Kapitel 14
Denn wirklich fing er auf dem Rückwege über seine Lage lebhafter, als bisher geschehen, zu denken an und war mit dem Vorsatze, sich aus derselben herauszureißen, nach Hause gelangt, als ihm der Wirt sogleich im Vertrauen eröffnete, dass Mademoiselle Philine an dem Stallmeister des Grafen eine Eroberung gemacht habe, der, nachdem er seinen Auftrag auf dem Gute ausgerichtet, in höchster Eile zurückgekommen sei und ein gutes Abendessen oben auf ihrem Zimmer mit ihr verzehre.
In eben diesem Augenblicke trat Melina mit dem Notarius herein; sie gingen zusammen auf Wilhelms Zimmer, wo dieser, wiewohl mit einigem Zaudern, seinem Versprechen Genüge leistete, dreihundert Taler auf Wechsel an Melina auszahlte, welche dieser sogleich dem Notarius übergab und dagegen das Dokument über den geschlossenen Kauf der ganzen theatralischen Gerätschaft erhielt, welche ihm morgen früh übergeben werden sollte.
Kaum waren sie auseinander gegangen, als Wilhelm ein entsetzliches Geschrei in dem Hause vernahm. Er hörte eine jugendliche Stimme, die, zornig und drohend, durch ein unmäßiges Weinen und Heulen durchbrach. Er hörte diese Wehklage von oben herunter, an seiner Stube vorbei, nach dem Hausplatze eilen.
Als die Neugierde unsern Freund herunterlockte, fand er Friedrich in einer Art von Raserei. Der Knabe weinte, knirschte, stampfte, drohte mit geballten Fäusten und stellte sich ganz ungebärdig vor Zorn und Verdruss, Mignon stand gegenüber und sah mit Verwunderung zu, und der Wirt erklärte einigermaßen diese Erscheinung.
Der Knabe sei nach seiner Rückkunft, da ihn Philine gut aufgenommen, zufrieden, lustig und munter gewesen, habe gesungen und gesprungen bis zur Zeit, da der Stallmeister mit Philine Bekanntschaft gemacht. Nun habe das Mittelding zwischen Kind und Jüngling angefangen, seinen Verdruss zu zeigen, die Türen zuzuschlagen und auf und nieder zu rennen. Philine habe ihm befohlen, heute Abend bei Tische aufzuwarten, worüber er nur noch mürrischer und trotziger geworden; endlich habe er eine Schüssel mit Ragout, anstatt sie auf den Tisch zu setzen, zwischen Mademoiselle und den Gast, die ziemlich nahe zusammen gesessen, hineingeworfen, worauf ihm der Stallmeister ein paar tüchtige Ohrfeigen gegeben und ihn zur Türe hinausgeschmissen. Er, der Wirt, habe darauf die beiden Personen säubern helfen, deren Kleider sehr übel zugerichtet gewesen.
Als der Knabe die gute Wirkung seiner Rache vernahm, fing er laut zu lachen an, indem ihm noch immer die Tränen an den Backen herunter liefen. Er freute sich einige Zeit herzlich, bis ihm der Schimpf, den ihm der Stärkere angetan, wieder einfiel, da er denn von neuem zu heulen und zu drohen anfing.
Wilhelm stand nachdenklich und beschämt vor dieser Szene. Er sah sein eignes Innerstes, mit starken und übertriebenen Zügen dargestellt; auch er war von einer unüberwindlichen Eifersucht entzündet; auch er, wenn ihn der Wohlstand nicht zurückgehalten hätte, würde gern seine wilde Laune befriedigt, gern mit tückischer Schadenfreude den geliebten Gegenstand verletzt und seinen Nebenbuhler ausgefordert haben; er hätte die Menschen, die nur zu seinem Verdrusse da zu sein schienen, vertilgen mögen.
Laertes, der auch herbeigekommen war und die Geschichte vernommen hatte, bestärkte schelmisch den aufgebrachten Knaben, als dieser beteuerte und schwur, der Stallmeister müsse ihm Satisfaktion geben, er habe noch keine Beleidigung auf sich sitzen lassen; weigere sich der Stallmeister, so werde er sich zu rächen wissen.
Laertes war hier grade in seinem Fache. Er ging ernsthaft hinauf, den Stallmeister im Namen des Knaben herauszufordern.
„Das ist lustig“, sagte dieser; „einen solchen Spaß hätte ich mir heut Abend kaum vorgestellt.“ Sie gingen hinunter, und Philine folgte ihnen. „Mein Sohn“, sagte der Stallmeister zu Friedrich, „du bist ein braver Junge, und ich weigere mich nicht, mit dir zu fechten; nur da die Ungleichheit unsrer Jahre und Kräfte die Sache ohnehin etwas abenteuerlich macht, so schlag’ ich statt anderer Waffen ein Paar Rapiere vor; wir wollen die Knöpfe mit Kreide bestreichen, und wer dem andern den ersten oder die meisten Stöße auf den Rock zeichnet, soll für den Überwinder gehalten und von dem andern mit dem besten Weine, der in der Stadt zu haben ist, traktiert werden.“
Laertes entschied, dass dieser Vorschlag angenommen werden könnte; Friedrich gehorchte ihm als seinem Lehrmeister. Die Rapiere kamen herbei, Philine setzte sich hin, strickte und sah beiden Kämpfern mit großer Gemütsruhe zu.
Der Stallmeister, der seht gut focht, war gefällig genug, seinen Gegner zu schonen und sich einige Kreidenflecke auf den Rock bringen zu lassen, worauf sie sich umarmten und Wein herbeigeschafft wurde. Der Stallmeister wollte Friedrichs Herkunft und seine Geschichte wissen, der denn ein Märchen erzählte, das er schon oft wiederholt hatte und mit dem wir ein andermal unsre Leser bekannt zu machen gedenken.
In Wilhelms Seele vollendete indessen dieser Zweikampf die Darstellung seiner eigenen Gefühle; denn er konnte sich nicht leugnen, dass er das Rapier, ja lieber noch einen Degen selbst gegen den Stallmeister zu führen wünschte, wenn er schon einsah, dass ihm dieser in der Fechtkunst weit überlegen sei. Doch würdigte er Philine nicht eines Blicks, hütete sich vor jeder Äußerung, die seine Empfindung hätte verraten können, und eilte, nachdem er einige Mal auf die Gesundheit der Kämpfer Bescheid getan, auf sein Zimmer, wo sich tausend unangenehme Gedanken auf ihn zudrängten.
Er erinnerte sich der Zeit, in der sein Geist durch ein unbedingtes, hoffnungsreiches Streben emporgehoben wurde, wo er in dem lebhaftesten Genusse aller Art wie in einem Elemente schwamm. Es ward ihm deutlich, wie er jetzt in ein unbestimmtes Schlendern geraten war, in welchem er nur noch schlürfend kostete, was er sonst mit vollen Zügen eingesogen hatte; aber deutlich konnte er nicht sehen, welches unüberwindliche Bedürfnis ihm die Natur zum Gesetz gemacht hatte, und wie sehr dieses Bedürfnis durch Umstände nur gereizt, halb befriedigt und irre geführt worden war.
Es darf also niemand wundern, wenn er bei Betrachtung seines Zustandes, und indem er sich aus demselben heraus zu denken arbeitete, in die größte Verwirrung geriet. Es war nicht genug, dass er durch seine Freundschaft zu Laertes, durch seine Neigung zu Philine, durch seinen Anteil an Mignon länger als billig an einem Orte und in einer Gesellschaft festgehalten wurde, in welcher er seine Lieblingsneigung hegen, gleichsam verstohlen seine Wünsche befriedigen und, ohne sich einen Zweck vorzusetzen, seinen alten Träumen nachschleichen konnte. Aus diesen Verhältnissen sich loszureißen und gleich zu scheiden, glaubte er Kraft genug zu besitzen. Nun hatte er aber vor wenigen Augenblicken sich mit Melina in ein Geldgeschäft eingelassen, er hatte den rätselhaften Alten kennen lernen, welchen zu entziffern er eine unbeschreibliche Begierde fühlte. Allein auch dadurch sich nicht zurückhalten zu lassen, war er nach lang hin und her geworfenen Gedanken entschlossen oder glaubte wenigstens entschlossen zu sein. „Ich muss fort“, rief er aus, „ich will fort!“ Er warf sich in einen Sessel und war sehr bewegt.
Mignon trat herein und fragte, ob sie ihn aufwickeln dürfe. Sie kam still; es schmerzte sie tief, dass er sie heute so kurz abgefertigt hatte.
Nichts ist rührender, als wenn eine Liebe, die sich im stillen genährt, eine Treue, die sich im Verborgenen befestigt hat, endlich dem, der ihrer bisher nicht wert gewesen, zur rechten Stunde nahekommt und ihm offenbar wird. Die lange und streng verschlossene Knospe war reif, und Wilhelms Herz konnte nicht empfänglicher sein.
Sie stand vor ihm und sah seine Unruhe. – „Herr!“, rief sie aus, „wenn du unglücklich bist, was soll aus Mignon werden?“ – „Liebes Geschöpf“, sagte er, indem er ihre Hände nahm, „du bist auch mit unter meinen Schmerzen. – Ich muss fort.“ Sie sah ihm in die Augen, die von verhaltenen Tränen blinkten, und kniete mit Heftigkeit vor ihm nieder. Er behielt ihre Hände, sie legte ihr Haupt auf seine Knie und war ganz still. Er spielte mit ihren Haaren und war freundlich. Sie blieb lange ruhig. Endlich fühlte er an ihr eine Art Zucken, das ganz sachte anfing und sich durch alle Glieder wachsend verbreitete. – „Was ist dir, Mignon?“, rief er aus, „was ist dir?“ Sie richtete ihr Köpfchen auf und sah ihn an, fuhr auf einmal nach dem Herzen, wie mit einer Gebärde, welche Schmerzen verbeißt. Er hob sie auf, und sie fiel auf seinen Schoß; er drückte sie an sich und küsste sie. Sie antwortete durch keinen Händedruck, durch keine Bewegung. Sie hielt ihr Herz fest, und auf einmal tat sie einen Schrei, der mit krampfigen Bewegungen des Körpers begleitet war. Sie fuhr auf und fiel auch sogleich wie an allen Gelenken gebrochen vor ihm nieder. Es war ein grässlicher Anblick! – „Mein Kind!“, rief er aus, indem er sie aufhob und fest umarmte, „mein Kind, was ist dir?“ – Die Zuckung dauerte fort, die vom Herzen sich den schlotternden Gliedern mitteilte; sie hing nur in seinen Armen. Er schloss sie an sein Herz und benetzte sie mit seinen Tränen. Auf einmal schien sie wieder angespannt, wie eins, das den höchsten körperlichen Schmerz erträgt; und bald mit einer neuen Heftigkeit wurden alle ihre Glieder wieder lebendig, und sie warf sich ihm wie ein Ressort, das zuschlägt, um den Hals, indem in ihrem Innersten wie ein gewaltiger Riss geschah, und in dem Augenblick floss ein Strom von Tränen aus ihren geschlossenen Augen in seinen Busen. Er hielt sie fest. Sie weinte, und keine Zunge spricht die Gewalt dieser Tränen aus. Ihre langen Haare waren aufgegangen und hingen von der Weinenden nieder, und ihr ganzes Wesen schien in einen Bach von Tränen unaufhaltsam dahin zu schmelzen. Ihre starren Glieder wurden gelinde, es ergoss sich ihr Innerstes, und in der Verirrung des Augenblickes fürchtete Wilhelm, sie werde in seinen Armen zerschmelzen und er nichts von ihr übrig behalten. Er hielt sie nur fester und fester. „Mein Kind!“, rief er aus, „mein Kind! Du bist ja mein! Wenn dich das Wort trösten kann. Du bist mein! Ich werde dich behalten, dich nicht verlassen!“ Ihre Tränen flossen noch immer. – Endlich richtete sie sich auf. Eine weiche Heiterkeit glänzte von ihrem Gesichte. „Mein Vater!“, rief sie, „du willst mich nicht verlassen! Willst mein Vater sein! Ich bin dein Kind!“
Sanft fing vor der Türe die Harfe an zu klingen; der Alte brachte seine herzlichsten Lieder dem Freunde zum Abendopfer, der, sein Kind immer fester in Armen haltend, des reinsten, unbeschreiblichsten Glückes genoss.
