebt Ihnen das hübsche, frohe Leben vor, das Sie diese Tage her dort gesehen, wovon Ihnen die geputzte Menge allseits andringend gestern das erfreulichste Zeugnis gab; denken Sie, wie das nach und nach zusammensinken, absterben, die Öde, durch Jahrhunderte belebt und bevölkert, wieder in ihre uralte Einsamkeit zurückfallen werde.

Hier bleibt nur ein doppelter Weg, einer so traurig wie der andere: Entweder selbst das Neue zu ergreifen und das Verderben zu beschleunigen, oder aufzubrechen, die Besten und Würdigsten mit sich fort zu ziehen und ein günstigeres Schicksal jenseits der Meere zu suchen. Eins wie das andere hat sein Bedenken; aber wer hilft uns die Gründe abwägen, die uns bestimmen sollen? Ich weiß recht gut, dass man in der Nähe mit dem Gedanken umgeht, selbst Maschinen zu errichten und die Nahrung der Menge an sich zu reißen. Ich kann niemanden verdenken, dass er sich für seinen eigenen Nächsten hält; aber ich käme mir verächtlich vor, sollt’ ich diese guten Menschen plündern und sie zuletzt arm und hilflos wandern sehen; und wandern müssen sie früh oder spät. Sie ahnen, sie wissen, sie sagen es, und niemand entschließt sich zu irgendeinem heilsamen Schritt. Und doch, woher soll der Entschluss kommen? Wird er nicht jedermann ebenso sehr erschwert als mir?

Mein Bräutigam war mit mir entschlossen zum Auswandern; er besprach sich oft über Mittel und Wege, sich hier los zu winden. Er sah sich nach den Besseren um, die man um sich versammeln, mit denen man gemeine Sache machen, die man an sich heranziehen, mit sich fortziehen könnte; wir sehnten uns mit vielleicht allzu jugendlicher Hoffnung in solche Gegenden, wo dasjenige für Pflicht und Recht gelten könnte, was hier ein Verbrechen wäre. Nun bin ich im entgegen gesetzten Fall: Der redliche Gehilfe, der mir nach meines Gatten Tod geblieben, trefflich in jedem Sinn, mir freundschaftlich liebevoll anhänglich, er ist ganz der entgegen gesetzten Meinung.

Ich muss Ihnen von ihm sprechen, eh’ Sie ihn gesehen haben; lieber hätt’ ich es nachher getan, weil die persönliche Gegenwart gar manches Rätsel aufschließt. Ungefähr von gleichem Alter wie mein Gatte, schloss er sich als kleiner, armer Knabe an den wohlhabenden, wohlwollenden Gespielen, an die Familie, an das Haus, an das Gewerbe; sie wuchsen zusammen heran und hielten zusammen, und doch waren es zwei ganz verschiedene Naturen; der eine frei gesinnt und mitteilend, der andere in früherer Jugend gedrückt, verschlossen, den geringsten ergriffenen Besitz festhaltend, zwar frommer Gesinnung, aber mehr an sich als an andere denkend.

Ich weiß recht gut, dass er von den ersten Zeiten her ein Auge auf mich richtete; er durfte es wohl, denn ich war ärmer als er; doch hielt er sich zurück, sobald er die Neigung des Freundes zu mir bemerkte. Durch anhaltenden Fleiß, Tätigkeit und Treue machte er sich bald zum Mitgenossen des Gewerbes. Mein Gatte hatte heimlich den Gedanken, bei unserer Auswanderung diesen hier einzusetzen und ihm das Zurückgelassene anzuvertrauen. Bald nach dem Tod des Trefflichen näherte er sich mir, und vor einiger Zeit verhielt er nicht, dass er sich um meine Hand bewerbe. Nun tritt aber der doppelt wunderliche Umstand ein, dass er sich von jeher gegen das Auswandern erklärte und dagegen eifrig betreibt, wir sollen auch Maschinen anlegen. Seine Gründe freilich sind dringend, denn in unsern Gebirgen haust ein Mann, der, wenn er, unsere einfacheren Werkzeuge vernachlässigend, zusammengesetzte sich erbauen wollte, uns zugrunde richten könnte. Dieser in seinem Fach sehr geschickte Mann – wir nennen ihn den Geschirrfasser – ist einer wohlhabenden Familie in der Nachbarschaft anhänglich, und man darf wohl glauben, dass er im Sinn hat, von jenen steigenden Erfindungen für sich und seine Begünstigten nützlichen Gebrauch zu machen. Gegen die Gründe meines Gehilfen ist nichts einzuwenden; denn schon ist gewissermaßen zu viel Zeit versäumt, und gewinnen jene den Vorrang, so müssen wir, und zwar mit Unstatten, doch das gleiche tun. Dieses ist, was mich ängstigt und quält; das ist’s, was Sie mir, teuerster Mann, als einen Schutzengel erscheinen lässt.“

Ich hatte wenig Tröstliches hierauf zu erwidern; ich musste den Fall so verwickelt finden, dass ich mir Bedenkzeit ausbat. Sie aber fuhr fort: „Ich habe noch manches zu eröffnen, damit meine Lage Ihnen noch mehr wundersam erscheine. Der junge Mann, dem ich persönlich nicht abgeneigt bin, der mir aber keineswegs meinen Gatten ersetzen noch meine eigentliche Neigung erwerben würde“ – sie seufzte, indem sie dies sprach – „wird seit einiger Zeit entschieden dringender, seine Vorträge sind so liebevoll als verständig. Die Notwendigkeit, meine Hand ihm zu reichen, die Unklugheit, an eine Auswanderung zu denken und darüber das einzige wahre Mittel der Selbsterhaltung zu versäumen, sind nicht zu widerlegen, und es scheint ihm mein Widerstreben, meine Grille des Auswanderns so wenig mit meinem übrigen haushältischen Sinn überein zu stimmen, dass ich bei einem letzten, etwas heftigen Gespräch die Vermutung bemerken konnte, meine Neigung müsse wo anders gefesselt sein.“ – Sie brachte das letzte nur mit einigem Stocken hervor und blickte vor sich nieder.

Was mir bei diesen Worten durch die Seele fuhr, denke jeder, und doch, bei blitzschnell nachfahrender Überlegung, musst’ ich fühlen, dass jedes Wort die Verwirrung nur vermehren würde. Doch ward ich zugleich, so vor ihr stehend, mir deutlich bewusst, dass ich sie im höchsten Grad lieb gewonnen habe und nun alles, was in mir von vernünftiger, verständiger Kraft übrig war, aufzuwenden hatte, um ihr nicht sogleich meine Hand anzubieten. Mag sie doch, dachte ich, alles hinter sich lassen, wenn sie mir folgt! Doch die Leiden vergangener Jahre hielten mich zurück. Sollst du eine neue falsche Hoffnung hegen, um lebenslänglich daran zu büßen?

Wir hatten beide eine Zeitlang geschwiegen, als Lieschen, die ich nicht hatte herankommen sehen, überraschend vor uns trat und die Erlaubnis verlangte, auf dem nächsten Hammerwerk diesen Abend zuzubringen. Ohne Bedenken ward es gewährt. Ich hatte mich indessen zusammengenommen und fing an, im allgemeinen zu erzählen: Wie ich auf meinen Reisen das alles längst herankommen gesehen, wie Trieb und Notwendigkeit des Auswanderns jeden Tag sich vermehre; doch bleibe ein solches Abenteuer immer das Gefährlichste. Unvorbereitetes Wegeilen bringe unglückliche Wiederkehr; kein anderes Unternehmen bedürfe so viel Vorsicht und Leitung als ein solches. Diese Betrachtung war ihr nicht fremd, sie hatte viel über alle Verhältnisse gedacht; aber zuletzt sprach sie mit einem tiefen Seufzer: „Ich habe diese Tage Ihres Hierseins immer gehofft, durch vertrauliche Erzählung Trost zu gewinnen, aber ich fühle mich übler gestellt als vorher; ich fühle recht tief, wie unglücklich ich bin.“ Sie hob den Blick nach mir, aber die aus den schönen, guten Augen ausquellenden Tränen zu verbergen, wendete sie sich um und entfernte sich einige Schritte.

Ich will mich nicht entschuldigen, aber der Wunsch, diese herrliche Seele, wo nicht zu trösten, doch zu zerstreuen, gab mir den Gedanken ein, ihr von der wundersamen Vereinigung mehrerer Wandernden und Scheidenden zu sprechen, in die ich schon seit einiger Zeit getreten war. Unversehens hatte ich schon so weit mich herausgelassen, dass ich kaum hätte zurückhalten können, als ich gewahrte, wie unvorsichtig mein Vertrauen gewesen sein mochte. Sie beruhigte sich, staunte, erheiterte, entfaltete ihr ganzes Wesen und fragte mit solcher Neigung und Klugheit, dass ich ihr nicht mehr ausweichen konnte, dass ich ihr alles bekennen musste.

