Kapitel 5
Heftiges Pochen und Rufen an dem äußersten Tor, Wortwechsel drohender und fordernder Stimmen, Licht- und Fackelschein im Hof unterbrachen den zarten Gesang. Aber gedämpft war der Lärm, ehe man dessen Ursache erfahren hatte; doch ruhig ward es nicht, auf der Treppe Geräusch und lebhaftes Hin- und Hersprechen heraufkommender Männer. Die Türe sprang auf ohne Meldung, die Frauen entsetzten sich. Flavio stürzte herein in schauderhafter Gestalt, verworrenen Hauptes, auf dem die Haare teils borstig starrten, teils vom Regen durchnässt niederhingen; zerfetzten Kleides, wie eines, der durch Dorn und Dickicht durchgestürmt, gräulich beschmutzt, als durch Schlamm und Sumpf herangewatet.
„Mein Vater!“, rief er aus, „wo ist mein Vater?“ Die Frauen standen bestürzt; der alte Jäger, sein frühster Diener und liebevollster Pfleger, mit ihm eintretend, rief ihm zu: „Der Vater ist nicht hier, besänftigen Sie sich; hier ist Tante, hier ist Nichte, sehen Sie hin!“ – „Nicht hier, nun so lasst mich weg, ihn zu suchen! Er allein soll’s hören, dann will ich sterben. Lasst mich von den Lichtern weg, von dem Tag, er blendet mich, er vernichtet mich.“
Der Hausarzt trat ein, ergriff seine Hand, vorsichtig den Puls fühlend, mehrere Bediente standen ängstlich umher. – „Was soll ich auf diesen Teppichen? Ich verderbe sie, ich zerstöre sie; mein Unglück träuft auf sie herunter, mein verworfenes Geschick besudelt sie.“ – Er drängte sich gegen die Türe, man benutzte das Bestreben, um ihn wegzuführen und in das entfernte Gastzimmer zu bringen, das der Vater zu bewohnen pflegte. Mutter und Tochter standen erstarrt: Sie hatten Orest gesehen, von Furien verfolgt, nicht durch Kunst veredelt, in gräulicher, widerwärtiger Wirklichkeit, die im Kontrast mit einer behaglichen Glanzwohnung im klarsten Kerzenschimmer nur desto fürchterlicher schien. Erstarrt sahen die Frauen sich an, und jede glaubte in den Augen der andern das Schreckbild zu sehen, das sich so tief in die ihrigen eingeprägt hatte.
Mit halber Besonnenheit sendete darauf die Baronin Bedienten auf Bedienten, sich zu erkundigen. Sie erfuhren zu einiger Beruhigung, dass man ihn auskleide, trockne, besorge; halb gegenwärtig, halb unbewusst lasse er alles geschehen. Wiederholtes Anfragen wurde zur Geduld verwiesen.
Endlich vernahmen die beängstigten Frauen, man habe ihn zur Ader gelassen und sonst alles Besänftigende möglichst angewendet; er sei zur Ruhe gebracht, man hoffe Schlaf.
Mitternacht kam heran; die Baronin verlangte, wenn er schlafe, ihn zu sehen; der Arzt widerstand, der Arzt gab nach; Hilarie drängte sich mit der Mutter herein. Das Zimmer war dunkel, nur eine Kerze dämmerte hinter dem grünen Schirm, man sah wenig, man hörte nichts; die Mutter näherte sich dem Bett, Hilarie, sehnsuchtsvoll, ergriff das Licht und beleuchtete den Schlafenden. So lag er abgewendet, aber ein höchst zierliches Ohr, eine volle Wange, jetzt blässlich, schienen unter den schon wieder sich krausenden Locken auf das anmutigste hervor, eine ruhende Hand und ihre ländlichen, zartkräftigen Finger zogen den unsteten Blick an. Hilarie, leise atmend, glaubte selbst einen leisen Atem zu vernehmen, sie näherte die Kerze, wie Psyche in Gefahr, die heilsamste Ruhe zu stören. Der Arzt nahm die Kerze weg und leuchtete den Frauen nach ihren Zimmern.
Wie diese guten, alles Anteils würdigen Personen ihre nächtlichen Stunden zugebracht, ist uns ein Geheimnis geblieben; den andern Morgen aber von früh an zeigten sich beide höchst ungeduldig. Des Anfragens war kein Ende, der Wunsch, den Leidenden zu sehen, bescheiden, doch dringend; nur gegen Mittag erlaubte der Arzt einen kurzen Besuch.
Die Baronin trat hinzu, Flavio reichte die Hand hin. – „Verzeihung, liebste Tante, einige Geduld, vielleicht nicht lange“ – Hilarie trat hervor, auch ihr gab er die Rechte – „Gegrüßt liebe Schwester.“ – Das fuhr ihr durchs Herz, er ließ nicht los, sie sahen einander an, das herrlichste Paar, kontrastierend im schönsten Sinne. Des Jünglings schwarze, funkelnde Augen stimmten zu den düstern, verwirrten Locken; dagegen stand sie scheinbar himmlisch in Ruhe, doch zu dem erschütternden Begebnis gesellte sich nun die ahnungsvolle Gegenwart. Die Benennung „Schwester“ – ihr Allerinnerstes war aufgeregt. Die Baronin sprach: „Wie geht es, lieber Neffe?“ – „Ganz leidlich, aber man behandelt mich übel.“ – „Wieso?“ – „Da haben sie mir Blut gelassen, das ist grausam; sie haben es weggeschafft, das ist frech; es gehört ja nicht mein, es gehört alles, alles ihr.“ Mit diesen Worten schien sich seine Gestalt zu verwandeln, doch mit heißen Tränen verbarg er sein Antlitz ins Kissen.
Hilaries Miene zeigte der Mutter einen furchtbaren Ausdruck; es war, als wenn das liebe Kind die Pforten der Hölle vor sich eröffnet sähe, zum ersten Mal ein Ungeheures erblickte und für ewig. Rasch, leidenschaftlich eilte sie durch den Saal, warf sich im letzten Kabinett auf den Sofa, die Mutter folgte und fragte, was sie leider schon begriff. Hilarie, wundersam aufblickend, rief: „Das Blut, das Blut, es gehört alles ihr, alles ihr, und sie ist es nicht wert. Der Unglückselige! Der Arme!“ Mit diesen Worten erleichterte der bitterste Tränenstrom das bedrängte Herz.
Wer unternähme es wohl, die aus dem Vorhergehenden sich entwickelnden Zustände zu enthüllen, an den Tag zu bringen das Innere, aus dieser ersten Zusammenkunft den Frauen erwachsende Unheil? Auch dem Leidenden war sie höchst schädlich; so behauptete wenigstens der Arzt, der zwar oft genug zu berichten und zu trösten kam, aber sich doch verpflichtet fühlte, alles weitere Annähern zu verbieten. Dabei fand er auch eine willige Nachgiebigkeit: Die Tochter wagte nicht zu verlangen, was die Mutter nicht zugegeben hätte, und so gehorchte man dem Gebot des verständigen Mannes. Dagegen brachte er aber die beruhigende Nachricht, Flavio habe Schreibzeug verlangt, auch einiges aufgezeichnet, es aber sogleich neben sich im Bett versteckt. Nun gesellte sich Neugierde zu der übrigen Unruhe und Ungeduld, es waren peinliche Stunden. Nach einiger Zeit brachte er jedoch ein Blättchen von schöner, freier Hand, obgleich mit Hast geschrieben; es enthielt folgende Zeilen:
Ein Wunder ist der arme Mensch geboren,
In Wundern ist der irre Mensch verloren;
Nach welcher dunklen, schwer entdeckten Schwelle
Durchtappen pfadlos ungewisse Schritte?
Dann in lebendigem Himmelsglanz und Mitte
Gewahr’, empfind’ ich Nacht und Tod und Hölle.
Hier konnte die edle Dichtkunst abermals ihre heilenden Kräfte erweisen. Innig verschmolzen mit Musik, heilt sie alle Seelenleiden aus dem Grund, indem sie solche gewaltig anregt, hervorruft und in auflösenden Schmerzen verflüchtigt. Der Arzt hatte sich überzeugt, dass der Jüngling bald wieder herzustellen sei; körperlich gesund, werde er schnell sich wieder froh fühlen, wenn die auf seinem Geist lastende Leidenschaft zu heben oder zu lindern wäre. Hilarie sann auf Erwiderung; sie saß am Flügel und versuchte die Zeilen des Leidenden mit Melodie zu begleiten. Es gelang ihr nicht, in ihrer Seele klang nichts zu so tiefen Schmerzen; doch bei diesem Versuch schmeichelten Rhythmus und Reim sich dergestalt an ihre Gesinnungen an, dass sie jenem Gedicht mit lindernder Heiterkeit entgegnete, indem sie sich Zeit nahm, folgende Strophe auszubilden und abzurunden:
Bist noch so tief in Schmerz und Qual verloren,
So bleibst du doch zum Jugendglück geboren;
Ermanne dich zu rasch gesundem Schritte,
Komm in der Freundschaft Himmelsglanz und Helle,
Empfinde dich in treuer Guten Mitte,
Da sprieße dir des Lebens heitre Quelle.
Der ärztliche Hausfreund übernahm die Botschaft; sie gelang, schon erwiderte der Jüngling gemäßigt; Hilarie fuhr mildernd fort, und so schien man nach und nach wieder einen heitern Tag, einen freien Boden zu gewinnen, und vielleicht ist es uns vergönnt, den ganzen Verlauf dieser holden Kur gelegentlich mitzuteilen. Genug, einige Zeit verstrich in solcher Beschäftigung höchst angenehm; ein ruhiges Wiedersehen bereitete sich vor, das der Arzt nicht länger als nötig zu verspäten gedachte.
Indessen hatte die Baronin mit Ordnen und Zurechtlegen alter Papiere sich beschäftigt, und diese dem gegenwärtigen Zustand ganz angemessene Unterhaltung wirkte gar wundersam auf den erregten Geist. Sie sah manche Jahre ihres Lebens zurück; schwere drohende Leiden waren vorübergegangen, deren Betrachtung den Mut für den Moment kräftigte; besonders rührte sie die Erinnerung an ein schönes Verhältnis zu Makarie, und zwar in bedenklichen Zuständen. Die Herrlichkeit jener einzigen Frau ward ihr wieder vor die Seele gebracht und sogleich der Entschluss gefasst, sich auch diesmal an sie zu wenden; denn zu wem sonst hätte sie ihre gegenwärtigen Gefühle richten, wem sonst Furcht und Hoffnung offen bekennen sollen?
Bei dem Aufräumen fand sie aber auch unter andern des Bruders Miniaturporträt und musste über die Ähnlichkeit mit dem Sohne lächelnd seufzen. Hilarie überraschte sie in diesem Augenblick, bemächtigte sich des Bildes, und auch sie ward von jener Ähnlichkeit wundersam betroffen.
So verging einige Zeit; endlich mit Vergünstigung des Arztes und in seinem Geleit trat Flavio angemeldet zum Frühstück herein. Die Frauen hatten sich vor dieser ersten Erscheinung gefürchtet. Wie aber gar oft in bedeutenden, ja schrecklichen Momenten etwas Heiteres, ja Lächerliches sich zu ereignen pflegt, so glückte es auch hier. Der Sohn kam völlig in des Vaters Kleidern; denn da von seinem Anzug nichts zu brauchen war, so hatte man sich der Feld- und Hausgarderobe des Majors bedient, die er, zu bequemem Jagd- und Familienleben, bei der Schwester in Verwahrung ließ. Die Baronin lächelte und nahm sich zusammen; Hilarie war, sie wusste nicht wie, betroffen; genug, sie wendete das Gesicht weg, und dem jungen Manne wollte in diesem Augenblick weder ein herzliches Wort von den Lippen noch eine Phrase glücken. Um nun sämtlicher Gesellschaft aus der Verlegenheit zu helfen, begann der Arzt eine Vergleichung beider Gestalten. Der Vater sei etwas größer, hieß es, und deshalb der Rock etwas zu lang; dieser sei etwas breiter, deshalb der Rock über die Schultern zu eng. Beide Missverständnisse gaben dieser Maskerade ein komisches Ansehen.
Durch diese Einzelheiten jedoch kam man über das Bedenkliche des Augenblicks hinaus. Für Hilarie freilich blieb die Ähnlichkeit des jugendlichen Vaterbildes mit der frischen Lebensgegenwart des Sohnes unheimlich, ja bedrängend.
Nun aber wünschten wir wohl den nächsten Zeitverlauf von einer zarten Frauenhand umständlich geschildert zu sehen, da wir nach eigener Art und Weise uns nur mit dem Allgemeinsten befassen dürfen. Hier muss denn nun von dem Einfluss der Dichtkunst abermals die Rede sein.
Ein gewisses Talent konnte man unserm Flavio nicht absprechen, es bedurfte jedoch nur zu sehr eines leidenschaftlich sinnlichen Anlasses, wenn etwas Vorzügliches gelingen sollte; deswegen denn auch fast alle Gedichte, jener unwiderstehlichen Frau gewidmet, höchst eindringend und lobenswert erschienen und nun, einer gegenwärtigen, höchst liebenswürdigen Schönen mit enthusiastischem Ausdruck vorgelesen, nicht geringe Wirkung hervorbringen mussten.
Ein Frauenzimmer, das eine andere leidenschaftlich geliebt sieht, bequemt sich gern zu der Rolle einer Vertrauten; sie hegt ein heimlich, kaum bewusstes Gefühl, dass es nicht unangenehm sein müsste, sich an die Stelle der Angebeteten leise gehoben zu sehen. Auch ging die Unterhaltung immer mehr und mehr ins Bedeutende. Wechselgedichte, wie sie der Liebende gern verfasst, weil er sich von seiner Schönen, wenn auch nur bescheiden, halb und halb kann erwidern lassen, was er wünscht und was er aus ihrem schönen Munde zu hören kaum erwarten dürfte. Dergleichen wurden mit Hilarie auch wechselweise gelesen, und zwar, da es nur aus der einen Handschrift geschah, in welche man beiderseits, um zu rechter Zeit einzufallen, hineinschauen und zu diesem Zweck jedes das Bändchen anfassen musste, so fand sich, dass man, nahe sitzend, nach und nach Person an Person, Hand an Hand immer näher rückte und die Gelenke sich ganz natürlich zuletzt im verborgnen berührten.
Aber bei diesen schönen Verhältnissen, unter solchen daraus entspringenden allerliebsten Annehmlichkeiten fühlte Flavio eine schmerzliche Sorge, die er schlecht verbarg und, immerfort nach der Ankunft seines Vaters sich sehnend, zu bemerken gab, dass er diesem das Wichtigste zu vertrauen habe. Dieses Geheimnis indes wäre bei einigem Nachdenken nicht schwer zu erraten gewesen. Jene reizende Frau mochte in einem bewegten, von dem zudringlichen Jüngling hervorgerufnen Momente den Unglücklichen entschieden abgewiesen und die bisher hartnäckig behauptete Hoffnung aufgehoben und zerstört haben. Eine Szene, wie dies zugegangen, wagten wir nicht zu schildern, aus Furcht, hier möchte uns die jugendliche Glut ermangeln. Genug, er war so wenig bei sich selbst, dass er sich eiligst aus der Garnison ohne Urlaub entfernte und, um seinen Vater aufzusuchen, durch Nacht, Sturm und Regen nach dem Landgut seiner Tante verzweifelnd zu gelangen trachtete, wie wir ihn auch vor kurzem haben ankommen sehen. Die Folgen eines solchen Schrittes fielen ihm nun bei Rückkehr nüchterner Gedanken lebhaft auf, und er wusste, da der Vater immer länger ausblieb und er die einzige mögliche Vermittlung entbehren sollte, sich weder zu fassen noch zu retten.
Wie erstaunt und betroffen war er deshalb, als ihm ein Brief seines Obristen eingehändigt wurde, dessen bekanntes Siegel er mit Zaudern und Bangigkeit auflöste, der aber nach den freundlichsten Worten damit endigte, dass der ihm erteilte Urlaub noch um einen Monat sollte verlängert werden.
So unerklärlich nun auch diese Gunst schien, so ward er doch dadurch von einer Last befreit, die sein Gemüt fast ängstlicher als die verschmähte Liebe selbst zu drücken begann. Er fühlte nun ganz das Glück, bei seinen liebenswürdigen Verwandten so wohl aufgehoben zu sein; er durfte sich der Gegenwart Hilaries erfreuen und war nach kurzem in allen seinen angenehm-geselligen Eigenschaften wiederhergestellt, die ihn der schönen Witwe selbst sowohl als ihrer Umgebung auf eine Zeitlang notwendig gemacht hatten und nur durch eine peremtorische Forderung ihrer Hand für immer verfinstert worden.
In solcher Stimmung konnte man die Ankunft des Vaters gar wohl erwarten; auch wurden sie durch eintretende Naturereignisse zu einer tätigen Lebensweise aufgeregt. Das anhaltende Regenwetter, das sie bisher in dem Schloss zusammenhielt, hatte überall, in großen Wassermassen niedergehend, Fluss um Fluss angeschwellt; es waren Dämme gebrochen, und die Gegend unter dem Schloss lag als ein blanker See, aus welchem die Dorfschaften, Meierhöfe, größere und kleinere Besitztümer, zwar auf Hügeln gelegen, doch immer nur inselartig hervorschauten.
Auf solche zwar seltene, aber denkbare Fälle war man eingerichtet; die Hausfrau befahl, und die Diener führten aus. Nach der ersten allgemeinsten Beihilfe ward Brot gebacken, Stiere wurden geschlachtet, Fischerkähne fuhren hin und her, Hilfe und Vorsorge nach allen Enden hin verbreitend. Alles fügte sich schön und gut, das freundlich Gegebene ward freudig und dankbar aufgenommen, nur an einem Ort wollte man den austeilenden Gemeindevorstehern nicht trauen; Flavio übernahm das Geschäft und fuhr mit einem wohl beladenen Kahn eilig und glücklich zur Stelle. Das einfache Geschäft, einfach behandelt, gelang zum Besten; auch entledigte sich, weiterfahrend, unser Jüngling eines Auftrags, den ihm Hilarie beim Scheiden gegeben. Gerade in den Zeitpunkt dieser Unglückstage war die Niederkunft einer Frau gefallen, für die sich das schöne Kind besonders interessierte. Flavio fand die Wöchnerin und brachte allgemeinen und diesen besonderen Dank mit nach Hause. Dabei konnte es nun an mancherlei Erzählungen nicht fehlen. War auch niemand umgekommen, so hatte man von wunderbaren Rettungen, von seltsamen, scherzhaften, ja lächerlichen Ereignissen viel zu sprechen; manche notgedrungene Zustände wurden interessant beschrieben. Genug, Hilarie empfand auf einmal ein unwiderstehliches Verlangen, gleichfalls eine Fahrt zu unternehmen, die Wöchnerin zu begrüßen, zu beschenken und einige heitere Stunden zu verleben.
Nach einigem Widerstand der guten Mutter siegte endlich der freudige Wille Hilaries, dieses Abenteuer zu bestehen, und wir wollen gern bekennen, in dem Laufe, wie diese Begebenheit uns bekannt geworden, einigermaßen besorgt gewesen zu sein, es möge hier einige Gefahr obschweben, ein Stranden, ein Umschlagen des Kahns, Lebensgefahr der Schönen, kühne Rettung von Seiten des Jünglings, um das lose geknüpfte Band noch fester zu ziehen. Aber von allem diesem war nicht die Rede, die Fahrt lief glücklich ab, die Wöchnerin ward besucht und beschenkt; die Gesellschaft des Arztes blieb nicht ohne gute Wirkung, und wenn hier und da ein kleiner Anstoß sich hervortat, wenn der Anschein eines gefährlichen Moments die Fortrudernden zu beunruhigen schien, so endete solches nur mit neckendem Scherz, dass eins dem andern eine ängstliche Miene, eine größere Verlegenheit, eine furchtsam Gebärde wollte abgemerkt haben. Indessen war das wechselseitige Vertrauen bedeutend gewachsen; die Gewohnheit, sich zu sehen und unter allen Umständen zusammen zu sein, hatte sich verstärkt, und die gefährliche Stellung, wo Verwandtschaft und Neigung zum wechselseitigen Annähern und Festhalten sich berechtigt glauben, ward immer bedenklicher.
Anmutig sollten sie jedoch auf solchen Liebeswegen immer weiter und weiter verlockt werden. Der Himmel klärte sich auf, eine gewaltige Kälte, der Jahreszeit gemäß, trat ein; die Wasser gefroren, ehe sie verlaufen konnten. Da veränderte sich das Schauspiel der Welt vor allen Augen auf einmal; was durch Fluten erst getrennt war, hing nunmehr durch befestigten Boden zusammen, und alsbald tat sich als erwünschte Vermittlerin die schöne Kunst hervor, welche, die ersten raschen Wintertage zu verherrlichen und neues Leben in das Erstarrte zu bringen, im hohen Norden erfunden worden. Die Rüstkammer öffnete sich, jedermann suchte nach seinen gezeichneten Stahlschuhen, begierig, die reine, glatte Fläche, selbst mit einiger Gefahr, als der erste zu beschreiten. Unter den Hausgenossen fanden sich viele zu höchster Leichtigkeit Geübte; denn dieses Vergnügen ward ihnen fast jedes Jahr auf benachbarten Seen und verbindenden Kanälen, diesmal aber in der fernhin erweiterten Fläche.
Flavio fühlte sich nun erst durch und durch gesund, und Hilarie, seit ihren frühsten Jahren von dem Oheim angeleitet, bewies sich so lieblich als kräftig auf dem neu erschaffenen Boden; man bewegte sich lustig und lustiger, bald zusammen, bald einzeln, bald getrennt, bald vereint. Scheiden und Meiden, was sonst so schwer aufs Herz fällt, ward hier zum kleinen, scherzhaften Frevel; man floh sich, um sich einander augenblicks wieder zu finden.
Aber innerhalb dieser Lust und Freudigkeit bewegte sich auch eine Welt des Bedürfnisses; immer waren bisher noch einige Ortschaften nur halb versorgt geblieben, eilig flogen nunmehr auf tüchtig bespannten Schlitten die nötigsten Waren hin und wider, und was der Gegend noch mehr zugute kam, war, dass man aus manchen der vorübergehenden Hauptstraße allzu fernen Orten nunmehr schnell die Erzeugnisse des Feldbaues und der Landwirtschaft in die nächsten Magazine der kleinen Städte und Flecken bringen und von dorther allerart Waren zurückführen konnte. Nun war auf einmal eine bedrängte, den bittersten Mangel empfindende Gegend wieder befreit, wieder versorgt, durch eine glatte, dem Geschickten, dem Kühnen geöffnete Fläche verbunden.