Drittes Buch
Kapitel 1
Kennst du das Land, wo die Zitronen blühn,
Im dunkeln Laub die Gold-Orangen glühn,
Ein sanfter Wind vom blauen Himmel weht,
Die Myrte still und hoch der Lorbeer steht,
Kennst du es wohl?
Dahin! Dahin
Möcht’ ich mit dir, o mein Geliebter, ziehn!
Kennst du das Haus, auf Säulen ruht sein Dach,
Es glänzt der Saal, es schimmert das Gemach,
Und Marmorbilder stehn und sehn mich an:
Was hat man dir, du armes Kind, getan?
Kennst du es wohl?
Dahin! Dahin
Möcht’ ich mit dir, o mein Beschützer, ziehn!
Kennst du den Berg und seinen Wolkensteg?
Das Maultier sucht im Nebel seinen Weg,
In Höhlen wohnt der Drachen alte Brut,
Es stürzt der Fels und über ihn die Flut:
Kennst du ihn wohl?
Dahin! Dahin
Geht unser Weg; o Vater, lass uns ziehn!
Als Wilhelm des Morgens sich nach Mignon im Hause umsah, fand er sie nicht, hörte aber, dass sie früh mit Melina ausgegangen sei, welcher sich, um die Garderobe und die übrigen Theatergerätschaften zu übernehmen, beizeiten aufgemacht hatte.
Nach Verlauf einiger Stunden hörte Wilhelm Musik vor seiner Türe. Er glaubte anfänglich, der Harfenspieler sei schon wieder zugegen; allein er unterschied bald die Töne einer Zither, und die Stimme, welche zu singen anfing, war Mignons Stimme. Wilhelm öffnete die Türe, das Kind trat herein und sang das Lied, das wir soeben aufgezeichnet haben.
Melodie und Ausdruck gefielen unserm Freunde besonders, ob er gleich die Worte nicht alle verstehen konnte. Er ließ sich die Strophen wiederholen und erklären, schrieb sie auf und übersetzte sie ins Deutsche. Aber die Originalität der Wendungen konnte er nur von ferne nachahmen; die kindliche Unschuld des Ausdrucks verschwand, indem die gebrochene Sprache übereinstimmend und das Unzusammenhängende verbunden ward. Auch konnte der Reiz der Melodie mit nichts verglichen werden.
Sie fing jeden Vers feierlich und prächtig an, als ob sie auf etwas Sonderbares aufmerksam machen, als ob sie etwas Wichtiges vortragen wollte. Bei der dritten Zeile ward der Gesang dumpfer und düsterer; das „Kennst du es wohl?“ drückte sie geheimnisvoll und bedächtig aus; in dem „Dahin! Dahin!“ lag eine unwiderstehliche Sehnsucht, und ihr „lass uns ziehn!“ wusste sie bei jeder Wiederholung dergestalt zu modifizieren, dass es bald bittend und dringend, bald treibend und viel versprechend war.
Nachdem sie das Lied zum zweiten Mal geendigt hatte, hielt sie einen Augenblick inne, sah Wilhelmen scharf an und fragte: „Kennst du das Land?“ – „Es muss wohl Italien gemeint sein“, versetzte Wilhelm; „woher hast du das Liedchen?“ – „Italien!“, sagte Mignon bedeutend; „gehst du nach Italien, so nimm mich mit, es friert mich hier.“ – „Bist du schon dort gewesen, liebe Kleine?“, fragte Wilhelm. – Das Kind war still und nichts weiter aus ihm zu bringen.
Melina, der hereinkam, besah die Zither und freute sich, dass sie schon so hübsch zurechtgemacht sei. Das Instrument war ein Inventarienstück der alten Garderobe. Mignon hatte sich’s diesen Morgen ausgebeten, der Harfenspieler bezog es sogleich, und das Kind entwickelte bei dieser Gelegenheit ein Talent, das man an ihm bisher noch nicht kannte.
Melina hatte schon die Garderobe mit allem Zubehör übernommen; einige Glieder des Stadtrats versprachen ihm gleich die Erlaubnis, einige Zeit im Orte zu spielen. Mit frohem Herzen und erheitertem Gesicht kam er nunmehr wieder zurück. Er schien ein ganz anderer Mensch zu sein; denn er war sanft, höflich gegen jedermann, ja zuvorkommend und einnehmend. Er wünschte sich Glück, dass er nunmehr seine Freunde, die bisher verlegen und müßig gewesen, werde beschäftigen und auf eine Zeitlang engagieren können, wobei er zugleich bedauerte, dass er freilich zum Anfang nicht imstande sei, die vortrefflichen Subjekte, die das Glück ihm zugeführt, nach ihren Fähigkeiten und Talenten zu belohnen, da er seine Schuld einem so großmütigen Freunde, als Wilhelm sich gezeigt habe, vor allen Dingen abtragen müsse.
„Ich kann Ihnen nicht ausdrücken“, sagte Melina zu ihm, „welche Freundschaft Sie mir erzeigen, indem Sie mir zur Direktion eines Theaters verhelfen. Denn als ich Sie antraf, befand ich mich in einer sehr wunderlichen Lage. Sie erinnern sich, wie lebhaft ich Ihnen bei unsrer ersten Bekanntschaft meine Abneigung gegen das Theater sehen ließ, und doch musste ich mich, sobald ich verheiratet war, aus Liebe zu meiner Frau, welche sich viel Freude und Beifall versprach, nach einem Engagement umsehen. Ich fand keins, wenigstens kein beständiges, dagegen aber glücklicherweise einige Geschäftsmänner, die eben in außerordentlichen Fällen jemanden brauchen konnten, der mit der Feder umzugehen wusste, Französisch verstand und im Rechnen nicht ganz unerfahren war. So ging es mir eine Zeitlang recht gut, ich ward leidlich bezahlt, schaffte mir manches an, und meine Verhältnisse machten mir keine Schande. Allein die außerordentlichen Aufträge meiner Gönner gingen zu Ende, an eine dauerhafte Versorgung war nicht zu denken, und meine Frau verlangte nur desto eifriger nach dem Theater, leider zu einer Zeit, wo ihre Umstände nicht die vorteilhaftesten sind, um sich dem Publikum mit Ehren darzustellen. Nun, hoffe ich, soll die Anstalt, die ich durch Ihre Hilfe einrichten werde, für mich und die Meinigen ein guter Anfang sein, und ich verdanke Ihnen mein künftiges Glück, es werde auch, wie es wolle.“
Wilhelm hörte diese Äußerungen mit Zufriedenheit an, und die sämtlichen Schauspieler waren gleichfalls mit den Erklärungen des neuen Direktors so ziemlich zufrieden, freuten sich heimlich, dass sich so schnell ein Engagement zeige, und waren geneigt, für den Anfang mit einer geringen Gage vorlieb zu nehmen, weil die meisten dasjenige, was ihnen so unvermutet angeboten wurde, als einen Zuschuss ansahen, auf den sie vor kurzem noch nicht Rechnung machen konnten. Melina war im Begriff, diese Disposition zu benutzen, suchte auf eine geschickte Weise jeden besonders zu sprechen, und hatte bald den einen auf diese, den andern auf eine andere Weise zu bereden gewusst, dass sie die Kontrakte geschwind abzuschließen geneigt waren, über das neue Verhältnis kaum nachdachten und sich schon gesichert glaubten, mit sechswöchentlicher Aufkündigung wieder loskommen zu können.
Nun sollten die Bedingungen in gehörige Form gebracht werden, und Melina dachte schon an die Stücke, mit denen er zuerst das Publikum anlocken wollte, als ein Kurier dem Stallmeister die Ankunft der Herrschaft verkündigte und dieser die untergelegten Pferde vorzuführen befahl.
Bald darauf fuhr der hoch bepackte Wagen, von dessen Bocke zwei Bedienten herunter sprangen, vor dem Gasthause vor, und Philine war nach ihrer Art am ersten bei der Hand und stellte sich unter die Türe.
„Wer ist Sie?“, fragte die Gräfin im Hereintreten.
„Eine Schauspielerin, Ihro Exzellenz zu dienen“, war die Antwort, indem der Schalk mit einem gar frommen Gesichte und demütigen Gebärden sich neigte und der Dame den Rock küsste.
Der Graf, der noch einige Personen umherstehen sah, die sich gleichfalls für Schauspieler ausgaben, erkundigte sich nach der Stärke der Gesellschaft, nach dem letzten Orte ihres Aufenthalts und ihrem Direktor. „Wenn es Franzosen wären“, sagte er zu seiner Gemahlin, „könnten wir dem Prinzen eine unerwartete Freude machen und ihm bei uns seine Lieblingsunterhaltung verschaffen.“
„Es käme darauf an“, versetzte die Gräfin, „ob wir nicht diese Leute, wenn sie schon unglücklicherweise nur Deutsche sind, auf dem Schloss, so lange der Fürst bei uns bleibt, spielen ließen. Sie haben doch wohl einige Geschicklichkeit. Eine große Sozietät läßt sich am besten durch ein Theater unterhalten, und der Baron würde sie schon zustutzen.“
Unter diesen Worten gingen sie die Treppe hinauf, und Melina präsentierte sich oben als Direktor. „Ruf’ Er seine Leute zusammen“, sagte der Graf, „und stell’ Er sie mir vor, damit ich sehe, was an ihnen ist. Ich will auch zugleich die Liste von den Stücken sehen, die sie allenfalls aufführen könnten.“
Melina eilte mit einem tiefen Bücklinge aus dem Zimmer und kam bald mit den Schauspielern zurück. Sie drückten sich vor- und hintereinander, die einen präsentierten sich schlecht, aus großer Begierde zu gefallen, und die andern nicht besser, weil sie sich leichtsinnig darstellten. Philine bezeigte der Gräfin, die außerordentlich gnädig und freundlich war, alle Ehrfurcht; der Graf musterte indes die übrigen. Er fragte einen jeden nach seinem Fache und äußerte gegen Melina, dass man streng auf Fächer halten müsse, welchen Ausspruch dieser in der größten Devotion aufnahm.
Der Graf bemerkte sodann einem jeden, worauf er besonders zu studieren, was er an seiner Figur und Stellung zu bessern habe, zeigte ihnen einleuchtend, woran es den Deutschen immer fehle, und ließ so außerordentliche Kenntnisse sehen, dass alle in der größten Demut vor so einem erleuchteten Kenner und erlauchten Beschützer standen und kaum Atem zu holen sich getrauten.
„Wer ist der Mensch dort in der Ecke?“ fragte der Graf, indem er nach einem Subjekte sah, das ihm noch nicht vorgestellt worden war, und eine hagre Figur nahte sich in einem abgetragenen, auf dem Ellbogen mit Fleckchen besetzten Rocke; eine kümmerliche Perücke bedeckte das Haupt des demütigen Klienten.
Dieser Mensch, den wir schon aus dem vorigen Buche als Philines Liebling kennen, pflegte gewöhnlich Pedanten, Magister und Poeten zu spielen und meistens die Rolle zu übernehmen, wenn jemand Schläge kriegen oder begossen werden sollte. Er hatte sich gewisse kriechende, lächerliche, furchtsame Bücklinge angewöhnt, und seine stockende Sprache, die zu seinen Rollen passte, machte die Zuschauer lachen, so dass er immer noch als ein brauchbares Glied der Gesellschaft angesehen wurde, besonders da er übrigens sehr dienstfertig und gefällig war. Er nahte sich auf seine Weise dem Grafen, neigte sich vor demselben und beantwortete jede Frage auf die Art, wie er sich in seinen Rollen auf dem Theater zu gebärden pflegte. Der Graf sah ihn mit gefälliger Aufmerksamkeit und mit Überlegung eine Zeitlang an, alsdann rief er, indem er sich zu der Gräfin wendete: „Mein Kind, betrachte mit diesen Mann genau; ich hafte dafür, das ist ein großer Schauspieler oder kann es werden.“ Der Mensch machte von ganzem Herzen einen albernen Bückling, so dass der Graf laut über ihn lachen musste und ausrief: „Er macht seine Sachen exzellent! Ich wette, dieser Mensch kann spielen, was er will, und es ist schade, dass man ihn bisher zu nichts Besserm gebraucht hat.“
Ein so außerordentlicher Vorzug war für die übrigen sehr kränkend; nur Melina empfand nichts davon, er gab vielmehr dem Grafen vollkommen recht und versetzte mit ehrfurchtsvoller Miene: „Ach ja, es hat wohl ihm und mehreren von uns nur ein solcher Kenner und eine solche Aufmunterung gefehlt, wie wir sie gegenwärtig an Ew. Exzellenz gefunden haben.“
„Ist das die sämtliche Gesellschaft?“, sagte der Graf.