Gretchen trat vor uns und sagte, wir möchten zum Vater kommen. Das Mädchen schien sehr nachdenklich und verdrießlich. Zur Weggehenden sagte die Schöne-Gute: „Lieschen hat Urlaub für heut Abend, besorge du die Geschäfte.“ – „Ihr hättet ihn nicht geben sollen“, versetzte Gretchen, „sie stiftet nichts Gutes; Ihr seht dem Schalk mehr nach, als billig, vertraut ihr mehr, als recht ist. Eben jetzt erfahr’ ich, sie hat ihm gestern einen Brief geschrieben; Euer Gespräch hat sie behorcht, jetzt geht sie ihm entgegen.“

Ein Kind, das indessen beim Vater geblieben war, bat mich, zu eilen. Der gute Mann sei unruhig. Wir traten hinein; heiter, ja verklärt saß er aufrecht im Bett. „Kinder“, sagte er, „ich habe diese Stunden im anhaltenden Gebet vollbracht; keiner von allen Dank- und Lobgesängen Davids ist von mir unberührt geblieben, und ich füge hinzu, aus eignem Sinn mit gestärktem Glauben: Warum hofft der Mensch nur in die Nähe? Da muss er handeln und sich helfen; in die Ferne soll er hoffen und Gott vertrauen.“ –

Er fasste Lenardos Hand und so die Hand der Tochter, und beide ineinander legend, sprach er: „Das soll kein irdisches, es soll ein himmlisches Band sein; wie Bruder und Schwester liebt, vertraut, nützt und helft einander, so uneigennützig und rein, wie euch Gott helfe!“ Als er dies gesagt, sank er zurück mit himmlischem Lächeln und war heimgegangen. Die Tochter stürzte vor dem Bett nieder, Lenardo neben sie; ihre Wangen berührten sich, ihre Tränen vereinigten sich auf seiner Hand.

Der Gehilfe rennt in diesem Augenblick herein, erstarrt über der Szene. Mit wildem Blick, die schwarzen Locken schüttelnd, ruft der wohl gestaltete Jüngling: „Er ist tot! In dem Augenblick, da ich seine wiederhergestellte Sprache dringend anrufen wollte, mein Schicksal, das Schicksal seiner Tochter zu entscheiden, des Wesens, das ich nächst Gott am meisten liebe, dem ich ein gesundes Herz wünschte, ein Herz, das den Wert meiner Neigung fühlen könnte. Für mich ist sie verloren, sie kniet neben einem andern! Hat er euch eingesegnet? Gesteht’s nur!“

Das herrliche Wesen war indessen aufgestanden, Lenardo hatte sich erhoben und erholt; sie sprach: „Ich erkenn’ Euch nicht mehr, den sanften, frommen, auf einmal so verwilderten Mann; wisst Ihr doch, wie ich Euch danke, wie ich von Euch denke.“

„Von Danken und Denken ist hier die Rede nicht“, versetzte jener gefasst, „hier handelt sich’s vom Glück oder Unglück meines Lebens. Dieser fremde Mann macht mich besorgt; wie ich ihn ansehe, getrau’ ich mich nicht, ihn aufzuwiegen; frühere Rechte zu verdrängen, frühere Verbindungen zu lösen, vermag ich nicht.“

„Sobald du wieder in dich selbst zurücktreten kannst“, sagte die Gute, schöner als je, „wenn mit dir zu sprechen ist wie sonst und immer, so will ich dir sagen, dir beteuern bei den irdischen Resten meines verklärten Vaters, dass ich zu diesem Herrn und Freund kein ander Verständnis habe, als das du kennen, billigen und teilen kannst und dessen du dich erfreuen musst.“

Lenardo schauderte bis tief ins Innerste; alle drei standen still, stumm und nachdenkend eine Weile; der Jüngling nahm zuerst das Wort und sagte: „Der Augenblick ist von zu großer Bedeutung, als dass er nicht entscheidend sein sollte. Es ist nicht aus dem Stegreif, was ich spreche, ich habe Zeit gehabt, zu denken; also vernehmt: Die Ursache, deine Hand mir zu verweigern, war meine Weigerung, dir zu folgen, wenn du aus Not oder Grille wandern würdest. Hier also erklär’ ich feierlich vor diesem gültigen Zeugen, dass ich deinem Auswandern kein Hindernis in den Weg legen, vielmehr es befördern und dir überallhin folgen will. Gegen diese mir nicht abgenötigte, sondern nur durch die seltsamsten Umstände beschleunigte Erklärung verlang’ ich aber im Augenblick deine Hand.“ Er reichte sie hin, stand fest und sicher da; die beiden andern wichen überrascht, unwillkürlich zurück.

„Es ist ausgesprochen“, sagte der Jüngling, ruhig mit einer gewissen frommen Hoheit. „Das sollte geschehen, es ist zu unser aller Bestem, Gott hat es gewollt; aber damit du nicht denkst, es sei Übereilung und Grille, so wisse nur, ich hatte dir zulieb auf Berg und Felsen Verzicht getan und eben jetzt in der Stadt alles eingeleitet, um nach deinem Willen zu leben. Nun aber geh’ ich allein, du wirst mir die Mittel dazu nicht versagen; du behältst noch immer genug übrig, um es hier zu verlieren, wie du fürchtest und wie du recht hast, zu fürchten. Denn ich habe mich endlich auch überzeugt: Der künstliche, werktätige Schelm hat sich ins obere Tal gewendet, dort legt er Maschinen an; du wirst ihn alle Nahrung an sich ziehen sehen; vielleicht rufst du, und nur allzu bald, einen treuen Freund zurück, den du vertreibst.“

Peinlicher haben nicht leicht drei Menschen sich gegenüber gestanden, alle zusammen in Furcht, sich einander zu verlieren, und im Augenblick nicht wissend, wie sie sich wechselseitig erhalten sollten.

Leidenschaftlich entschlossen stürzte der Jüngling zur Türe hinaus. Auf ihres Vaters erkältete Brust hatte die Schöne-Gute ihre Hand gelegt: „In die Nähe soll man nicht hoffen“, rief sie aus, „aber in die Ferne, das war sein letzter Segen. Vertrauen wir Gott, jeder sich selbst und dem andern, so wird sich’s wohl fügen.“

 
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Kapitel 14

Unser Freund las mit großem Anteil das Vorgelegte, musste aber zugleich gestehen, er habe schon beim Schluss des vorigen Heftes geahnt, ja vermutet, das gute Wesen sei entdeckt worden. Die Beschreibung der schroffen Gebirgsgegend habe ihn zuerst in jene Zustände versetzt, besonders aber sei er durch die Ahnung Lenardos in jener Mondnacht, so auch durch die Wiederholung der Worte seines Briefes auf die Spur geleitet worden. Friedrich, dem er das alles umständlich vortrug, ließ sich es auch ganz wohl gefallen.

Hier aber wird die Pflicht des Mitteilens, Darstellens, Ausführens und Zusammenziehens immer schwieriger. Wer fühlt nicht, dass wir uns diesmal dem Ende nähern, wo die Furcht, in Umständlichkeiten zu verweilen, mit dem Wunsch, nichts völlig unerörtert zu lassen, uns in Zwiespalt versetzt. Durch die eben angekommene Depesche wurden wir zwar von manchem unterrichtet; die Briefe jedoch und die vielfachen Beilagen enthielten verschiedene Dinge, gerade nicht von allgemeinem Interesse. Wir sind also gesonnen, dasjenige, was wir damals gewusst und erfahren, ferner auch das, was später zu unserer Kenntnis kam, zusammenzufassen und in diesem Sinn das übernommene ernste Geschäft eines treuen Referenten getrost abzuschließen.

Vor allen Dingen haben wir daher zu berichten, dass Lothario mit Theresen, seiner Gemahlin, und Natalie, die ihren Bruder nicht von sich lassen wollte, in Begleitung des Abbés schon wirklich zur See gegangen sind. Unter günstigen Vorbedeutungen reisten sie ab, und hoffentlich bläht ein fördernder Wind ihre Segel. Die einzige unangenehme Empfindung, eine wahre sittliche Trauer, nehmen sie mit: Dass sie Makarie vorher nicht ihren Besuch abstatten konnten. Der Umweg war zu groß, das Unternehmen zu bedeutend; schon warf man sich einige Zögerung vor und musste selbst eine heilige Pflicht der Notwendigkeit aufopfern.

Wir aber, von unserer erzählenden und darstellenden Seite, sollten diese teuren Personen, die uns früher so viel Neigung abgewonnen, nicht in so weite Entfernung ziehen lassen, ohne von ihrem bisherigen Vornehmen und Tun nähere Nachricht erteilt zu haben, besonders da wir so lange nichts Ausführliches von ihnen vernommen. Gleichwohl unterlassen wir dieses, weil ihr bisheriges Geschäft sich nur vorbereitend auf das große Unternehmen bezog, auf welches wir sie lossteuern sehen. Wir leben jedoch in der Hoffnung, sie dereinst in voller geregelter Tätigkeit, den wahren Wert ihrer verschiedenen Charaktere offenbarend, vergnüglich wieder zu finden.