Auch das junge Paar unterließ nicht, bei vorwaltendem Vergnügen mancher Pflichten einer liebevollen Anhänglichkeit zu gedenken. Man besuchte jene Wöchnerin, begabte sie mit allem Notwendigen; auch andere wurden heimgesucht: Alte, für deren Gesundheit man besorgt gewesen; Geistliche, mit denen man erbauliche Unterhaltung sittlich zu pflegen gewohnt war und sie jetzt in dieser Prüfung noch achtenswerter fand; kleinere Gutsbesitzer, die kühn genug vor Zeiten sich in gefährliche Niederungen angebaut, diesmal aber, durch wohl angelegte Dämme geschützt, unbeschädigt geblieben und nach grenzenloser Angst sich ihres Daseins doppelt erfreuten. Jeder Hof, jedes Haus, jede Familie, jeder einzelne hatte seine Geschichte, er war sich und auch wohl andern eine bedeutende Person geworden; deswegen fiel auch einer dem andern Erzählenden leicht in die Rede. Eilig war jeder im Sprechen und Handeln, Kommen und Gehen; denn es blieb immer die Gefahr, ein plötzliches Tauwetter möchte den ganzen schönen Kreis glücklichen Wechselwirkens zerstören, die Wirte bedrohen und die Gäste vom Hause abschneiden.
War man den Tag in so rascher Bewegung und dem lebhaftesten Interesse beschäftigt, so verlieh der Abend auf ganz andere Weise die angenehmsten Stunden; denn das hat die Eislust vor allen andern körperlichen Bewegungen voraus, dass die Anstrengung nicht erhitzt und die Dauer nicht ermüdet. Sämtliche Glieder scheinen gelenker zu werden und jedes Verwenden der Kraft neue Kräfte zu erzeugen, so dass zuletzt eine selig bewegte Ruhe über uns kommt, in der wir uns zu wiegen immerfort gelockt sind.
Heute nun konnte sich unser junges Paar von dem glatten Boden nicht loslösen; jeder Lauf gegen das erleuchtete Schloss, wo sich schon viele Gesellschaft versammelte, ward plötzlich umgewendet und eine Rückkehr ins Weite beliebt; man mochte sich nicht voneinander entfernen, aus Furcht, sich zu verlieren, man fasste sich bei der Hand, um der Gegenwart ganz gewiss zu sein. Am allersüßesten aber schien die Bewegung, wenn über den Schultern die Arme verschränkt ruhten und die zierlichen Finger unbewusst in beiderseitigen Locken spielten.
Der volle Mond stieg zu dem glühenden Sternenhimmel herauf und vollendete das Magische der Umgebung. Sie sahen sich wieder deutlich und suchten wechselseitig in den beschatteten Augen Erwiderung wie sonst, aber sie schien anders zu sein; aus ihren Abgründen schien ein Licht hervorzublicken und anzudeuten, was der Mund weislich verschwieg, sie fühlten sich beide in einem festlich behaglichen Zustand.
Alle hochstämmigen Weiden und Erlen an den Gräben, alles niedrige Gebüsch auf Höhen und Hügeln war deutlich geworden; die Sterne flammten, die Kälte war gewachsen, sie fühlten nichts davon und fuhren dem lang daherglitzernden Widerschein des Mondes, unmittelbar dem himmlischen Gestirn selbst entgegen. Da blickten sie auf und sahen im Geflimmer des Widerscheins die Gestalt eines Mannes hin und her schweben, der seinen Schatten zu verfolgen schien und, selbst dunkel, vom Lichtglanz umgeben, auf sie zuschritt; unwillkürlich wendeten sie sich ab; jemanden zu begegnen wäre widerwärtig gewesen. Sie vermieden die immerfort sich herbewegende Gestalt, die Gestalt schien sie nicht bemerkt zu haben und verfolgte ihren geraden Weg nach dem Schloss. Doch verließ sie auf einmal diese Richtung und umkreiste mehrmals das fast beängstigte Paar. Mit einiger Besonnenheit suchten sie für sich die Schattenseite zu gewinnen, im vollen Mondglanz fuhr jener auf sie zu, er stand nah vor ihnen: Es war unmöglich, den Vater zu verkennen.
Hilarie, den Schritt anhaltend, verlor in Überraschung das Gleichgewicht und stürzte zu Boden, Flavio lag zu gleicher Zeit auf einem Knie und fasste ihr Haupt in seinen Schoß auf; sie verbarg ihr Angesicht, sie wusste nicht, wie ihr geworden war. – „Ich hole einen Schlitten, dort unten fährt noch einer vorüber; ich hoffe, sie hat sich nicht beschädigt; hier, bei diesen hohen drei Erlen find’ ich euch wieder!“ So sprach der Vater und war schon weit hinweg. Hilarie raffte sich an dem Jüngling empor. – „Lass uns fliehen“, rief sie, „das ertrag’ ich nicht.“ – Sie bewegte sich nach der Gegenseite des Schlosses, heftig, dass Flavio sie nur mit einiger Anstrengung erreichte; er gab ihr die freundlichsten Worte.
Auszumalen ist nicht die innere Gestalt der drei nunmehr nächtlich auf der glatten Fläche im Mondschein Verirrten, Verwirrten. Genug, sie gelangten spät nach dem Schloss, das junge Paar einzeln, sich nicht zu berühren, sich nicht zu nähern wagend, der Vater mit dem leeren Schlitten, den er vergebens ins Weite und Breite hilfreich herumgeführt hatte. Musik und Tanz waren schon im Gange; Hilarie, unter dem Vorwand schmerzlicher Folgen eines schlimmen Falles, verbarg sich in ihr Zimmer; Flavio überließ Vortanz und Anordnung sehr gern einigen jungen Gesellen, die sich deren bei seinem Außenbleiben schon bemächtigt hatten. Der Major kam nicht zum Vorschein und fand es wunderlich, obgleich nicht unerwartet, sein Zimmer wie bewohnt anzutreffen, die eignen Kleider, Wäsche und Gerätschaften, nur nicht so ordentlich, wie er’s gewohnt war, umherliegend. Die Hausfrau versah mit anständigem Zwang ihre Pflichten, und wie froh war sie, als alle Gäste, schicklich untergebracht, ihr endlich Raum ließen, mit dem Bruder sich zu erklären. Es war bald getan, doch brauchte es Zeit, sich von der Überraschung zu erholen, das Unerwartete zu begreifen, die Zweifel zu heben, die Sorge zu beschwichtigen; an Lösung des Knotens, an Befreiung des Geistes war nicht sogleich zu denken.
Unsere Leser überzeugen sich wohl, dass von diesem Punkt an wir beim Vortrag unserer Geschichte nicht mehr darstellend, sondern erzählend und betrachtend verfahren müssen, wenn wir in die Gemütszustände, auf welche jetzt alles ankommt, eindringen und sie uns vergegenwärtigen wollen.
Wir berichten also zuerst, dass der Major, seitdem wir ihn aus den Augen verloren, seine Zeit fortwährend jenem Familiengeschäft gewidmet, dabei aber, so schön und einfach es auch vorlag, doch in manchem Einzelnen auf unerwartete Hindernisse traf. Wie es denn überhaupt so leicht nicht ist, einen alten verworrenen Zustand zu entwickeln und die vielen verschränkten Fäden auf einen Knäuel zu winden. Da er nun deshalb den Ort öfters verändern musste, um bei verschiedenen Stellen und Personen die Angelegenheit zu betreiben, so gelangten die Briefe der Schwester nur langsam und unordentlich zu ihm. Die Verirrung des Sohnes und dessen Krankheit erfuhr er zuerst; dann hörte er von einem Urlaub, den er nicht begriff. Dass Hilaries Neigung im Umwenden begriffen sei, blieb ihm verborgen; denn wie hätte die Schwester ihn davon unterrichten mögen.
Auf die Nachricht der Überschwemmung beschleunigte er seine Reise, kam jedoch erst nach eingefallenem Frost in die Nähe der Eisfelder, schaffte sich Schrittschuhe, sendete Knechte und Pferde durch einen Umweg nach dem Schloss, und sich mit raschem Lauf dorthin bewegend, gelangte er, die erleuchteten Fenster schon von ferne schauend, in einer tagklaren Nacht zum unerfreulichsten Anschauen und war mit sich selbst in die unangenehmste Verwirrung geraten.
Der Übergang von innerer Wahrheit zum äußern Wirklichen ist im Kontrast immer schmerzlich; und sollte Lieben und Bleiben nicht eben die Rechte haben wie Scheiden und Meiden? Und doch, wenn sich eins vom andern losreißt, entsteht in der Seele eine ungeheure Kluft, in der schon manches Herz zugrunde ging. Ja der Wahn hat, solange er dauert, eine unüberwindliche Wahrheit, und nur männliche, tüchtige Geister werden durch Erkennen eines Irrtums erhöht und gestärkt. Eine solche Entdeckung hebt sie über sich selbst, sie stehen über sich erhoben und blicken, indem der alte Weg versperrt ist, schnell umher nach einem neuen, um ihn alsofort frisch und mutig anzutreten.
Unzählig sind die Verlegenheiten, in welche sich der Mensch in solchen Augenblicken versetzt sieht; unzählig die Mittel, welche eine erfinderische Natur innerhalb ihrer eignen Kräfte zu entdecken, sodann aber auch, wenn diese nicht auslangen, außerhalb ihres Bereichs freundlich anzudeuten weiß.
Zu gutem Glück jedoch war der Major durch ein halbes Bewusstsein, ohne sein Wollen und Trachten schon auf einen solchen Fall im Tiefsten vorbereitet. Seitdem er den kosmetischen Kammerdiener verabschiedet, sich seinem natürlichen Lebensgange wieder überlassen, auf den Schein Ansprüche zu machen aufgehört hatte, empfand er sich am eigentlichen körperlichen Behagen einigermaßen verkürzt. Er empfand das Unangenehme eines Überganges vom ersten Liebhaber zum zärtlichen Vater; und doch wollte diese Rolle immer mehr und mehr sich ihm aufdringen. Die Sorgfalt für das Schicksal Hilaries und der Seinigen trat immer zuerst in seinen Gedanken hervor, bis das Gefühl von Liebe, von Hang, von Verlangen annähernder Gegenwart sich erst später entfaltete. Und wenn er sich Hilarie in seinen Armen dachte, so war es ihr Glück, was er beherzigte, das er ihr zu schaffen wünschte, mehr als die Wonne, sie zu besitzen. Ja er musste sich, wenn er ihres Andenkens rein genießen wollte, zuerst ihre himmlisch ausgesprochene Neigung, er musste jenen Augenblick denken, wo sie sich ihm so unverhofft gewidmet hatte.
Nun aber, da er in klarster Nacht ein vereintes junges Paar vor sich gesehen, die Liebenswürdigste zusammenstürzend, in dem Schoß des Jünglings, beide seiner verheißenen hilfreichen Wiederkunft nicht achtend, ihn an dem genau bezeichneten Ort nicht erwartend, verschwunden in die Nacht, und er sich selbst im düstersten Zustand überlassen – wer fühlte das mit und verzweifelte nicht in seine Seele?
Die an Vereinigung gewöhnte, auf nähere Vereinigung hoffende Familie hielt sich bestürzt auseinander; Hilarie blieb hartnäckig auf ihrem Zimmer, der Major nahm sich zusammen, von seinem Sohn den früheren Hergang zu erfahren. Das Unheil war durch einen weiblichen Frevel der schönen Witwe verursacht. Um ihren bisher leidenschaftlichen Verehrer Flavio einer andern Liebenswürdigen, welche Absicht auf ihn verriet, nicht zu überlassen, wendet sie mehr scheinbare Gunst, als billig ist, an ihn. Er, dadurch aufgeregt und ermutigt, sucht seine Zwecke heftig bis ins Ungehörige zu verfolgen, worüber denn erst Widerwärtigkeit und Zwist, darauf ein entschiedener Bruch dem ganzen Verhältnis unwiederbringlich ein Ende macht.
Väterlicher Milde bleibt nichts übrig, als die Fehler der Kinder, wenn sie traurige Folgen haben, zu bedauern und, wo möglich, herzustellen; gehen sie lässlicher, als zu hoffen war, vorüber, sie zu verzeihen und zu vergessen. Nach wenigem Bedenken und Bereden ging Flavio sodann, um an der Stelle seines Vaters manches zu besorgen, auf die übernommenen Güter und sollte dort bis zum Ablauf seines Urlaubs verweilen, dann sich wieder ans Regiment anschließen, welches indessen in eine andere Garnison verlegt worden.
Eine Beschäftigung mehrerer Tage war es für den Major, Briefe und Pakete zu öffnen, welche sich während seines längeren Ausbleibens bei der Schwester gehäuft hatten. Unter andern fand er ein Schreiben jenes kosmetischen Freundes, des wohl konservierten Schauspielers. Dieser, durch den verabschiedeten Kammerdiener benachrichtigt von dem Zustand des Majors und von dem Vorsatz, sich zu verheiraten, trug mit der besten Laune die Bedenklichkeiten vor, die man bei einem solchen Unternehmen vor Augen haben sollte; er behandelte die Angelegenheit auf seine Weise und gab zu bedenken, dass für einen Mann in gewissen Jahren das sicherste kosmetische Mittel sei, sich des schönen Geschlechts zu enthalten und einer löblichen, bequemen Freiheit zu genießen. Nun zeigte der Major lächelnd das Blatt seiner Schwester, zwar scherzend, aber doch ernstlich genug auf die Wichtigkeit des Inhaltes hindeutend. Auch war ihm indessen ein Gedicht eingefallen, dessen rhythmische Ausführung uns nicht gleich beigeht, dessen Inhalt jedoch durch zierliche Gleichnisse und anmutige Wendung sich auszeichnete:
„Der späte Mond, der zur Nacht noch anständig leuchtet, verblasst vor der aufgehenden Sonne; der Liebeswahn des Alters verschwindet in Gegenwart leidenschaftlicher Jugend; die Fichte, die im Winter frisch und kräftig erscheint, sieht im Frühling verbräunt und missfärbig aus, neben hell aufgrünender Birke.“
Wir wollen jedoch weder Philosophie noch Poesie als die entscheidenden Helferinnen zu einer endlichen Entschließung hier vorzüglich preisen; denn wie ein kleines Ereignis die wichtigsten Folgen haben kann, so entscheidet es auch oft, wo schwankende Gesinnungen obwalten, die Waage dieser oder jener Seite zuneigend. Dem Major war vor kurzem ein Vorderzahn ausgefallen, und er fürchtete, den zweiten zu verlieren. An eine künstlich scheinbare Wiederherstellung war bei seinen Gesinnungen nicht zu denken, und mit diesem Mangel um eine junge Geliebte zu werben, fing an, ihm ganz erniedrigend zu scheinen, besonders jetzt, da er sich mit ihr unter einem Dach befand. Früher oder später hätte vielleicht ein solches Ereignis wenig gewirkt; gerade in diesem Augenblicke aber trat ein solcher Moment ein, der einem jeden an eine gesunde Vollständigkeit gewöhnten Menschen höchst widerwärtig begegnen muss. Es ist ihm, als wenn der Schlussstein seines organischen Wesens entfremdet wäre und das übrige Gewölbe nun auch nach und nach zusammenzustürzen drohte.
Wie dem auch sei, der Major unterhielt sich mit seiner Schwester gar bald einsichtig und verständig über die so verwirrt scheinende Angelegenheit; sie mussten beide bekennen, dass sie eigentlich nur durch einen Umweg ans Ziel gelangt seien, ganz nahe daran, von dem sie sich zufällig, durch äußern Anlass durch Irrtum eines unerfahrenen Kindes verleitet, unbedachtsam entfernt; sie fanden nichts natürlicher, als auf diesem Weg zu verharren, eine Verbindung beider Kinder einzuleiten und ihnen sodann jede elterliche Sorgfalt, wozu sie sich die Mittel zu verschaffen gewusst, treu und unablässig zu widmen. Völlig in Übereinstimmung mit dem Bruder, ging die Baronin zu Hilarie ins Zimmer. Diese saß am Flügel, zu eigner Begleitung singend und die eintretende Begrüßende mit heiterem Blick und Beugung zum Anhören gleichsam einladend. Es war ein angenehmes, beruhigendes Lied, das eine Stimmung der Sängerin aussprach, die nicht besser wäre zu wünschen gewesen. Nachdem sie geendigt hatte, stand sie auf, und ehe die ältere Bedächtige ihren Vortrag beginnen konnte, fing sie zu sprechen an: „Beste Mutter! Es war schön, dass wir über die wichtigste Angelegenheit so lange geschwiegen; ich danke Ihnen, dass Sie bis jetzt diese Saite nicht berührten, nun aber ist es wohl Zeit, sich zu erklären, wenn es Ihnen gefällig ist. Wie denken Sie sich die Sache?“
Die Baronin, höchst erfreut über die Ruhe und Milde, zu der sie ihre Tochter gestimmt fand, begann sogleich ein verständiges Darlegen der frühern Zeit, der Persönlichkeit ihres Bruders und seiner Verdienste; sie gab den Eindruck zu, den der einzige Mann von Wert, der einem jungen Mädchen so nahe bekannt geworden, auf ein freies Herz notwendig machen müsse und wie sich daraus statt kindlicher Ehrfurcht und Vertrauen, gar wohl eine Neigung, die als Liebe, als Leidenschaft sich zeige, entwickeln könne. Hilarie hörte aufmerksam zu und gab durch bejahende Mienen und Zeichen ihre völlige Einstimmung zu erkennen; die Mutter ging auf den Sohn über, und jene ließ ihre langen Augenwimpern fallen; und wenn die Rednerin nicht so rühmliche Argumente für den Jüngeren fand, als sie für den Vater anzuführen gewusst hatte, so hielt sie sich hauptsächlich an die Ähnlichkeit beider, an den Vorzug, den diesem die Jugend gebe, der zugleich, als vollkommen gattlicher Lebensgefährte gewählt, die völlige Verwirklichung des väterlichen Daseins von der Zeit wie billig verspreche. Auch hierin schien Hilarie gleichstimmig zu denken, obschon ein etwas ernsterer Blick und ein manchmal niederschauendes Auge eine gewisse in diesem Fall höchst natürliche innere Bewegung verrieten. Auf die äußeren glücklichen, gewissermaßen gebietenden Umstände lenkte sich hierauf der Vortrag. Der abgeschlossene Vergleich, der schöne Gewinn für die Gegenwart, die nach manchen Seiten hin sich erweiternden Aussichten, alles ward völlig der Wahrheit gemäß vor Augen gestellt, da es zuletzt auch an Winken nicht fehlen konnte, wie Hilarie selbst erinnerlich sein müsse, dass sie früher dem mit ihr heranwachsenden Vetter, und wenn auch nur wie im Scherze, sei verlobt gewesen. Aus alle dem Vorgesagten zog nun die Mutter den sich selbst ergebenden Schluss, dass nun mit ihrer und des Oheims Einwilligung die Verbindung der jungen Leute ungesäumt stattfinden könne.
Hilarie, ruhig blickend und sprechend, erwiderte darauf, sie könne diese Folgerung nicht sogleich gelten lassen, und führte gar schön und anmutig dagegen an, was ein zartes Gemüt gewiss mit ihr gleich empfinden wird, und das wir mit Worten auszuführen nicht unternehmen.
Vernünftige Menschen, wenn sie etwas Verständiges ausgesonnen, wie diese oder jene Verlegenheit zu beseitigen wäre, dieser oder jener Zweck zu erreichen sein möchte, und dafür sich alle denkbaren Argumente verdeutlicht und geordnet, fühlen sich höchst unangenehm betroffen, wenn diejenigen, die zu eignem Glück mitwirken sollten, völlig andern Sinnes gefunden werden und aus Gründen, die tief im Herzen ruhen, sich demjenigen widersetzen, was so löblich als nötig ist. Man wechselte Reden, ohne sich zu überzeugen; das Verständige wollte nicht in das Gefühl eindringen, das Gefühlte wollte sich dem Nützlichen, dem Notwendigen nicht fügen; das Gespräch erhitzte sich, die Schärfe des Verstandes traf das schon verwundete Herz, das nun nicht mehr mäßig, sondern leidenschaftlich seinen Zustand an den Tag gab, so dass zuletzt die Mutter selbst vor der Hoheit und Würde des jungen Mädchens erstaunt zurücktrat, als sie mit Energie und Wahrheit das Unschickliche, ja Verbrecherische einer solchen Verbindung hervorhob.
In welcher Verwirrung die Baronin zu dem Bruder zurückkehrte, lässt sich denken, vielleicht auch, wenngleich nicht vollkommen, nachempfinden, wie der Major, der, von dieser entschiedenen Weigerung im Innersten geschmeichelt, zwar hoffnungslos, aber getröstet vor der Schwester stand, sich von jener Beschämung entwunden und so dieses Ereignis, das ihm zur zartesten Ehrensache geworden war, in seinem Innern ausgeglichen fühlte. Er verbarg diesen Zustand augenblicklich seiner Schwester und versteckte seine schmerzliche Zufriedenheit hinter eine in diesem Fall ganz natürliche Äußerung: Man müsse nichts übereilen, sondern dem guten Kind Zeit lassen, den eröffneten Weg, der sich nunmehr gewissermaßen selbst verstünde, freiwillig einzuschlagen.
Nun aber können wir kaum unsern Lesern zumuten, aus diesen ergreifenden, inneren Zuständen in das Äußere überzugehen, worauf doch jetzt so viel ankam. Indes die Baronin ihrer Tochter alle Freiheit ließ, mit Musik und Gesang, mit Zeichnen und Sticken ihre Tage angenehm zu verbringen, auch mit Lesen und Vorlesen sich und die Mutter zu unterhalten, so beschäftigte sich der Major bei eintretendem Frühjahr, die Familienangelegenheiten in Ordnung zu bringen; der Sohn, der sich in der Folge als einen reichen Besitzer und, wie er gar nicht zweifeln konnte, als glücklichen Gatten Hilaries erblickte, fühlte nun erst ein militärisches Bestreben nach Ruhm und Rang, wenn der androhende Krieg hereinbrechen sollte. Und so glaubte man in augenblicklicher Beruhigung als gewiss vorauszusehen, dass dieses Rätsel, welches nur noch an eine Grille geknüpft schien, sich bald aufhellen und auseinanderlegen würde.