„Es sind einige Glieder abwesend“, versetzte der kluge Melina, „und überhaupt könnten wir, wenn wir nur Unterstützung fänden, sehr bald aus der Nachbarschaft vollzählig sein.“
Indessen sagte Philine zur Gräfin: „Es ist noch ein recht hübscher junger Mann oben, der sich gewiss bald zum ersten Liebhaber qualifizieren würde.“
„Warum lässt er sich nicht sehen?“, versetzte die Gräfin.
„Ich will ihn holen“, rief Philine und eilte zur Türe hinaus.
Sie fand Wilhelm noch mit Mignon beschäftigt und beredete ihn, mit herunterzugehen. Er folgte ihr mit einigem Unwillen, doch trieb ihn die Neugier; denn da er von vornehmen Personen hörte, war er voll Verlangen, sie näher kennen zu lernen. Er trat ins Zimmer, und seine Augen begegneten sogleich den Augen der Gräfin, die auf ihn gerichtet waren. Philine zog ihn zu der Dame, indes der Graf sich mit den übrigen beschäftigte. Wilhelm neigte sich und gab auf verschiedene Fragen, welche die reizende Dame an ihn tat, nicht ohne Verwirrung Antwort. Ihre Schönheit, Jugend, Anmut, Zierlichkeit und feines Betragen machten den angenehmsten Eindruck auf ihn, um so mehr, da ihre Reden und Gebärden mit einer gewissen Schamhaftigkeit, ja man dürfte sagen Verlegenheit begleitet waren. Auch dem Grafen ward er vorgestellt, der aber wenig Acht auf ihn hatte, sondern zu seiner Gemahlin ans Fenster trat und sie um etwas zu fragen schien. Man konnte bemerken, dass ihre Meinung auf das lebhafteste mit der seinigen übereinstimmte, ja, dass sie ihn eifrig zu bitten und ihn in seiner Gesinnung zu bestärken schien.
Er kehrte sich darauf bald zu der Gesellschaft und sagte: „Ich kann mich gegenwärtig nicht aufhalten, aber ich will einen Freund zu euch schicken, und wenn ihr billige Bedingungen macht und euch recht viel Mühe geben wollt, so bin ich nicht abgeneigt, euch auf dem Schlosse spielen zu lassen.“
Alle bezeugten ihre große Freude darüber, und besonders küsste Philine mit der größten Lebhaftigkeit der Gräfin die Hände.
„Sieht Sie, Kleine“, sagte die Dame, indem sie dem leichtfertigen Mädchen die Backen klopfte, „sieht Sie, mein Kind, da kommt Sie wieder zu mir; ich will schon mein Versprechen halten, Sie muss sich nur besser anziehen.“ Philine entschuldigte sich, dass sie wenig auf ihre Garderobe zu verwenden habe, und sogleich befahl die Gräfin ihren Kammerfrauen, einen englischen Hut und ein seidnes Halstuch, die leicht auszupacken waren, herauf zu geben. Nun putzte die Gräfin selbst Philine an, die fort fuhr, sich mit einer scheinheiligen, unschuldigen Miene gar artig zu gebärden und zu betragen.
Der Graf bot seiner Gemahlin die Hand und führte sie hinunter. Sie grüßte die ganze Gesellschaft im Vorbeigehen freundlich und kehrte sich nochmals gegen Wilhelmen um, indem sie mit der huldreichsten Miene zu ihm sagte: „Wir sehen uns bald wieder.“
So glückliche Aussichten belebten die ganze Gesellschaft: Jeder ließ nunmehr seinen Hoffnungen, Wünschen und Einbildungen freien Lauf, sprach von den Rollen, die er spielen, von dem Beifall, den er erhalten wollte. Melina überlegte, wie er noch geschwind durch einige Vorstellungen den Einwohnern des Städtchens etwas Geld abnehmen und zugleich die Gesellschaft in Atem setzen könne, indes andere in die Küche gingen, um ein besseres Mittagsessen zu bestellen, als man sonst einzunehmen gewohnt war.
Kapitel 2
Nach einigen Tagen kam der Baron, und Melina empfing ihn nicht ohne Furcht. Der Graf hatte ihn als einen Kenner angekündigt, und es war zu besorgen, er werde gar bald die schwache Seite des kleinen Haufens entdecken und einsehen, dass er keine formierte Truppe vor sich habe, indem sie kaum ein Stück gehörig besetzen konnten; allein sowohl der Direktor als die sämtlichen Glieder waren bald aus aller Sorge, da sie an dem Baron einen Mann fanden, der mit dem größten Enthusiasmus das vaterländische Theater betrachtete, dem ein jeder Schauspieler und jede Gesellschaft willkommen und erfreulich war. Er begrüßte sie alle mit Feierlichkeit, pries sich glücklich, eine deutsche Bühne so unvermutet anzutreffen, mit ihr in Verbindung zu kommen und die vaterländischen Musen in das Schloss seines Verwandten einzuführen. Er brachte bald darauf ein Heft aus der Tasche, in welchem Melina die Punkte des Kontraktes zu erblicken hoffte; allein es war ganz etwas anderes. Der Baron bat sie, ein Drama, das er selbst verfertigt und das er von ihnen gespielt zu sehen wünschte, mit Aufmerksamkeit anzuhören. Willig schlossen sie einen Kreis und waren erfreut, mit so geringen Kosten sich in der Gunst eines so notwendigen Mannes befestigen zu können, obgleich ein jeder nach der Dicke des Heftes übermäßig lange Zeit befürchtete. Auch war es wirklich so; das Stück war in fünf Akten geschrieben und von der Art, die gar kein Ende nimmt.
Der Held war ein vornehmer, tugendhafter, großmütiger und dabei verkannter und verfolgter Mann, der aber denn doch zuletzt den Sieg über seine Feinde davontrug, über welche sodann die strengste poetische Gerechtigkeit ausgeübt worden wäre, wenn er ihnen nicht auf der Stelle verziehen hätte.
Indem dieses Stück vorgetragen wurde, hatte jeder Zuhörer Raum genug, an sich selbst zu denken und ganz sachte aus der Demut, zu der er sich noch vor kurzem geneigt fühlte, zu einer glücklichen Selbstgefälligkeit emporzusteigen und von da aus die anmutigsten Aussichten in die Zukunft zu überschauen. Diejenigen, die keine ihnen angemessene Rolle in dem Stück fanden, erklärten es bei sich für schlecht und hielten den Baron für einen unglücklichen Autor, dagegen die andern eine Stelle, bei der sie beklatscht zu werden hofften, mit dem größten Lobe zur möglichsten Zufriedenheit des Verfassers verfolgten.
Mit dem Ökonomischen waren sie geschwind fertig. Melina wusste zu seinem Vorteil mit dem Baron den Kontrakt abzuschließen und ihn vor den übrigen Schauspielern geheim zu halten.
Über Wilhelm sprach Melina den Baron im Vorbeigehen und versicherte, dass er sich sehr gut zum Theaterdichter qualifiziere und zum Schauspieler selbst keine üblen Anlagen habe. Der Baron machte sogleich mit ihm als einem Kollegen Bekanntschaft, und Wilhelm produzierte einige kleine Stücke, die nebst wenigen Reliquien an jenem Tage, als er den größten Teil seiner Arbeiten in Feuer aufgehen ließ, durch einen Zufall gerettet wurden. Der Baron lobte sowohl die Stücke als den Vortrag, nahm als bekannt an, dass er mit hinüber auf das Schloss kommen würde, versprach bei seinem Abschiede allen die beste Aufnahme, bequeme Wohnung, gutes Essen, Beifall und Geschenke, und Melina setzte noch die Versicherung eines bestimmten Taschengeldes hinzu.
Man kann denken, in welche gute Stimmung durch diesen Besuch die Gesellschaft gesetzt war, indem sie statt eines ängstlichen und niedrigen Zustandes auf einmal Ehre und Behagen vor sich sah. Sie machten sich schon zum voraus auf jene Rechnung lustig, und jedes hielt für unschicklich, nur noch irgendeinen Groschen Geld in der Tasche zu behalten.
Wilhelm ging indessen mit sich zu Rate, ob er die Gesellschaft auf das Schloss begleiten solle, und fand in mehr als einem Sinne rätlich, dahin zu gehen. Melina hoffte, bei diesem vorteilhaften Engagement seine Schuld wenigstens zum Teil abtragen zu können, und unser Freund, der auf Menschenkenntnis ausging, wollte die Gelegenheit nicht versäumen, die große Welt näher kennen zu lernen, in der er viele Aufschlüsse über das Leben, über sich selbst und die Kunst zu erlangen hoffte. Dabei durfte er sich nicht gestehen, wie sehr er wünsche, der schönen Gräfin wieder näher zu kommen. Er suchte sich vielmehr im Allgemeinen zu überzeugen, welchen großen Vorteil ihm die nähere Kenntnis der vornehmen und reichen Welt bringen würde. Er machte seine Betrachtungen über den Grafen, die Gräfin, den Baron, über die Sicherheit, Bequemlichkeit und Anmut ihres Betragens und rief, als er allein war, mit Entzücken aus:
„Dreimal glücklich sind diejenigen zu preisen, die ihre Geburt sogleich über die untern Stufen der Menschheit hinaushebt; die durch jene Verhältnisse, in welchen sich manche gute Menschen die ganze Zeit ihres Lebens abängstigen, nicht durchzugehen, auch nicht einmal darin als Gäste zu verweilen brauchen. Allgemein und richtig muss ihr Blick auf dem höheren Standpunkte werden, leicht ein jeder Schritt ihres Lebens! Sie sind von Geburt an gleichsam in ein Schiff gesetzt, um bei der Überfahrt, die wir alle machen müssen, sich des günstigen Windes zu bedienen und den widrigen abzuwarten, anstatt dass andere nur für ihre Person schwimmend sich abarbeiten, vom günstigen Winde wenig Vorteil genießen und im Sturme mit bald erschöpften Kräften untergehen. Welche Bequemlichkeit, welche Leichtigkeit gibt ein angebornes Vermögen! Und wie sicher blühet ein Handel, der auf ein gutes Kapital gegründet ist, so dass nicht jeder misslungene Versuch sogleich in Untätigkeit versetzt! Wer kann den Wert und Unwert irdischer Dinge besser kennen, als der sie zu genießen von Jugend auf im Falle war, und wer kann seinen Geist früher auf das Notwendige, das Nützliche, das Wahre leiten, als der sich von so vielen Irrtümern in einem Alter überzeugen muss, wo es ihm noch an Kräften nicht gebricht, ein neues Leben anzufangen!“
So rief unser Freund allen denenjenigen Glück zu, die sich in den höheren Regionen befinden; aber auch denen, die sich einem solchen Kreise nähern, aus diesen Quellen schöpfen können, und pries seinen Genius, der Anstalt machte, auch ihn diese Stufen hinanzuführen.
Indessen musste Melina, nachdem er lange sich den Kopf zerbrochen, wie er nach dem Verlangen des Grafen und nach seiner eigenen Überzeugung die Gesellschaft in Fächer einteilen und einem jeden seine bestimmte Mitwirkung übertragen wollte, zuletzt, da es an die Ausführung kam, sehr zufrieden sein, wenn er bei einem so geringen Personal die Schauspieler willig fand, sich nach Möglichkeit in diese oder jene Rollen zu schicken. Doch übernahm gewöhnlich Laertes die Liebhaber, Philine die Kammermädchen, die beiden jungen Frauenzimmer teilten sich in die naiven und zärtlichen Liebhaberinnen, der alte Polterer ward am besten gespielt. Melina selbst glaubte als Chevalier auftreten zu dürfen, Madame Melina musste zu ihrem größten Verdruss in das Fach der jungen Frauen, ja sogar der zärtlichen Mütter übergehen, und weil in den neuern Stücken nicht leicht mehr ein Pedant oder Poet, wenn er auch vorkommen sollte, lächerlich gemacht wird, so musste der bekannte Günstling des Grafen nunmehr die Präsidenten und Minister spielen, weil diese gewöhnlich als Bösewichter vorgestellt und im fünften Akte übel behandelt werden. Ebenso steckte Melina mit Vergnügen als Kammerjunker oder Kammerherr die Grobheiten ein, welche ihm von biedern deutschen Männern hergebrachtermaßen in mehreren beliebten Stücken aufgedrungen wurden, weil er sich doch bei dieser Gelegenheit artig herausputzen konnte und das Air eines Hofmannes, das er vollkommen zu besitzen glaubte, anzunehmen die Erlaubnis hatte.