Juliette, die sinnige Gute, deren wir uns wohl noch erinnern, hatte geheiratet, einen Mann nach dem Herzen des Oheims, durchaus in seinem Sinn mit- und fortwirkend. Juliette war in der letzten Zeit viel um die Tante, wo manche derjenigen zusammentrafen, auf die sie wohltätigen Einfluss gehabt; nicht nur solche, die dem festen Land gewidmet bleiben, auch solche, die über See zu gehen gedenken. Lenardo hingegen hatte schon früher mit Friedrich Abschied genommen; die Mitteilung durch Boten war unter diesen desto lebhafter.

Vermisste man also in dem Verzeichnis der Gäste jene edlen Obengenannten, so waren doch manche bedeutende, uns schon näher bekannte Personen darauf zu finden. Hilarie kam mit ihrem Gatten, der nun als Hauptmann und entschieden reicher Gutsbesitzer auftrat. Sie in ihrer großen Anmut und Liebenswürdigkeit gewann sich hier wie überall gar gern Verzeihung einer allzu großen Leichtigkeit, von Interesse zu Interesse übergehend zu wechseln, deren wir sie im Lauf der Erzählung schuldig gefunden. Besonders die Männer rechneten es ihr nicht hoch an. Einen dergleichen Fehler, wenn es einer ist, finden sie nicht anstößig, weil ein jeder wünschen und hoffen mag, auch an die Reihe zu kommen.

Flavio, ihr Gemahl, rüstig, munter und liebenswürdig genug, schien vollkommen ihre Neigung zu fesseln; sie mochte sich das Vergangene selbst verziehen haben; auch fand Makarie keinen Anlass, dessen zu erwähnen. Er, der immer leidenschaftliche Dichter, bat sich aus, beim Abschied ein Gedicht vorlesen zu dürfen, welches er zu Ehren ihrer und ihrer Umgebung in den wenigen Tagen seines Hierseins verfasste. Man sah ihn oft im Freien auf und ab gehen, nach einigem Stillstand mit bewegter Gebärde wieder vorwärts schreitend in die Schreibtafel schreiben, sinnen und wieder schreiben. Nun aber schien er es für vollendet zu halten, als er durch Angela jenen Wunsch zu erkennen gab.

Die gute Dame, obgleich ungern, verstand sich hierzu, und es ließ sich allenfalls anhören, ob man gleich dadurch weiter nichts erfuhr, als was man schon wusste, nichts fühlte, als was man schon gefühlt hatte. Indessen war denn doch der Vortrag leicht und gefällig, Wendung und Reim mitunter neu, wenn man es auch hätte im Ganzen etwas kürzer wünschen mögen. Zuletzt übergab er dasselbe, auf gerändertes Papier sehr schön geschrieben, und man schied mit vollkommener wechselseitiger Zufriedenheit.

Dieses Paar war von einer bedeutenden, wohl genutzten Reise nach dem Süden zurückgekommen, um den Vater, den Major, vom Haus abzulösen, der mit jener Unwiderstehlichen, die nun seine Gemahlin geworden, auch etwas von der paradiesischen Luft zu einiger Erquickung einatmen wollte.

Diese beiden kamen denn auch, im Wechsel, und so wie überall hatte bei Makarie die Merkwürdige auch vorzügliche Gunst, welche sich besonders darin erwies, dass die Dame in den innern Zimmern und allein empfangen wurde, welche Geneigtheit auch nachher dem Major zuteil ward. Dieser empfahl sich darauf sogleich als gebildeter Militär, guter Haus- und Landwirt, Literaturfreund, sogar als Lehrdichter beifallswürdig und fand bei dem Astronomen und sonstigen Hausgenossen guten Eingang.

Auch von unserm alten Herrn, dem würdigen Oheim, ward er besonders ausgezeichnet, welcher, in mäßiger Ferne wohnend, diesmal mehr, als er sonst pflegte, obgleich nur für Stunden, herüberkam, aber keine Nacht, auch bei angebotener größten Bequemlichkeit, zu bleiben bewogen werden konnte.

Bei solchen kurzen Zusammenkünften war seine Gegenwart jedoch höchst erfreulich, weil er sodann, als Welt- und Hofmann, nachgiebig und vermittelnd auftreten wollte; wobei denn sogar ein Zug von aristokratischer Pedanterie nicht unangenehm empfunden wurde. Überdem ging diesmal sein Behagen von Grund aus; er war glücklich, wie wir uns alle fühlen, wenn wir mit verständig-vernünftigen Leuten Wichtiges zu verhandeln haben. Das umfassende Geschäft war völlig im Gang, es bewegte sich stetig nach gepflogener Verabredung.

Hievon nur die Hauptmomente. Er ist drüben über dem Meer, von seinen Vorfahren her, Eigentümer. Was das heißen wolle, möge der Kenner dortiger Angelegenheiten, da es uns hier zu weit führen müsste, seinen Freunden näher erklären. Diese wichtigen Besitzungen waren bisher verpachtet und trugen, bei mancherlei Unannehmlichkeiten, wenig ein. Die Gesellschaft, die wir genugsam kennen, ist nun berechtigt, dort Besitz zu nehmen, mitten in der vollkommensten bürgerlichen Einrichtung, von da sie als einflussreiches Staatsglied ihren Vorteil ersehen und sich in die noch unangebaute Wüste fern verbreiten kann. Hier nun will sich Friedrich mit Lenardo besonders hervortun, um zu zeigen, wie man eigentlich von vorn beginnen und einen Naturweg einschlagen könne.

Kaum hatten sich die Genannten von ihrem Aufenthalt höchst zufrieden entfernt, so waren dagegen Gäste ganz anderer Art angemeldet und doch auch willkommen. Wir erwarteten wohl kaum, Philine und Lydie an so heiliger Stätte auftreten zu sehen, und doch kamen sie an. Der zunächst in den Gebirgen noch immer weilende Montan sollte sie hier abholen und auf dem nächsten Weg zur See bringen. Beide wurden von Haushälterinnen, Schaffnerinnen, sonst angestellten und mitwohnenden Frauen sehr gut aufgenommen; Philine brachte ein paar allerliebste Kinder mit und zeichnete sich, bei einer einfachen, sehr reizenden Kleidung, aus durch das Sonderbare, dass sie von blumig gesticktem Gürtel herab an langer silberner Kette eine mäßig große englische Schere trug, mit der sie manchmal, gleichsam als wollte sie ihrem Gespräch einigen Nachdruck geben, in die Luft schnitt und schnippte und durch einen solchen Akt die sämtlichen Anwesenden erheiterte; worauf denn bald die Frage folgte, ob es denn in einer so großen Familie nichts zuzuschneiden gebe; und da fand sich denn, dass, erwünscht für eine solche Tätigkeit, ein paar Bräute sollten ausgestattet werden. Sie sieht hierauf die Landestracht an, lässt die Mädchen vor sich auf und ab gehen und schneidet immer zu, wobei sie aber, mit Geist und Geschmack verfahrend, ohne dem Charakter einer solchen Tracht etwas zu benehmen, das eigentlich stockende Barbarische derselben mit einer Anmut zu vermitteln weiß, so gelind, dass die Bekleideten sich und andern besser gefallen und die Bangigkeit überwinden, man möge von dem Herkömmlichen doch abgewichen sein.

Hier kam nun Lydie, die mit gleicher Fertigkeit, Zierlichkeit und Schnelle zu nähen verstand, vollkommen zu Hilfe, und man durfte hoffen, mit dem übrigen weiblichen Beistand die Bräute schneller, als man gedacht hatte, herausgeputzt zu sehen. Dabei durften sich diese Mädchen nicht lange entfernen, Philine beschäftigte sich mit ihnen bis aufs kleinste und behandelte sie wie Puppen oder Theaterstatisten. Gehäufte Bänder und sonstiger in der Nachbarschaft üblicher Festschmuck wurde schicklich verteilt, und so erreichte man zuletzt, dass diese tüchtigen Körper und hübschen Figuren, sonst durch barbarische Pedanterei zugedeckt, nunmehr zu einiger Evidenz gelangten, wobei alle Derbheit doch immer zu einiger Anmut herausgestutzt erschien.

Allzu tätige Personen werden aber doch in einem gleichmäßig geregelten Zustand lästig. Philine war mit ihrer gefräßigen Schere in die Zimmer geraten, wo die Vorräte zu Kleidern für die große Familie, in Stoffen aller Art, zur Hand lagen. Da fand sie nun in der Aussicht, das alles zu zerschneiden, die größte Glückseligkeit; man musste sie wirklich daraus entfernen und die Türen fest verschließen, denn sie kannte weder Maß noch Ziel. Angela wollte wirklich deshalb nicht als Braut behandelt sein, weil sie sich vor einer solchen Zuschneiderin fürchtete; überhaupt ließ sich das Verhältnis zwischen beiden keineswegs glücklich einleiten. Doch hiervon kann erst später die Rede sein.

Montan, länger als man gedacht hatte, zauderte zu kommen, und Philine drang darauf, Makarie vorgestellt zu werden. Es geschah, weil man sie alsdann um desto eher loszuwerden hoffte, und es war merkwürdig genug, die beiden Sünderinnen zu den Füßen der Heiligen zu sehen. Zu beiden Seiten lagen sie ihr an den Knien, Philine zwischen ihren zwei Kindern, die sie lebhaft anmutig niederdrückte; mit gewohnter Heiterkeit sprach sie: „Ich liebe meinen Mann, meine Kinder, beschäftige mich gern für sie, auch für andere; das übrige verzeihst du!“ Makarie begrüßte sie segnend; sie entfernte sich mit anständiger Beugung.