Leider aber war in dieser anscheinenden Ruhe keine Beruhigung zu finden. Die Baronin wartete tagtäglich, aber vergebens, auf die Sinnesänderung ihrer Tochter, die zwar mit Bescheidenheit und selten, aber doch, bei entscheidendem Anlass, mit Sicherheit zu erkennen gab, sie bleibe so fest bei ihrer Überzeugung, als nur einer sein kann, dem etwas innerlich wahr geworden, es möge nun mit der ihn umgebenden Welt in Einklang stehen oder nicht. Der Major empfand sich zwiespältig: Er würde sich immer verletzt fühlen, wenn Hilarie sich wirklich für den Sohn entschiede; entschiede sie sich aber für ihn selbst, so war er ebenso überzeugt, dass er ihre Hand ausschlagen müsse.
Bedauern wir den guten Mann, dem diese Sorgen, diese Qualen wie ein beweglicher Nebel unablässig vorschwebten, bald als Hintergrund, auf welchem sich die Wirklichkeiten und Beschäftigungen des dringenden Tages hervorhoben, bald herantretend und alles Gegenwärtige bedeckend. Ein solches Wanken und Schweben bewegte sich vor den Augen seines Geistes; und wenn ihn der fordernde Tag zu rascher, wirksamer Tätigkeit aufbot, so war es bei nächtlichem Erwachen, wo alles Widerwärtige, gestaltet und immer umgestaltet, im unerfreulichsten Kreis sich in seinem Innern umwälzte. Dies ewig wiederkehrende Unabweisbare brachte ihn in einen Zustand, den wir fast Verzweiflung nennen dürften, weil Handeln und Schaffen, die sich sonst als Heilmittel für solche Lagen am sichersten bewährten, hier kaum lindernd, geschweige denn befriedigend wirken wollten.
In solcher Lage erhielt unser Freund von unbekannter Hand ein Schreiben mit Einladung in das Posthaus des nahe gelegenen Städtchens, wo ein eilig Durchreisender ihn dringend zu sprechen wünschte. Er, bei seinen vielfachen Geschäfts- und Weltverhältnissen an dergleichen gewöhnt, säumte umso weniger, als ihm die freie, flüchtige Hand einigermaßen erinnerlich schien. Ruhig und gefasst nach seiner Art begab er sich an den bezeichneten Ort, als in der bekannten, fast bäuerischen Oberstube die schöne Witwe ihm entgegentrat, schöner und anmutiger, als er sie verlassen hatte. War es, dass unsere Einbildungskraft nicht fähig ist, das Vorzüglichste festzuhalten und völlig wieder zu vergegenwärtigen, oder hatte wirklich ein bewegterer Zustand ihr mehreren Reiz gegeben, genug, es bedurfte doppelter Fassung, sein Erstaunen, seine Verwirrung unter dem Schein allgemeinster Höflichkeit zu verbergen; er grüßte sie verbindlich mit verlegener Kälte.
„Nicht so, mein Bester!“, rief sie aus, „keineswegs hab’ ich Sie dazu zwischen diese geweißten Wände, in diese höchst unedle Umgebung berufen; ein so schlechter Hausrat fordert nicht auf, sich höfisch zu unterhalten. Ich befreie meine Brust von einer schweren Last, indem ich sage, bekenne: In Ihrem Haus hab’ ich viel Unheil angerichtet.“ – Der Major trat stutzend zurück. – „Ich weiß alles“, fuhr sie fort, „wir brauchen uns nicht zu erklären; Sie und Hilarie, Hilarie und Flavio, Ihre gute Schwester, Sie alle bedaure ich.“ Die Sprache schien ihr zu stocken, die herrlichsten Augenwimpern konnten hervorquellende Tränen nicht zurückhalten, ihre Wange rötete sich, sie war schöner als jemals. In äußerster Verwirrung stand der edle Mann vor ihr, ihn durchdrang eine unbekannte Rührung. „Setzen wir uns“, sagte, die Augen trocknend, das allerliebste Wesen. „Verzeihen Sie mir, bedauern Sie mich! Sie sehen, wie ich bestraft bin.“ Sie hielt ihr gesticktes Tuch abermals vor die Augen und verbarg, wie bitterlich sie weinte.
„Klären Sie mich auf, meine Gnädige!“, sprach er mit Hast. – „Nichts von gnädig!“, entgegnete sie, himmlisch lächelnd, „nennen Sie mich Ihre Freundin, Sie haben keine treuere. Und also, mein Freund, ich weiß alles, ich kenne die Lage der ganzen Familie genau, aller Gesinnungen und Leiden bin ich vertraut.“ – „Was konnte Sie bis auf diesen Grad unterrichten?“ – „Selbstbekenntnisse. Diese Hand wird Ihnen nicht fremd sein.“ Sie wies ihm einige entfaltete Briefe hin. – „Die Hand meiner Schwester, Briefe, mehrere, der nachlässigen Schrift nach vertraute! Haben Sie je mit ihr in Verhältnis gestanden?“ – „Unmittelbar nicht, mittelbar seit einiger Zeit; hier die Aufschrift – An ***.“ – „Ein neues Rätsel, an Makarien, die schweigsamste aller Frauen.“ – „Deshalb aber auch die Vertraute, der Beichtiger aller bedrängten Seelen, aller derer, die sich selbst verloren haben, sich wieder zu finden wünschten und nicht wissen, wo.“ – „Gott sei Dank!“, rief er aus, „dass sich eine solche Vermittlung gefunden hat; mir wollt’ es nicht ziemen, sie anzuflehen; ich segne meine Schwester, dass sie es tat; denn auch mir sind Beispiele bekannt, dass jene Treffliche, im Vorhalten eines sittlich-magischen Spiegels, durch die äußere verworrene Gestalt irgendeinem Unglücklichen sein rein schönes Innere gewiesen und ihn auf einmal erst mit sich selbst befriedigt und zu einem neuen Leben aufgefordert hat.“ –
„Diese Wohltat erzeigte sie auch mir“, versetzte die Schöne; und in diesem Augenblick fühlte unser Freund, wenn es ihm auch nicht klar wurde, dennoch entschieden, dass aus dieser sonst in ihrer Eigenheit abgeschlossenen merkwürdigen Person sich ein sittlich-schönes, teilnehmendes und teilgebendes Wesen hervortat. – „Ich war nicht unglücklich, aber unruhig“, fuhr sie fort, „ich gehörte mir selbst nicht recht mehr an, und das heißt denn doch am Ende nicht glücklich sein. Ich gefiel mir selbst nicht mehr, ich mochte mich vor dem Spiegel zurechtrücken, wie ich wollte, es schien mir immer, als wenn ich mich zu einem Maskenball herausputzte; aber seitdem sie mir ihren Spiegel vorhielt, seit ich gewahr wurde, wie man sich von innen selbst schmücken könne, komm’ ich mir wieder recht schön vor.“ Sie sagte das zwischen Lächeln und Weinen und war, man musste es zugeben, mehr als liebenswürdig. Sie erschien achtungswert und wert einer ewigen treuen Anhänglichkeit.
„Und nun, mein Freund, fassen wir uns kurz: Hier sind die Briefe! Sie zu lesen und wieder zu lesen, sich zu bedenken, sich zu bereiten, bedürften Sie allenfalls einer Stunde, mehr, wenn Sie wollen; alsdann werden mit wenigen Worten unsere Zustände sich entscheiden lassen.“
Sie verließ ihn, um in dem Garten auf und ab zu gehen; er entfaltete nun einen Briefwechsel der Baronin mit Makarie, dessen Inhalt wir summarisch andeuten. Jene beklagt sich über die schöne Witwe. Wie eine Frau die andere ansieht und scharf beurteilt, geht hervor. Eigentlich ist nur vom Äußern und von Äußerungen die Rede, nach dem Innern wird nicht gefragt.
Hierauf von Seiten Makaries eine mildere Beurteilung. Schilderung eines solchen Wesens von innen heraus. Das Äußere erscheint als Folge von Zufälligkeiten, kaum zu tadeln, vielleicht zu entschuldigen. Nun berichtet die Baronin von der Raserei und Tollheit des Sohns, der wachsenden Neigung des jungen Paars, von der Ankunft des Vaters, der entschiedenen Weigerung Hilaries. Überall finden sich Erwiderungen Makaries von reiner Billigkeit, die aus der gründlichen Überzeugung stammt, dass hieraus eine sittliche Besserung entstehen müsse. Sie übersendet zuletzt den ganzen Briefwechsel der schönen Frau, deren himmelschönes Innere nun hervortritt und das Äußere zu verherrlichen beginnt. Das Ganze schließt mit einer dankbaren Erwiderung an Makarie.
Kapitel 6
Wilhelm an Lenardo
Endlich, teuerster Freund, kann ich sagen, sie ist gefunden, und zu Ihrer Beruhigung darf ich hinzusetzen: In einer Lage, wo für das gute Wesen nichts weiter zu wünschen übrig bleibt. Lassen Sie mich im Allgemeinen reden; ich schreibe noch hier an Ort und Stelle, wo ich alles vor Augen habe, wovon ich Rechenschaft geben soll.
Häuslicher Zustand, auf Frömmigkeit gegründet, durch Fleiß und Ordnung belebt und erhalten, nicht zu eng, nicht zu weit, im glücklichsten Verhältnis der Pflichten zu den Fähigkeiten und Kräften. Um sie her bewegt sich ein Kreislauf von Handarbeitenden im reinsten, anfänglichsten Sinn; hier ist Beschränktheit und Wirkung in die Ferne, Umsicht und Mäßigung, Unschuld und Tätigkeit. Nicht leicht habe ich mich in einer angenehmeren Gegenwart gesehen, über welche eine heitere Aussicht auf die nächste Zeit und die Zukunft waltet. Dieses, zusammen betrachtet, möchte wohl hinreichend sein, einen jeden Teilnehmenden zu beruhigen.
Ich darf daher in Erinnerung alles dessen, was unter uns besprochen worden, auf das dringendste bitten: Der Freund möge es bei dieser allgemeinen Schilderung belassen, solche allenfalls in Gedanken ausmalen, dagegen aber aller weitern Nachforschung entsagen, und sich dem großen Lebensgeschäft, in das er nun wahrscheinlich vollkommen eingeweiht sein wird, auf die lebhafteste Weise widmen.
Ein Duplikat dieses Briefes sende an Hersilie, das andere an den Abbé, der, wie ich vermute, am sichersten weiß, wo Sie zu finden sind. An diesen geprüften, im Geheimen und Offenbaren immer gleich zuverlässigen Freund schreibe noch einiges, welches er mitteilen wird; besonders bitte, was mich selbst betrifft, mit Anteil zu betrachten und mit frommen, treuen Wünschen mein Vorhaben zu fördern.
Wilhelm an den Abbé
Wenn mich nicht alles trügt, so ist Lenardo, der höchst wertzuschätzende, gegenwärtig in eurer Mitte, und ich sende deshalb das Duplikat eines Schreibens, damit es ihm sicher zugestellt werde. Möge dieser vorzügliche junge Mann in euren Kreis zu ununterbrochenem, bedeutendem Wirken verschlungen werden, da, wie ich hoffe, sein Inneres beruhigt ist.
Was mich betrifft, so kann ich, nach fortdauernder tätiger Selbstprüfung, mein durch Montan vorlängst angebrachtes Gesuch nunmehr nur noch ernstlicher wiederholen; der Wunsch, meine Wanderjahre mit mehr Fassung und Stetigkeit zu vollenden, wird immer dringender. In sicherer Hoffnung, man würde meinen Vorstellungen Raum geben, habe ich mich durchaus vorbereitet und meine Einrichtung getroffen. Nach Vollendung des Geschäfts zugunsten meines edlen Freundes werde ich nun wohl meinen fernern Lebensgang unter den schon ausgesprochenen Bedingungen getrost antreten dürfen. Sobald ich auch noch eine fromme Wallfahrt zurückgelegt, gedenke ich in *** einzutreffen. An diesem Ort hoff’ ich eure Briefe zu finden und meinem innern Trieb gemäß von neuem zu beginnen.
Kapitel 7
Nachdem unser Freund vorstehende Briefe abgelassen, schritt er, durch manchen benachbarten Gebirgszug fortwandernd, immer weiter, bis die herrliche Talgegend sich ihm eröffnete, wo er vor Beginn eines neuen Lebensganges, so manches abzuschließen gedachte. Unerwartet traf er hier auf einen jungen, lebhaften Reisegefährten, durch welchen seinem Bestreben und seinem Genuss manches zugunsten gereichen sollte. Er findet sich mit einem Maler zusammen, welcher, wie dergleichen viele in der offnen Welt, mehrere noch in Romanen und Dramen umherwandeln und -spuken, sich diesmal als ein ausgezeichneter Künstler darstellte. Beide schicken sich gar bald ineinander, vertrauen sich wechselseitig Neigungen, Absichten, Vorsätze; und nun wird offenbar, dass der treffliche Künstler, der aquarellierte Landschaften mit geistreicher, wohl gezeichneter und ausgeführter Staffage zu schmücken weiß, leidenschaftlich eingenommen sei von Mignons Schicksalen, Gestalt und Wesen. Er hatte sie gar oft schon vorgestellt und begab sich nun auf die Reise, die Umgebungen, worin sie gelebt, der Natur nachzubilden; hier das liebliche Kind in glücklichen und unglücklichen Umgebungen und Augenblicken darzustellen und so ihr Bild, das in allen zarten Herzen lebt, auch dem Sinn des Auges hervorzurufen.
Die Freunde gelangen bald zum großen See, Wilhelm trachtet, die angedeuteten Stellen nach und nach aufzufinden. Ländliche Prachthäuser, weitläufige Klöster, Überfahrten und Buchten, Erdzungen und Landungsplätze wurden gesucht und die Wohnungen kühner und gutmütiger Fischer so wenig als die heiter gebauten Städtchen am Ufer und Schlösschen auf benachbarten Höhen vergessen. Dies alles weiß der Künstler zu ergreifen, durch Beleuchten und Färben der jedes Mal geschichtlich erregten Stimmung anzueignen, so dass Wilhelm seine Tage und Stunden in durchgreifender Rührung zubrachte.
Auf mehreren Blättern war Mignon im Vordergrund, wie sie leibte und lebte, vorgestellt, indem Wilhelm der glücklichen Einbildungskraft des Freundes durch genaue Beschreibung nachzuhelfen und das allgemeiner Gedachte ins Engere der Persönlichkeit einzufassen wusste.
Und so sah man denn das Knaben-Mädchen in mannigfaltiger Stellung und Bedeutung aufgeführt. Unter dem hohen Säulenportale des herrlichen Landhauses stand sie, nachdenklich die Statuen der Vorhalle betrachtend. Hier schaukelte sie sich plätschernd auf dem angebundenen Kahn, dort erkletterte sie den Mast und erzeigte sich als ein kühner Matrose.
Ein Bild aber tat sich vor allen hervor, welches der Künstler auf der Herreise, noch eh’ er Wilhelm begegnet, mit allen Charakterzügen sich angeeignet hatte. Mitten im rauen Gebirge glänzt der anmutige Scheinknabe, von Sturzfelsen umgeben, von Wasserfällen besprüht, mitten in einer schwer zu beschreibenden Horde. Vielleicht ist eine grauliche, steile Urgebirgsschlucht nie anmutiger und bedeutender staffiert worden. Die bunte, zigeunerhafte Gesellschaft, roh zugleich und phantastisch, seltsam und gemein, zu locker, um Furcht einzuflößen, zu wunderlich, um Vertrauen zu erwecken. Kräftige Saumrosse schleppen, bald über Knüppelwege, bald eingehauene Stufen hinab, ein buntverworrenes Gepäck, an welchem herum die sämtlichen Instrumente einer betäubenden Musik, schlotternd aufgehängt, das Ohr mit rauen Tönen von Zeit zu Zeit belästigen. Zwischen allem dem das liebenswürdige Kind, in sich gekehrt ohne Trutz, unwillig ohne Widerstreben, geführt, aber nicht geschleppt. Wer hätte sich nicht des merkwürdigen, ausgeführten Bildes gefreut? Kräftig charakterisiert war die grimmige Enge dieser Felsmassen; die alles durchschneidenden schwarzen Schluchten, zusammengetürmt, allen Ausgang zu hindern drohend, hätte nicht eine kühne Brücke auf die Möglichkeit, mit der übrigen Welt in Verbindung zu gelangen, hingedeutet. Auch ließ der Künstler mit klug dichtendem Wahrheitssinn eine Höhle merklich werden, die man als Naturwerkstatt mächtiger Kristalle oder als Aufenthalt einer fabelhaft-furchtbaren Drachenbrut ansprechen konnte.
Nicht ohne heilige Scheu besuchten die Freunde den Palast des Marchese; der Greis war von seiner Reise noch nicht zurück; sie wurden aber auch in diesem Bezirk, weil sie sich mit geistlichen und weltlichen Behörden wohl zu benehmen wussten, freundlich empfangen und behandelt.
Die Abwesenheit des Hausherrn jedoch empfand Wilhelm sehr angenehm; denn ob er gleich den würdigen Mann gerne wieder gesehen und herzlich begrüßt hätte, so fürchtete er sich doch vor dessen dankbarer Freigebigkeit und vor irgendeiner aufgedrungenen Belohnung jenes treuen, liebevollen Handelns, wofür er schon den zartesten Lohn dahin genommen hatte.
Und so schwammen die Freunde auf zierlichem Nachen von Ufer zu Ufer, den See in jeder Richtung durchkreuzend. In der schönsten Jahrszeit entging ihnen weder Sonnenaufgang noch -untergang und keine der tausend Schattierungen, mit denen das Himmelslicht sein Firmament und von da See und Erde freigebigst überspendet und sich im Abglanz erst vollkommen verherrlicht.
Eine üppige Pflanzenwelt, ausgesät von Natur, durch Kunst gepflegt und gefördert, umgab sie überall. Schon die ersten Kastanienwälder hatten sie willkommen geheißen, und nun konnten sie sich eines traurigen Lächelns nicht enthalten, wenn sie, unter Zypressen gelagert, den Lorbeer aufsteigen, den Granatapfel sich röten, Orangen und Zitronen in Blüte sich entfalten und Früchte zugleich aus dem dunklen Laube hervorglühend erblickten.
Durch den frischen Gesellen entstand jedoch für Wilhelm ein neuer Genuss. Unserm alten Freund hatte die Natur kein malerisches Auge gegeben. Empfänglich für sichtbare Schönheit nur an menschlicher Gestalt, ward er auf einmal gewahr: Ihm sei durch einen gleich gestimmten, aber zu ganz andern Genüssen und Tätigkeiten gebildeten Freund die Umwelt aufgeschlossen.
In gesprächiger Hindeutung auf die wechselnden Herrlichkeiten der Gegend, mehr aber noch durch konzentrierte Nachahmung wurden ihm die Augen aufgetan und er von allen sonst hartnäckig gehegten Zweifeln befreit. Verdächtig waren ihm von jeher Nachbildungen italienischer Gegenden gewesen; der Himmel schien ihm zu blau, der violette Ton reizender Fernen zwar höchst lieblich, doch unwahr, und das mancherlei frische Grün doch gar zu bunt; nun verschmolz er aber mit seinem neuen Freunde aufs innigste und lernte, empfänglich wie er war, mit dessen Augen die Welt sehen, und indem die Natur das offenbare Geheimnis ihrer Schönheit entfaltete, musste man nach Kunst als der würdigsten Auslegerin unbezwingliche Sehnsucht empfinden.
Aber ganz unerwartet kam der malerische Freund ihm von einer andern Seite entgegen; dieser hatte manchmal einen heitern Gesang angestimmt und dadurch ruhige Stunden auf weiter und breiter Wellenfahrt gar innig belebt und begleitet. Nun aber traf sich’s, dass er in einem der Paläste ein ganz eigenes Saitenspiel fand, eine Laute in kleinem Format, kräftig voll klingend, bequem und tragbar; er wusste das Instrument alsbald zu stimmen, so glücklich und angenehm zu behandeln und die Gegenwärtigen so freundlich zu unterhalten, dass er als neuer Orpheus den sonst strengen und trocknen Kastellan erweichend bezwang und ihn freundlich nötigte, das Instrument dem Sänger auf eine Zeitlang zu überlassen, mit der Bedingung, solches vor der Abreise treulich wiederzugeben, auch in der Zwischenzeit an irgendeinem Sonn- oder Feiertag zu erscheinen und die Familie zu erfreuen.
Ganz anders war nunmehr See und Ufer belebt, Boot und Kahn buhlten um ihre Nachbarschaft, selbst Fracht- und Marktschiffe verweilten in ihrer Nähe, Reihen von Menschen zogen am Strand nach, und die Landenden sahen sich sogleich von einer frohsinnigen Menge umgeben; die Scheidenden segnete jedermann, zufrieden, doch sehnsuchtsvoll.
Nun hätte zuletzt ein Dritter, die Freunde beobachtend, gar wohl bemerken können, dass die Sendung beider eigentlich geendigt sei: Alle die auf Mignon sich beziehenden Gegenden und Lokalitäten waren sämtlich umrissen, teils in Licht, Schatten und Farbe gesetzt, teils in heißen Tagesstunden treulich ausgeführt. Dies zu leiten, hatten sie sich auf eine eigne Weise von Ort zu Ort bewegt, weil ihnen Wilhelms Gelübde gar oft hinderlich war; doch wussten sie solches gelegentlich zu umgehen durch die Auslegung, es gelte nur für das Land, auf dem Wasser sei es nicht anwendbar.
Auch fühlte Wilhelm selbst, dass ihre eigentliche Absicht erreicht sei, aber leugnen konnte er sich nicht, dass der Wunsch, Hilarie und die schöne Witwe zu sehen, auch noch befriedigt werden müsse, wenn man mit freiem Sinn diese Gegend verlassen wollte. Der Freund, dem er die Geschichte vertraut, war nicht weniger neugierig und freute sich schon, einen herrlichen Platz in einer seiner Zeichnungen leer und ledig zu wissen, den er mit den Gestalten so holder Personen künstlerisch zu verzieren gedachte.
Nun stellten sie Kreuz- und Querfahrten an, die Punkte, wo der Fremde in dieses Paradies einzutreten pflegt, beobachtend. Ihre Schiffer hatten sie mit der Hoffnung, Freunde hier zu sehen, bekannt gemacht, und nun dauerte es nicht lange, so sahen sie ein wohl verziertes Prachtschiff heran gleiten, worauf sie Jagd machten und sich nicht enthielten, sogleich leidenschaftlich zu entern. Die Frauenzimmer, einigermaßen betroffen, fassten sich sogleich, als Wilhelm das Blättchen vorwies und beide den von ihnen selbst vorgezeichneten Pfeil ohne Bedenken anerkannten. Die Freunde wurden alsbald zutraulich eingeladen, das Schiff der Damen zu besteigen, welches eilig geschah.