Es dauerte nicht lange, so kamen von verschiedenen Gegenden mehrere Schauspieler herbei geflossen, welche ohne sonderliche Prüfung angenommen, aber auch ohne sonderliche Bedingungen festgehalten wurden.
Wilhelm, den Melina vergebens einige Mal zu einer Liebhaberrolle zu bereden suchte, nahm sich der Sache mit vielem guten Willen an, ohne dass unser neuer Direktor seine Bemühungen im mindesten anerkannte; vielmehr glaubte dieser mit seiner Würde auch alle nötige Einsicht überkommen zu haben; besonders war das Streichen eine seiner angenehmsten Beschäftigungen, wodurch er ein jedes Stück auf das gehörige Zeitmaß herunterzusetzen wusste, ohne irgendeine andere Rücksicht zu nehmen. Er hatte viel Zuspruch, das Publikum war sehr zufrieden, und die geschmackvollsten Einwohner des Städtchens behaupteten, dass das Theater in der Residenz keinesweges so gut als das ihre bestellt sei.
Kapitel 3
Endlich kam die Zeit herbei, dass man sich zur Überfahrt schicken, die Kutschen und Wagen erwarten sollte, die unsere Truppe nach dem Schlosse des Grafen hinüberzuführen bestellt waren. Schon zum voraus fielen große Streitigkeiten vor, wer mit dem andern fahren, wie man sitzen sollte. Die Ordnung und Einteilung ward endlich nur mit Mühe ausgemacht und festgesetzt, doch leider ohne Wirkung. Zur bestimmten Stunde kamen weniger Wagen, als man erwartet hatte, und man musste sich einrichten. Der Baron, der zu Pferde nicht lange hintendrein folgte, gab zur Ursache an, dass im Schlosse alles in großer Bewegung sei, weil nicht allein der Fürst einige Tage früher eintreffen werde, als man geglaubt, sondern weil auch unerwarteter Besuch schon gegenwärtig angelangt sei; der Platz gehe sehr zusammen, sie würden auch deswegen nicht so gut logieren, als man es ihnen vorher bestimmt habe, welches ihm außerordentlich leid tue.
Man teilte sich in die Wagen, so gut es gehen wollte, und da leidlich Wetter und das Schloss nur einige Stunden entfernt war, machten sich die Lustigsten lieber zu Fuße auf den Weg, als dass sie die Rückkehr der Kutschen hätten abwarten sollen. Die Karawane zog mit Freudengeschrei aus, zum ersten Mal ohne Sorgen, wie der Wirt zu bezahlen sei. Das Schloss des Grafen stand ihnen wie ein Feengebäude vor der Seele, sie waren die glücklichsten und fröhlichsten Menschen von der Welt, und jeder knüpfte unterwegs an diesen Tag, nach seiner Art zu denken, eine Reihe von Glück, Ehre und Wohlstand.
Ein starker Regen, der unerwartet einfiel, konnte sie nicht aus diesen angenehmen Empfindungen reißen; da er aber immer anhaltender und stärker wurde, spürten viele von ihnen eine ziemliche Unbequemlichkeit. Die Nacht kam herbei, und erwünschter konnte ihnen nichts erscheinen als der durch alle Stockwerke erleuchtete Palast des Grafen, der ihnen von einem Hügel entgegenglänzte, so dass sie die Fenster zählen konnten.
Als sie näher kamen, fanden sie auch alle Fenster der Seitengebäude erhellet. Ein jeder dachte bei sich, welches wohl sein Zimmer werden möchte, und die meisten begnügten sich bescheiden mit einer Stube in der Mansarde oder den Flügeln.
Nun fuhren sie durch das Dorf und am Wirtshause vorbei. Wilhelm ließ halten, um dort abzusteigen; allein der Wirt versicherte, dass er ihm nicht den geringsten Raum anweisen könne. Der Herr Graf habe, weil unvermutete Gäste angekommen, sogleich das ganze Wirtshaus besprochen, an allen Zimmern stehe schon seit gestern mit Kreide deutlich angeschrieben, wer darin wohnen solle. Wider seinen Willen musste also unser Freund mit der übrigen Gesellschaft zum Schlosshofe hineinfahren.
Um die Küchenfeuer in einem Seitengebäude sahen sie geschäftige Köche sich hin und her bewegen und waren durch diesen Anblick schon erquickt; eilig kamen Bediente mit Lichtern auf die Treppe des Hauptgebäudes gesprungen, und das Herz der guten Wanderer quoll über diesen Aussichten auf. Wie sehr verwunderten sie sich dagegen, als sich dieser Empfang in ein entsetzliches Fluchen auflöste. Die Bedienten schimpften auf die Fuhrleute, dass sie hier hereingefahren seien; sie sollten umwenden, rief man, und wieder hinaus nach dem alten Schlosse zu, hier sei kein Raum für diese Gäste! Einem so unfreundlichen und unerwarteten Bescheide fügten sie noch allerlei Spöttereien hinzu und lachten sich untereinander aus, dass sie durch diesen Irrtum in den Regen gesprengt worden. Es goss noch immer, keine Sterne standen am Himmel, und nun wurde die Gesellschaft durch einen holperichten Weg zwischen zwei Mauern in das alte, hintere Schloss gezogen, welches unbewohnt dastand, seit der Vater des Grafen das vordere gebaut hatte. Teils im Hofe, teils unter einem langen, gewölbten Torwege hielten die Wagen still, und die Fuhrleute, Anspanner aus dem Dorfe, spannten aus und ritten ihrer Wege.
Da niemand zum Empfang der Gesellschaft sich zeigte, stiegen sie aus, riefen, suchten; vergebens! Alles blieb finster und still. Der Wind blies durch das hohe Tor, und grauerlich waren die alten Türme und Höfe, wovon sie kaum die Gestalten in der Finsternis unterschieden. Sie froren und schauerten, die Frauen fürchteten sich, die Kinder fingen an zu weinen, ihre Ungeduld vermehrte sich mit jedem Augenblicke, und ein so schneller Glückswechsel, auf den niemand vorbereitet war, brachte sie alle ganz und gar aus der Fassung.
Da sie jeden Augenblick erwarteten, dass jemand kommen und ihnen aufschließen werde, da bald Regen, bald Sturm sie täuschte und sie mehr als einmal den Tritt des erwünschten Schlossvogts zu hören glaubten, blieben sie eine lange Zeit unmutig und untätig, es fiel keinem ein, in das neue Schloss zu gehen und dort mitleidige Seelen um Hilfe anzurufen. Sie konnten nicht begreifen, wo ihr Freund, der Baron, geblieben sei, und waren in einer höchst beschwerlichen Lage.
Endlich kamen wirklich Menschen an, und man erkannte an ihren Stimmen jene Fußgänger, die auf dem Wege hinter den Fahrenden zurückgeblieben waren. Sie erzählten, dass der Baron mit dem Pferde gestürzt sei, sich am Fuße stark beschädigt habe, und dass man auch sie, da sie im Schlosse nachgefragt, mit Ungestüm hieher gewiesen habe.
Die ganze Gesellschaft war in der größten Verlegenheit; man ratschlagte, was man tun sollte, und konnte keinen Entschluss fassen. Endlich sah man von weitem eine Laterne kommen und holte frischen Atem; allein die Hoffnung einer baldigen Erlösung verschwand auch wieder, indem die Erscheinung näher kam und deutlich ward. Ein Reitknecht leuchtete dem bekannten Stallmeister des Grafen vor, und dieser erkundigte sich, als er näher kam, sehr eifrig nach Mademoiselle Philine. Sie war kaum aus dem übrigen Haufen hervorgetreten, als er ihr sehr dringend anbot, sie in das neue Schloss zu führen, wo ein Plätzchen für sie bei den Kammerjungfern der Gräfin bereitet sei. Sie besann sich nicht lange, das Anerbieten dankbar zu ergreifen, fasste ihn bei dem Arme und wollte, da sie den andern ihren Koffer empfohlen, mit ihm forteilen; allein man trat ihnen in den Weg, fragte, bat, beschwor den Stallmeister, dass er endlich, um nur mit seiner Schönen loszukommen, alles versprach und versicherte, in kurzem solle das Schloss eröffnet und sie auf das beste einquartiert werden. Bald darauf sahen sie den Schein seiner Laterne verschwinden und hofften lange vergebens auf das neue Licht, das ihnen endlich nach vielem Warten, Schelten und Schmähen erschien und sie mit einigem Troste und Hoffnung belebte.
Ein alter Hausknecht eröffnete die Türe des alten Gebäudes, in das sie mit Gewalt eindrangen. Ein jeder sorgte nun für seine Sachen, sie abzupacken, sie hereinzuschaffen. Das meiste war, wie die Personen selbst, tüchtig durchweicht. Bei dem einen Lichte ging alles sehr langsam. Im Gebäude stieß man sich, stolperte, fiel. Man bat um mehr Lichter, man bat um Feuerung. Der einsilbige Hausknecht ließ mit genauer Not seine Laterne da, ging und kam nicht wieder.
Nun fing man an das Haus zu durchsuchen; die Türen aller Zimmer waren offen; große Öfen, gewirkte Tapeten, eingelegte Fußböden waren von seiner vorigen Pracht noch übrig, von anderm Hausgeräte aber nichts zu finden, kein Tisch, kein Stuhl, kein Spiegel, kaum einige ungeheuere leere Bettstellen, alles Schmuckes und alles Notwendigen beraubt. Die nassen Koffer und Mantelsäcke wurden zu Sitzen gewählt, ein Teil der müden Wandrer bequemte sich auf dem Fußboden, Wilhelm hatte sich auf einige Stufen gesetzt, Mignon lag auf seinen Knien; das Kind war unruhig, und auf seine Frage, was ihm fehlte, antwortete es: „Mich hungert!“ Er fand nichts bei sich, um das Verlangen des Kindes zu stillen, die übrige Gesellschaft hatte jeden Vorrat auch aufgezehrt, und er musste die arme Kreatur ohne Erquickung lassen. Er blieb bei dem ganzen Vorfalle untätig, still in sich gekehrt; denn er war sehr verdrießlich und grimmig, dass er nicht auf seinem Sinne bestanden und bei dem Wirtshause abgestiegen sei, wenn er auch auf dem obersten Boden hätte sein Lager nehmen sollen.
Die übrigen gebärdeten sich jeder nach seiner Art. Einige hatten einen Haufen altes Gehölz in einen ungeheuren Kamin des Saals geschafft und zündeten mit großem Jauchzen den Scheiterhaufen an. Unglücklicherweise ward auch diese Hoffnung, sich zu trocknen und zu wärmen, auf das schrecklichste getäuscht, denn dieser Kamin stand nur zur Zierde da und war von oben herein vermauert; der Dampf trat schnell zurück und erfüllte auf einmal die Zimmer; das dürre Holz schlug prasselnd in Flammen auf, und auch die Flamme ward heraus getrieben; der Zug, der durch die zerbrochenen Fensterscheiben drang, gab ihr eine unstete Richtung, man fürchtete das Schloss anzuzünden, musste das Feuer auseinander ziehen, austreten, dämpfen, der Rauch vermehrte sich, der Zustand wurde unerträglicher, man kam der Verzweiflung nahe.