Lydie lag von der linken Seite her der Heiligen mit dem Gesicht auf dem Schoß, weinte bitterlich und konnte kein Wort sprechen; Makarie, ihre Tränen auffassend, klopfte ihr auf die Schulter als beschwichtigend; dann küsste sie ihr Haupt zwischen den gescheitelten Haaren, wie es vor ihr lag, brünstig und wiederholt in frommer Absicht.

Lydie richtete sich auf, erst auf ihre Knie, dann auf die Füße, und schaute zu ihrer Wohltäterin mit reiner Heiterkeit. „Wie geschieht mir!“, sagte sie, „wie ist mir! Der schwere, lästige Druck, der mir, wo nicht alle Besinnung, doch alles Überlegen raubte, er ist auf einmal von meinem Haupt weg gehoben; ich kann nun frei in die Höhe sehen, meine Gedanken in die Höhe richten, und“, setzte sie nach tiefem Atemholen hinzu, „ich glaube, mein Herz will nach.“

In diesem Augenblick eröffnete sich die Tür, und Montan trat herein, wie öfters der allzu lang Erwartete plötzlich und unverhofft erscheint. Lydie schritt munter auf ihn zu, umarmte ihn freudig, und indem sie ihn vor Makarie führte, rief sie aus: „Er soll erfahren, was er dieser Göttlichen schuldig ist, und sich mit mir dankend niederwerfen.“

Montan, betroffen und, gegen seine Gewohnheit gewissermaßen verlegen, sagte mit edler Verbeugung gegen die würdige Dame: „Es scheint sehr viel zu sein, denn ich werde dich ihr schuldig. Es ist das erste Mal, dass du mir offen und liebevoll entgegenkommst, das erste Mal, dass du mich ans Herz drückst, ob ich es gleich längst verdiente.“

Hier nun müssen wir vertraulich eröffnen, dass Montan Lydie von ihrer frühen Jugend an geliebt, dass der einnehmendere Lothario sie ihm entführt, er aber ihr und dem Freund treu geblieben und sie sich endlich, vielleicht zu nicht geringer Verwunderung unserer früheren Leser, als Gattin zugeeignet habe.

Diese drei zusammen, welche sich in der europäischen Gesellschaft doch nicht ganz behaglich fühlen mochten, mäßigten kaum den Ausdruck ihrer Freude, wenn von den dort erwarteten Zuständen die Rede war. Die Schere Philines zuckte schon; denn man gedachte sich das Monopol vorzubehalten, diese neuen Kolonien mit Kleidungsstücken zu versorgen. Philine beschrieb den großen Tuch- und Leinwandvorrat sehr artig und schnitt in die Luft, die Ernte für Sichel und Sense, wie sie sagte, schon vor sich sehend.

Lydie dagegen, erst durch jene glücklichen Segnungen zu teilnehmender Liebe wieder auferwacht, sah im Geist schon ihre Schülerinnen sich ins Hundertfache vermehren und ein ganzes Volk von Hausfrauen zu Genauigkeit und Zierlichkeit eingeleitet und aufgeregt. Auch der ernste Montan hat die dortige Bergfülle an Blei, Kupfer, Eisen und Steinkohlen dergestalt vor Augen, dass er all sein Wissen und Können manchmal nur für ängstlich tastendes Versuchen erklären möchte, um erst dort in eine reiche, belohnende Ernte mutig einzugreifen.

Dass Montan sich mit unserm Astronomen bald verstehen würde, war vorauszusehen. Die Gespräche, die sie in Gegenwart Makaries führten, waren höchst anziehend; wir finden aber nur weniges davon niedergeschrieben, indem Angela seit einiger Zeit beim Zuhören minder aufmerksam und beim Aufzeichnen nachlässiger geworden war. Auch mochte ihr manches zu allgemein und für ein Frauenzimmer nicht fasslich genug vorkommen. Wir schalten daher nur einige der in jene Tage gehörigen Äußerungen hier vorübergehend ein, die nicht einmal von ihrer Hand geschrieben uns zugekommen sind.

Bei dem Studieren der Wissenschaften, besonders derer, welche die Natur behandeln, ist die Untersuchung so nötig als schwer: Ob das, was uns von alters her überliefert und von unsern Vorfahren für gültig geachtet worden, auch wirklich gegründet und zuverlässig sei, in dem Grad, dass man darauf fernerhin sicher fortbauen möge, oder ob ein herkömmliches Bekenntnis nur stationär geworden und deshalb mehr einen Stillstand als einen Fortschritt veranlasse. Ein Kennzeichen fördert diese Untersuchung, wenn nämlich das Angenommene lebendig und in das tätige Bestreben einwirkend und fördernd gewesen und geblieben.

Im Gegensatz steht die Prüfung des Neuen, wo man zu fragen hat, ob das Angenommene wirklicher Gewinn oder nur modische Übereinstimmung sei; denn eine Meinung, von energischen Männern ausgehend, verbreitet sich kontagios über die Menge, und dann heißt sie herrschend – eine Anmaßung, die für den treuen Forscher gar keinen Sinn ausspricht. Staat und Kirche mögen allenfalls Ursache finden, sich für herrschend zu erklären, denn die haben es mit der widerspenstigen Masse zu tun, und wenn nur Ordnung gehalten wird, so ist es ganz einerlei, durch welche Mittel; aber in den Wissenschaften ist die absoluteste Freiheit nötig, denn da wirkt man nicht für heut und morgen, sondern für eine undenklich vorschreitende Zeitenreihe.

Gewinnt aber auch in der Wissenschaft das Falsche die Oberhand, so wird doch immer eine Minorität für das Wahre übrig bleiben; und wenn sie sich in einen einzigen Geist zurückzöge, so hätte das nichts zu sagen. Er wird im Stillen, im Verborgenen fortwaltend wirken, und eine Zeit wird kommen, wo man nach ihm und seinen Überzeugungen fragt, oder wo diese sich, bei verbreitetem allgemeinem Licht auch wieder hervorwagen dürfen.

Was jedoch weniger allgemein, obgleich unbegreiflich und wunderseltsam, zur Sprache kam, war die gelegentliche Eröffnung Montans, dass ihm bei seinen gebirgischen und bergmännischen Untersuchungen eine Person zur Seite gehe, welche ganz wundersame Eigenschaften und einen ganz eigenen Bezug auf alles habe, was man Gestein, Mineral, ja sogar was man überhaupt Element nennen könne. Sie fühle nicht bloß eine gewisse Einwirkung der unterirdisch fließenden Wasser, metallischer Lager und Gänge, sowie der Steinkohlen und was dergleichen in Massen beisammen sein möchte, sondern, was wunderbarer sei, sie befinde sich anders und wieder anders, sobald sie nur den Boden wechsele. Die verschiedenen Gebirgsarten übten auf sie einen besondern Einfluss, worüber er sich mit ihr, seitdem er eine zwar wunderliche, aber doch auslangende Sprache einzuleiten gewusst, recht gut verständigen und sie im Einzelnen prüfen könne, da sie denn auf eine merkwürdige Weise die Probe bestehe, indem sie sowohl chemische als physische Elemente durchs Gefühl gar wohl zu unterscheiden wisse, ja sogar schon durch den Anblick das Schwerere von dem Leichtern unterscheide. Diese Person, über deren Geschlecht er sich nicht näher erklären wollte, habe er mit den abreisenden Freunden vorausgeschickt und hoffe zu seinen Zwecken in den ununtersuchten Gegenden sehr viel von ihr.

Dieses Vertrauen Montans eröffnete das strenge Herz des Astronomen, welcher sodann mit Makaries Vergünstigung auch ihm das Verhältnis derselben zum Weltsystem offenbarte. Durch nachherige Mitteilungen des Astronomen sind wir in dem Fall, wo nicht Genugsames, doch das Hauptsächliche ihrer Unterhaltung über so wichtige Punkte mitzuteilen.

Bewundern wir indessen die Ähnlichkeit der hier eintretenden Fälle bei der größten Verschiedenheit. Der eine Freund, um nicht ein Timon zu werden, hatte sich in die tiefsten Klüfte der Erde versenkt, und auch dort ward er gewahr, dass in der Menschennatur etwas Analoges zum Starrsten und Rohsten vorhanden sei; dem andern gab von der Gegenseite der Geist Makaries ein Beispiel, dass, wie dort das Verbleiben, hier das Entfernen wohl begabten Naturen eigen sei, dass man weder nötig habe, bis zum Mittelpunkt der Erde zu dringen, noch sich über die Grenzen unsres Sonnensystems hinaus zu entfernen, sondern schon genüglich beschäftigt und vorzüglich auf Tat aufmerksam gemacht und zu ihr berufen werde. An und in dem Boden findet man für die höchsten irdischen Bedürfnisse das Material, eine Welt des Stoffes, den höchsten Fähigkeiten des Menschen zur Bearbeitung übergeben; aber auf jenem geistigen Weg werden immer Teilnahme, Liebe, geregelte freie Wirksamkeit gefunden. Diese beiden Welten gegeneinander zu bewegen, ihre beiderseitigen Eigenschaften in der vorübergehenden Lebenserscheinung zu manifestieren, das ist die höchste Gestalt, wozu sich der Mensch auszubilden hat.