Und nun vergegenwärtige man sich die Vier, wie sie im zierlichsten Raum beisammen, gegen einander über sitzen in der seligsten Welt, von lindem Lufthauch angeweht, auf glänzenden Wellen geschaukelt. Man denke das weibliche Paar, wie wir sie vor kurzem geschildert gesehen, das männliche, mit dem wir schon seit Wochen ein gemeinsames Reiseleben führen, und wir sehen sie nach einiger Betrachtung sämtlich in der anmutigsten, obgleich gefährlichsten Lage.
Für die Drei, welche sich schon, willig oder unwillig, zu den Entsagenden gezählt, ist nicht das Schwerste zu besorgen, der Vierte jedoch dürfte sich nur allzu bald in jenen Orden aufgenommen sehen.
Nachdem man einige Mal den See durchkreuzt und auf die interessantesten Lokalitäten sowohl des Ufers als der Inseln hingedeutet hatte, brachte man die Damen gegen den Ort, wo sie übernachten sollten und wo ein gewandter, für diese Reise angenommener Führer alle wünschenswerten Bequemlichkeiten zu besorgen wusste. Hier war nun Wilhelms Gelübde ein schicklicher, aber unbequemer Zeremonienmeister; denn gerade an dieser Station hatten die Freunde vor kurzem drei Tage zugebracht und alles Merkwürdige der Umgebung erschöpft. Der Künstler, welchen kein Gelübde zurückhielt, wollte die Erlaubnis erbitten, die Damen ans Land zu geleiten, die es aber ablehnten, weswegen man sich in einiger Entfernung vom Hafen trennte.
Kaum war der Sänger in sein Schiff gesprungen, das sich eiligst vom Ufer entfernte, als er nach der Laute griff und jenen wundersam-klagenden Gesang, den die venezianischen Schiffer von Land zu See, von See zu Land erschallen lassen, lieblich anzustimmen begann. Geübt genug zu solchem Vortrag, der ihm diesmal eigens zart und ausdrucksvoll gelang, verstärkte er, verhältnismäßig zur wachsenden Entfernung, den Ton, so dass man am Ufer immer die gleiche Nähe des Scheidenden zu hören glaubte. Er ließ zuletzt die Laute schweigen, seiner Stimme allein vertrauend, und hatte das Vergnügen, zu bemerken, dass die Damen, anstatt sich ins Haus zurückzuziehen, am Ufer zu verweilen beliebten. Er fühlte sich so begeistert, dass er nicht endigen konnte, auch selbst als zuletzt Nacht und Entfernung das Anschauen aller Gegenstände entzogen; bis ihm endlich der mehr beruhigte Freund bemerkbar machte, dass, wenn auch Finsternis den Ton begünstigte, das Schiff den Kreis doch längst verlassen habe, in welchem derselbe wirken könne.
Der Verabredung gemäß traf man sich des andern Tags abermals auf offener See. Vorüber fliegend befreundete man sich mit der schönen Reihe merkwürdig hingelagerter, bald reihenweise übersehbarer, bald sich verschiebender Ansichten, die, im Wasser sich gleichmäßig verdoppelnd, bei Uferfahrten das mannigfaltigste Vergnügen gewähren. Dabei ließen denn die künstlerischen Nachbildungen auf dem Papier dasjenige vermuten und ahnen, was man auf dem heutigen Zug nicht unmittelbar gewahrte. Für alles dieses schien die stille Hilarie freien und schönen Sinn zu besitzen.
Aber nun gegen Mittag erschien abermals das Wunderbare: Die Damen landeten allein, die Männer kreuzten vor dem Hafen. Nun suchte der Sänger seinen Vortrag einer solchen Annäherung zu bequemen, wo nicht bloß von einem zart und lebhaft jodelnden allgemeinen Sehnsuchtston, sondern von heiterer, zierlicher Andringlichkeit irgendeine glückliche Wirkung zu hoffen wäre. Da wollte denn manchmal ein und das andere der Lieder, die wir geliebten Personen der „Lehrjahre“ schuldig sind, über den Saiten, über den Lippen schweben; doch enthielt er sich, aus wohlmeinender Schonung, deren er selbst bedurfte, und schwärmte vielmehr in fremden Bildern und Gefühlen umher, zum Gewinn seines Vortrags, der sich nur um desto einschmeichelnder vernehmen ließ. Beide Freunde hätten, auf diese Weise den Hafen blockierend, nicht an Essen und Trinken gedacht, wenn die vorsichtigen Freundinnen nicht gute Bissen herüber gesendet hätten, wozu ein begleitender Trunk ausgesuchten Weins zum allerbesten schmeckte.
Jede Absonderung, jede Bedingung, die unsern aufkeimenden Leidenschaften in den Weg tritt, schärft sie, anstatt sie zu dämpfen; und auch diesmal lässt sich vermuten, dass die kurze Abwesenheit beiden Teilen gleiche Sehnsucht erregt habe. Allerdings! Man sah die Damen in ihrer blendend-muntern Gondel gar bald wieder heranfahren.
Das Wort Gondel nehme man aber nicht im traurigen, venezianischen Sinne; hier bezeichnet es ein lustig-bequem-gefälliges Schiff, das, hätte sich unser kleiner Kreis verdoppelt, immer noch geräumig genug gewesen wäre.
Einige Tage wurden so auf diese eigene Weise zwischen Begegnen und Scheiden, zwischen Trennen und Zusammensein hingebracht; im Genuss vergnüglichster Geselligkeit schwebte immer Entfernen und Entbehren vor der bewegten Seele. In Gegenwart der neuen Freunde rief man sich die älteren zurück; vermisste man die neuen, so musste man bekennen, dass auch diese schon starken Anspruch an Erinnerung zu erwerben gewusst. Nur ein gefasster, geprüfter Geist wie unsere schöne Witwe konnte sich zu solcher Stunde völlig im Gleichgewicht erhalten.
Hilaries Herz war zu sehr verwundet, als dass es einen neuen, reinen Eindruck zu empfangen fähig gewesen wäre; aber wenn die Anmut einer herrlichen Gegend uns lindernd umgibt, wenn die Milde gefühlvoller Freunde auf uns einwirkt, so kommt etwas Eigenes über Geist und Sinn, das uns Vergangenes, Abwesendes traumartig zurückruft und das Gegenwärtige, als wäre es nur Erscheinung, geisterhaft entfernt. So abwechselnd hin und wider geschaukelt, angezogen und abgelehnt, genähert und entfernt, wallten und wogten sie verschiedene Tage.
Ohne diese Verhältnisse näher zu beurteilen, glaubte doch der gewandte, wohl erfahrene Reiseführer einige Veränderung in dem ruhigen Betragen seiner Heldinnen gegen das bisherige zu bemerken, und als das Grillenhafte dieser Zustände sich ihm endlich aufgeklärt hatte, wusste er auch hier das Erfreulichste zu vermitteln. Denn als man eben die Damen abermals zu dem Ort, wo ihre Tafel bereitet wäre, bringen wollte, begegnete ihnen ein anderes geschmücktes Schiff, das, an das ihrige sich anlegend, einen gut gedeckten Tisch mit allen Heiterkeiten einer festlichen Tafel einladend vorwies; man konnte nun den Verlauf mehrerer Stunden zusammen abwarten, und erst die Nacht entschied die herkömmliche Trennung.
Glücklicherweise hatten die männlichen Freunde auf ihren früheren Fahrten gerade die geschmückteste der Inseln aus einer gewissen Naturgrille zu betreten vernachlässigt und auch jetzt nicht gedacht, die dortigen, keineswegs im besten Stand erhaltenen Künsteleien den Freundinnen vorzuzeigen, ehe die herrlichen Weltszenen völlig erschöpft wären. Doch zuletzt ging ihnen ein ander Licht auf. Man zog den Führer ins Vertrauen, dieser wusste jene Fahrt sogleich zu beschleunigen, und sie hielten solche für die seligste. Nun durften sie hoffen und erwarten, nach so manchen unterbrochenen Freuden drei volle himmlische Tage, in einem abgeschlossenen Bezirk versammelt, zuzubringen.
Hier müssen wir nun den Reiseführer besonders rühmen; er gehörte zu jenen beweglichen, tätig gewandten, welche, mehrere Herrschaften geleitend, dieselben Routen oft zurücklegen, mit Bequemlichkeiten und Unbequemlichkeiten genau bekannt, die einen zu vermeiden, die andern zu benutzen und, ohne Hintansetzung eignen Vorteils, ihre Patrone doch immer wohlfeiler und vergnüglicher durchs Land zu führen verstehen, als diesen auf eigene Hand würde gelungen sein.
Zu gleicher Zeit tat sich eine lebhafte weibliche Bedienung der Frauenzimmer zum ersten Mal entschieden tätig hervor, so dass die schöne Witwe zur Bedingung machen konnte, die beiden Freunde möchten bei ihr als Gäste einkehren und mit mäßiger Bewirtung vorlieb nehmen. Auch hier gelang alles zum günstigsten; denn der kluge Geschäftsträger hatte, bei dieser Gelegenheit wie früher von den Empfehlungs- und Kreditbriefen der Damen so klugen Gebrauch zu machen gewusst, dass, in Abwesenheit der Besitzer Schloss und Garten, nicht weniger die Küche zu beliebigem Gebrauch eröffnet wurden, ja sogar einige Aussicht auf den Keller blieb. Alles stimmte nun so zusammen, dass man sich gleich vom ersten Augenblick an als einheimisch, als eingeborne Herrschaft solcher Paradiese fühlen musste.
Das sämtliche Gepäck aller unserer Reisenden ward sogleich auf die Insel gebracht, wodurch für die Gesellschaft große Bequemlichkeit entstand, der größte Vorteil aber dabei erzielt ward, indem die sämtlichen Portefeuilles des trefflichen Künstlers, zum ersten Mal alle beisammen, ihm Gelegenheit gaben, den Weg, den er genommen, in stetiger Folge den Schönen zu vergegenwärtigen. Man nahm die Arbeit mit Entzücken auf. Nicht etwa wie Liebhaber und Künstler sich wechselweise präkonisieren, hier ward einem vorzüglichen Mann das gefühlteste und einsichtigste Lob erteilt. Damit wir aber nicht in Verdacht geraten, als wollten wir mit allgemeinen Phrasen dasjenige, was wir nicht vorzeigen können, gläubigen Lesern nur unterschieben, so stehe hier das Urteil eines Kenners, der bei jenen fraglichen sowohl als gleichen und ähnlichen Arbeiten mehrere Jahre nachher bewundernd verweilte.
„Ihm gelingt, die heitere Ruhe stiller Seeaussichten darzustellen, wo anliegend-freundliche Wohnungen, sich in der klaren Flut spiegelnd, gleichsam zu baden scheinen; Ufer, mit begrünten Hügeln umgeben, hinter denen Waldgebirge sind eisige Gletscherfirnen aufsteigen. Der Farbenton solcher Szenen ist heiter, fröhlich-klar; die Fernen mit milderndem Duft wie übergossen, der, nebelgrauer und einhüllender, aus durchströmenden Gründen und Tälern hervor steigt und ihre Windungen andeutet. Nicht minder ist des Meisters Kunst zu loben in Ansichten aus Tälern, näher am Hochgebirge gelegen, wo üppig bewachsene Bergeshänge niedersteigen, frische Ströme sich am Fuß der Felsen eilig fortwälzen.
Trefflich weiß er in mächtig schattenden Bäumen des Vordergrundes den unterscheidenden Charakter verschiedener Arten, so in Gestalt des Ganzen wie in dem Gang der Zweige, den einzelnen Partien der Blätter, befriedigend anzudeuten; nicht weniger in dem auf mancherlei Weise nuancierten frischen Grün, worin sanfte Lüfte mit gelindem Hauch zu fächeln und die Lichter daher gleichsam bewegt erscheinen.
Im Mittelgrund ermattet allmählich der lebhafte grüne Ton und vermählt sich auf entferntern Berghöhen schwach violett mit dem Blau des Himmels. Doch unserm Künstler glücken über alles Darstellungen höherer Alpgegenden; das einfach Große und Stille ihres Charakters, die ausgedehnten Weiden am Bergeshang, mit dem frischesten Grün überkleidet, wo dunkel einzeln stehende Tannen aus dem Rasenteppich ragen und von hohen Felswänden sich schäumende Bäche stürzen. Mag er die Weiden mit grasendem Rindvieh staffieren oder den engen, um Felsen sich windenden Bergpfad mit beladenen Saumpferden und Maultieren, er zeichnet alle gleich gut und geistreich; immer am schicklichen Ort und nicht in zu großer Fülle angebracht, zieren und beleben sie diese Bilder, ohne ihre ruhige Einsamkeit zu stören oder auch nur zu mindern. Die Ausführung zeugt von der kühnsten Meisterhand, leicht, mit wenigen sichern Strichen und doch vollendet. Er bediente sich später englischer glänzender Permanentfarben auf Papier, daher sind diese Gemälde von vorzüglich blühendem Farbenton, heiter, aber zugleich kräftig und gesättigt.
Seine Abbildungen tiefster Felsschluchten, wo um und um nur totes Gestein starrt, im Abgrund, von kühner Brücke übersprungen, der wilde Strom tobt, gefallen zwar nicht wie die vorigen, doch ergreift uns ihre Wahrheit; wir bewundern die große Wirkung des Ganzen, durch wenige bedeutende Striche und Massen von Lokalfarben mit dem geringsten Aufwand hervorgebracht.
Ebenso charakteristisch weiß er die Gegenden des Hochgebirges darzustellen, wo weder Baum noch Gesträuch mehr fortkommt, sondern nur zwischen Felszacken und Schneegipfeln sonnige Flächen mit zartem Rasen sich bedecken. So schön und gründuftig und einladend er dergleichen Stellen auch koloriert, so sinnig hat er doch unterlassen, hier mit weidenden Herden zu staffieren, denn diese Gegenden geben nur Futter den Gämsen und Wildheuern einen gefahrvollen Erwerb.“
Wir entfernen uns nicht von der Absicht, unsern Lesern den Zustand solcher wilden Gegenden so nah als möglich zu bringen, wenn wir das eben gebrauchte Wort Wildheuer mit wenigem erklären. Man bezeichnet damit ärmere Bewohner der Hochgebirge, welche sich unterfangen, auf Grasplätzen, die für das Vieh schlechterdings unzugänglich sind, Heu zu machen. Sie ersteigen deswegen, mit Steigehaken an den Füßen, die steilsten, gefährlichsten Klippen, oder lassen sich, wo es nötig ist, von hohen Felswänden an Stricken auf die besagten Grasplätze herab. Ist nun das Gras von ihnen geschlagen und zu Heu getrocknet, so werfen sie solches von den Höhen in tiefere Talgründe herab, wo dasselbe, wieder gesammelt, an Viehbesitzer verkauft wird, die es der vorzüglichen Beschaffenheit wegen gern erhandeln.
Jene Bilder, die zwar einen jeden erfreuen und anziehen müssten, betrachtete Hilarie besonders mit großer Aufmerksamkeit; ihre Bemerkungen gaben zu erkennen, dass sie selbst diesem Fach nicht fremd sei; am wenigsten blieb dies dem Künstler verborgen, der sich von niemand lieber erkannt gesehen hätte als gerade von dieser anmutigsten aller Personen. Die ältere Freundin schwieg daher nicht länger, sondern tadelte Hilarie, dass sie mit ihrer eigenen Geschicklichkeit hervorzutreten auch diesmal, wie immer, zaudere; hier sei die Frage nicht, gelobt oder getadelt zu werden, sondern zu lernen. Eine schönere Gelegenheit finde sich vielleicht nicht wieder.
Nun zeigte sich erst, als sie genötigt war, ihre Blätter vorzuweisen, welch ein Talent hinter diesem stillen, zierlichsten Wesen verborgen liege; die Fähigkeit war eingeboren, fleißig geübt. Sie besaß ein treues Auge, eine reinliche Hand, wie sie Frauen bei ihren sonstigen Schmuck- und Putzarbeiten zu höherer Kunst befähigt. Man bemerkte freilich Unsicherheit in den Strichen und deshalb nicht hinlänglich ausgesprochenen Charakter der Gegenstände, aber man bewunderte genugsam die fleißigste Ausführung; dabei jedoch das Ganze nicht aufs vorteilhafteste gefasst, nicht künstlerisch zurechtgerückt. Sie fürchtet, so scheint es, den Gegenstand zu entweihen, bliebe sie ihm nicht vollkommen getreu; deshalb ist sie ängstlich und verliert sich im Detail.
Nun aber fühlt sie sich durch das große, freie Talent, die dreiste Hand des Künstlers aufgeregt, erweckt, was von Sinn und Geschmack in ihr treulich schlummerte; es geht ihr auf, dass sie nur Mut fassen, einige Hauptmaximen, die ihr der Künstler gründlich, freundlich-dringend, wiederholt überlieferte, ernst und sträcklich befolgen müsse. Die Sicherheit des Striches findet sich ein, sie hält sich allmählich weniger an die Teile als ans Ganze, und so schließt sich die schönste Fähigkeit unvermutet zur Fertigkeit auf: Wie eine Rosenknospe, an der wir noch abends unbeachtend vorübergingen, morgens mit Sonnenaufgang vor unsern Augen hervorbricht, so dass wir das lebende Zittern, das die herrliche Erscheinung dem Licht entgegenregt, mit Augen zu schauen glauben.
Auch nicht ohne sittliche Nachwirkung war eine solche ästhetische Ausbildung geblieben; denn einen magischen Eindruck auf ein reines Gemüt bewirkt das Gewahrwerden der innigsten Dankbarkeit gegen irgendjemand, dem wir entscheidende Belehrung schuldig sind. Diesmal war es das erste frohe Gefühl, das in Hilaries Seele nach geraumer Zeit hervortrat. Die herrliche Welt erst tagelang vor sich zu sehen und nun die auf einmal verliehene vollkommenere Darstellungsgabe zu empfinden! Welche Wonne, in Zügen und Farben dem Unaussprechlichen näher zu treten! Sie fühlte sich mit einer neuen Jugend überrascht und konnte sich eine besondere Anneigung zu jenem, dem sie dies Glück schuldig geworden, nicht versagen.
So saßen sie nebeneinander; man hätte nicht unterscheiden können, wer hastiger, Kunstvorteile zu überliefern oder sie zu ergreifen und auszuüben, gewesen wäre. Der glücklichste Wettstreit, wie er sich selten zwischen Schüler und Meister entzündet, tat sich hervor. Manchmal schien der Freund auf ihr Blatt mit einem entscheidenden Zug einwirken zu wollen, sie aber, sanft ablehnend, eilte gleich, das Gewünschte, das Notwendige zu tun, und immer zu seinem Erstaunen.
Der letzte Abend war nun herangekommen, und ein hervorleuchtender, klarster Vollmond ließ den Übergang von Tag zu Nacht nicht empfinden. Die Gesellschaft hatte sich zusammen auf einer der höchsten Terrassen gelagert, den ruhigen, von allen Seiten her erleuchteten und rings wider glänzenden See, dessen Länge sich zum Teil verbarg, seiner Breite nach ganz und klar zu überschauen.
Was man nun auch in solchen Zuständen besprechen mochte, so war doch nicht zu unterlassen, das hundertmal Besprochene, die Vorzüge dieses Himmels, dieses Wassers, dieser Erde, unter dem Einfluss einer gewaltigern Sonne, eines mildern Mondes nochmals zu bereden, ja sie ausschließlich und lyrisch anzuerkennen.
Was man sich aber nicht gestand, was man sich kaum selbst bekennen mochte, war das tiefe, schmerzliche Gefühl, das in jedem Busen stärker oder schwächer, durchaus aber gleich wahr und zart sich bewegte. Das Vorgefühl des Scheidens verbreitete sich über die Gesamtheit; ein allmähliches Verstummen wollte fast ängstlich werden.
Da ermannte, da entschloss sich der Sänger, auf seinem Instrumente kräftig präludierend, uneingedenk jener früheren wohlbedachten Schonung. Ihm schwebte Mignons Bild mit dem ersten Zartgesang des holden Kindes vor. Leidenschaftlich über die Grenze gerissen, mit sehnsüchtigem Griff die wohlklingenden Saiten aufregend, begann er anzustimmen:
„Kennst du das Land, wo die Zitronen blühn,
Im dunklen Laub – – – – –“
Hilarie stand erschüttert auf und entfernte sich, die Stirne verschleiernd; unsere schöne Witwe bewegte ablehnend eine Hand gegen den Sänger, indem sie mit der andern Wilhelms Arm ergriff. Hilarie folgte der wirklich verworrene Jüngling, Wilhelm zog die mehr besonnene Freundin hinter beiden drein. Und als sie nun alle vier im hohen Mondschein sich gegenüberstanden, war die allgemeine Rührung nicht mehr zu verhehlen. Die Frauen warfen sich einander in die Arme, die Männer umhalsten sich, und Luna ward Zeuge der edelsten, keuschesten Tränen. Einige Besinnung kehrte langsam erst zurück, man zog sich auseinander, schweigend, unter seltsamen Gefühlen und Wünschen, denen doch die Hoffnung schon abgeschnitten war. Nun fühlte sich unser Künstler, welchen der Freund mit sich riss, unter dem hehren Himmel, in der ernst-lieblichen Nachtstunde, eingeweiht in alle Schmerzen des ersten Grades der Entsagenden, welchen jene Freunde schon überstanden hatten, nun aber sich in Gefahr sahen, abermals schmerzlich geprüft zu werden.
Spät hatten sich die Jünglinge zur Ruhe begeben, und am frühen Morgen zeitig erwachend, fassten sie ein Herz und glaubten sich stark zu einem Abschied aus diesem Paradies, ersannen mancherlei Plane, wie sie ohne Pflichtverletzung in der angenehmen Nähe zu verharren allenfalls möglich machten.
Ihre Vorschläge deshalb gedachten sie anzubringen, als die Nachricht sie überraschte, schon beim frühsten Schein des Tages seien die Damen abgefahren. Ein Brief von der Hand unserer Herzenskönigin belehrte sie des weitern. Man konnte zweifelhaft sein, ob mehr Verstand oder Güte, mehr Neigung oder Freundschaft, mehr Anerkennung des Verdienstes oder leises, verschämtes Vorurteil darin ausgesprochen sei. Leider enthielt der Schluss die harte Forderung, dass man den Freundinnen weder folgen, noch sie irgendwo aufsuchen, ja, wenn man sich zufällig begegnete, einander treulich ausweichen wolle.