Wilhelm war vor dem Rauch in ein entferntes Zimmer gewichen, wohin ihm bald Mignon folgte und einen wohl gekleideten Bedienten, der eine hohe, hell brennende, doppelt erleuchtete Laterne trug, hereinführte; dieser wendete sich an Wilhelm, und indem er ihm auf einem schönen, porzellanenen Teller Konfekt und Früchte überreichte, sagte er: „Dies schickt Ihnen das junge Frauenzimmer von drüben, mit der Bitte, zur Gesellschaft zu kommen; sie lässt sagen“, setzte der Bediente mit einer leichtfertigen Miene hinzu, „es geht ihr sehr wohl, und sie wünsche ihre Zufriedenheit mit ihren Freunden zu teilen.“
Wilhelm erwartete nichts weniger als diesen Antrag, denn er hatte Philine seit dem Abenteuer der steinernen Bank, mit entschiedener Verachtung begegnet und war so fest entschlossen, keine Gemeinschaft mehr mit ihr zu machen, dass er im Begriff stand, die süße Gabe wieder zurückzuschicken, als ein bittender Blick Mignons ihn vermochte, sie anzunehmen und im Namen des Kindes dafür zu danken; die Einladung schlug er ganz aus. Er bat den Bedienten, einige Sorge für die angekommene Gesellschaft zu haben, und erkundigte sich nach dem Baron. Dieser lag zu Bette, hatte aber schon, soviel der Bediente zu sagen wusste, einem andern Auftrag gegeben, für die elend Beherbergten zu sorgen.
Der Bediente ging und hinterließ Wilhelm eins von seinen Lichtern, das dieser in Ermanglung eines Leuchters auf das Fenstergesims kleben musste und nun wenigstens bei seinen Betrachtungen die vier Wände des Zimmers erhellt sah. Denn es währte noch lange, ehe die Anstalten rege wurden, die unsere Gäste zur Ruhe bringen sollten. Nach und nach kamen Lichter, jedoch ohne Lichtputzen, dann einige Stühle, eine Stunde darauf Deckbetten, dann Kissen, alles wohl durchnetzt, und es war schon weit über Mitternacht, als endlich Strohsäcke und Matratzen herbeigeschafft wurden, die, wenn man sie zuerst gehabt hätte, höchst willkommen gewesen wären.
In der Zwischenzeit war auch etwas von Essen und Trinken angelangt, das ohne viele Kritik genossen wurde, ob es gleich einem sehr unordentlichen Abhub ähnlich sah und von der Achtung, die man für die Gäste hatte, kein sonderliches Zeugnis ablegte.
Kapitel 4
Durch die Unart und den Übermut einiger leichtfertigen Gesellen vermehrte sich die Unruhe und das Übel der Nacht, indem sie sich einander neckten, aufweckten und sich wechselsweise allerlei Streiche spielten. Der andere Morgen brach an unter lauten Klagen über ihren Freund, den Baron, dass er sie so getäuscht und ihnen ein ganz anderes Bild von der Ordnung und Bequemlichkeit, in die sie kommen würden, gemacht habe. Doch zur Verwunderung und Trost erschien in aller Frühe der Graf selbst mit einigen Bedienten und erkundigte sich nach ihren Umständen. Er war sehr entrüstet, als er hörte, wie übel es ihnen ergangen, und der Baron, der geführt herbeihinkte, verklagte den Haushofmeister, wie befehlswidrig er sich bei dieser Gelegenheit gezeigt, und glaubte ihm ein rechtes Bad angerichtet zu haben.
Der Graf befahl sogleich, dass alles in seiner Gegenwart zur möglichsten Bequemlichkeit der Gäste geordnet werden solle. Darauf kamen einige Offiziere, die von den Aktricen sogleich Kundschaft nahmen, und der Graf ließ sich die ganze Gesellschaft vorstellen, redete einen jeden bei seinem Namen an und mischte einige Scherze in die Unterredung, dass alle über einen so gnädigen Herrn ganz entzückt waren. Endlich musste Wilhelm auch an die Reihe, an den sich Mignon anhing. Wilhelm entschuldigte sich, so gut er konnte, über seine Freiheit, der Graf hingegen schien seine Gegenwart als bekannt anzunehmen.
Ein Herr, der neben dem Grafen stand, den man für einen Offizier hielt, ob er gleich keine Uniform anhatte, sprach besonders mit unserm Freunde und zeichnete sich vor allen andern aus. Große, hellblaue Augen leuchteten unter einer hohen Stirne hervor, nachlässig waren seine blonden Haare aufgeschlagen, und seine mittlere Statur zeigte ein sehr wackres, festes und bestimmtes Wesen. Seine Fragen waren lebhaft, und er schien sich auf alles zu verstehen, wonach er fragte.
Wilhelm erkundigte sich nach diesem Manne bei dem Baron, der aber nicht viel Gutes von ihm zu sagen wusste. Er habe den Charakter als Major, sei eigentlich der Günstling des Prinzen, versehe dessen geheimste Geschäfte und werde für dessen rechten Arm gehalten, ja man habe Ursache zu glauben, er sei sein natürlicher Sohn. In Frankreich, England, Italien sei er mit Gesandtschaften gewesen, er werde überall sehr distinguiert, und das mache ihn einbildisch; er wähne, die deutsche Literatur aus dem Grunde zu kennen, und erlaube sich allerlei schale Spöttereien gegen dieselbe. Er, der Baron, vermeide alle Unterredung mit ihm, und Wilhelm werde wohl tun, sich auch von ihm entfernt zu halten, denn am Ende gebe er jedermann etwas ab. Man nenne ihn Jarno, wisse aber nicht recht, was man aus dem Namen machen solle.
Wilhelm hatte darauf nichts zu sagen, denn er empfand gegen den Fremden, ob er gleich etwas Kaltes und Abstoßendes hatte, eine gewisse Neigung.
Die Gesellschaft wurde in dem Schlosse eingeteilt, und Melina befahl sehr strenge, sie sollten sich nunmehr ordentlich halten, die Frauen sollten besonders wohnen und jeder nur auf seine Rollen, auf die Kunst sein Augenmerk und seine Neigung richten. Er schlug Vorschriften und Gesetze, die aus vielen Punkten bestanden, an alle Türen. Die Summe der Strafgelder war bestimmt, die ein jeder Übertreter in eine gemeine Büchse entrichten sollte.
Diese Verordnungen wurden wenig geachtet. Junge Offiziere gingen aus und ein, spaßten nicht eben auf das feinste mit den Aktricen, hatten die Akteure zum Besten und vernichteten die ganze kleine Polizeiordnung, noch ehe sie Wurzel fassen konnte. Man jagte sich durch die Zimmer, verkleidete sich, versteckte sich. Melina, der anfangs einigen Ernst zeigen wollte, ward mit allerlei Mutwillen auf das Äußerste gebracht, und als ihn bald darauf der Graf holen ließ, um den Platz zu sehen, wo das Theater aufgerichtet werden sollte, ward das Übel nur immer ärger. Die jungen Herren ersannen sich allerlei platte Späße, durch Hilfe einiger Akteure wurden sie noch plumper, und es schien, als wenn das ganze alte Schloss vom wütenden Heere besessen sei; auch endigte der Unfug nicht eher, als bis man zur Tafel ging.
Der Graf hatte Melina in einen großen Saal geführt, der noch zum alten Schlosse gehörte, durch eine Galerie mit dem neuen verbunden war und worin ein kleines Theater sehr wohl aufgestellt werden konnte. Daselbst zeigte der einsichtsvolle Hausherr, wie er alles wolle eingerichtet haben.
Nun ward die Arbeit in großer Eile vorgenommen, das Theatergerüste aufgeschlagen und ausgeziert, was man von Dekorationen in dem Gepäcke hatte und brauchen konnte, angewendet und das übrige mit Hülfe einiger geschickten Leute des Grafen verfertiget. Wilhelm griff selbst mit an, half die Perspektive bestimmen, die Umrisse abschnüren und war höchst beschäftigt, dass es nicht unschicklich werden sollte. Der Graf, der öfters dazu kam, war sehr zufrieden damit, zeigte, wie sie das, was sie wirklich taten, eigentlich machen sollten, und ließ dabei ungemeine Kenntnisse jeder Kunst sehen.
Nun fing das Probieren recht ernstlich an, wozu sie auch Raum und Muße genug gehabt hätten, wenn sie nicht von den vielen anwesenden Fremden immer gestört worden wären. Denn es kamen täglich neue Gäste an, und ein jeder wollte die Gesellschaft in Augenschein nehmen.
Kapitel 5
Der Baron hatte Wilhelm einige Tage mit der Hoffnung hingehalten, dass er der Gräfin noch besonders vorgestellt werden sollte. – „Ich habe“, sagte er, „dieser vortrefflichen Dame so viel von Ihren geistreichen und empfindungsvollen Stücken erzählt, dass sie nicht erwarten kann, Sie zu sprechen und sich eins und das andere vorlesen zu lassen. Halten Sie sich ja gefasst, auf den ersten Wink hinüberzukommen, denn bei dem nächsten ruhigen Morgen werden Sie gewiss gerufen werden.“ Er bezeichnete ihm darauf das Nachspiel, welches er zuerst vorlesen sollte, wodurch er sich ganz besonders empfehlen würde. Die Dame bedaure gar sehr, dass er zu einer solchen unruhigen Zeit eingetroffen sei und sich mit der übrigen Gesellschaft in dem alten Schlosse schlecht behelfen müsse.
Mit großer Sorgfalt nahm darauf Wilhelm das Stück vor, womit er seinen Eintritt in die große Welt machen sollte. „Du hast“, sagte er, „bisher im stillen für dich gearbeitet, nur von einzelnen Freunden Beifall erhalten; du hast eine Zeitlang ganz an deinem Talente verzweifelt, und du musst immer noch in Sorgen sein, ob du denn auch auf dem rechten Wege bist und ob du soviel Talent als Neigung zum Theater hast. Vor den Ohren solcher geübten Kenner, im Kabinette, wo keine Illusion stattfindet, ist der Versuch weit gefährlicher als anderwärts, und ich möchte doch auch nicht gerne zurückbleiben, diesen Genuss an meine vorigen Freuden knüpfen und die Hoffnung auf die Zukunft erweitern.“
Er nahm darauf einige Stücke durch, las sie mit der größten Aufmerksamkeit, korrigierte hier und da, rezitierte sie sich laut vor, um auch in Sprache und Ausdruck recht gewandt zu sein, und steckte dasjenige, welches er am meisten geübt, womit er die größte Ehre einzulegen glaubte, in die Tasche, als er an einem Morgen hinüber vor die Gräfin gefordert wurde.
Der Baron hatte ihm versichert, sie würde allein mit einer guten Freundin sein. Als er in das Zimmer trat, kam die Baronesse von C** ihm mit vieler Freundlichkeit entgegen, freute sich, seine Bekanntschaft zu machen, und präsentierte ihn der Gräfin, die sich eben frisieren ließ und ihn mit freundlichen Worten und Blicken empfing, neben deren Stuhl er aber leider Philine knien und allerlei Torheiten machen sah. – „Das schöne Kind“, sagte die Baronesse, „hat uns Verschiedenes vorgesungen. Endige Sie doch das angefangene Liedchen, damit wir nichts davon verlieren.“
Wilhelm hörte das Stückchen mit großer Geduld an, indem er die Entfernung des Friseurs wünschte, ehe er seine Vorlesung anfangen wollte. Man bot ihm eine Tasse Schokolade an, wozu ihm die Baronesse selbst den Zwieback reichte. Dessen ungeachtet schmeckte ihm das Frühstück nicht, denn er wünschte zu lebhaft, der schönen Gräfin irgendetwas vorzutragen, was sie interessieren, wodurch er ihr gefallen könnte. Auch Philine war ihm nur zu sehr im Wege, die ihm als Zuhörerin oft schon unbequem gewesen war. Er sah mit Schmerzen dem Friseur auf die Hände und hoffte in jedem Augenblicke mehr auf die Vollendung des Baues.
Indessen war der Graf herein getreten und erzählte von den heut zu erwartenden Gästen, von der Einteilung des Tages, und was sonst etwa Häusliches vorkommen möchte. Da er hinausging, ließen einige Offiziere bei der Gräfin um die Erlaubnis bitten, ihr, weil sie noch vor Tafel wegreisen müssten, aufwarten zu dürfen. Der Kammerdiener war indessen fertig geworden, und sie ließ die Herren hereinkommen.