Hierauf schlossen beide Freunde einen Bund und nahmen sich vor, ihre Erfahrungen allenfalls auch nicht zu verheimlichen, weil derjenige, der sie als einem Roman wohl ziemende Märchen belächeln könnte, sie doch immer als ein Gleichnis des Wünschenswertesten betrachten dürfte.

Der Abschied Montans und seiner Frauenzimmer folgte bald hierauf, und wenn man ihn mit Lydie wohl noch gern gehalten hätte, so war doch die allzu unruhige Philine mehreren an Ruhe und Sitte gewohnten Frauenzimmern, besonders aber der edlen Angela beschwerlich, wozu sich noch besondere Umstände hinzufügten, welche die Unbehaglichkeit vermehrten.

Schon oben hatten wir zu bemerken, dass Angela nicht wie sonst die Pflicht des Aufmerkens und Aufzeichnens erfüllte, sondern anderwärts beschäftigt schien. Um diese Anomalie an einer der Ordnung dergestalt ergebenen und in den reinsten Kreisen sich bewegenden Person zu erklären, sind wir genötigt, einen neuen Mitspieler in dieses viel umfassende Drama noch zuletzt einzufahren.

Unser alter, geprüfter Handelsfreund Werner musste sich bei zunehmenden, ja gleichsam ins Unendliche sich vermehrenden Geschäften nach frischen Gehilfen umsehen, welche er nicht ohne vorläufige besondere Prüfung näher an sich anschloss. Einen solchen sendet er nun an Makarie, um wegen Auszahlung der bedeutenden Summen zu unterhandeln, welche diese Dame aus ihrem großen Vermögen dem neuen Unternehmen, besonders in Rücksicht auf Lenardo, ihren Liebling, zuzuwenden beschloss und erklärte. Gedachter junger Mann, nunmehr Werners Gehilfe und Geselle, ein frischer, natürlicher Jüngling und eine Wundererscheinung, empfiehlt sich durch ein eignes Talent, durch eine grenzenlose Fertigkeit im Kopfrechnen, wie überall, so besonders bei den Unternehmern, wie sie jetzt zusammenwirken, da sie sich durchaus mit Zahlen im mannigfaltigsten Sinn einer Gesellschaftsrechnung beschäftigen und ausgleichen müssen. Sogar in der täglichen Sozietät, wo beim Hin- und Widerreden über weltliche Dinge von Zahlen, Summen und Ausgleichungen die Rede ist, muss ein solcher höchst willkommen mit einwirken. Überdem spielte er den Flügel höchst anmutig, wo ihm der Kalkül und ein liebenswürdiges Naturell verbunden und vereint äußerst wünschenswert zu Hilfe kommt. Die Töne fließen ihm leicht und harmonisch zusammen, manchmal aber deutet er an, dass er auch wohl in tiefern Regionen zu Hause wäre, und so wird er höchst anziehend, wenn er gleich wenig Worte macht und kaum irgend etwas Gefühltes aus seinen Gesprächen durchblickt. Auf alle Fälle ist er jünger als seine Jahre, man möchte beinahe etwas Kindliches an ihm finden. Wie es übrigens auch mit ihm sei, er hat Angelas Gunst gewonnen, sie die seinige, zu Makaries größter Zufriedenheit; denn sie hatte längst gewünscht, das edle Mädchen verheiratet zu sehen.

Diese jedoch, immer bedenkend und fühlend, wie schwer ihre Stelle zu besetzen sein werde, hatte wohl schon irgendein liebevolles Anerbieten abgelehnt, vielleicht sogar einer stillen Neigung Gewalt angetan; seitdem aber eine Nachfolgerin denkbar, ja gewissermaßen schon bestimmt worden, scheint sie, von einem wohlgefälligen Eindruck überrascht, ihm bis zur Leidenschaft nachgegeben zu haben.

Wir aber kommen nunmehr in den Fall, das Wichtigste zu eröffnen, indem ja alles, worüber seit so mancher Zeit die Rede gewesen, sich nach und nach gebildet, aufgelöst und wieder gestaltet hatte.

Entschieden ist also auch nunmehr, dass die Schöne-Gute, sonst das nussbraune Mädchen genannt, sich Makarie zur Seite füge. Der im Allgemeinen vorgelegte, auch von Lenardo schon gebilligte Plan ist seiner Ausführung ganz nah; alle Teilnehmenden sind einig; die Schöne-Gute übergibt dem Gehilfen ihr ganzes Besitztum. Er heiratet die zweite Tochter jener arbeitsamen Familie und wird Schwager des Schirrfassers. Hierdurch wird die vollkommene Einrichtung einer neuen Fabrikation durch Lokal und Zusammenwirkung möglich, und die Bewohner des arbeitslustigen Tales werden auf eine andere, lebhaftere Weise beschäftigt.

Dadurch wird die Liebenswürdige frei, sie tritt bei Makarie an die Stelle von Angela, welche mit jenem jungen Mann schon verlobt ist. Hiermit wäre alles für den Augenblick berichtet; was nicht entschieden werden kann, bleibt im Schweben.

Nun aber verlangt die Schöne-Gute, dass Wilhelm sie abhole; gewisse Umstände sind noch zu berichtigen, und sie legt bloß einen großen Wert darauf, dass er das, was er doch eigentlich angefangen, auch vollende. Er entdeckte sie zuerst, und ein wundersam Geschick trieb Lenardo auf seine Spur; und nun soll er, so wünscht sie, ihr den Abschied von dort erleichtern und so die Freude, die Beruhigung empfinden, einen Teil der verschränkten Schicksalsfäden selbst wieder aufgefasst und angeknüpft zu haben.

Nun aber müssen wir, um das Geistliche, das Gemütliche zu einer Art von Vollständigkeit zu bringen, auch ein Geheimeres offenbaren, und zwar folgendes: Lenardo hatte über eine nähere Verbindung mit der Schönen-Guten niemals das mindeste geäußert; im Laufe der Unterhandlungen aber, bei dem vielen Hin- und Widersenden war denn doch auf eine zarte Weise an ihr geforscht worden, wie sie dies Verhältnis ansehe und was sie, wenn es zur Sprache käme, allenfalls zu tun geneigt wäre. Aus ihrem Erwidern konnte man sich so viel zusammensetzen: Sie fühle sich nicht wert, einer solchen Neigung wie der ihres edlen Freundes durch Hingebung ihres geteilten Selbst zu antworten. Ein Wohlwollen der Art verdiene die ganze Seele, das ganze Vermögen eines weiblichen Wesens; dies aber könne sie nicht anbieten. Das Andenken ihres Bräutigams, ihres Gatten und der wechselseitigen Einigung beider sei noch so lebhaft in ihr, nehme noch ihr ganzes Wesen dergestalt völlig ein, dass für Liebe und Leidenschaft kein Raum gedenkbar, auch ihr nur das reinste Wohlwollen und in diesem Falle die vollkommenste Dankbarkeit übrig bleibe. Man beruhigte sich hierbei, und da Lenardo die Angelegenheit nicht berührt hatte, war es auch nicht nötig, hierüber Auskunft und Antwort zu geben.

Einige allgemeine Betrachtungen werden hoffentlich hier am rechten Orte stehen. Das Verhältnis sämtlicher vorübergehenden Personen zu Makarie war vertraulich und ehrfurchtsvoll, alle fühlten die Gegenwart eines höheren Wesens, und doch blieb in solcher Gegenwart einem jeden die Freiheit, ganz in seiner eigenen Natur zu erscheinen. Jeder zeigt sich, wie er ist, mehr als je vor Eltern und Freunden, mit einer gewissen Zuversicht; denn er war gelockt und veranlasst, nur das Gute, das Beste, was an ihm war, an den Tag zu geben, daher beinah eine allgemeine Zufriedenheit entstand.

Verschweigen aber können wir nicht, dass durch diese gewissermaßen zerstreuenden Zustände Makarie mit der Lage Lenardos beschäftigt blieb; sie äußerte sich auch darüber gegen ihre Nächsten, gegen Angela und den Astronomen. Lenardos Inneres glaubten sie deutlich vor sich zu sehen: Er ist für den Augenblick beruhigt, der Gegenstand seiner Sorge wird höchst glücklich gesichert; Makarie hatte für die Zukunft auf jeden Fall gesorgt. Nun hatte er das große Geschäft mutig anzutreten und zu beginnen, das übrige dem Folgegang und Schicksal zu überlassen. Dabei konnte man vermuten, dass er in jenen Unternehmungen hauptsächlich gestärkt sei durch den Gedanken, sie dereinst, wenn er Fuß gefasst, hinüber zu berufen, wo nicht gar selbst abzuholen.