Nun war das Paradies wie durch einen Zauberschlag für die Freunde zur völligen Wüste gewandelt; und gewiss hätten sie selbst gelächelt, wäre ihnen in dem Augenblick klar geworden, wie ungerecht-undankbar sie sich auf einmal gegen eine so schöne, so merkwürdige Umgebung verhielten. Kein selbstsüchtiger Hypochondrist würde so scharf und scheelsüchtig den Verfall der Gebäude, die Vernachlässigung der Mauern, das Verwittern der Türme, den Grasüberzug der Gänge, das Aussterben der Bäume, das vermoosende Vermodern der Kunstgrotten, und was noch alles dergleichen zu bemerken wäre, gerügt und gescholten haben. Sie fassten sich indes, so gut es sich fügen wollte; unser Künstler packte sorgfältig seine Arbeit zusammen, sie schifften beide sich ein; Wilhelm begleitete ihn bis in die obere Gegend des Sees, wo jener nach früherer Verabredung seinen Weg zu Natalie suchte, um sie durch die schönen landschaftlichen Bilder in Gegenden zu versetzen, die sie vielleicht so bald nicht betreten sollte. Berechtigt ward er zugleich, den unerwarteten Fall bekennend, vorzutragen, wodurch er in die Lage geraten, von den Bundesgliedern des Entsagens aufs freundlichste in die Mitte genommen und durch liebevolle Behandlung, wo nicht geheilt, doch getröstet zu werden.
Lenardo an Wilhelm
Ihr Schreiben, mein Teuerster, traf mich in einer Tätigkeit, die ich Verwirrung nennen könnte, wenn der Zweck nicht so groß, das Erlangen nicht so sicher wäre. Die Verbindung mit den Ihrigen ist wichtiger, als beide Teile sich denken konnten. Darüber darf ich nicht anfangen zu schreiben, weil sich gleich hervortut, wie unübersehbar das Ganze, wie unaussprechlich die Verknüpfung. Tun ohne Reden muss jetzt unsre Losung sein. Tausend Dank, dass Sie mir auf ein so anmutiges Geheimnis halb verschleiert in die Ferne hindeuten; ich gönne dem guten Wesen einen so einfach glücklichen Zustand, indessen mich ein Wirbel von Verschlingungen, doch nicht ohne Leitstern, umher treiben wird. Der Abbé übernimmt, das weitere zu vermelden, ich darf nur dessen gedenken, was fördert; die Sehnsucht verschwindet im Tun und Wirken. Sie haben mich – und hier nicht weiter; wo genug zu schaffen ist, bleibt kein Raum für Betrachtung.
Der Abbé an Wilhelm
Wenig hätte gefehlt, so wäre Ihr wohl gemeinter Brief, ganz Ihrer Absicht entgegen, uns höchst schädlich geworden. Die Schilderung der Gefundenen ist so gemütlich und reizend, dass, um sie gleichfalls aufzufinden, der wunderliche Freund vielleicht alles hätte stehen und liegen lassen, wären unsre nunmehr verbündeten Plane nicht so groß und weit aussehend. Nun aber hat er die Probe bestanden, und es bestätigt sich, dass er von der wichtigen Angelegenheit völlig durchdrungen ist und sich von allem andern ab und allein dorthin gezogen fühlt.
In diesem unserm neuen Verhältnis, dessen Einleitung wir Ihnen verdanken, ergaben sich bei näherer Untersuchung für jene wie für uns weit größere Vorteile, als man gedacht hätte.
Denn gerade durch eine von der Natur weniger begünstigte Gegend, wo ein Teil der Güter gelegen ist, die ihm der Oheim abtritt, ward in der neuern Zeit ein Kanal projektiert, der auch durch unsere Besitzungen sich ziehen wird und wodurch, wenn wir uns aneinander schließen, sich der Wert derselben ins Unberechenbare erhöht.
Hierbei kann er seine Hauptneigung, ganz von vorne anzufangen, sehr bequem entwickeln. Zu beiden Seiten jener Wasserstraße wird unbebautes und unbewohntes Land genugsam zu finden sein; dort mögen Spinnerinnen und Weberinnen sich ansiedeln, Maurer, Zimmerleute und Schmiede sich und jenen mäßige Werkstätten bestellen; alles mag durch die erste Hand verrichtet werden, indessen wir andern die verwickelten Aufgaben zu lösen unternehmen und den Umschwung der Tätigkeit zu befördern wissen.
Dieses ist also die nächste Aufgabe unsers Freundes. Aus den Gebirgen vernimmt man Klagen über Klagen, wie dort Nahrungslosigkeit überhand nehme; auch sollen jene Strecken im Übermaß bevölkert sein. Dort wird er sich umsehen, Menschen und Zustände beurteilen und die wahrhaft Tätigen, sich selbst und andern Nützlichen in unsern Zug mit aufnehmen.
Ferner hab’ ich von Lothario zu berichten, er bereitet den völligen Abschluss vor. Eine Reise zu den Pädagogen hat er unternommen, um sich tüchtige Künstler, nur sehr wenige, zu erbitten. Die Künste sind das Salz der Erde; wie dieses zu den Speisen, so verhalten sich jene zu der Technik. Wir nehmen von der Kunst nicht mehr auf, als nur, dass das Handwerk nicht abgeschmackt werde.
Im Ganzen wird zu jener pädagogischen Anstalt uns eine dauernde Verbindung höchst nützlich und nötig werden. Wir müssen tun, und dürfen ans Bilden nicht denken; aber Gebildete heranzuziehen ist unsre höchste Pflicht.
Tausend und aber tausend Betrachtungen schließen sich hier an; erlauben Sie mir nach unsrer alten Weise nur noch ein allgemeines Wort, veranlasst durch eine Stelle Ihres Briefes an Lenardo. Wir wollen der Hausfrömmigkeit das gebührende Lob nicht entziehen: Auf ihr gründet sich die Sicherheit des einzelnen, worauf zuletzt denn auch die Festigkeit und Würde des Ganzen beruhen mag; aber sie reicht nicht mehr hin, wir müssen den Begriff einer Weltfrömmigkeit fassen, unsre redlich menschlichen Gesinnungen in einen praktischen Bezug ins Weite setzen und nicht nur unsre Nächsten fördern, sondern zugleich die ganze Menschheit mitnehmen.
Um nun zuletzt Ihres Gesuches zu erwähnen, sag’ ich so viel: Montan hat es zu rechter Zeit bei uns angebracht. Der wunderliche Mann wollte durchaus nicht erklären, was Sie eigentlich vorhätten, doch er gab sein Freundeswort, dass es verständig und, wenn es gelänge, der Gesellschaft höchst nützlich sein würde. Und so ist Ihnen verziehen, dass Sie in Ihrem Schreiben gleichfalls ein Geheimnis davon machen. Genug, Sie sind von aller Beschränktheit entbunden, wie es Ihnen schon zugekommen sein sollte, wäre uns Ihr Aufenthalt bekannt gewesen. Deshalb wiederhol’ ich im Namen aller: Ihr Zweck, obschon unausgesprochen, wird im Zutrauen auf Montan und Sie gebilligt. Reisen Sie, halten Sie sich auf, bewegen Sie sich, verharren Sie! Was Ihnen gelingt, wird recht sein; möchten Sie sich zum notwendigsten Glied unsrer Kette bilden.
Ich lege zum Schluss ein Täfelchen bei, woraus Sie den beweglichen Mittelpunkt unsrer Kommunikationen erkennen werden. Sie finden darin vor Augen gestellt, wohin Sie zu jeder Jahrszeit Ihre Briefe zu senden haben; am liebsten sehen wir’s durch sichere Boten, deren Ihnen genugsam an mehreren Orten angedeutet sind. Ebenso finden Sie durch Zeichen bemerkt, wo Sie einen oder den andern der Unsrigen aufzusuchen haben.
Kapitel 8
Suchen wir nun unsern seit einiger Zeit sich selbst überlassenen Freund wieder auf, so finden wir ihn, wie er von Seiten des flachen Landes her in die pädagogische Provinz hinein tritt. Er kommt über Auen und Wiesen, umgeht auf trocknem Anger manchen kleinen See, erblickt mehr bebuschte als waldige Hügel, überall freie Umsicht über einen wenig bewegten Boden. Auf solchen Pfaden blieb ihm nicht lange zweifelhaft, er befinde sich in der pferdenährenden Region; auch gewahrte er hie und da kleinere und größere Herden dieses edlen Tiers, verschiedenen Geschlechts und Alters. Auf einmal aber bedeckt sich der Horizont mit einer furchtbaren Staubwolke, die, eiligst näher und näher anschwellend, alle Breite des Raums völlig überdeckt, endlich aber, durch frischen Seitenwind enthüllt, ihren innern Tumult zu offenbaren genötigt ist.
In vollem Galopp stürzt eine große Masse solcher edlen Tiere heran, sie werden durch reitende Hüter gelenkt und zusammengehalten. An dem Wanderer sprengt das ungeheure Gewimmel vorbei, ein schöner Knabe unter den begleitenden Hütern blickt ihn verwundert an, pariert, springt ab und umarmt den Vater.
Nun geht es an ein Fragen und Erzählen; der Sohn berichtet, dass er in der ersten Prüfungszeit viel ausgestanden, sein Pferd vermisst und auf Äckern und Wiesen sich zu Fuß herumgetrieben; da er sich denn auch an dem stillen, mühseligen Landleben, wie er voraus protestiert, nicht sonderlich erwiesen; das Erntefest habe ihm zwar ganz wohl, das Bestellen hintendrein, Pflügen, Graben und Abwarten keineswegs gefallen; mit den notwendigen und nutzbaren Haustieren habe er sich zwar, doch immer lässig und unzufrieden beschäftigt, bis er denn zur lebhafteren Reiterei endlich befördert worden. Das Geschäft, die Stuten und Fohlen zu hüten, sei mitunter zwar langweilig genug, indessen wenn man ein muntres Tierchen vor sich sehe, das einen vielleicht in drei, vier Jahren lustig davontrüge, so sei es doch ein ganz anderes Wesen, als sich mit Kälbern und Ferkeln abzugeben, deren Lebenszweck dahinaus gehe, wohl gefüttert und angefettet fortgeschafft zu werden.
Mit dem Wachstum des Knaben, der sich wirklich zum Jüngling heranstreckte, seiner gesunden Haltung, einem gewissen frei-heitern, um nicht zu sagen geistreichen Gespräche konnte der Vater wohl zufrieden sein. Beide folgten reitend nunmehr eilig der eilenden Herde, bei einsam gelegenen weitläufigen Gehöften vorüber, zu dem Ort oder Flecken, wo das große Marktfest gehalten ward. Dort wühlt ein unglaubliches Getümmel durcheinander, und man wüsste nicht zu unterscheiden, ob Ware oder Käufer mehr Staub erregten. Aus allen Landen treffen hier Kauflustige zusammen, um Geschöpfe edler Abkunft, sorgfältiger Zucht sich zuzueignen. Alle Sprachen der Welt glaubt man zu hören. Dazwischen tönt auch der lebhafte Schall wirksamster Blasinstrumente, und alles deutet auf Bewegung, Kraft und Leben.
Unser Wanderer trifft nun den vorigen, schon bekannten Aufseher wieder an, gesellt zu andern tüchtigen Männern, welche still und gleichsam unbemerkt Zucht und Ordnung zu erhalten wissen. Wilhelm, der hier abermals ein Beispiel ausschließlicher Beschäftigung und, wie ihm bei aller Breite scheint, beschränkter Lebensleitung zu bemerken glaubt, wünscht zu erfahren, worin man die Zöglinge sonst noch zu üben pflege, um zu verhindern, dass bei so wilder, gewissermaßen roher Beschäftigung, Tiere nährend und erziehend, der Jüngling nicht selbst zum Tier verwildere. Und so war ihm denn sehr lieb zu vernehmen, dass gerade mit dieser gewaltsam und rau scheinenden Bestimmung die zarteste von der Welt verknüpft sei, Sprachübung und Sprachbildung.
In dem Augenblick vermisste der Vater den Sohn an seiner Seite; er sah ihn zwischen den Lücken der Menge durch mit einem jungen Tabulettkrämer über Kleinigkeiten eifrig handeln und feilschen. In kurzer Zeit sah er ihn gar nicht mehr. Als nun der Aufseher nach der Ursache einer gewissen Verlegenheit und Zerstreuung fragte und dagegen vernahm, dass es den Sohn gelte: „Lassen Sie es nur“, sagte er zur Beruhigung des Vaters, „er ist unverloren; damit Sie aber sehen, wie wir die Unsrigen zusammenhalten“, stieß er mit Gewalt in ein Pfeifchen, das an seinem Busen hing, in dem Augenblick antwortete es dutzendweise von allen Seiten. Der Mann fuhr fort: „Jetzt lass’ ich es dabei bewenden; es ist nur ein Zeichen, dass der Aufseher in der Nähe ist und ungefähr wissen will, wie viel ihn hören. Auf ein zweites Zeichen sind sie still, aber bereiten sich, auf das dritte antworten sie und stürzen herbei. Übrigens sind diese Zeichen auf gar mannigfaltige Weise vervielfältigt und von besonderem Nutzen.“
Auf einmal hatte sich um sie her ein freierer Raum gebildet; man konnte freier sprechen, indem man gegen die benachbarten Höhen spazierte. „Zu jenen Sprachübungen“, fuhr der Aufsehende fort, „wurden wir dadurch bestimmt, dass aus allen Weltgegenden Jünglinge sich hier befinden. Um nun zu verhüten, dass sich nicht, wie in der Fremde zu geschehen pflegt, die Landsleute vereinigen und, von den übrigen Nationen abgesondert, Parteien bilden, so suchen wir durch freie Sprachmitteilung sie einander zu nähern.
Am notwendigsten aber wird eine allgemeine Sprachübung, weil bei diesem Festmarkt jeder Fremde in seinen eigenen Tönen und Ausdrücken genugsame Unterhaltung, beim Feilschen und Markten aber alle Bequemlichkeit gerne finden mag. Damit jedoch keine babylonische Verwirrung, keine Verderbnis entstehe, so wird das Jahr über monatweise nur eine Sprache im allgemeinen gesprochen; nach dem Grundsatz, dass man nichts lerne außerhalb des Elements, welches bezwungen werden soll.
Wir sehen unsere Schüler“, sagte der Aufseher, „sämtlich als Schwimmer an, welche mit Verwunderung im Element, das sie zu verschlingen droht, sich leichter fühlen, von ihm gehoben und getragen sind; und so ist es mit allem, dessen sich der Mensch unterfängt.
Zeigt jedoch einer der Unsrigen zu dieser oder jener Sprache besondere Neigung, so ist auch mitten in diesem tumultvoll scheinenden Leben, das zugleich sehr viel ruhige, müssig-einsame, ja langweilige Stunden bietet, für treuen und gründlichen Unterricht gesorgt. Ihr würdet unsere reitenden Grammatiker, unter welchen sogar einige Pedanten sind, aus diesen bärtigen und unbärtigen Zentauren wohl schwerlich herausfinden. Euer Felix hat sich zum Italienischen bestimmt, und da, wie Ihr schon wisst, melodischer Gesang bei unsern Anstalten durch alles durchgreift, so solltet Ihr ihn in der Langweile des Hüterlebens gar manches Lied zierlich und gefühlvoll vortragen hören. Lebenstätigkeit und Tüchtigkeit ist mit auslangendem Unterricht weit verträglicher, als man denkt.“
Da eine jede Region ihr eigenes Fest feiert, so führte man den Gast zum Bezirk der Instrumentalmusik. Dieser, an die Ebene grenzend, zeigte schon freundlich und zierlich abwechselnde Täler, kleine schlanke Wälder, sanfte Bäche, an deren Seite hie und da ein bemooster Fels hervortrat. Zerstreute, umbuschte Wohnungen erblickte man auf den Hügeln, in sanften Gründen drängten sich die Häuser näher aneinander. Jene anmutig vereinzelten Hütten lagen so weit auseinander, dass weder Töne noch Misstöne sich wechselseitig erreichen konnten.
Sie näherten sich sodann einem weiten, rings umbauten und umschatteten Raum, wo Mann an Mann gedrängt mit großer Aufmerksamkeit und Erwartung gespannt schienen. Eben als der Gast herantrat, ward eine mächtige Symphonie aller Instrumente aufgeführt, deren vollständige Kraft und Zartheit er bewundern musste.
Dem geräumig erbauten Orchester gegenüber stand ein kleineres zur Seite, welches zu besonderer Betrachtung Anlass gab; auf demselben befanden sich jüngere und ältere Schüler, jeder hielt sein Instrument bereit, ohne zu spielen; es waren diejenigen, die noch nicht vermochten oder nicht wagten, mit ins Ganze zu greifen. Mit Anteil bemerkte man, wie sie gleichsam auf dem Sprung standen, und hörte rühmen: Ein solches Fest gehe selten vorüber, ohne dass ein oder das andere Talent sich plötzlich entwickele.
Da nun auch Gesang zwischen den Instrumenten sich hervortat, konnte kein Zweifel übrig bleiben, dass auch dieser begünstigt werde. Auf eine Frage sodann, was noch sonst für eine Bildung sich hier freundlich anschließe, vernahm der Wanderer: Die Dichtkunst sei es, und zwar von der lyrischen Seite. Hier komme alles darauf an, dass beide Künste, jede für sich und aus sich selbst, dann aber gegen- und miteinander, entwickelt werde. Die Schüler lernen eine wie die andre in ihrer Bedingtheit kennen; sodann wird gelehrt, wie sie sich wechselweise bedingen und sich sodann wieder wechselseitig befreien.
Der poetischen Rhythmik stellt der Tonkünstler Takteinteilung und Taktbewegung entgegen. Hier zeigt sich aber bald die Herrschaft der Musik über die Poesie; denn wenn diese, wie billig und notwendig, ihre Quantitäten immer so rein als möglich im Sinne hat, so sind für den Musiker wenig Silben entschieden lang oder kurz; nach Belieben zerstört dieser das gewissenhafteste Verfahren des Rhythmikers, ja verwandelt sogar Prosa in Gesang, wo dann die wunderbarsten Möglichkeiten hervortreten, und der Poet würde sich gar bald vernichtet fühlen, wüsste er nicht von seiner Seite durch lyrische Zartheit und Kühnheit dem Musiker Ehrfurcht einzuflößen und neue Gefühle, bald in sanftester Folge, bald durch die raschesten Übergänge, hervorzurufen.
Die Sänger, die man hier findet, sind meist selbst Poeten. Auch der Tanz wird in seinen Grundzügen gelehrt, damit sich alle diese Fertigkeiten über sämtliche Regionen regelmäßig verbreiten können.“
Als man den Gast über die nächste Grenze führte, sah er auf einmal eine ganz andere Bauart. Nicht mehr zerstreut waren die Häuser, nicht mehr hüttenartig; sie zeigten sich vielmehr regelmäßig zusammengestellt, prächtig und schön von außen, geräumig, bequem und zierlich von innen; man ward hier einer unbeengten, wohl gebauten, der Gegend angemessenen Stadt gewahr. Hier sind bildende Kunst und die ihr verwandten Handwerke zu Hause, und eine ganz eigene Stille herrscht über diesen Räumen.
Der bildende Künstler denkt sich zwar immer in Bezug auf alles, was unter den Menschen lebt und webt, aber sein Geschäft ist einsam, und durch den sonderbarsten Widerspruch verlangt vielleicht kein anderes so entschieden lebendige Umgebung. Hier nun bildet jeder im stillen, was bald für immer die Augen der Menschen beschäftigen soll; eine Feiertagsruhe waltet über dem ganzen Ort, und hätte man nicht hie und da das Picken der Steinhauer oder abgemessene Schläge der Zimmerleute vernommen, die soeben emsig beschäftigt waren, ein herrliches Gebäude zu vollenden, so wäre die Luft von keinem Ton bewegt gewesen.
Unserm Wanderer fiel der Ernst auf, die wunderbare Strenge, mit welcher sowohl Anfänger als Fortschreitende behandelt wurden; es schien, als wenn keiner aus eigner Macht und Gewalt etwas leistete, sondern als wenn ein geheimer Geist sie alle durch und durch belebte, nach einem einzigen großen Ziele hinleitend. Nirgends erblickte man Entwurf und Skizze, jeder Strich war mit Bedacht gezogen, und als sich der Wanderer von dem Führer eine Erklärung des ganzen Verfahrens erbat, äußerte dieser: Die Einbildungskraft sei ohnehin ein vages, unstetes Vermögen, während das ganze Verdienst des bildenden Künstlers darin bestehe, dass er sie immer mehr bestimmen, festhalten, ja endlich bis zur Gegenwart erhöhen lerne.
Man erinnerte an die Notwendigkeit sicherer Grundsätze in andern Künsten. „Würde der Musiker einem Schüler vergönnen, wild auf den Saiten herum zu greifen, oder sich gar Intervalle nach eigner Lust und Belieben zu erfinden? Hier wird auffallend, dass nichts der Willkür des Lernenden zu überlassen sei; das Element, worin er wirken soll, ist entschieden gegeben, das Werkzeug, das er zu handhaben hat, ist ihm eingehändigt, sogar die Art und Weise, wie er sich dessen bedienen soll, ich meine den Fingerwechsel, findet er vorgeschrieben, damit ein Glied dem andern aus dem Weg gehe und seinem Nachfolger den rechten Weg bereite; durch welches gesetzliche Zusammenwirken denn zuletzt allein das Unmögliche möglich wird.
Was uns aber zu strengen Forderungen, zu entschiedenen Gesetzen am meisten berechtigt, ist: Dass gerade das Genie, das angeborne Talent sie am ersten begreift, ihnen den willigsten Gehorsam leistet. Nur das Halbvermögen wünschte gern seine beschränkte Besonderheit an die Stelle des unbedingten Ganzen zu setzen und seine falschen Griffe unter Vorwand einer unbezwinglichen Originalität und Selbstständigkeit zu beschönigen. Das lassen wir aber nicht gelten, sondern hüten unsere Schüler vor allen Misstritten, wodurch ein großer Teil des Lebens, ja manchmal das ganze Leben verwirrt und zerpflückt wird.
Mit dem Genie haben wir am liebsten zu tun; denn dieses wird eben von dem guten Geist beseelt, bald zu erkennen, was ihm nutz ist. Es begreift, dass Kunst eben darum Kunst heiße, weil sie nicht Natur ist. Es bequemt sich zum Respekt, sogar vor dem, was man konventionell nennen könnte; denn was ist dieses anders, als dass die vorzüglichsten Menschen übereinkamen, das Notwendige, das Unerlässliche für das Beste zu halten; und gereicht es nicht überall zum Glück?