Die Baronesse gab sich inzwischen Mühe, unsern Freund zu unterhalten und ihm viele Achtung zu bezeigen, die er mit Ehrfurcht, obgleich etwas zerstreut, aufnahm. Er fühlte manchmal nach dem Manuskripte in der Tasche, hoffte auf jeden Augenblick, und fast wollte seine Geduld reißen, als ein Galanteriehändler hereingelassen wurde, der seine Pappen, Kasten, Schachteln unbarmherzig eine nach der andern eröffnete und jede Sorte seiner Waren mit einer diesem Geschlechte eigenen Zudringlichkeit vorwies.
Die Gesellschaft vermehrte sich. Die Baronesse sah Wilhelm an und sprach leise mit der Gräfin; er bemerkte es, ohne die Absicht zu verstehen, die ihm endlich zu Hause klar wurde, als er sich nach einer ängstlich und vergebens durchharrten Stunde weg begab. Er fand ein schönes englisches Portefeuille in der Tasche. Die Baronesse hatte es ihm heimlich beizustecken gewusst, und gleich darauf folgte der Gräfin kleiner Mohr, der ihm eine artig gestickte Weste überbrachte, ohne recht deutlich zu sagen, woher sie komme.
Kapitel 6
Das Gemisch der Empfindungen von Verdruss und Dankbarkeit verdarb ihm den ganzen Rest des Tages, bis er gegen Abend wieder Beschäftigung fand, indem Melina ihm eröffnete, der Graf habe von einem Vorspiele gesprochen, das dem Prinzen zu Ehren den Tag seiner Ankunft aufgeführt werden sollte. Er wolle darin die Eigenschaften dieses großen Helden und Menschenfreundes personifizieret haben. Diese Tugenden sollten miteinander auftreten, sein Lob verkündigen und zuletzt seine Büste mit Blumen- und Lorbeerkränzen umwinden, wobei sein verzogener Name mit dem Fürstenhute durchscheinend glänzen sollte. Der Graf habe ihm aufgegeben, für die Versifikation und übrige Einrichtung dieses Stückes zu sorgen, und er hoffe, dass ihm Wilhelm, dem es etwas Leichtes sei, hierin gerne beistehen werde.
„Wie!“, rief dieser verdrießlich aus, „haben wir nichts als Porträte, verzogene Namen und allegorische Figuren, um einen Fürsten zu ehren, der nach meiner Meinung ein ganz anderes Lob verdient? Wie kann es einem vernünftigen Manne schmeicheln, sich in effigie aufgestellt und seinen Namen auf geöltem Papiere schimmern zu sehen! Ich fürchte sehr, die Allegorien würden, besonders bei unserer Garderobe, zu manchen Zweideutigkeiten und Späßen Anlass geben. Wollen Sie das Stück machen oder machen lassen, so kann ich nichts dawider haben, nur bitte ich, dass ich damit verschont bleibe.“
Melina entschuldigte sich, es sei nur die ungefähre Angabe des Herrn Grafen, der ihnen übrigens ganz überlasse, wie sie das Stück arrangieren wollten. „Herzlich gerne“, versetzte Wilhelm, „trage ich etwas zum Vergnügen dieser vortrefflichen Herrschaft bei, und meine Muse hat noch kein so angenehmes Geschäft gehabt, als zum Lob eines Fürsten, der so viel Verehrung verdient, auch nur stammelnd sich hören zu lassen. Ich will der Sache nachdenken; vielleicht gelingt es mir, unsre kleine Truppe so zu stellen, dass wir doch wenigstens einigen Effekt machen.“
Von diesem Augenblicke sann Wilhelm eifrig dem Auftrage nach. Ehe er einschlief, hatte er alles schon ziemlich geordnet, und den andern Morgen bei früher Zeit, war der Plan fertig, die Szenen entworfen, ja schon einige der vornehmsten Stellen und Gesänge in Verse und zu Papier gebracht.
Wilhelm eilte morgens gleich, den Baron wegen gewisser Umstände zu sprechen, und legte ihm seinen Plan vor. Diesem gefiel er sehr wohl, doch bezeigte er einige Verwunderung. Denn er hatte den Grafen gestern Abend von einem ganz andern Stücke sprechen hören, welches nach seiner Angabe in Verse gebracht werden sollte.
„Es ist mir nicht wahrscheinlich“, versetzte Wilhelm, „dass es die Absicht des Herrn Grafen gewesen sei, gerade das Stück, so wie er es Melina angegeben, fertigen zu lassen; wenn ich nicht irre, so wollte er uns bloß durch einen Fingerzeig auf den rechten Weg weisen. Der Liebhaber und Kenner zeigt dem Künstler an, was er wünscht, und überlässt ihm alsdann die Sorge, das Werk hervorzubringen.“
„Mitnichten“, versetzte der Baron; „der Herr Graf verlässt sich darauf, dass das Stück so und nicht anders, wie er es angegeben, aufgeführt werde. Das Ihrige hat freilich eine entfernte Ähnlichkeit mit seiner Idee, und wenn wir es durchsetzen und ihn von seinen ersten Gedanken abbringen wollen, so müssen wir es durch die Damen bewirken. Vorzüglich weiß die Baronesse dergleichen Operationen meisterhaft anzulegen; es wird die Frage sein, ob ihr der Plan so gefällt, dass sie sich der Sache annehmen mag, und dann wird es gewiss gehen.“
„Wir brauchen ohnedies die Hilfe der Damen“, sagte Wilhelm, „denn es möchte unser Personal und unsere Garderobe zu der Ausführung nicht hinreichen. Ich habe auf einige hübsche Kinder gerechnet, die im Hause hin und wider laufen und die dem Kammerdiener und dem Haushofmeister zugehören.“
Darauf ersuchte er den Baron, die Damen mit seinem Plan bekannt zu machen. Dieser kam bald zurück und brachte die Nachricht, sie wollten ihn selbst sprechen. Heute Abend, wenn die Herren sich zum Spiele setzten, das ohnedies wegen der Ankunft eines gewissen Generals ernsthafter werden würde als gewöhnlich, wollten sie sich unter dem Vorwande einer Unpässlichkeit in ihr Zimmer zurückziehen, er sollte durch die geheime Treppe eingeführt werden und könne alsdann seine Sache auf das Beste vortragen. Diese Art von Geheimnis gebe der Angelegenheit nunmehr einen doppelten Reiz, und die Baronesse besonders freue sich wie ein Kind auf dieses Rendezvous und noch mehr darauf, dass es heimlich und geschickt gegen den Willen des Grafen unternommen werden sollte.
Gegen Abend, um die bestimmte Zeit, ward Wilhelm abgeholt und mit Vorsicht hinaufgeführt. Die Art, mit der ihm die Baronesse in einem kleinen Kabinette entgegenkam, erinnerte ihn einen Augenblick an vorige glückliche Zeiten. Sie brachte ihn in das Zimmer der Gräfin, und nun ging es an ein Fragen, an ein Untersuchen. Er legte seinen Plan mit der möglichsten Wärme und Lebhaftigkeit vor, so dass die Damen dafür ganz eingenommen wurden, und unsere Leser werden erlauben, dass wir sie auch in der Kürze damit bekannt machen.
In einer ländlichen Szene sollten Kinder das Stück mit einem Tanze eröffnen, der jenes Spiel vorstellte, wo eins herumgehen und dem andern einen Platz abgewinnen muss. Darauf sollten sie mit andern Scherzen abwechseln und zuletzt zu einem immer wiederkehrenden Reihentanze ein fröhliches Lied singen. Darauf sollte der Harfner mit Mignon herbeikommen, Neugierde erregen und mehrere Landleute herbeilocken; der Alte sollte verschiedene Lieder zum Lobe des Friedens, der Ruhe, der Freude singen und Mignon darauf den Eiertanz tanzen.
In dieser unschuldigen Freude werden sie durch eine kriegerische Musik gestört und die Gesellschaft von einem Trupp Soldaten überfallen. Die Mannspersonen setzen sich zur Wehre und werden überwunden, die Mädchen fliehen und werden eingeholt. Es scheint alles im Getümmel zugrunde zu gehen, als eine Person, über deren Bestimmung der Dichter noch ungewiss war, herbeikommt und durch die Nachricht, dass der Heerführer nicht weit sei, die Ruhe wiederherstellt. Hier wird der Charakter des Helden mit den schönsten Zügen geschildert, mitten unter den Waffen Sicherheit versprochen, dem Übermut und der Gewalttätigkeit Schranken gesetzt. Es wird ein allgemeines Fest zu Ehren des großmütigen Heerführers begangen.
Die Damen waren mit dem Plan sehr zufrieden, nur behaupteten sie, es müsse notwendig etwas Allegorisches in dem Stücke sein, um es dem Herrn Grafen angenehm zu machen. Der Baron tat den Vorschlag, den Anführer der Soldaten als den Genius der Zwietracht und der Gewalttätigkeit zu bezeichnen; zuletzt aber müsse Minerva herbeikommen, ihm Fesseln anzulegen, Nachricht von der Ankunft des Helden zu geben und dessen Lob zu preisen. Die Baronesse übernahm das Geschäft, den Grafen zu überzeugen, dass der von ihm angegebene Plan, nur mit einiger Veränderung, ausgeführt worden sei; dabei verlangte sie ausdrücklich, dass am Ende des Stücks notwendig die Büste, der verzogene Namen und der Fürstenhut erscheinen müssten, weil sonst alle Unterhandlung vergeblich sein würde.
Wilhelm, der sich schon im Geiste vorgestellt hatte, wie fein er seinen Helden aus dem Munde der Minerva preisen wollte, gab nur nach langem Widerstande in diesem Punkte nach, allein er fühlte sich auf eine sehr angenehme Weise gezwungen. Die schönen Augen der Gräfin und ihr liebenswürdiges Betragen hätten ihn gar leicht bewogen, auch auf die schönste und angenehmste Erfindung, auf die so erwünschte Einheit einer Komposition und auf alle schicklichen Details Verzicht zu tun und gegen sein poetisches Gewissen zu handeln. Ebenso stand auch seinem bürgerlichen Gewissen ein harter Kampf bevor, indem bei bestimmterer Austeilung der Rollen die Damen ausdrücklich darauf bestanden, dass er mitspielen müsse.
Laertes hatte zu seinem Teil jenen gewalttätigen Kriegsgott erhalten, Wilhelm sollte den Anführer der Landleute vorstellen, der einige sehr artige und gefühlvolle Verse zu sagen hatte. Nachdem er sich eine Zeitlang gesträubt, musste er sich endlich doch ergeben; besonders fand er keine Entschuldigung, da die Baronesse ihm vorstellte, die Schaubühne hier auf dem Schlosse sei ohnedem nur als ein Gesellschaftstheater anzusehen, auf dem sie gern, wenn man nur eine schickliche Einleitung machen könnte, mitzuspielen wünschte. Darauf entließen die Damen unsern Freund mit vieler Freundlichkeit. Die Baronesse versicherte ihm, dass er ein unvergleichlicher Mensch sei, und begleitete ihn bis an die kleine Treppe, wo sie ihm mit einem Händedruck gute Nacht gab.
Kapitel 7
Befeuert durch den aufrichtigen Anteil, den die Frauenzimmer an der Sache nahmen, ward der Plan, der ihm durch die Erzählung gegenwärtiger geworden war, ganz lebendig. Er brachte den größten Teil der Nacht und den andern Morgen mit der sorgfältigsten Versifikation des Dialogs und der Lieder zu.
Er war so ziemlich fertig, als er in das neue Schloss gerufen wurde, wo er hörte, dass die Herrschaft, die eben frühstückte, ihn sprechen wollte. Er trat in den Saal; die Baronesse kam ihm wieder zuerst entgegen, und unter dem Vorwande, als wenn sie ihm einen guten Morgen bieten wollte, lispelte sie heimlich zu ihm: „Sagen Sie nichts von Ihrem Stücke, als was Sie gefragt werden.“
„Ich höre“, rief ihm der Graf zu, „Sie sind recht fleißig und arbeiten an meinem Vorspiele, das ich zu Ehren des Prinzen geben will. Ich billige, dass Sie eine Minerva darin anbringen wollen, und ich denke beizeiten darauf, wie die Göttin zu kleiden ist, damit man nicht gegen das Kostüm verstößt. Ich lasse deswegen aus meiner Bibliothek alle Bücher herbeibringen, worin sich das Bild derselben befindet.“
In eben dem Augenblicke traten einige Bedienten mit großen Körben voll Bücher allerlei Formats in den Saal.