Allgemeiner Bemerkungen konnte man hierbei sich nicht enthalten. Man beachtete näher den seltenen Fall, der sich hier hervortat: Leidenschaft aus Gewissen. Man gedachte zugleich anderer Beispiele einer wundersamen Umbildung einmal gefasster Eindrücke, der geheimnisvollen Entwickelung angeborner Neigung und Sehnsucht. Man bedauerte, dass in solchen Fällen wenig zu raten sei, würde es aber höchst rätlich finden, sich möglichst klar zu halten und diesem oder jenem Hang nicht unbedingt nachzugeben.

Zu diesem Punkt aber gelangt, können wir der Versuchung nicht widerstehen, ein Blatt aus unsern Archiven mitzuteilen, welches Makarie betrifft und die besondere Eigenschaft, die ihrem Geist erteilt ward. Leider ist dieser Aufsatz erst lange Zeit, nachdem der Inhalt mitgeteilt worden, aus dem Gedächtnis geschrieben und nicht, wie es in einem so merkwürdigen Fall wünschenswert wäre, für ganz authentisch anzusehen. Dem sei aber, wie ihm wolle, so wird hier schon so viel mitgeteilt, um Nachdenken zu erregen und Aufmerksamkeit zu empfehlen, ob nicht irgendwo schon etwas Ähnliches oder sich Annäherndes bemerkt und verzeichnet worden.

 
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Kapitel 15

Makarie befindet sich zu unserm Sonnensystem in einem Verhältnis, welches man auszusprechen kaum wagen darf. Im Geist, der Seele, der Einbildungskraft hegt sie, schaut sie es nicht nur, sondern sie macht gleichsam einen Teil desselben; sie sieht sich in jenen himmlischen Kreisen mit fortgezogen, aber auf eine ganz eigene Art; sie wandelt seit ihrer Kindheit um die Sonne, und zwar, wie nun entdeckt ist, in einer Spirale, sich immer mehr vom Mittelpunkt entfernend und nach den äußeren Regionen hinkreisend.

Wenn man annehmen darf, dass die Wesen, insofern sie körperlich sind, nach dem Zentrum, insofern sie geistig sind, nach der Peripherie streben, so gehört unsere Freundin zu den geistigsten; sie scheint nur geboren, um sich von dem Irdischen zu entbinden, um die nächsten und fernsten Räume des Daseins zu durchdringen. Diese Eigenschaft, so herrlich sie ist, ward ihr doch seit den frühsten Jahren als eine schwere Aufgabe verliehen. Sie erinnert sich von klein auf ihr inneres Selbst als von leuchtendem Wesen durchdrungen, von einem Licht erhellt, welchem sogar das hellste Sonnenlicht nichts anhaben konnte. Oft sah sie zwei Sonnen, eine innere nämlich und eine außen am Himmel, zwei Monde, wovon der äußere in seiner Größe bei allen Phasen sich gleich blieb, der innere sich immer mehr und mehr verminderte.

Diese Gabe zog ihren Anteil ab von gewöhnlichen Dingen, aber ihre trefflichen Eltern wendeten alles auf ihre Bildung; alle Fähigkeiten wurden an ihr lebendig, alle Tätigkeiten wirksam, dergestalt dass sie allen äußeren Verhältnissen zu genügen wusste und, indem ihr Herz, ihr Geist ganz von überirdischen Gesichten erfüllt war, doch ihr Tun und Handeln immerfort dem edelsten Sittlichen gemäß blieb. Wie sie heranwuchs, überall hilfreich, unaufhaltsam in großen und kleinen Diensten, wandelte sie wie ein Engel Gottes auf Erden, indem ihr geistiges Ganze sich zwar um die Weltsonne, aber nach dem Überweltlichen in stetig zunehmenden Kreisen bewegte.

Die Überfülle dieses Zustandes ward einigermaßen dadurch gemildert, dass es auch in ihr zu tagen und zu nachten schien, da sie denn, bei gedämpftem innerem Licht, äußere Pflichten auf das treuste zu erfüllen strebte, bei frisch aufleuchtendem Innerem sich der seligsten Ruhe hingab. Ja sie will bemerkt haben, dass eine Art von Wolken sie von Zeit zu Zeit umschwebten und ihr den Anblick der himmlischen Genossen auf eine Zeitlang umdämmerten, eine Epoche, die sie stets zu Wohl und Freude ihrer Umgebungen zu benutzen wusste.

Solange sie die Anschauungen geheim hielt, gehörte viel dazu, sie zu ertragen; was sie davon offenbarte, wurde nicht anerkannt oder missdeutet; sie ließ es daher in ihrem langen Leben nach außen als Krankheit gelten, und so spricht man in der Familie noch immer davon; zuletzt aber hat ihr das gute Glück den Mann zugeführt, den ihr bei uns seht, als Arzt, Mathematiker und Astronom gleich schätzbar, durchaus ein edler Mensch, der sich jedoch erst eigentlich aus Neugierde zu ihr heran fand. Als sie aber Vertrauen gegen ihn gewann, ihm nach und nach ihre Zustände beschrieben, das Gegenwärtige ans Vergangene angeschlossen und in die Ereignisse einen Zusammenhang gebracht hatte, ward er so von der Erscheinung eingenommen, dass er sich nicht mehr von ihr trennen konnte, sondern Tag für Tag stets tiefer in das Geheimnis einzudringen trachtete.

Im Anfang, wie er nicht undeutlich zu verstehen gab, hielt er es für Täuschung; denn sie leugnete nicht, dass von der ersten Jugend an sie sich um die Stern- und Himmelskunde fleißig bekümmert habe, dass sie darin wohl unterrichtet worden und keine Gelegenheit versäumt, sich durch Maschinen und Bücher den Weltbau immer mehr zu versinnlichen. Deshalb er sich denn nicht ausreden ließ, es sei eingelernt; die Wirkung einer in hohem Grad geregelten Einbildungskraft, der Einfluss des Gedächtnisses sei zu vermuten, eine Mitwirkung der Urteilskraft, besonders aber eines versteckten Kalküls.

Er ist ein Mathematiker und also hartnäckig, ein heller Geist und also ungläubig; er wehrte sich lange, bemerkte jedoch, was sie angab, genau, suchte der Folge verschiedener Jahre beizukommen, wunderte sich besonders über die neusten, mit dem gegenseitigem Stand der Himmelslichter übereintreffenden Angaben und rief endlich aus: „Nun warum sollte Gott und die Natur nicht auch eine lebendige Armillarsphäre, ein geistiges Räderwerk erschaffen und einrichten, dass es, wie ja die Uhren uns täglich und stündlich leisten, dem Gang der Gestirne von selbst auf eigne Weise zu folgen imstande wäre?“

Hier aber wagten wir nicht, weiter zu gehen; denn das Unglaubliche verliert seinen Wert, wenn man es näher im Einzelnen beschauen will. Doch sagen wir so viel: Dasjenige, was zur Grundlage der anzustellenden Berechnungen diente, war folgendes: Ihr, der Seherin, erschien unsere Sonne in der Vision um vieles kleiner, als sie solche bei Tage erblickte, auch gab eine ungewöhnliche Stellung dieses höheren Himmelslichtes im Tierkreis Anlass zu Folgerungen.

Dagegen entstanden Zweifel und Irrungen, weil die Schauende ein und das andere Gestirn andeutete als gleichfalls in dem Zodiak erscheinend, von dem man aber am Himmel nichts gewahr werden konnte. Es mochten die damals noch unentdeckten kleinen Planeten sein. Denn aus andern Angaben ließ sich schließen, dass sie, längst über die Bahn des Mars hinaus, der Bahn des Jupiter sich nähere. Offenbar hatte sie eine Zeitlang diesen Planeten, es wäre schwer zu sagen in welcher Entfernung, mit Staunen in seiner ungeheuren Herrlichkeit betrachtet und das Spiel seiner Monde um ihn her geschaut, hernach aber ihn auf die wunderseltsamste Weise als abnehmenden Mond gesehen, und zwar umgewendet, wie uns der wachsende Mond erscheint. Daraus wurde geschlossen, dass sie ihn von der Seite sehe und wirklich im Begriff sei, über dessen Bahn hinaus zu schreiten und in dem unendlichen Raum dem Saturn entgegenzustreben. Dorthin folgt ihr keine Einbildungskraft; aber wir hoffen, dass eine solche Entelechie sich nicht ganz aus unserm Sonnensystem entfernen, sondern, wenn sie an die Grenze desselben gelangt ist, sich wieder zurücksehnen werde, um zugunsten unsrer Urenkel in das irdische Leben und Wohltun wieder einzuwirken.

Indem wir nun diese ätherische Dichtung, Verzeihung hoffend, hiermit beschließen, wenden wir uns wieder zu jenem terrestrischen Märchen, wovon wir oben eine vorübergehende Andeutung gegeben.