Zur großen Erleichterung für die Lehrer sind auch hier, wie überall bei uns, die drei Ehrfurchten und ihre Zeichen mit einiger Abänderung, der Natur des obwaltenden Geschäfts gemäß, eingeführt und eingeprägt.“
Den ferner umhergeleiteten Wanderer musste nunmehr in Verwunderung setzen, dass die Stadt sich immer zu erweitern, Straße aus Straße sich zu entwickeln schien, mannigfaltige Ansichten gewährend. Das Äußere der Gebäude sprach ihre Bestimmung unzweideutig aus; sie waren würdig und stattlich, weniger prächtig als schön. Den edlern und ernsteren in Mitte der Stadt schlossen sich die heitern gefällig an, bis zuletzt zierliche Vorstädte anmutigen Stils gegen das Feld sich hinzogen und endlich als Gartenwohnungen zerstreuten.
Der Wanderer konnte nicht unterlassen, hier zu bemerken, dass die Wohnungen der Musiker in der vorigen Region keineswegs an Schönheit und Raum den gegenwärtigen zu vergleichen seien, welche Maler, Bildhauer und Baumeister bewohnen. Man erwiderte ihm, dies liege in der Natur der Sache. Der Musikus müsse immer in sich selbst gekehrt sein, sein Innerstes ausbilden, um es nach außen zu wenden. „Dem Sinn des Auges hat er nicht zu schmeicheln. Das Auge bevorteilt gar leicht das Ohr und lockt den Geist von innen nach außen. Umgekehrt muss der bildende Künstler in der Außenwelt leben und sein Inneres gleichsam unbewusst an und in dem Auswendigen manifestieren. Bildende Künstler müssen wohnen wie Könige und Götter; wie wollten sie denn sonst für Könige und Götter bauen und verzieren? Sie müssen sich zuletzt dergestalt über das Gemeine erheben, dass die ganze Volksgemeinde in und an ihren Werken sich veredelt fühle.“
Sodann ließ unser Freund sich ein anderes Paradoxon erklären: Warum gerade in diesen festlichen, andere Regionen so belebenden, tumultuarisch erregten Tagen hier die größte Stille herrsche und das Arbeiten nicht auch ausgesetzt werde?
„Ein bildender Künstler“, hieß es, „bedarf keines Festes, ihm ist das ganze Jahr ein Fest. Wenn er etwas Treffliches geleistet hat, es steht nach wie vor seinem Aug’ entgegen, dem Auge der ganzen Welt. Da bedarf es keiner Wiederholung, keiner neuen Anstrengung, keines frischen Gelingens, woran sich der Musiker immerfort abplagt, dem daher das splendideste Fest innerhalb des vollzähligsten Kreises zu gönnen ist.“
„Man sollte aber doch“, versetzte Wilhelm, „in diesen Tagen eine Ausstellung belieben, wo die dreijährigen Fortschritte der bravesten Zöglinge mit Vergnügen zu beschauen und zu beurteilen wären.“
„An anderen Orten“, versetzte man, „mag eine Ausstellung sich nötig machen, bei uns ist sie es nicht. Unser ganzes Wesen und Sein ist Ausstellung. Sehen Sie hier die Gebäude aller Art, alle von Zöglingen aufgeführt; freilich nach hundertmal besprochenen und durchdachten Rissen; denn der Bauende soll nicht herumtasten und versuchen; was stehen bleiben soll, muss recht stehen und, wo nicht für die Ewigkeit, doch für geraume Zeit genügen. Mag man doch immer Fehler begehen, bauen darf man keine.
Mit Bildhauern verfahren wir schon lässiger, am lässigsten mit Malern; sie dürfen dies und jenes versuchen, beide in ihrer Art. Ihnen steht frei, in den innern, an den äußern Räumen der Gebäude, auf Plätzen sich eine Stelle zu wählen, die sie verzieren wollen. Sie machen ihren Gedanken kund, und wenn er einigermaßen zu billigen ist, so wird die Ausführung zugestanden, und zwar auf zweierlei Weise, entweder mit Vergünstigung, früher oder später die Arbeit wegnehmen zu dürfen, wenn sie dem Künstler selbst missfiele, oder mit Bedingung, das einmal Aufgestellte unabänderlich am Ort zu lassen. Die meisten erwählen das erste und behalten sich jene Erlaubnis vor, wobei sie immer am besten beraten sind. Der zweite Fall tritt seltner ein, und man bemerkt, dass alsdann die Künstler sich weniger vertrauen, mit Gesellen und Kennern lange Konferenzen halten und dadurch wirklich schätzenswerte, dauerwürdige Arbeiten hervorzubringen wissen.“
Nach allem diesem versäumte Wilhelm nicht, sich zu erkundigen, was für ein anderer Unterricht sich sonst noch anschließe; und man gestand ihm, dass es die Dichtkunst, und zwar die epische sei.
Doch musste dem Freund dies sonderbar scheinen, als man hinzufügte: Es werde den Schülern nicht vergönnt, schon ausgearbeitete Gedichte älterer und neuerer Dichter zu lesen oder vorzutragen; ihnen wird nur eine Reihe von Mythen, Überlieferungen und Legenden lakonisch mitgeteilt. Nun erkennt man gar bald an malerischer oder poetischer Ausführung das eigene Produktive des einer oder der andern Kunst gewidmeten Talents. Dichter und Bildner, beide beschäftigen sich an einer Quelle, und jeder sucht das Wasser nach seiner Seite, zu seinem Vorteil hinzulenken, um nach Erfordernis eigne Zwecke zu erreichen; welches ihm viel besser gelingt, als wenn er das schon Verarbeitete nochmals umarbeiten wollte.
Der Reisende selbst hatte Gelegenheit, zu sehen, wie das vorging. Mehrere Maler waren in einem Zimmer beschäftigt; ein munterer junger Freund erzählte sehr ausführlich eine ganz einfache Geschichte, so dass er fast ebenso viele Worte als jene Pinselstriche anwendete, seinen Vortrag ebenfalls aufs rundeste zu vollenden.
Man versicherte, dass beim Zusammenarbeiten die Freunde sich gar anmutig unterhielten und dass sich auf diesem Wege öfters Improvisatoren entwickelten, welche großen Enthusiasmus für die zwiefache Darstellung zu erregen wüssten.
Der Freund wendete nun seine Erkundigungen zur bildenden Kunst zurück. „Ihr habt“, so sprach er, „keine Ausstellung, also auch wohl keine Preisaufgabe?“ – „Eigentlich nicht“, versetzte jener, „hier aber ganz in der Nähe können wir Euch sehen lassen, was wir für nützlicher halten.“
Sie traten in einen großen, von oben glücklich erleuchteten Saal; ein weiter Kreis beschäftigter Künstler zeigte sich zuerst, aus dessen Mitte sich eine kolossale Gruppe günstig aufgestellt erhob. Männliche und weibliche Kraftgestalten in gewaltsamen Stellungen erinnerten an jenes herrliche Gefecht zwischen Heldenjünglingen und Amazonen, wo Hass und Feindseligkeit zuletzt sich in wechselseitig-traulichen Beistand auflöst. Dieses merkwürdig verschlungene Kunstwerk war von jedem Punkt ringsum gleich günstig anzusehen. In einem weiten Umfang saßen und standen bildende Künstler, jeder nach seiner Weise beschäftigt: Der Maler an seiner Staffelei, der Zeichner am Reißbrett; einige modellierten rund, einige flach erhoben; ja sogar Baumeister entwarfen den Untersatz, worauf künftig ein solches Kunstwerk gestellt werden sollte. Jeder Teilnehmende verfuhr nach seiner Weise bei der Nachbildung: Maler und Zeichner entwickelten die Gruppe zur Fläche, sorgfältig jedoch, sie nicht zu zerstören, sondern so viel wie möglich beizubehalten. Ebenso wurden die flach erhobenen Arbeiten behandelt. Nur ein einziger hatte die ganze Gruppe in kleinerem Maßstabe wiederholt, und er schien das Modell wirklich in gewissen Bewegungen und Gliederbezug übertroffen zu haben.
Nun offenbarte sich, dies sei der Meister des Modells, der dasselbe vor der Ausführung in Marmor hier einer nicht beurteilenden, sondern praktischen Prüfung unterwarf und so alles, was jeder seiner Mitarbeiter nach eigner Weise und Denkart daran gesehen, beibehalten oder verändert, genau beobachtend bei nochmaligem Durchdenken zu eignem Vorteil anzuwenden wusste; dergestalt dass zuletzt, wenn das hohe Werk in Marmor gearbeitet dastehen wird, obgleich nur von einem unternommen, angelegt und ausgeführt, doch allen anzugehören scheinen möge.
Die größte Stille beherrschte auch diesen Raum, aber der Vorsteher erhob seine Stimme und rief: „Wer wäre denn hier, der uns in Gegenwart dieses stationären Werkes mit trefflichen Worten die Einbildungskraft dergestalt erregte, dass alles, was wir hier fixiert sehen, wieder flüssig würde, ohne seinen Charakter zu verlieren, damit wir uns überzeugen, dass, was der Künstler hier festgehalten, sei auch das Würdigste?“
Namentlich aufgefordert von allen, verließ ein schöner Jüngling seine Arbeit und begann heraustretend einen ruhigen Vortrag, worin er das gegenwärtige Kunstwerk nur zu beschreiben schien; bald aber warf er sich in die eigentliche Region der Dichtkunst, tauchte sich in die Mitte der Handlung und beherrschte dies Element zur Bewunderung; nach und nach steigerte sich seine Darstellung durch herrliche Deklamation auf einen solchen Grad, dass wirklich die starre Gruppe sich um ihre Achse zu bewegen und die Zahl der Figuren daran verdoppelt und verdreifacht schien. Wilhelm stand entzückt und rief zuletzt: „Wer will sich hier noch enthalten, zum eigentlichen Gesang und zum rhythmischen Lied überzugehen!“
„Dies möcht’ ich verbitten“, versetzte der Aufseher; „denn wenn unser trefflicher Bildhauer aufrichtig sein will, so wird er bekennen, dass ihm unser Dichter eben darum beschwerlich gefallen, weil beide Künstler am weitesten auseinander stehen; dagegen wollt’ ich wetten, ein und der andere Maler hat sich gewisse lebendige Züge daraus angeeignet.
Ein sanftes, gemütliches Lied jedoch möcht’ ich unserm Freunde zu hören geben, eines, das ihr so ernst-lieblich vortragt; es bewegt sich über das Ganze der Kunst und ist mir selbst, wenn ich es höre, stets erbaulich.“
Nach einer Pause, in der sie einander zuwinkten und sich durch Zeichen beredeten, erscholl von allen Seiten nachfolgender, Herz und Geist erhebende, würdige Gesang:
„Zu erfinden, zu beschließen,
Bleibe, Künstler, oft allein;
Deines Wirkens zu genießen,
Eile freudig zum Verein!
Hier im Ganzen schau’, erfahre
Deinen eignen Lebenslauf,
Und die Taten mancher Jahre
Gehn dir in dem Nachbar auf.
Der Gedanke, das Entwerfen,
Die Gestalten, ihr Bezug,
Eines wird das andre schärfen,
Und am Ende sei’s genug!
Wohl erfunden, klug ersonnen,
Schön gebildet, zart vollbracht –
So von jeher hat gewonnen
Künstler kunstreich seine Macht.
Wie Natur im Vielgebilde
Einen Gott nur offenbart,
So im weiten Kunstgefilde
Webt ein Sinn der ew’gen Art;
Dieses ist der Sinn der Wahrheit,
Der sich nur mit Schönem schmückt
Und getrost der höchsten Klarheit
Hellsten Tags entgegenblickt.
Wie beherzt in Reim und Prose
Redner, Dichter sich ergehn,
Soll des Lebens heitre Rose
Frisch auf Malertafel stehn,
Mit Geschwistern reich umgeben,
Mit des Herbstes Frucht umlegt,
Dass sie von geheimem Leben
Offenbaren Sinn erregt.
Tausendfach und schön entfließe
Form aus Formen deiner Hand,
Und im Menschenbild genieße,
Dass ein Gott sich hergewandt.
Welch ein Werkzeug ihr gebraucht
Stellet euch als Brüder dar;
Und gesangweis flammt und raucht
Opfersäule vom Altar.“
Alles dieses mochte Wilhelm gar wohl gelten lassen, ob es ihm gleich sehr paradox und, hätte er es nicht mit Augen gesehen, gar unmöglich scheinen musste. Da man es ihm nun aber offen und frei, in schöner Folge vorwies und bekannt machte, so bedurfte es kaum einer Frage, um das Weitere zu erfahren; doch enthielt er sich nicht, den Führenden zuletzt folgendermaßen anzureden: „Ich sehe, hier ist gar klüglich für alles gesorgt, was im Leben wünschenswert sein mag; entdeckt mir aber auch: Welche Region kann eine gleiche Sorgfalt für dramatische Poesie aufweisen, und wo könnte ich mich darüber belehren? Ich sah mich unter allen euren Gebäuden um und finde keines, das zu einem solchen Zweck bestimmt sein könnte.“
„Verhehlen dürfen wir nicht auf diese Anfrage, dass in unserer ganzen Provinz dergleichen nicht anzutreffen sei; denn das Drama setzt eine müssige Menge, vielleicht gar einen Pöbel voraus, dergleichen sich bei uns nicht findet; denn solches Gelichter wird, wenn es nicht selbst sich unwillig entfernt, über die Grenze gebracht. Seid jedoch gewiss, dass bei unserer allgemein wirkenden Anstalt auch ein so wichtiger Punkt wohl überlegt worden; keine Region aber wollte sich finden, überall trat ein bedeutendes Bedenken ein. Wer unter unsern Zöglingen sollte sich leicht entschließen, mit erlogener Heiterkeit oder geheucheltem Schmerz ein unwahres, dem Augenblick nicht angehöriges Gefühl in der Maße zu erregen, um dadurch ein immer missliches Gefallen abwechselnd hervorzubringen? Solche Gaukeleien fanden wir durchaus gefährlich und konnten sie mit unserm ernsten Zweck nicht vereinen.“
„Man sagt aber doch“, versetzte Wilhelm, „diese weit um sich greifende Kunst befördere die übrigen sämtlich.“
„Keineswegs“, erwiderte man, „sie bedient sich der übrigen, aber verdirbt sie. Ich verdenke dem Schauspieler nicht, wenn er sich zu dem Maler gesellt; der Maler jedoch ist in solcher Gesellschaft verloren.
Gewissenlos wird der Schauspieler, was ihm Kunst und Leben darbietet, zu seinen flüchtigen Zwecken verbrauchen und mit nicht geringem Gewinn; der Maler hingegen, der vom Theater auch wieder seinen Vorteil ziehen möchte, wird sich immer im Nachteil finden und der Musikus im gleichen Fall sein. Die sämtlichen Künste kommen mir vor wie Geschwister, deren die meisten zu guter Wirtschaft geneigt wären, eins aber, leicht gesinnt, Hab’ und Gut der ganzen Familie sich zuzueignen und zu verzehren Lust hätte. Das Theater ist in diesem Fall; es hat einen zweideutigen Ursprung, den es nie ganz, weder als Kunst noch Handwerk, noch als Liebhaberei verleugnen kann.“
Wilhelm sah mit einem tiefen Seufzer vor sich nieder, denn alles auf einmal vergegenwärtigte sich ihm, was er auf und an den Brettern genossen und gelitten hatte; er segnete die frommen Männer, welche ihren Zöglingen solche Pein zu ersparen gewusst und aus Überzeugung und Grundsatz jene Gefahren aus ihrem Kreise gebannt.
Sein Begleiter jedoch ließ ihn nicht lange in diesen Betrachtungen, sondern fuhr fort: „Da es unser höchster und heiligster Grundsatz ist, keine Anlage, kein Talent zu missleiten, so dürfen wir uns nicht verbergen, dass unter so großer Anzahl sich eine mimische Naturgabe auch wohl entschieden hervortue; diese zeigt sich aber in unwiderstehlicher Lust des Nachäffens fremder Charaktere, Gestalten, Bewegung, Sprache. Dies fördern wir zwar nicht, beobachten aber den Zögling genau, und bleibt er seiner Natur durchaus getreu, so haben wir uns mit großen Theatern aller Nationen in Verbindung gesetzt und senden einen bewährt Fähigen sogleich dorthin, damit er, wie die Ente auf dem Teich, so auf den Brettern seinem künftigen Lebensgewackel und -geschnatter eiligst entgegengeleitet werde.“
Wilhelm hörte dies mit Geduld, doch nur mit halber Überzeugung, vielleicht mit einigem Verdruss; denn so wunderlich ist der Mensch gesinnt, dass er von dem Unwert irgendeines geliebten Gegenstandes zwar überzeugt sein, sich von ihm abwenden, sogar ihn verwünschen kann, aber ihn doch nicht von andern auf gleiche Weise behandelt wissen will; und vielleicht regt sich der Geist des Widerspruchs, der in allen Menschen wohnt, nie lebendiger und wirksamer als in solchem Fall.
Mag doch der Redakteur dieser Bogen hier selbst gestehen, dass er mit einigem Unwillen diese wunderliche Stelle durchgehen lässt. Hat er nicht auch in vielfachem Sinn mehr Leben und Kräfte als billig dem Theater zugewendet? Und könnte man ihn wohl überzeugen, dass dies ein unverzeihlicher Irrtum, eine fruchtlose Bemühung gewesen?
Doch wir finden keine Zeit, solchen Erinnerungen und Nachgefühlen unwillig uns hinzugeben, denn unser Freund sieht sich angenehm überrascht, da ihm abermals einer von den Dreien, und zwar ein besonders Zusagender, vor die Augen tritt. Entgegenkommende Sanftmut, den reinsten Seelenfrieden verkündend, teilte sich höchst erquicklich mit. Vertrauend konnte der Wanderer sich nähern und fühlte sein Vertrauen erwidert.
Hier vernahm er nun, dass der Obere sich gegenwärtig bei den Heiligtümern befinde, dort unterweise, lehre, segne, indessen die drei sich verteilt, um sämtliche Regionen heimzusuchen und überall, nach genommener tiefster Kenntnis und Verabredung mit den untergeordneten Aufsehern, das Eingeführte weiterzuleiten, das Neubestimmte zu gründen und dadurch ihre hohe Pflicht treulich zu erfüllen.
Eben dieser treffliche Mann gab ihm nun eine allgemeinere Übersicht ihrer innern Zustände und äußern Verbindungen sowie Kenntnis von der Wechselwirkung aller verschiedenen Regionen; nicht weniger ward klar, wie aus einer in die andere, nach längerer oder kürzerer Zeit, ein Zögling versetzt werden könne. Genug, mit dem bisher vernommenen stimmte alles völlig überein. Zugleich machte die Schilderung seines Sohnes ihm viel Vergnügen, und der Plan, wie man ihn weiterführen wollte, musste seinen ganzen Beifall gewinnen.
Kapitel 9
Wilhelm wurde darauf vom Gehilfen und Aufseher zu einem Bergfest eingeladen, welches zunächst gefeiert werden sollte. Sie erstiegen mit Schwierigkeit das Gebirge, Wilhelm glaubte sogar zu bemerken, dass der Führer gegen Abend sich langsamer bewegte, als würde die Finsternis ihrem Pfad nicht noch mehr Hinderung entgegensetzen. Als aber eine tiefe Nacht sie umgab, ward ihm dies Rätsel aufgelöst: Kleine Flammen sah er aus vielen Schluchten und Tälern schwankend hervorschimmern, sich zu Linien verlängern, sich über die Gebirgshöhen herüberwälzen. Viel freundlicher, als wenn ein Vulkan sich auftut und sein sprühendes Getöse ganze Gegenden mit Untergang bedroht, zeigte sich diese Erscheinung, und doch glühte sie nach und nach mächtiger, breiter und gedrängter, funkelte wie ein Strom von Sternen, zwar sanft und lieblich, aber doch kühn über die ganze Gegend sich verbreitend.
Nachdem nun der Gefährte sich einige Zeit an der Verwunderung des Gastes ergötzt – denn ihre Gesichter und Gestalten erschienen durch das Licht aus der Ferne erhellt, sowie ihr Weg – begann er zu sprechen: „Ihr seht hier freilich ein wunderliches Schauspiel; diese Lichter, die bei Tag und bei Nacht im ganzen Jahr unter der Erde leuchten und wirken und die Fördernis versteckter, kaum erreichbarer irdischer Schätze begünstigen, diese quellen und wallen gegenwärtig aus ihren Schlünden hervor und erheitern die offenbare Nacht. Kaum gewahrte man je eine so erfreuliche Heerschau, wo das nützlichste, unterirdisch zerstreute, den Augen entzogene Geschäft sich uns in ganzer Fülle zeigt und eine große geheime Vereinigung sichtbar macht.“
Unter solchen Reden und Betrachtungen waren sie an den Ort gelangt, wo die Feuerbäche zum Flammensee um einen wohl erleuchteten Inselraum sich ergossen. Der Wanderer stand nunmehr in dem blendenden Kreis, wo schimmernde Lichter zu Tausenden gegen die zur schwarzen Hinterwand gereihten Träger einen ahnungsvollen Kontrast bildeten. Sofort erklang die heiterste Musik zu tüchtigen Gesängen. Hohle Felsmassen zogen maschinenhaft heran und schlossen bald ein glänzendes Innere dem Auge des erfreuten Zuschauers auf. Mimische Darstellungen, und was nur einen solchen Moment der Menge erheitern kann, vereinigte sich, um eine frohe Aufmerksamkeit zugleich zu spannen und zu befriedigen.
Aber mit welcher Verwunderung ward unser Freund erfüllt, als er sich den Hauptleuten vorgestellt sah und unter ihnen, in ernster, stattlicher Tracht, Freund Jarno erblickte! „Nicht umsonst“, rief dieser aus, „habe ich meinen frühern Namen mit dem bedeutendem Montan vertauscht; du findest mich hier in Berg und Kluft eingeweiht, und glücklicher in dieser Beschränkung unter und über der Erde, als sich denken lässt.“ – „Da wirst du also“, versetzte der Wanderer, „als ein Hocherfahrner nunmehr freigebiger sein mit Aufklärung und Unterricht, als du es gegen mich warst auf jenen Berg- und Felsklippen.“ – „Keineswegs!“, erwiderte Montan, „die Gebirge sind stumme Meister und machen schweigsame Schüler.“
An vielen Tafeln speiste man nach dieser Feierlichkeit. Alle Gäste, die geladen oder ungeladen sich eingefunden, waren vom Handwerk, deswegen denn auch an dem Tisch, wo Montan und sein Freund sich niedergesetzt, sogleich ein ortgemäßes Gespräch entstand; es war von Gebirgen, Gängen und Lagern, von Gangarten und Metallen der Gegend ausführlich die Rede. Sodann aber verlor das Gespräch sich gar bald ins Allgemeine, und da war von nichts Geringerem die Rede als von Erschaffung und Entstehung der Welt. Hier aber blieb die Unterhaltung nicht lange friedlich, vielmehr verwickelte sich sogleich ein lebhafter Streit.