Montfaucon, die Sammlungen antiker Statuen, Gemmen und Münzen, alle Arten mythologischer Schriften wurden aufgeschlagen und die Figuren verglichen. Aber auch daran war es noch nicht genug! Des Grafen vortreffliches Gedächtnis stellte ihm alle Minerven vor, die etwa noch auf Titelkupfern, Vignetten oder sonst vorkommen mochten. Es musste deshalb ein Buch nach dem andern aus der Bibliothek herbeigeschafft werden, so dass der Graf zuletzt in einem Haufen von Büchern saß. Endlich, da ihm keine Minerva mehr einfiel, rief er mit Lachen aus: „Ich wollte wetten, dass nun keine Minerva mehr in der ganzen Bibliothek sei, und es möchte wohl das erste Mal vorkommen, dass eine Büchersammlung so ganz und gar des Bildes ihrer Schutzgöttin entbehren muss.“
Die ganze Gesellschaft freute sich über den Einfall, und besonders Jarno, der den Grafen immer mehr Bücher herbeizuschaffen gereizt hatte, lachte ganz unmäßig.
„Nunmehr“, sagte der Graf, indem er sich zu Wilhelm wendete, „ist es eine Hauptsache, welche Göttin meinen Sie? Minerva oder Pallas? Die Göttin des Krieges oder der Künste?“
„Sollte es nicht am schicklichsten sein, Ew. Exzellenz“, versetzte Wilhelm, „wenn man hierüber sich nicht bestimmt ausdrückte und sie, eben weil sie in der Mythologie eine doppelte Person spielt, auch hier in doppelter Qualität erscheinen ließe? Sie meldet einen Krieger an, aber nur, um das Volk zu beruhigen, sie preist einen Helden, indem sie seine Menschlichkeit erhebt, sie überwindet die Gewalttätigkeit und stellt die Freude und Ruhe unter dem Volke wieder her.“
Die Baronesse, der es bange wurde, Wilhelm möchte sich verraten, schob geschwind den Leibschneider der Gräfin dazwischen, der seine Meinung abgeben musste, wie ein solcher antiker Rock auf das beste gefertigt werden könnte. Dieser Mann, in Maskenarbeiten erfahren, wusste die Sache sehr leicht zu machen, und da Madame Melina ungeachtet ihrer hohen Schwangerschaft die Rolle der himmlischen Jungfrau übernommen hatte, so wurde er angewiesen, ihr das Maß zu nehmen, und die Gräfin bezeichnete, wiewohl mit einigem Unwillen ihrer Kammerjungfern, die Kleider aus der Garderobe, welche dazu verschnitten werden sollten.
Auf eine geschickte Weise wusste die Baronesse Wilhelm wieder beiseite zu schaffen und ließ ihn bald darauf wissen, sie habe die übrigen Sachen auch besorgt. Sie schickte ihm zugleich den Musikus, der des Grafen Hauskapelle dirigierte, damit dieser teils die notwendigen Stücke komponieren, teils schickliche Melodien aus dem Musikvorrat dazu aussuchen sollte. Nunmehr ging alles nach Wunsche, der Graf fragte dem Stücke nicht weiter nach, sondern war hauptsächlich mit der transparenten Dekoration beschäftigt, welche am Ende des Stückes die Zuschauer überraschen sollte. Seine Erfindung und die Geschicklichkeit seines Konditors brachten zusammen wirklich eine recht angenehme Erleuchtung zuwege. Denn auf seinen Reisen hatte er die größten Feierlichkeiten dieser Art gesehen, viele Kupfer und Zeichnungen mitgebracht und wusste, was dazu gehörte, mit vielem Geschmacke anzugeben.
Unterdessen endigte Wilhelm sein Stück, gab einem jeden seine Rolle, übernahm die seinige, und der Musikus, der sich zugleich sehr gut auf den Tanz verstand, richtete das Ballett ein, und so ging alles zum Besten.
Nur ein unerwartetes Hindernis legte sich in den Weg, das ihm eine böse Lücke zu machen drohte. Er hatte sich den größten Effekt von Mignons Eiertanze versprochen, und wie erstaunt war er daher, als das Kind ihm mit seiner gewöhnlichen Trockenheit abschlug zu tanzen, versicherte, es sei nunmehr sein und werde nicht mehr auf das Theater gehen. Er suchte es durch allerlei Zureden zu bewegen und ließ nicht eher ab, als bis es bitterlich zu weinen anfing, ihm zu Füßen fiel und rief: „Lieber Vater! Bleib auch du von den Brettern!“ Er merkte nicht auf diesen Wink und sann, wie er durch eine andere Wendung die Szene interessant machen wollte.
Philine, die eins von den Landmädchen machte und in dem Reihentanz die einzelne Stimme singen und die Verse dem Chore zubringen sollte, freute sich recht ausgelassen darauf. Übrigens ging ihr es vollkommen nach Wunsche; sie hatte ihr besonderes Zimmer, war immer um die Gräfin, die sie mit ihren Affenpossen unterhielt und dafür täglich etwas geschenkt bekam; ein Kleid zu diesem Stücke wurde auch für sie zurechte gemacht; und weil sie von einer leichten nachahmenden Natur war, so hatte sie sich bald aus dem Umgange der Damen so viel gemerkt, als sich für sie schickte, und war in kurzer Zeit voll Lebensart und guten Betragens geworden. Die Sorgfalt des Stallmeisters nahm mehr zu als ab, und da die Offiziere auch stark auf sie eindrangen und sie sich in einem so reichlichen Elemente befand, fiel es ihr ein, auch einmal die Spröde zu spielen und auf eine geschickte Weise sich in einem gewissen vornehmen Ansehen zu üben. Kalt und fein, wie sie war, kannte sie in acht Tagen die Schwächen des ganzen Hauses, dass, wenn sie absichtlich hätte verfahren können, sie gar leicht ihr Glück würde gemacht haben. Allein auch hier bediente sie sich ihres Vorteils nur, um sich zu belustigen, um sich einen guten Tag zu machen und impertinent zu sein, wo sie merkte, dass es ohne Gefahr geschehen konnte.
Die Rollen waren gelernt, eine Hauptprobe des Stücks ward befohlen, der Graf wollte dabei sein, und seine Gemahlin fing an zu sorgen, wie er es aufnehmen möchte. Die Baronesse berief Wilhelmen heimlich, und man zeigte, je näher die Stunde herbeirückte, immer mehr Verlegenheit: Denn es war doch eben ganz und gar nichts von der Idee des Grafen übrig geblieben. Jarno, der eben herein trat, wurde in das Geheimnis gezogen. Es freute ihn herzlich, und er war geneigt, seine guten Dienste den Damen anzubieten. „Es wäre gar schlimm“, sagte er, „gnädige Frau, wenn Sie sich aus dieser Sache nicht allein heraushelfen wollten; doch auf alle Fälle will ich im Hinterhalte liegen bleiben.“ Die Baronesse erzählte hierauf, wie sie bisher dem Grafen das ganze Stück, aber nur immer stellenweise und ohne Ordnung erzählt habe, dass er also auf jedes einzelne vorbereitet sei; nur stehe er freilich in Gedanken, das Ganze werde mit seiner Idee zusammentreffen. „Ich will mich“, sagte sie, „heute Abend in der Probe zu ihm setzen und ihn zu zerstreuen suchen. Den Konditor habe ich auch schon vorgehabt, dass er ja die Dekorationen am Ende recht schön macht, dabei aber doch etwas Geringes fehlen lässt.“
„Ich wüsste einen Hof“, versetzte Jarno, „wo wir so tätige und kluge Freunde brauchten, als Sie sind. Will es heute Abend mit Ihren Künsten nicht mehr fort, so winken Sie mir, und ich will den Grafen herausholen und ihn nicht eher wieder hineinlassen, bis Minerva auftritt und von der Illumination bald Sukkurs zu hoffen ist. Ich habe ihm schon seit einigen Tagen etwas zu eröffnen, das seinen Vetter betrifft und das ich noch immer aus Ursachen aufgeschoben habe. Es wird ihm auch das eine Distraktion geben, und zwar nicht die angenehmste.“
Einige Geschäfte hinderten den Grafen, beim Anfange der Probe zu sein, dann unterhielt ihn die Baronesse. Jarnos Hülfe war gar nicht nötig. Denn indem der Graf genug zurecht zu weisen, zu verbessern und anzuordnen hatte, vergaß er sich ganz und gar darüber, und da Frau Melina zuletzt nach seinem Sinne sprach und die Illumination gut ausfiel, bezeigte er sich vollkommen zufrieden. Erst als alles vorbei war und man zum Spiel ging, schien ihm der Unterschied aufzufallen, und er fing an nachzudenken, ob denn das Stück auch wirklich von seiner Erfindung sei? Auf einen Wink fiel nun Jarno aus seinem Hinterhalte hervor, der Abend verging, die Nachricht, dass der Prinz wirklich komme, bestätigte sich, man ritt einige Mal aus, die Avantgarde in der Nachbarschaft kampieren zu sehen, das Haus war voll Lärmen und Unruhe, und unsere Schauspieler, die nicht immer zum Besten von den unwilligen Bedienten versorgt wurden, mussten, ohne dass jemand sonderlich sich ihrer erinnerte, in dem alten Schlosse ihre Zeit in Erwartungen und Übungen zubringen.
Kapitel 8
Endlich war der Prinz angekommen; die Generalität, die Stabsoffiziere und das übrige Gefolge, das zu gleicher Zeit eintraf, die vielen Menschen, die teils zum Besuche, teils geschäftswegen einsprachen, machten das Schloss einem Bienenstocke ähnlich, der eben schwärmen will. Jedermann drängte sich herbei, den vortrefflichen Fürsten zu sehen, und jedermann bewunderte seine Leutseligkeit und Herablassung, jedermann erstaunte, in dem Helden und Heerführer zugleich den gefälligsten Hofmann zu erblicken.
Alle Hausgenossen mussten nach Ordre des Grafen bei der Ankunft des Fürsten auf ihrem Posten sein; kein Schauspieler durfte sich blicken lassen, weil der Prinz mit den vorbereiteten Feierlichkeiten überrascht werden sollte. Und so schien er auch des Abends, als man ihn in den großen, wohl erleuchteten und mit gewirkten Tapeten des vorigen Jahrhunderts ausgezierten Saal führte, ganz und gar nicht auf ein Schauspiel, viel weniger auf ein Vorspiel zu seinem Lobe vorbereitet zu sein. Alles lief auf das Beste ab, und die Truppe musste nach vollendeter Vorstellung herbei und sich dem Prinzen zeigen, der jeden auf die freundlichste Weise etwas zu fragen, jedem auf die gefälligste Art etwas zu sagen wusste. Wilhelm als Autor musste besonders vortreten, und ihm ward gleichfalls sein Teil Beifall zugespendet.
Nach dem Vorspiel fragte niemand sonderlich, in einigen Tagen war es, als wenn nichts dergleichen wäre aufgeführt worden, außer dass Jarno mit Wilhelm gelegentlich davon sprach und es sehr verständig lobte; nur setzte er hinzu: „Es ist schade, dass Sie mit hohlen Nüssen um hohle Nüsse spielen.“ – Mehrere Tage lag Wilhelm dieser Ausdruck im Sinne, er wusste nicht, wie er ihn auslegen, noch was er daraus nehmen sollte.
Unterdessen spielte die Gesellschaft jeden Abend so gut, als sie es nach ihren Kräften vermochte, und tat das Mögliche, um die Aufmerksamkeit der Zuschauer auf sich zu ziehen. Ein unverdienter Beifall munterte sie auf, und in ihrem alten Schlosse glaubten sie nun wirklich, eigentlich um ihretwillen dränge sich die große Versammlung herbei, nach ihren Vorstellungen ziehe sich die Menge der Fremden, und sie seien der Mittelpunkt, um den und um deswillen sich alles drehe und bewege.