Montan hatte mit dem größten Anschein von Ehrlichkeit angegeben: Jene wunderbare Person, welche mit ihren Gefühlen den Unterschied der irdischen Stoffe so wohl zu bezeichnen wisse, sei schon mit den ersten Wanderern in die weite Ferne gezogen, welches jedoch dem aufmerksamen Menschenkenner durchaus hätte sollen unwahrscheinlich dünken. Denn wie wollte Montan und seinesgleichen eine so bereite Wünschelrute von der Seite gelassen haben? Auch ward kurz nach seiner Abreise durch Hin- und Widerreden und sonderbare Erzählungen der unteren Hausbedienten hierüber ein Verdacht allmählich rege. Philine nämlich und Lydie hatten eine Dritte mitgebracht, unter dem Vorwand, es sei eine Dienerin, wozu sie sich aber gar nicht zu schicken schien; wie sie denn auch beim An- und Auskleiden der Herrinnen niemals gefordert wurde. Ihre einfache Tracht kleidete den derben, wohl gebauten Körper gar schicklich, deutete aber, so wie die ganze Person, auf etwas Ländliches. Ihr Betragen, ohne roh zu sein, zeigte keine gesellige Bildung, wovon die Kammermädchen immer die Karikatur darzustellen pflegen. Auch fand sie gar bald unter der Dienerschaft ihren Platz; sie gesellte sich zu den Garten- und Feldgenossen, ergriff den Spaten und arbeitete für zwei bis drei. Nahm sie den Rechen, so flog er auf das Geschickteste über das aufgewühlte Erdreich, und die weiteste Fläche glich einem wohl geebneten Beete. Übrigens hielt sie sich still und gewann gar bald die allgemeine Gunst. Sie erzählten sich von ihr, man habe sie oft das Werkzeug niederlegen und querfeldein über Stock und Stein springen sehen, auf eine versteckte Quelle zu, wo sie ihren Durst gelöscht. Diesen Gebrauch habe sie täglich wiederholt, indem sie von irgendeinem Punkt aus, wo sie gestanden, immer ein oder das andere rein ausfließende Wasser zu finden gewusst, wenn sie dessen bedurfte.

Und so war denn doch für Montans Angeben ein Zeugnis zurückgeblieben, der wahrscheinlich, um lästige Versuche und unzulängliches Probieren zu vermeiden, die Gegenwart einer so merkwürdigen Person vor seinen edlen Wirten, welche sonst wohl ein solches Zutrauen verdient hätten, zu verheimlichen beschloss. Wir aber wollten, was uns bekannt geworden, auch unvollständig wie es vorliegt, mitgeteilt haben, um forschende Männer auf ähnliche Fälle, die sich vielleicht öfter, als man glaubt, durch irgendeine Andeutung hervortun, freundlich aufmerksam zu machen.

 
 * 

Kapitel 16

Der Amtmann jenes Schlosses, das wir noch vor kurzem durch unsere Wanderer belebt gesehen, von Natur tätig und gewandt, den Vorteil seiner Herrschaft und seinen eignen immer vor Augen habend, saß nunmehr vergnügt, Rechnungen und Berichte auszufertigen, wodurch er die seinem Bezirk während der Anwesenheit jener Gäste zugegangenen großen Vorteile mit einiger Selbstgefälligkeit vorzutragen und auseinanderzusetzen sich bemühte. Allein dieses war nach seiner eigenen Überzeugung nur das Geringste; er hatte bemerkt, was für große Wirkungen von tätigen, geschickten, freisinnigen und kühnen Menschen ausgehen. Die einen hatten Abschied genommen, über das Meer zu setzen, die andern, um auf dem festen Land ihr Unterkommen zu finden; nun ward er noch ein drittes heimliches Verhältnis gewahr, wovon er alsobald Nutzen zu ziehen den Entschluss fasste.

Beim Abschied zeigte sich, was man hätte voraussagen und wissen können, dass von den jungen, rüstigen Männern sich gar mancher mit den hübschen Kindern des Dorfs und der Gegend mehr oder weniger befreundet hatte. Nur einige bewiesen Mut genug, als Odoardo mit den Seinigen abging, sich als entschieden Bleibende zu erklären; von Lenardos Auswanderern war keiner geblieben, aber von diesen letztem beteuerten verschiedene, in kurzer Zeit zurückkehren und sich ansiedeln zu wollen, wenn man ihnen einigermaßen ein hinreichendes Auskommen und Sicherheit für die Zukunft gewähren könne.

Der Amtmann, welcher die sämtliche Persönlichkeit und die häuslichen Umstände seiner ihm untergebenen kleinen Völkerschaft ganz genau kannte, lachte heimlich als ein wahrer Egoist über das Ereignis, dass man so große Anstalten und Aufwand mache, um über dem Meer und im Mittelland sich frei und tätig zu erweisen, und doch dabei ihm, der auf seiner Hufe ganz ruhig gesessen, gerade die größten Vorteile zu Haus und Hof bringe und ihm Gelegenheit gebe, einige der Vorzüglichsten zurückzuhalten und bei sich zu versammeln. Seine Gedanken, ausgeweitet durch die Gegenwart, fanden nichts natürlicher, als dass Liberalität, wohl angewendet, gar löbliche, nützliche Folgen habe. Er fasste sogleich den Entschluss, in seinem kleinen Bezirk etwas Ähnliches zu unternehmen. Glücklicherweise waren wohlhabende Einwohner diesmal gleichsam genötigt, ihre Töchter den allzu frühen Gatten gesetzmäßig zu überlassen. Der Amtmann machte ihnen einen solchen bürgerlichen Unfall als ein Glück begreiflich, und da es wirklich ein Glück war, dass gerade die in diesem Sinne brauchbarsten Handwerker das Los getroffen hatte, so hielt es nicht schwer, die Einleitung zu einer Möbelfabrik zu machen, die ohne weitläufigen Raum und ohne große Umstände nur Geschicklichkeit und hinreichendes Material verlangt. Das letzte versprach der Amtmann; Frauen, Raum und Verlag gaben die Bewohner, und Geschicklichkeit brachten die Einwandernden mit.

Das alles hatte der gewandte Geschäftsmann schon im stillen bei Anwesenheit und im Tumult der Menge gar wohl überdacht und konnte daher, sobald es um ihn ruhig ward, gleich zum Werke schreiten.

Ruhe, aber freilich eine Art Totenruhe, war nach Verlauf dieser Flut über die Straßen des Orts, über den Hof des Schlosses gekommen, als unsern rechnenden und berechnenden Geschäftsmann ein hereinsprengender Reiter aufrief und aus seiner ruhigen Fassung brachte. Des Pferdes Huf klappte freilich nicht, es war nicht beschlagen, aber der Reiter, der von der Decke herab sprang – er ritt ohne Sattel und Steigbügel, auch bändigte er das Pferd nur durch eine Trense – er rief laut und ungeduldig nach den Bewohnern, nach den Gästen und war leidenschaftlich verwundert, alles so still und tot zu finden.

Der Amtsdiener wusste nicht, was er aus dem Ankömmling machen sollte; auf einen entstandenen Wortwechsel kam der Amtmann selbst hervor und wusste auch weiter nichts zu sagen, als dass alles weggezogen sei. – „Wohin?“, war die rasche Frage des jungen, lebendigen Ankömmlings. – Mit Gelassenheit bezeichnete der Amtmann den Weg Lenardos und Odoards, auch eines dritten problematischen Mannes, den sie teils Wilhelm, teils Meister genannt hätten. Dieser habe sich auf dem einige Meilen entfernten Flusse eingeschifft; er fahre hinab, erst seinen Sohn zu besuchen und alsdann ein wichtiges Geschäft weiter zu verfolgen.

Schon hatte der Jüngling sich wieder aufs Pferd geschwungen und Kenntnis genommen von dem nächsten Weg zum Fluss hin, als er schon wieder zum Tor hinausstürzte und so eilig davonflog, dass dem Amtmann, der oben aus seinen Fenstern nachschaute, kaum ein verfliegender Staub anzudeuten schien, dass der verwirrte Reiter den rechten Weg genommen habe.

Nur eben war der letzte Staub in der Ferne verflogen, und unser Amtmann wollte sich wieder zu seinem Geschäft niedersetzen, als zum oberen Schlosstor ein Fußbote herein gesprungen kam und ebenfalls nach der Gesellschaft fragte, der noch etwas Nachträgliches zu überbringen er eilig abgesendet worden. Er hatte für sie ein größeres Paket, daneben aber auch einen einzelnen Brief, adressiert an Wilhelm genannt Meister, der dem Überbringer von einem jungen Frauenzimmer besonders auf die Seele gebunden und dessen baldige Bestellung eifrigst eingeschärft worden war. Leider konnte auch diesem kein anderer Bescheid werden, als dass er das Nest leer finde und daher seinen Weg eiligst fortsetzen müsse, wo er sie entweder sämtlich anzutreffen oder eine weitere Anweisung zu finden hoffen dürfte.

Den Brief aber selbst, den wir unter den vielen uns anvertrauten Papieren gleichfalls vorgefunden, dürfen wir, als höchst bedeutend, nicht zurückhalten. Er war von Hersilie, einem so wunderbaren als liebenswürdigen Frauenzimmer, welches in unsern Mitteilungen nur selten erscheint, aber bei jedesmaligem Auftreten gewiss jeden Geistreichen, Feinfühlenden unwiderstehlich angezogen hat. Auch ist das Schicksal, das sie betrifft, wohl das sonderbarste, das einem zarten Gemüte widerfahren kann.