Mehrere wollten unsere Erdgestaltung aus einer nach und nach sich senkend abnehmenden Wasserbedeckung herleiten; sie führten die Trümmer organischer Meeresbewohner auf den höchsten Bergen sowie auf flachen Hügeln zu ihrem Vorteil an. Andere heftiger dagegen ließen erst glühen und schmelzen, auch durchaus ein Feuer obwalten, das, nachdem es auf der Oberfläche genugsam gewirkt, zuletzt ins Tiefste zurückgezogen, sich noch immer durch die ungestüm sowohl im Meer als auf der Erde wütenden Vulkane betätigte und durch sukzessiven Auswurf und gleichfalls nach und nach überströmende Laven die höchsten Berge bildete; wie sie denn überhaupt den anders Denkenden zu Gemüte führten, dass ja ohne Feuer nichts heiß werden könne, auch ein tätiges Feuer immer einen Herd voraussetze. So erfahrungsgemäß auch dieses scheinen mochte, so waren manche doch nicht damit zufrieden; sie behaupteten: Mächtige, in dem Schoß der Erde schon völlig fertig gewordene Gebilde seien mittelst unwiderstehlich elastischer Gewalten durch die Erdrinde hindurch in die Höhe getrieben und zugleich in diesem Tumult manche Teile derselben weit über Nachbarschaft und Ferne umhergestreut und zersplittert worden; sie beriefen sich auf manche Vorkommnisse, welche ohne eine solche Voraussetzung nicht zu erklären seien.
Eine vierte, wenn auch vielleicht nicht zahlreiche Partie lächelte über diese vergeblichen Bemühungen und beteuerte: Gar manche Zustände dieser Erdoberfläche würden nie zu erklären sein, wofern man nicht größere und kleinere Gebirgsstrecken aus der Atmosphäre herunterfallen und weite, breite Landschaften durch sie überdeckt werden lasse. Sie beriefen sich auf größere und kleinere Felsmassen, welche zerstreut in vielen Landen umherliegend gefunden und sogar noch in unsern Tagen als von oben herabstürzend aufgelesen werden.
Zuletzt wollten zwei oder drei stille Gäste sogar einen Zeitraum grimmiger Kälte zu Hilfe rufen und aus den höchsten Gebirgszügen auf weit ins Land hingesenkten Gletschern gleichsam Rutschwege für schwere Ursteinmassen bereitet und diese auf glatter Bahn fern und ferner hinausgeschoben im Geist sehen. Sie sollten sich, bei eintretender Epoche des Auftauens, nieder senken und für ewig in fremdem Boden liegen bleiben. Auch sollte sodann durch schwimmendes Treibeis der Transport ungeheurer Felsblöcke von Norden her möglich werden. Diese guten Leute konnten jedoch mit ihrer etwas kühlen Betrachtung nicht durchdringen. Man hielt es ungleich naturgemäßer, die Erschaffung einer Welt mit kolossalem Krachen und Heben, mit wildem Toben und feurigem Schleudern vorgehen zu lassen. Da nun übrigens die Glut des Weines stark mit einwirkte, so hätte das herrliche Fest beinahe mit tödlichen Händeln abgeschlossen.
Ganz verwirrt und verdüstert ward es unserm Freund zumute, welcher noch von alters her den Geist, der über den Wassern schwebte, und die hohe Flut, welche fünfzehn Ellen über die höchsten Gebirge gestanden, im stillen Sinn hegte und dem unter diesen seltsamen Reden die so wohl geordnete, bewachsene, belebte Welt vor seiner Einbildungskraft chaotisch zusammenzustürzen schien.
Den andern Morgen unterließ er nicht, den ernsten Montan hierüber zu befragen, indem er ausrief: „Gestern konnt’ ich dich nicht begreifen, denn unter allen den wunderlichen Dingen und Reden hofft’ ich endlich deine Meinung und deine Entscheidung zu hören; an dessen Statt warst du bald auf dieser, bald auf jener Seite und suchtest immer die Meinung desjenigen, der da sprach, zu verstärken. Nun aber sage mir ernstlich, was du darüber denkst, was du davon weißt.“ Hierauf erwiderte Montan: „Ich weiß so viel wie sie und möchte darüber gar nicht denken.“ – „Hier aber“, versetzte Wilhelm, „sind so viele widersprechende Meinungen, und man sagt ja, die Wahrheit liege in der Mitte.“ – „Keineswegs!“, erwiderte Montan: „in der Mitte bleibt das Problem liegen, unerforschlich vielleicht, vielleicht auch zugänglich, wenn man es darnach anfängt.“
Nachdem nun auf diese Weise noch einiges hin und wider gesprochen worden, fuhr Montan vertraulich fort: „Du tadelst mich, dass ich einem jeden in seiner Meinung nachhalf, wie sich denn für alles noch immer ein ferneres Argument auffinden lässt; ich vermehrte die Verwirrung dadurch, das ist wahr, eigentlich aber kann ich es mit diesem Geschlecht nicht mehr ernstlich nehmen. Ich habe mich durchaus überzeugt, das Liebste, und das sind doch unsre Überzeugungen, muss jeder im tiefsten Ernst bei sich selbst bewahren; jeder weiß nur für sich, was er weiß, und das muss er geheim halten; wie er es ausspricht, sogleich ist der Widerspruch rege, und wie er sich in Streit einlässt, kommt er in sich selbst aus dem Gleichgewicht, und sein Bestes wird, wo nicht vernichtet, doch gestört.“
Durch einige Gegenrede Wilhelms veranlasst, erklärte Montan sich ferner: „Wenn man einmal weiß, worauf alles ankommt, hört man auf, gesprächig zu sein.“ – „Worauf kommt nun aber alles an?“, versetzte Wilhelm hastig. – „Das ist bald gesagt“, versetzte jener. „Denken und Tun, Tun und Denken, das ist die Summe aller Weisheit, von jeher anerkannt, von jeher geübt, nicht eingesehen von einem jeden. Beides muss wie Aus- und Einatmen sich im Leben ewig fort hin und wider bewegen; wie Frage und Antwort sollte eins ohne das andere nicht stattfinden. Wer sich zum Gesetz macht, was einem jeden Neugebornen der Genius des Menschenverstandes heimlich ins Ohr flüstert, das Tun am Denken, das Denken am Tun zu prüfen, der kann nicht irren, und irrt er, so wird er sich bald auf den rechten Weg zurückfinden.“
Montan geleitete seinen Freund nunmehr in dem Bergrevier methodisch umher, überall begrüßt von einem derben „Glückauf!“, welches sie heiter zurückgaben. „Ich möchte wohl“, sagte Montan, „ihnen manchmal zurufen: ‚Sinn auf!’, denn Sinn ist mehr als Glück; doch die Menge hat immer Sinn genug, wenn die Obern damit begabt sind. Weil ich nun hier, wo nicht zu befehlen, doch zu raten habe, bemüht’ ich mich, die Eigenschaft des Gebirges kennen zu lernen. Man strebt leidenschaftlich nach den Metallen, die es enthält. Nun habe ich mir auch das Vorkommen derselben aufzuklären gesucht, und es ist mir gelungen. Das Glück tut’s nicht allein, sondern der Sinn, der das Glück herbeiruft, um es zu regeln. Wie diese Gebirge hier entstanden sind, weiß ich nicht, will’s auch nicht wissen; aber ich trachte täglich, ihnen ihre Eigentümlichkeit abzugewinnen. Auf Blei und Silber ist man erpicht, das sie in ihrem Busen tragen; ich weiß es zu entdecken: das Wie behalt’ ich für mich und gebe Veranlassung, das Gewünschte zu finden. Auf mein Wort unternimmt man’s versuchsweise, es gelingt, und man sagt, ich habe Glück. Was ich verstehe, versteh’ ich mir, was mir gelingt, gelingt mir für andere, und niemand denkt, dass es ihm auf diesem Wege gleichfalls gelingen könne. Sie haben mich in Verdacht, dass ich eine Wünschelrute besitze; sie merken aber nicht, dass sie mir widersprechen, wenn ich etwas Vernünftiges vorbringe, und dass sie dadurch sich den Weg abschneiden zu dem Baum des Erkenntnisses, wo diese prophetischen Reiser zu brechen sind.“
Ermutigt an diesen Gesprächen, überzeugt, dass auch ihm durch sein bisheriges Tun und Denken geglückt, in einem weit entlegenen Fach, dem Hauptsinn nach, seines Freundes Forderungen sich gleichzustellen, gab er nunmehr Rechenschaft von der Anwendung seiner Zeit, seitdem er die Vergünstigung erlangt, die auferlegte Wanderschaft nicht nach Tagen und Stunden, sondern dem wahren Zweck einer vollständigen Ausbildung gemäß einzuteilen und zu benutzen.
Hier nun war zufälligerweise vieles Redens keine Not, denn ein bedeutendes Ereignis gab unserm Freund Gelegenheit, sein erworbenes Talent geschickt und glücklich anzuwenden und sich der menschlichen Gesellschaft als wahrhaft nützlich zu erweisen.
Welcher Art aber dies gewesen, dürfen wir im Augenblick noch nicht offenbaren, obgleich der Leser bald, noch eh’ er diesen Band aus den Händen legt, davon genugsam unterrichtet sein wird.
Kapitel 10
Hersilie an Wilhelm
Die ganze Welt wirft mir seit langen Jahren vor, ich sei ein launig-wunderliches Mädchen. Mag ich’s doch sein, so bin ich’s ohne mein Verschulden. Die Leute mussten Geduld mit mir haben, und nun brauche ich Geduld mit mir selber, mit meiner Einbildungskraft, die mir Vater und Sohn, bald zusammen, bald wechselweise, hin und wieder vor die Augen führt. Ich komme mir vor wie eine unschuldige Alkmene, die von zwei Wesen, die einander vorstellen, unablässig heimgesucht wird.
Ich habe Ihnen viel zu sagen, und doch schreibe ich Ihnen, so scheint es, nur, wenn ich ein Abenteuer zu erzählen habe; alles Übrige ist auch abenteuerlich zwar, aber kein Abenteuer. Nun also zu dem heutigen:
Ich sitze unter den hohen Linden und mache soeben ein Brieftäschchen fertig, ein sehr zierliches, ohne deutlichst zu wissen, wer es haben soll, Vater oder Sohn, aber gewiss einer von beiden; da kommt ein junger Tabulettkrämer mit Körbchen und Kästchen auf mich zu, er legitimiert sich bescheiden durch einen Schein des Beamten, dass ihm erlaubt sei, auf den Gütern zu hausieren; ich besehe seine Sächelchen bis in die unendlichen Kleinigkeiten, deren niemand bedarf und die jedermann kauft aus kindischem Trieb, zu besitzen und zu vergeuden. Der Knabe scheint mich aufmerksam zu betrachten. Schöne schwarze, etwas listige Augen, wohl gezeichnete Augenbraunen, reiche Locken, blendende Zahnreihen, genug, Sie verstehen mich, etwas Orientalisches.
Er tut mancherlei Fragen, auf die Personen der Familie bezüglich, denen er allenfalls etwas anbieten dürfte; durch allerlei Wendungen weiß er es einzuleiten, dass ich mich ihm nenne. „Hersilie“, spricht er bescheiden, „wird Hersilie verzeihen, wenn ich eine Botschaft ausrichte?“ Ich sehe ihn verwundert an, er zieht das kleinste Schiefertäfelchen hervor, in ein weißes Rähmchen gefasst, wie man sie im Gebirge für die kindischen Anfänge des Schreibens zubereitet; ich nehm’ es an, sehe es beschrieben und lese die mit scharfem Griffel sauber eingegrabene Inschrift:
Felix
liebt
Hersilie.
Der Stallmeister
kommt bald.
Ich bin betroffen, ich gerate in Verwunderung über das, was ich in der Hand halte, mit Augen sehe, am meisten darüber, dass das Schicksal sich fast noch wunderlicher beweisen will, als ich selbst bin. – „Was soll das!“, sag’ ich zu mir; und der kleine Schalk ist mir gegenwärtiger als je, ja es ist mir, als ob sein Bild sich mir in die Augen hineinbohrte.
Nun fang’ ich an zu fragen und erhalte wunderliche, unbefriedigende Antworten; ich examiniere, und erfahre nichts; ich denke nach, und kann die Gedanken nicht recht zusammenbringen. Zuletzt verknüpf’ ich aus Reden und Widerreden so viel, dass der junge Krämer auch die pädagogische Provinz durchzogen, das Vertrauen meines jungen Verehrers erworben, welcher auf ein erhandeltes Täfelchen die Inschrift geschrieben und ihm für ein Wörtchen Antwort die besten Geschenke versprochen. Er reichte mir sodann ein gleiches Täfelchen, deren er mehrere in seinem Warenbesteck vorwies, zugleich einen Griffel, wobei er so freundlich drang und bat, dass ich beides annahm, dachte, wieder dachte, nichts erdenken konnte und schrieb:
Hersilies
Gruß
an Felix.
Der Stallmeister
halte sich gut.
Ich betrachtete das Geschriebene und fühlte Verdruss über den ungeschickten Ausdruck. Weder Zärtlichkeit, noch Geist, noch Witz, bloße Verlegenheit, und warum? Vor einem Knaben stand ich, an einen Knaben schrieb ich; sollte mich das aus der Fassung bringen? Ich glaube gar, ich seufzte, und war eben im Begriff, das Geschriebene wegzuwischen; aber jener nahm es mir so zierlich aus der Hand, bat mich um irgendeine fürsorgliche Einhüllung, und so geschah’s, dass ich – weiß ich doch nicht, wie’s geschah – das Täfelchen in das Brieftäschchen steckte, das Band darum schlang und zugeheftet dem Knaben hinreichte, der es mit Anmut ergriff, sich tief verneigend einen Augenblick zauderte, dass ich eben noch Zeit hatte, ihm mein Beutelchen in die Hand zu drücken, und mich schalt, ihm nicht genug gegeben zu haben. Er entfernte sich schicklich eilend und war, als ich ihm nachblickte, schon verschwunden, ich begriff nicht recht wie.
Nun ist es vorüber, ich bin schon wieder auf dem gewöhnlichen, flachen Tagesboden und glaube kaum an die Erscheinung. Halte ich nicht das Täfelchen in der Hand? Es ist gar zierlich, die Schrift gar schön und sorgfältig gezogen; ich glaube, ich hätte es geküsst, wenn ich die Schrift auszulöschen nicht fürchtete.
Ich habe mir Zeit genommen, nachdem ich vorstehendes geschrieben; was ich aber auch darüber denke, will immer nicht fördern. Allerdings etwas Geheimnisvolles war in der Figur; dergleichen sind jetzt im Roman nicht zu entbehren; sollten sie uns denn auch im Leben begegnen? Angenehm, doch verdächtig, fremdartig, doch Vertrauen erregend; warum schied er auch vor aufgelöster Verwirrung? Warum hatt’ ich nicht Gegenwart des Geistes genug, um ihn schicklicherweise festzuhalten?
Nach einer Pause nehm’ ich die Feder abermals zur Hand, meine Bekenntnisse fortzusetzen. Die entschiedene, fortdauernde Neigung eines zum Jüngling heranreifenden Knaben wollte mir schmeicheln; da aber fiel mir ein, dass es nichts Seltenes sei, in diesem Alter nach älteren Frauen sich umzusehen. Fürwahr, es gibt eine geheimnisvolle Neigung jüngerer Männer zu älteren Frauen. Sonst, da es mich nicht selbst betraf, lachte ich darüber und wollte boshafter Weise gefunden haben: Es sei eine Erinnerung an die Ammen- und Säuglingszärtlichkeit, von der sie sich kaum losgerissen haben. Jetzt ärgert’s mich, mir die Sache so zu denken; ich erniedrige den guten Felix zur Kindheit herab, und mich sehe ich doch auch nicht in einer vorteilhaften Stellung. Ach welch ein Unterschied ist es, ob man sich oder die andern beurteilt!
Kapitel 11
Wilhelm an Natalie
Schon Tage geh’ ich umher und kann die Feder anzusetzen mich nicht entschließen; es ist so mancherlei zu sagen, mündlich fügte sich wohl eins ans andere, entwickelte sich auch wohl leicht eins aus dem andern; lass mich daher, den Entfernten, nur mit dem Allgemeinsten beginnen, es leitet mich doch zuletzt aufs Wunderliche, was ich mitzuteilen habe.
Du hast von dem Jüngling gehört, der, am Ufer des Meeres spazierend, einen Ruderpflock fand; das Interesse, das er daran nahm, bewog ihn, ein Ruder anzuschaffen, als notwendig dazu gehörend. Dies aber war nun auch weiter nichts nütze; er trachtete ernstlich nach einem Kahn und gelangte dazu. Jedoch war Kahn, Ruder und Ruderpflock nicht sonderlich fördernd; er verschaffte sich Segelstangen und Segel und so nach und nach, was zur Schnelligkeit und Bequemlichkeit der Schifffahrt erforderlich ist. Durch zweckmäßiges Bestreben gelangt er zu größerer Fertigkeit und Geschicklichkeit, das Glück begünstigt ihn, er sieht sich endlich als Herr und Patron eines größern Fahrzeugs, und so steigert sich das Gelingen, er gewinnt Wohlhaben, Ansehen und Namen unter den Seefahrern.
Indem ich nun dich veranlasse, diese artige Geschichte wieder zu lesen, muss ich bekennen, dass sie nur im weitesten Sinne hierher gehört, jedoch mir den Weg bahnt, dasjenige auszudrücken, was ich vorzutragen habe. Indessen muss ich noch einiges Entferntere durchgehen.
Die Fähigkeiten, die in dem Menschen liegen, lassen sich einteilen in allgemeine und besondere; die allgemeinen sind anzusehen als gleichgültig-ruhende Fähigkeiten, die nach Umständen geweckt und zufällig zu diesem oder jenem Zweck bestimmt werden. Die Nachahmungsgabe des Menschen ist allgemein; er will nachmachen, nachbilden, was er sieht, auch ohne die mindesten innern und äußeren Mittel zum Zweck. Natürlich ist es daher immer, dass er leisten will, was er leisten sieht; das Natürlichste jedoch wäre, dass der Sohn des Vaters Beschäftigung ergriffe. Hier ist alles beisammen: Eine vielleicht im besondern schon angeborne, in ursprünglicher Richtung entschiedene Fähigkeit, sodann eine folgerecht stufenweise fortschreitende Übung und ein entwickeltes Talent, das uns nötigte, auch alsdann auf dem eingeschlagenen Weg fortzuschreiten, wenn andere Triebe sich in uns entwickeln und uns eine freie Wahl zu einem Geschäft führen dürfte, zu dem uns die Natur weder Anlage noch Beharrlichkeit verliehen. Im Durchschnitt sind daher die Menschen am glücklichsten, die ein angebornes, ein Familientalent im häuslichen Kreise auszubilden Gelegenheit finden. Wir haben solche Malerstammbäume gesehen; darunter waren freilich schwache Talente, indessen lieferten sie doch etwas Brauchbares und vielleicht Besseres, als sie bei mäßigen Naturkräften aus eigner Wahl in irgendeinem andern Fache geleistet hätten.
Da dieses aber auch nicht ist, was ich sagen wollte, so muss ich meinen Mitteilungen von irgendeiner andern Seite näher zu kommen suchen.
Das ist nun das Traurige der Entfernung von Freunden, dass wir die Mittelglieder, die Hilfsglieder unserer Gedanken, die sich in der Gegenwart so flüchtig wie Blitze wechselseitig entwickeln und durchweben, nicht in augenblicklicher Verknüpfung und Verbindung vorführen und vortragen können. Hier also zunächst eine der frühsten Jugendgeschichten.
Wir in einer alten, ernsten Stadt erzogenen Kinder hatten die Begriffe von Straßen, Plätzen, von Mauern gefasst, sodann auch von Wällen, dem Glacis und benachbarten ummauerten Gärten. Uns aber einmal, oder vielmehr sich selbst ins Freie zu führen, hatten unsere Eltern längst mit Freunden auf dem Land eine immerfort verschobene Partie verabredet. Dringender endlich zum Pfingstfest ward Einladung und Vorschlag, denen man nur unter der Bedingung sich fügte: Alles so einzuleiten, dass man zu Nacht wieder zu Hause sein könnte; denn außer seinem längst gewohnten Bett zu schlafen, schien eine Unmöglichkeit. Die Freuden des Tags so eng zu konzentrieren, war freilich schwer; zwei Freunde sollten besucht und ihre Ansprüche auf seltene Unterhaltung befriedigt werden; indessen hoffte man mit großer Pünktlichkeit alles zu erfüllen.
Am dritten Feiertag, mit dem frühsten, standen alle munter und bereit, der Wagen fuhr zur bestimmten Stunde vor, bald hatten wir alles Beschränkende der Straßen, Tore, Brücken und Stadtgräben hinter uns gelassen, eine freie, weit ausgebreitete Welt tat sich vor den Unerfahrenen auf. Das durch einen Nachtregen erst erfrischte Grün der Fruchtfelder und Wiesen, das mehr oder weniger hellere der eben aufgebrochenen Strauch- und Baumknospen, das nach allen Seiten hin blendend sich verbreitende Weiß der Baumblüte, alles gab uns den Vorschmack glücklicher, paradiesischer Stunden.
Zu rechter Zeit gelangten wir auf der ersten Station bei einem würdigen Geistlichen an. Freundlichst empfangen, konnten wir bald gewahr werden, dass die aufgehobene kirchliche Feier den Ruhe und Freiheit suchenden Gemütern nicht entnommen war. Ich betrachtete den ländlichen Haushalt zum ersten Mal mit freudigem Anteil; Pflug und Egge, Wagen und Karren deuteten auf unmittelbare Benutzung, selbst der widrig anzuschauende Unrat schien das Unentbehrlichste im ganzen Kreis: Sorgfältig war er gesammelt und gewissermaßen zierlich aufbewahrt. Doch dieser auf das Neue und doch Begreifliche gerichtete frische Blick ward gar bald auf ein Genießbares geheftet: Appetitliche Kuchen, frische Milch und sonst mancher ländliche Leckerbissen ward von uns begierig in Betracht gezogen. Eilig beschäftigten sich nunmehr die Kinder, den kleinen Hausgarten und die wirtliche Laube verlassend, in dem angrenzenden Baumstück ein Geschäft zu vollbringen, das eine alte, wohlgesinnte Tante ihnen aufgetragen hatte. Sie sollten nämlich so viel Schlüsselblumen als möglich sammeln und solche getreulich mit zur Stadt bringen, indem die haushältische Matrone gar allerlei gesundes Getränk daraus zu bereiten gewohnt war.