Wilhelm allein bemerkte zu seinem großen Verdrusse gerade das Gegenteil. Denn obgleich der Prinz die ersten Vorstellungen von Anfang bis zu Ende, auf seinem Sessel sitzend, mit der größten Gewissenhaftigkeit abwartete, so schien er sich doch nach und nach auf eine gute Weise davon zu dispensieren. Gerade diejenigen, welche Wilhelm im Gespräche als die Verständigsten gefunden hatte, Jarno an ihrer Spitze, brachten nur flüchtige Augenblicke im Theatersaale zu; übrigens saßen sie im Vorzimmer, spielten oder schienen sich von Geschäften zu unterhalten.
Wilhelm verdross gar sehr, bei seinen anhaltenden Bemühungen des erwünschtesten Beifalls zu entbehren. Bei der Auswahl der Stücke, der Abschrift der Rollen, den häufigen Proben, und was sonst nur immer vorkommen konnte, ging er Melina eifrig zur Hand, der ihn denn auch, seine eigene Unzulänglichkeit im stillen fühlend, zuletzt gewähren ließ. Die Rollen memorierte Wilhelm mit Fleiß und trug sie mit Wärme und Lebhaftigkeit und mit soviel Anstand vor, als die wenige Bildung erlaubte, die er sich selbst gegeben hatte.
Die fortgesetzte Teilnahme des Barons benahm indes der übrigen Gesellschaft jeden Zweifel, indem er sie versicherte, dass sie die größten Effekte hervorbringe, besonders indem sie eins seiner eigenen Stücke aufführte; nur bedauerte er, dass der Prinz eine ausschließende Neigung für das französische Theater habe, dass ein Teil seiner Leute hingegen, worunter sich Jarno besonders auszeichne, den Ungeheuern der englischen Bühne einen leidenschaftlichen Vorzug gebe.
War nun auf diese Weise die Kunst unsrer Schauspieler nicht auf das beste bemerkt und bewundert, so waren dagegen ihre Personen den Zuschauern und Zuschauerinnen nicht völlig gleichgültig. Wir haben schon oben angezeigt, dass die Schauspielerinnen gleich von Anfang die Aufmerksamkeit junger Offiziere erregten; allein sie waren in der Folge glücklicher und machten wichtigere Eroberungen. Doch wir schweigen davon und bemerken nur, dass Wilhelm der Gräfin von Tag zu Tag interessanter vorkam, sowie auch in ihm eine stille Neigung gegen sie aufzukeimen anfing. Sie konnte, wenn er auf dem Theater war, die Augen nicht von ihm abwenden, und er schien bald nur allein gegen sie gerichtet zu spielen und zu rezitieren. Sich wechselseitig anzusehen, war ihnen ein unaussprechliches Vergnügen, dem sich ihre harmlosen Seelen ganz überließen, ohne lebhaftere Wünsche zu nähren oder für irgendeine Folge besorgt zu sein.
Wie über einen Fluss hinüber, der sie scheidet, zwei feindliche Vorposten sich ruhig und lustig zusammen besprechen, ohne an den Krieg zu denken, in welchem ihre beiderseitigen Parteien begriffen sind, so wechselte die Gräfin mit Wilhelm bedeutende Blicke über die ungeheure Kluft der Geburt und des Standes hinüber, und jedes glaubte an seiner Seite, sicher seinen Empfindungen nachhängen zu dürfen.
Die Baronesse hatte sich indessen den Laertes ausgesucht, der ihr als ein wackerer, munterer Jüngling besonders gefiel und der, sosehr Weiberfeind er war, doch ein vorbeigehendes Abenteuer nicht verschmähte und wirklich diesmal wider Willen durch die Leutseligkeit und das einnehmende Wesen der Baronesse gefesselt worden wäre, hätte ihm der Baron zufällig nicht einen guten oder, wenn man will, einen schlimmen Dienst erzeigt, indem er ihn mit den Gesinnungen dieser Dame näher bekannt machte.
Denn als Laertes sie einst laut rühmte und sie allen andern ihres Geschlechts vorzog, versetzte der Baron scherzend: „Ich merke schon, wie die Sachen stehen; unsre liebe Freundin hat wieder einen für ihre Ställe gewonnen.“ – Dieses unglückliche Gleichnis, das nur zu klar auf die gefährlichen Liebkosungen einer Circe deutete, verdross Laertes über die Maßen, und er konnte dem Baron nicht ohne Ärgernis zuhören, der ohne Barmherzigkeit fort fuhr:
„Jeder Fremde glaubt, dass er der erste sei, dem ein so angenehmes Betragen gelte; aber er irrt gewaltig, denn wir alle sind einmal auf diesem Wege herumgeführt worden; Mann, Jüngling oder Knabe, er sei, wer er sei, muss sich eine Zeitlang ihr ergeben, ihr anhängen und sich mit Sehnsucht um sie bemühen.“
Den Glücklichen, der eben, in die Gärten einer Zauberin hineintretend, von allen Seligkeiten eines künstlichen Frühlings empfangen wird, kann nichts unangenehmer überraschen, als wenn ihm, dessen Ohr ganz auf den Gesang der Nachtigall lauscht, irgendein verwandelter Vorfahr unvermutet entgegengrunzt.
Laertes schämte sich nach dieser Entdeckung recht von Herzen, dass ihn seine Eitelkeit nochmals verleitet habe, von irgendeiner Frau auch nur im Mindesten gut zu denken. Er vernachlässigte sie nunmehr völlig, hielt sich zu dem Stallmeister, mit dem er fleißig focht und auf die Jagd ging, bei Proben und Vorstellungen aber sich betrug, als wenn dies bloß eine Nebensache wäre.
Der Graf und die Gräfin ließen manchmal morgens einige von der Gesellschaft rufen, da jeder denn immer Philines unverdientes Glück zu beneiden Ursache fand. Der Graf hatte seinen Liebling, den Pedanten, oft stundenlang bei seiner Toilette. Dieser Mensch ward nach und nach bekleidet und bis auf Uhr und Dose equipiert und ausgestattet.
Auch wurde die Gesellschaft manchmal samt und sonders nach Tafel vor die hohen Herrschaften gefordert. Sie schätzten sich es zur größten Ehre und bemerkten es nicht, dass man zu eben derselben Zeit durch Jäger und Bediente eine Anzahl Hunde hereinbringen und Pferde im Schlosshofe vorführen ließ.
Man hatte Wilhelm gesagt, dass er ja gelegentlich des Prinzen Liebling, Racine, loben und dadurch auch von sich eine gute Meinung erwecken solle. Er fand dazu an einem solchen Nachmittage Gelegenheit, da er auch mit vorgefordert worden war und der Prinz ihn fragte, ob er auch fleißig die großen französischen Theaterschriftsteller lese? Darauf ihm denn Wilhelm mit einem sehr lebhaften Ja antwortete. Er bemerkte nicht, dass der Fürst, ohne seine Antwort abzuwarten, schon im Begriff war, sich weg und zu jemand andern zu wenden, er fasste ihn vielmehr sogleich und trat ihm beinah in den Weg, indem er fort fuhr: Er schätze das französische Theater sehr hoch und lese die Werke der großen Meister mit Entzücken; besonders habe er zu wahrer Freude gehört, dass der Fürst den großen Talenten eines Racine völlige Gerechtigkeit widerfahren lasse. „Ich kann es mir vorstellen“, fuhr er fort, „wie vornehme und erhabene Personen einen Dichter schätzen müssen, der die Zustände ihrer höheren Verhältnisse so vortrefflich und richtig schildert. Corneille hat, wenn ich so sagen darf, große Menschen dargestellt, und Racine vornehme Personen. Ich kann mir, wenn ich seine Stücke lese, immer den Dichter denken, der an einem glänzenden Hofe lebt, einen großen König vor Augen hat, mit den Besten umgeht und in die Geheimnisse der Menschheit dringt, wie sie sich hinter kostbar gewirkten Tapeten verbergen. Wenn ich seinen Britannicus, seine Berenice studiere, so kommt es mir wirklich vor, ich sei am Hofe, sei in das Große und Kleine dieser Wohnungen der irdischen Götter geweiht, und ich sehe, durch die Augen eines feinfühlenden Franzosen, Könige, die eine ganze Nation anbetet, Hofleute, die von viel Tausenden beneidet werden, in ihrer natürlichen Gestalt mit ihren Fehlern und Schmerzen. Die Anekdote, dass Racine sich zu Tode gegrämt habe, weil Ludwig der Vierzehnte ihn nicht mehr angesehen, ihn seine Unzufriedenheit fühlen lassen, ist mir ein Schlüssel zu allen seinen Werken, und es ist unmöglich, dass ein Dichter von so großen Talenten, dessen Leben und Tod an den Augen eines Königs hängt, nicht auch Stücke schreiben solle, die des Beifalls eines Königs und eines Fürsten wert seien.“
Jarno war herbei getreten und hörte unserem Freunde mit Verwunderung zu; der Fürst, der nicht geantwortet und nur mit einem gefälligen Blicke seinen Beifall gezeigt hatte, wandte sich seitwärts, obgleich Wilhelm, dem es noch unbekannt war, dass es nicht anständig sei, unter solchen Umständen einen Diskurs fortzusetzen und eine Materie erschöpfen zu wollen, noch gerne mehr gesprochen und dem Fürsten gezeigt hätte, dass er nicht ohne Nutzen und Gefühl seinen Lieblingsdichter gelesen.
„Haben Sie denn niemals“, sagte Jarno, indem er ihn beiseite nahm, „ein Stück von Shakespeare gesehen?“
„Nein“, versetzte Wilhelm, „denn seit der Zeit, dass sie in Deutschland bekannter geworden sind, bin ich mit dem Theater unbekannt worden, und ich weiß nicht, ob ich mich freuen soll, dass sich zufällig eine alte jugendliche Liebhaberei und Beschäftigung gegenwärtig wieder erneuerte. Indessen hat mich alles, was ich von jenen Stücken gehört, nicht neugierig gemacht, solche seltsame Ungeheuer näher kennen zu lernen, die über alle Wahrscheinlichkeit, allen Wohlstand hinaus zu schreiten scheinen.“
„Ich will Ihnen denn doch raten“, versetzte jener, „einen Versuch zu machen; es kann nichts schaden, wenn man auch das Seltsame mit eigenen Augen sieht. Ich will Ihnen ein paar Teile borgen, und Sie können Ihre Zeit nicht besser anwenden, als wenn Sie sich gleich von allem losmachen und in der Einsamkeit Ihrer alten Wohnung in die Zauberlaterne dieser unbekannten Welt sehen. Es ist sündlich, dass Sie Ihre Stunden verderben, diese Affen menschlicher auszuputzen und diese Hunde tanzen zu lehren. Nur eins bedinge ich mir aus, dass Sie sich an die Form nicht stoßen; das übrige kann ich Ihrem richtigen Gefühle überlassen.“
Die Pferde standen vor der Tür, und Jarno setzte sich mit einigen Kavalieren auf, um sich mit der Jagd zu erlustigen. Wilhelm sah ihm traurig nach. Er hätte gern mit diesem Manne noch vieles gesprochen, der ihm, wiewohl auf eine unfreundliche Art, neue Ideen gab, Ideen, deren er bedurfte.
Der Mensch kommt manchmal, indem er sich einer Entwicklung seiner Kräfte, Fähigkeiten und Begriffe nähert, in eine Verlegenheit, aus der ihm ein guter Freund leicht helfen könnte. Er gleicht einem Wanderer, der nicht weit von der Herberge ins Wasser fällt; griffe jemand sogleich zu, risse ihn ans Land, so wäre es um einmal nass werden getan, anstatt dass er sich auch wohl selbst, aber am jenseitigen Ufer, heraushilft und einen beschwerlichen weiten Umweg nach seinem bestimmten Ziele zu machen hat.
Wilhelm fing an zu wittern, dass es in der Welt anders zugehe, als er es sich gedacht. Er sah das wichtige und bedeutungsvolle Leben der Vornehmen und Großen in der Nähe und verwunderte sich, wie einen leichten Anstand sie ihm zu geben wussten. Ein Heer auf dem Marsche, ein fürstlicher Held an seiner Spitze, so viele mitwirkende Krieger, so viele zudringende Verehrer erhöhten seine Einbildungskraft. In dieser Stimmung erhielt er die versprochenen Bücher, und in kurzem, wie man es vermuten kann, ergriff ihn der Strom jenes großen Genius und führte ihn einem unübersehlichen Meere zu, worin er sich gar bald völlig vergaß und verlor.