 
 * 

Kapitel 17

Hersilie an Wilhelm

Ich saß denkend und wüsste nicht zu sagen, was ich dachte. Ein denkendes Nichtdenken wandelt mich aber manchmal an; es ist eine Art von empfundener Gleichgültigkeit. Ein Pferd sprengt in den Hof und weckt mich aus meiner Ruhe, die Türe springt auf, und Felix tritt herein im jugendlichsten Glanz wie ein kleiner Abgott. Er eilt auf mich zu, will mich umarmen, ich weise ihn zurück; er scheint gleichgültig, bleibt in einiger Entfernung, und in ungetrübter Heiterkeit preist er mir das Pferd an, das ihn hergetragen, erzählt von seinen Übungen, von seinen Freuden umständlich und vertraulich. Die Erinnerung an ältere Geschichten bringt uns auf das Prachtkästchen; er weiß, dass ich’s habe, und verlangt es zu sehen: Ich gebe nach, es war unmöglich zu versagen. Er betrachtet’s, erzählt umständlich, wie er es entdeckt, ich verwirre mich und verrate, dass ich den Schlüssel besitze. Nun steigt seine Neugier aufs höchste, auch den will er sehen, nur von ferne. Dringender und liebenswürdiger bitten konnte man niemand sehen; er bittet wie betend, kniet und bittet mit so feurigen, holden Augen, mit so süßen, schmeichelnden Worten, und so war ich wieder verführt. Ich zeigte das Wundergeheimnis von weitem, aber schnell fasste er meine Hand und entriss ihn und sprang mutwillig zur Seite um einen Tisch herum.

„Ich habe nichts vom Kästchen noch vom Schlüssel!“, rief er aus, „dein Herz wünscht’ ich zu öffnen, dass es sich mir auftäte, mir entgegenkäme, mich an sich drückte, mir vergönnte, es an meine Brust zu drücken.“ Er war unendlich schön und liebenswürdig, und wie ich auf ihn zugehen wollte, schob er das Kästchen auf dem Tisch immer vor sich hin; schon stak der Schlüssel drinnen; er drohte umzudrehen und drehte wirklich. Das Schlüsselchen war abgebrochen, die äußere Hälfte fiel auf den Tisch.

Ich war verwirrter, als man sein kann und sein sollte. Er benützt meine Unaufmerksamkeit, lässt das Kästchen stehen, fährt auf mich los und fasst mich in die Arme. Ich rang vergebens, seine Augen näherten sich den meinigen, und es ist was Schönes, sein eigenes Bild im liebenden Auge zu erblicken. Ich sah’s zum ersten Mal, als er seinen Mund lebhaft auf den meinigen drückte. Ich will’s nur gestehen, ich gab ihm seine Küsse zurück, es ist doch sehr schön, einen Glücklichen zu machen. Ich riss mich los, die Kluft, die uns trennt, erschien mir nur zu deutlich; statt mich zu fassen, überschritt ich das Maß, ich stieß ihn zürnend weg; meine Verwirrung gab mir Mut und Verstand; ich bedrohte, ich schalt ihn, befahl ihm, nie wieder vor mir zu erscheinen; er glaubte meinem wahrhaften Ausdruck. „Gut!“, sagte er, „so reit’ ich in die Welt, bis ich umkomme.“ Er warf sich auf sein Pferd und sprengte weg. Noch halb träumend will ich das Kästchen verwahren, die Hälfte des Schlüssels lag abgebrochen, ich befand mich in doppelter und dreifacher Verlegenheit.

O Männer, o Menschen! Werdet ihr denn niemals die Vernunft fortpflanzen? War es nicht an dem Vater genug, der so viel Unheil anrichtete, bedurft’ es noch des Sohns, um uns unauflöslich zu verwirren?

Diese Bekenntnisse lagen eine Zeitlang bei mir, nun tritt ein sonderbarer Umstand ein, den ich melden muss, der obiges aufklärt und verdüstert.

Ein alter, dem Oheim sehr werter Goldschmied und Juwelenhändler trifft ein, zeigt seltsame antiquarische Schätze vor; ich werde veranlasst, das Kästchen zu bringen, er betrachtet den abgebrochenen Schlüssel und zeigt, was man bisher übersehen hatte, dass der Bruch nicht rau, sondern glatt sei. Durch Berührung fassen die beiden Enden einander an, er zieht den Schlüssel ergänzt heraus, sie sind magnetisch verbunden, halten einander fest, aber schließen nur dem Eingeweihten. Der Mann tritt in einige Entfernung, das Kästchen springt auf, das er gleich wieder zudrückt: An solche Geheimnisse sei nicht gut rühren, meinte er.

Meinen unerklärlichen Zustand vergegenwärtigen Sie sich, Gott sei Dank, gewiss nicht; denn wie wollte man außerhalb der Verwirrung die Verwirrung erkennen. Das bedeutende Kästchen steht vor mir, den Schlüssel, der nicht schließt, hab’ ich in der Hand; jenes wollt’ ich gern uneröffnet lassen, wenn dieser mir nur die nächste Zukunft aufschlösse.

Um mich bekümmern Sie sich eine Weile ja nicht, aber was ich inständig bitte, flehe, dringend empfehle: Forschen Sie nach Felix! Ich habe vergebens umher gesandt, um die Spuren seines Weges aufzufinden. Ich weiß nicht, ob ich den Tag segnen oder fürchten soll, der uns wieder zusammenführt.

Endlich! Endlich verlangt der Bote seine Abfertigung! Man hat ihn lange genug hier aufgehalten, er soll die Wanderer mit wichtigen Depeschen ereilen. In dieser Gesellschaft wird er Sie ja auch wohl finden, oder man wird ihn zurechtweisen. Ich unterdes werde nicht beruhigt sein.

 
 * 

Kapitel 18

Nun gleitete der Kahn, beschienen von heißer Mittagssonne, den Fluss hinab; gelinde Lüfte kühlten den erwärmten Äther, sanfte Ufer zu beiden Seiten gewährten einen zwar einfachen, doch behaglichen Anblick. Das Kornfeld näherte sich dem Strom, und ein guter Boden trat so nah heran, dass ein rauschendes Wasser, auf irgendeine Stelle sich hinwerfend, das lockere Erdreich gewaltig angegriffen, fortgerissen und steile Abhänge von bedeutender Höhe sich gebildet hatten.

Ganz oben, auf dem schroffsten Rand einer solchen Steile, wo sonst der Leinpfad mochte hergegangen sein, sah der Freund einen jungen Mann herantraben, gut gebaut, von kräftiger Gestalt. Kaum aber wollte man ihn schärfer ins Auge fassen, als der dort überhangende Rasen losbricht und jener Unglückliche jählings, Pferd über, Mann unter, ins Wasser stürzt. Hier war nicht Zeit zu denken, wie und warum; die Schiffer fuhren pfeilschnell dem Strudel zu und hatten im Augenblick die schöne Beute gefasst. Entseelt scheinend lag der holde Jüngling im Schiff, und nach kurzer Überlegung fuhren die gewandten Männer einem Kiesweidicht zu, das sich mitten im Fluss gebildet hatte. Landen, den Körper ans Ufer heben, ausziehen und abtrocknen war eins. Noch aber kein Zeichen des Lebens zu bemerken, die holde Blume hingesenkt in ihren Armen!

Wilhelm griff sogleich nach der Lanzette, die Ader des Arms zu öffnen; das Blut sprang reichlich hervor, und mit der schlängelnd anspielenden Welle vermischt, folgte es gekreiseltem Strome nach. Das Leben kehrte wieder; kaum hatte der liebevolle Wundarzt nur Zeit, die Binde zu befestigen, als der Jüngling sich schon mutvoll auf seine Füße stellte, Wilhelm scharf ansah und rief: „Wenn ich leben soll, so sei es mit dir!“ Mit diesen Worten fiel er dem erkennenden und erkannten Rettet um den Hals und weinte bitterlich. So standen sie fest umschlungen, wie Kastor und Pollux, Brüder, die sich auf dem Wechselwege vom Orkus zum Licht begegnen.

Man bat ihn, sich zu beruhigen. Die wackern Männer hatten schon ein bequemes Lager, halb sonnig, halb schattig, unter leichten Büschen und Zweigen bereitet; hier lag er nun auf den väterlichen Mantel hingestreckt, der holdeste Jüngling; braune Locken, schnell getrocknet, rollten sich schon wieder auf, er lächelte beruhigt und schlief ein. Mit Gefallen sah unser Freund auf ihn herab, indem er ihn zudeckte. – „Wirst du doch immer aufs neue hervorgebracht, herrlich Ebenbild Gottes!“, rief er aus, „und wirst sogleich wieder beschädigt, verletzt von innen oder von außen.“ – Der Mantel fiel über ihn her, eine gemäßigte Sonnenglut durchwärmte die Glieder sanft und innigst, seine Wangen röteten sich gesund, er schien schon völlig wiederhergestellt.

Die tätigen Männer, einer guten geglückten Handlung und des zu erwartenden reichlichen Lohns zum voraus sich erfreuend, hatten auf dem heißen Kies die Kleider des Jünglings schon so gut als getrocknet, um ihn beim Erwachen sogleich wieder in den gesellig anständigsten Zustand zu versetzen.

 
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Sämtliche Werke
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