Indem wir nun in dieser Beschäftigung auf Wiesen, an Rändern und Zäunen hin und wider liefen, gesellten sich mehrere Kinder des Dorfs zu uns, und der liebliche Duft gesammelter Frühlingsblumen schien immer erquickender und balsamischer zu werden.
Wir hatten nun schon so eine Masse Stängel und Blüten zusammengebracht, dass wir nicht wussten, wo mit hin; man fing jetzt an, die gelblichen Röhrenkronen auszuzupfen, denn um sie war es denn eigentlich doch nur zu tun; jeder suchte in sein Hütchen, sein Mützchen möglichst zu sammeln.
Der ältere dieser Knaben jedoch, an Jahren wenig vor mir voraus, der Sohn des Fischers, den dieses Blumengetändel nicht zu freuen schien, ein Knabe, der mich bei seinem ersten Auftreten gleich besonders angezogen hatte, lud mich ein, mit ihm nach dem Fluss zu gehen, der, schon ansehnlich breit, in weniger Entfernung vorbei floss. Wir setzten uns mit ein paar Angelruten an eine schattige Stelle, wo im tiefen, ruhig klaren Wasser gar manches Fischlein sich hin und her bewegte. Freundlich wies er mich an, worum es zu tun, wie der Köder am Angel zu befestigen sei, und es gelang mir einige Mal hintereinander, die kleinsten dieser zarten Geschöpfe wider ihren Willen in die Luft herauszuschnellen. Als wir nun so zusammen aneinandergelehnt beruhigt saßen, schien er zu langweilen und machte mich auf einen flachen Kies aufmerksam, der von unserer Seite sich in den Strom hinein erstreckte. Da sei die schönste Gelegenheit zu baden. Er könne, rief er, endlich aufspringend, der Versuchung nicht widerstehen; und ehe ich mich’s versah, war er unten, ausgezogen und im Wasser.
Da er sehr gut schwamm, verließ er bald die seichte Stelle, übergab sich dem Strom und kam bis an mich in dem tieferen Wasser heran; mir war ganz wunderlich zumute geworden. Grashupfer tanzten um mich her, Ameisen krabbelten heran, bunte Käfer hingen an den Zweigen, und gold schimmernde Sonnenjungfern, wie er sie genannt hatte, schwebten und schwankten geisterartig zu meinen Füßen, eben als jener, einen großen Krebs zwischen Wurzeln hervorholend, ihn lustig aufzeigte, um ihn gleich wieder an den alten Ort zu bevorstehendem Fang geschickt zu verbergen. Es war umher so warm und so feucht, man sehnte sich aus der Sonne in den Schatten, aus der Schattenkühle hinab ins kühlere Wasser. Da war es denn ihm leicht, mich hinunterzulocken; eine nicht oft wiederholte Einladung fand ich unwiderstehlich und war, mit einiger Furcht vor den Eltern, wozu sich die Scheu vor dem unbekannten Element gesellte, in ganz wunderlicher Bewegung. Aber bald auf dem Kies entkleidet, wagt’ ich mich sachte ins Wasser, doch nicht tiefer, als es der leise abhängige Boden erlaubte; hier ließ er mich weilen, entfernte sich in dem tragenden Elemente, kam wieder, und als er sich heraushob, sich aufrichtete, im höheren Sonnenschein sich abzutrocknen, glaubt’ ich meine Augen vor einer dreifachen Sonne geblendet: So schön war die menschliche Gestalt, von der ich nie einen Begriff gehabt. Er schien mich mit gleicher Aufmerksamkeit zu betrachten. Schnell angekleidet standen wir uns noch immer unverhüllt gegeneinander, unsere Gemüter zogen sich an, und unter den feurigsten Küssen schwuren wir eine ewige Freundschaft.
Sodann aber eilig, eilig gelangten wir nach Hause, gerade zur rechten Zeit, als die Gesellschaft den angenehmsten Fußweg durch Busch und Wald etwa anderthalb Stunden nach der Wohnung des Amtmanns antrat. Mein Freund begleitete mich, wir schienen schon unzertrennlich; als ich aber hälftewegs um Erlaubnis bat, ihn mit in des Amtmanns Wohnung zu nehmen, verweigerte es die Pfarrerin, mit stiller Bemerkung des Unschicklichen, dagegen gab sie ihm den dringenden Auftrag: Er solle seinem rückkehrenden Vater ja sagen, sie müsse bei ihrer Nachhausekunft notwendig schöne Krebse vorfinden, die sie den Gästen als eine Seltenheit nach der Stadt mitgeben wolle. Der Knabe schied, versprach aber mit Hand und Mund, heute Abend an dieser Waldecke meiner zu warten.
Die Gesellschaft gelangte nunmehr zum Amthaus, wo wir auch einen ländlichen Zustand antrafen, doch höherer Art. Ein durch die Schuld der übertätigen Hausfrau sich verspätendes Mittagessen machte mich nicht ungeduldig, denn der Spaziergang in einem wohl gehaltenen Ziergarten, wohin die Tochter, etwas jünger als ich, mir den Weg begleitend anwies, war mir höchst unterhaltend. Frühlingsblumen aller Art standen in zierlich gezeichneten Feldern, sie ausfüllend oder ihre Ränder schmückend. Meine Begleiterin war schön, blond, sanftmütig, wir gingen vertraulich zusammen, fassten uns bald bei der Hand und schienen nichts Besseres zu wünschen. So gingen wir an Tulpenbeeten vorüber, so an gereihten Narzissen und Jonquillen; sie zeigte mir verschiedene Stellen, wo eben die herrlichsten Hyazinthglocken schon abgeblüht hatten. Dagegen war auch für die folgenden Jahreszeiten gesorgt: Schon grünten die Büsche der künftigen Ranunkeln und Anemonen; die auf zahlreiche Nelkenstöcke verwendete Sorgfalt versprach den mannigfaltigsten Flor; näher aber knospete schon die Hoffnung vielblumiger Lilienstängel gar weislich zwischen Rosen verteilt. Und wie manche Laube versprach nicht zunächst mit Geißblatt, Jasmin, reben- und rankenartigen Gewächsen zu prangen und zu schatten.
Betracht’ ich nach so viel Jahren meinen damaligen Zustand, so scheint er mir wirklich beneidenswert. Unerwartet, in demselbigen Augenblick, ergriff mich das Vorgefühl von Freundschaft und Liebe. Denn als ich ungern Abschied nahm von dem schönen Kinde, tröstete mich der Gedanke, diese Gefühle meinem jungen Freunde zu eröffnen, zu vertrauen und seiner Teilnahme zugleich mit diesen frischen Empfindungen mich zu freuen.
Und wenn ich hier noch eine Betrachtung anknüpfe, so darf ich wohl bekennen: dass im Laufe des Lebens mir jenes erste Aufblühen der Außenwelt als die eigentliche Originalnatur vorkam, gegen die alles übrige, was uns nachher zu den Sinnen kommt, nur Kopien zu sein scheinen, die bei aller Annäherung an jenes doch des eigentlich ursprünglichen Geistes und Sinnes ermangeln.
Wie müssten wir verzweifeln, das Äußere so kalt, so leblos zu erblicken, wenn nicht in unserm Innern sich etwas entwickelte, das auf eine ganz andere Weise die Natur verherrlicht, indem es uns selbst in ihr zu verschönen eine schöpferische Kraft erweist.
Es dämmerte schon, als wir uns der Waldecke wieder näherten, wo der junge Freund meiner zu warten versprochen hatte. Ich strengte die Sehkraft möglichst an, um seine Gegenwart zu erforschen; als es mir nicht gelingen wollte, lief ich ungeduldig der langsam schreitenden Gesellschaft voraus, rannte durchs Gebüsch hin und wider. Ich rief, ich ängstigte mich; er war nicht zu sehen und antwortete nicht; ich empfand zum ersten Mal einen leidenschaftlichen Schmerz, doppelt und vielfach.
Schon entwickelte sich in mir die unmäßige Forderung vertraulicher Zuneigung, schon war es ein unwiderstehlich Bedürfnis, meinen Geist von dem Bild jener Blondine durch Plaudern zu befreien, mein Herz von den Gefühlen zu erlösen, die sie in mir aufgeregt hatte. Es war voll, der Mund lispelte schon, um überzufließen; ich tadelte laut den guten Knaben wegen verletzter Freundschaft, wegen vernachlässigter Zusage.
Bald aber sollten mir schwerere Prüfungen zugedacht sein. Aus den ersten Häusern des Ortes stürzten Weiber schreiend heraus, heulende Kinder folgten, niemand gab Red’ und Antwort. Von der einen Seite her um das Eckhaus sahen wir einen Trauerzug herumziehen, er bewegte sich langsam die lange Straße hin; es schien wie ein Leichenzug, aber ein vielfacher; des Tragens und Schleppens war kein Ende. Das Geschrei dauerte fort, es vermehrte sich, die Menge lief zusammen. „Sie sind ertrunken, alle, sämtlich ertrunken! Der! Wer? Welcher?“ Die Mütter, die ihre Kinder um sich sahen, schienen getröstet. Aber ein ernster Mann trat heran und sprach zur Pfarrerin: „Unglücklicherweise bin ich zu lange außen geblieben, ertrunken ist Adolf selbfünfe, er wollte sein Versprechen halten und meins.“ Der Mann, der Fischer selbst war es, ging weiter dem Zug nach, wir standen erschreckt und erstarrt. Da trat ein kleiner Knabe heran, reichte einen Sack dar: „Hier die Krebse, Frau Pfarrerin“, und hielt das Zeichen hoch in die Höhe. Man entsetzte sich davor wie vor dem Schädlichsten, man fragte, man forschte und erfuhr so viel: Dieser letzte Kleine war am Ufer geblieben, er las die Krebse auf, die sie ihm von unten zuwarfen. Alsdann aber nach vielem Fragen und Widerfragen erfuhr man: Adolf mit zwei verständigen Knaben sei unten am und im Wasser hingegangen, zwei andere jüngere haben sich ungebeten dazu gesellt, die durch kein Schelten und Drohen abzuhalten gewesen. Nun waren über eine steinige, gefährliche Stelle die ersten fast hinaus, die letzten gleiteten, griffen zu und zerrten immer einer den andern hinunter; so geschah es zuletzt auch dem vordersten, und alle stürzten in die Tiefe. Adolf, als guter Schwimmer, hätte sich gerettet, alles aber hielt in der Angst sich an ihn, er ward nieder gezogen. Dieser Kleine sodann war schreiend ins Dorf gelaufen, seinen Sack mit Krebsen fest in den Händen. Mit andern Aufgerufenen eilte der zufällig spät rückkehrende Fischer dorthin; man hatte sie nach und nach herausgezogen, tot gefunden, und nun trug man sie herein.
Der Pfarrherr mit dem Vater gingen bedenklich dem Gemeindehause zu; der volle Mond war aufgegangen und beleuchtete die Pfade des Todes; ich folgte leidenschaftlich, man wollte mich nicht einlassen; ich war im schrecklichsten Zustand. Ich umging das Haus und rastete nicht; endlich ersah ich meinen Vorteil und sprang zum offenen Fenster hinein.
In dem großen Saal, wo Versammlungen aller Art gehalten werden, lagen die Unglückseligen auf Stroh, nackt, ausgestreckt, glänzend weiße Leiber, auch bei düsterem Lampenschein hervorleuchtend. Ich warf mich auf den größten, auf meinen Freund; ich wüsste nicht von meinem Zustand zu sagen, ich weinte bitterlich und überschwemmte seine breite Brust mit unendlichen Tränen. Ich hatte etwas von Reiben gehört, das in solchem Falle hilfreich sein sollte; ich rieb meine Tränen ein und belog mich mit der Wärme, die ich erregte. In der Verwirrung dacht’ ich ihm Atem einzublasen, aber die Perlenreihen seiner Zähne waren fest verschlossen, die Lippen, auf denen der Abschiedskuss noch zu ruhen schien, versagten auch das leiseste Zeichen der Erwiderung. An menschlicher Hilfe verzweifelnd, wandt’ ich mich zum Gebet; ich flehte, ich betete, es war mir, als wenn ich in diesem Augenblick Wunder tun müsste, die noch inwohnende Seele hervorzurufen, die noch in der Nähe schwebende wieder hineinzulocken.
Man riss mich weg; weinend, schluchzend saß ich im Wagen und vernahm kaum, was die Eltern sagten: Unsere Mutter, was ich nachher so oft wiederholen hörte, hatte sich in den Willen Gottes ergeben. Ich war indessen eingeschlafen und erwachte verdüstert am späten Morgen in einem rätselhaften, verwirrten Zustand.
Als ich mich aber zum Frühstück begab, fand ich Mutter, Tante und Köchin in wichtiger Beratung. Die Krebse sollten nicht gesotten, nicht auf den Tisch gebracht werden; der Vater wollte eine so unmittelbare Erinnerung an das nächstvergangene Unglück nicht erdulden. Die Tante schien sich dieser seltenen Geschöpfe eifrigst bemächtigen zu wollen, schalt aber nebenher auf mich, dass wir die Schlüsselblumen mitzubringen versäumt; doch schien sie sich bald hierüber zu beruhigen, als man jene lebhaft durcheinander kriechenden Missgestalten ihr zu beliebiger Verfügung übergab, worauf sie denn deren weitere Behandlung mit der Köchin verabredete.
Um aber die Bedeutung dieser Szene klar zu machen, muss ich von dem Charakter und dem Wesen dieser Frau das Nähere vermelden: Die Eigenschaften, von denen sie beherrscht wurde, konnte man, sittlich betrachtet, keineswegs rühmen; und doch brachten sie, bürgerlich und politisch angesehen, manche gute Wirkung hervor. Sie war im eigentlichen Sinn geldgeizig, denn es dauerte sie jeder bare Pfennig, den sie aus der Hand geben sollte, und sah sich überall für ihre Bedürfnisse nach Surrogaten um, welche man umsonst, durch Tausch oder irgendeine Weise beischaffen konnte. So waren die Schlüsselblumen zum Tee bestimmt, den sie für gesünder hielt als irgendeinen chinesischen. Gott habe einem jeden Land das Notwendige verliehen, es sei nun zur Nahrung, zur Würze, zur Arznei; man brauche sich deshalb nicht an fremde Länder zu wenden. So besorgte sie in einem kleinen Garten alles, was nach ihrem Sinn die Speisen schmackhaft mache und Kranken zuträglich wäre; sie besuchte keinen fremden Garten, ohne dergleichen von da mitzubringen.
Diese Gesinnung, und was daraus folgte, konnte man ihr sehr gerne zugeben, da ihre emsig gesammelte Barschaft der Familie doch endlich zugute kommen sollte; auch wussten Vater und Mutter hierin durchaus ihr nachzugeben und förderlich zu sein.
Eine andere Leidenschaft jedoch, eine tätige, die sich unermüdet geschäftig hervortat, war der Stolz, für eine bedeutende, einflussreiche Person gehalten zu werden. Und sie hatte fürwahr diesen Ruhm sich verdient und erreicht; denn die sonst unnützen, sogar oft schädlichen unter Frauen obwaltenden Klatschereien wusste sie zu ihrem Vorteil anzuwenden. Alles, was in der Stadt vorging, und daher auch das Innere der Familien, war ihr genau bekannt, und es ereignete sich nicht leicht ein zweifelhafter Fall, in den sie sich nicht zu mischen gewusst hätte, welches ihr um desto mehr gelang, als sie immer nur zu nutzen trachtete, dadurch aber ihren Ruhm und guten Namen zu steigern wusste. Manche Heirat hatte sie geschlossen, wobei wenigstens der eine Teil vielleicht zufrieden blieb. Was sie aber am meisten beschäftigte, war das Fördern und Befördern solcher Personen, die ein Amt, eine Anstellung suchten, wodurch sie sich denn wirklich eine große Anzahl Klienten erwarb, deren Einfluss sie dann wieder zu benutzen wusste.
Als Witwe eines nicht unbedeutenden Beamten, eines rechtlichen, strengen Mannes, hatte sie denn doch gelernt, wie man diejenigen durch Kleinigkeiten gewinnt, denen man durch bedeutendes Anerbieten nicht beikommen kann.
Um aber ohne fernere Weitläufigkeit auf dem betretenen Pfad zu bleiben, sei zunächst bemerkt, dass sie auf einen Mann, der eine wichtige Stelle bekleidete, sich großen Einfluss zu verschaffen gewusst. Er war geizig gleich ihr, und zu seinem Unglück ebenso speiselustig und genäschig. Ihm also unter irgendeinem Vorwande ein schmackhaftes Gericht auf die Tafel zu bringen, blieb ihre erste Sorge. Sein Gewissen war nicht das zarteste, aber auch sein Mut, seine Verwegenheit musste in Anspruch genommen werden, wenn er in bedenklichen Fällen den Widerstand seiner Kollegen überwinden und die Stimme der Pflicht, die sie ihm entgegensetzten, übertäuben sollte.
Nun war gerade der Fall, dass sie einen Unwürdigen begünstigte; sie hatte das möglichste getan, ihn einzuschieben; die Angelegenheit hatte für sie eine günstige Wendung genommen, und nun kamen ihr die Krebse, dergleichen man freilich selten gesehen, glücklicherweise zustatten. Sie sollten sorgfältig gefüttert und nach und nach dem hohen Gönner, der gewöhnlich ganz allein sehr kärglich speiste, auf die Tafel gebracht werden.
Übrigens gab der unglückliche Vorfall zu manchen Gesprächen und geselligen Bewegungen Anlass. Mein Vater war jener Zeit einer der ersten, der seine Betrachtung, seine Sorge über die Familie, über die Stadt hinaus zu erstrecken durch einen allgemeinen, wohlwollenden Geist getrieben ward. Die großen Hindernisse, welche der Einimpfung der Blattern anfangs entgegen standen, zu beseitigen, war er mit verständigen Ärzten und Polizeiverwandten bemüht. Größere Sorgfalt in den Hospitälern, menschlichere Behandlung der Gefangenen, und was sich hieran ferner schließen mag, machte das Geschäft wo nicht seines Lebens, doch seines Lesens und Nachdenkens; wie er denn auch seine Überzeugung überall aussprach und dadurch manches Gute bewirkte.
Er sah die bürgerliche Gesellschaft, welcher Staatsform sie auch untergeordnet wäre, als einen Naturzustand an, der sein Gutes und sein Böses habe, seine gewöhnlichen Lebensläufe, abwechselnd reiche und kümmerliche Jahre, nicht weniger zufällig und unregelmäßig Hagelschlag, Wasserfluten und Brandschäden; das Gute sei zu ergreifen und zu nutzen, das Böse abzuwenden oder zu ertragen; nichts aber, meinte er, sei wünschenswerter als die Verbreitung des allgemeinen guten Willens, unabhängig von jeder andern Bedingung.
In Gefolge einer solchen Gemütsart musste er nun bestimmt werden, eine schon früher angeregte wohltätige Angelegenheit wieder zur Sprache zu bringen: Es war die Wiederbelebung der für tot Gehaltenen, auf welche Weise sich auch die äußern Zeichen des Lebens möchten verloren haben. Bei solchen Gesprächen erhorchte ich mir nun, dass man bei jenen Kindern das Umgekehrte versucht und angewendet, ja sie gewissermaßen erst ermordet; ferner hielt man dafür, dass durch einen Aderlass vielleicht ihnen allen wäre zu helfen gewesen. In meinem jugendlichen Eifer nahm ich mir daher im stillen vor, ich wollte keine Gelegenheit versäumen, alles zu lernen, was in solchem Fall nötig wäre, besonders das Aderlassen, und was dergleichen Dinge mehr waren.
Allein wie bald nahm mich der gewöhnliche Tag mit sich fort! Das Bedürfnis nach Freundschaft und Liebe war aufgeregt, überall schaut’ ich mich um, es zu befriedigen. Indessen ward Sinnlichkeit, Einbildungskraft und Geist durch das Theater übermäßig beschäftigt; wie weit ich hier geführt und verführt worden, darf ich nicht wiederholen.
Wenn ich nun aber nach dieser umständlichen Erzählung zu bekennen habe, dass ich noch immer nicht ans Ziel meiner Absicht gelangt sei und dass ich nur durch einen Umweg dahin zu gelangen hoffen darf, was soll ich da sagen! Wie kann ich mich entschuldigen! Allenfalls hätte ich folgendes vorzubringen: Wenn es dem Humoristen erlaubt ist, das Hundertste ins Tausendste durcheinander zu werfen, wenn er kecklich seinem Leser überlässt, das, was allenfalls daraus zu nehmen sei, in halber Bedeutung endlich aufzufinden, sollte es dem Verständigen, dem Vernünftigen nicht zustehen, auf eine seltsam scheinende Weise ringsumher nach vielen Punkten hinzuwirken, damit man sie in einem Brennpunkt zuletzt abgespielt und zusammengefasst erkenne, einsehen lerne, wie die verschiedensten Einwirkungen den Menschen umringend zu einem Entschluss treiben, den er auf keine andere Weise, weder aus innerm Trieb noch äußerm Anlass, hätte ergreifen können?
Bei dem Mannigfaltigen, was mir noch zu sagen übrig bleibt, habe ich die Wahl, was ich zuerst vornehmen will; aber auch dies ist gleichgültig, du musst dich eben in Geduld fassen, lesen und weiter lesen, zuletzt wird denn doch auf einmal hervorspringen und dir ganz natürlich scheinen, was mit einem Wort ausgesprochen dir höchst seltsam vorgekommen wäre, und zwar auf einen Grad, dass du nachher diesen Einleitungen in Form von Erklärungen kaum einen Augenblick hättest schenken mögen.
Um nun aber einigermaßen in die Richte zu kommen, will ich mich wieder nach jenem Ruderpflock umsehen und eines Gesprächs gedenken, das ich mit unserem geprüften Freund Jarno, den ich unter dem Namen Montan im Gebirge fand, zu ganz besonderer Erweckung eigner Gefühle zufällig zu führen veranlasst ward. Die Angelegenheiten unseres Lebens haben einen geheimnisvollen Gang, der sich nicht berechnen lässt. Du erinnerst dich gewiss jenes Bestecks, das euer tüchtiger Wundarzt hervorzog, als du dich mir, wie ich verwundet im Wald hingestreckt lag, hilfreich nähertest? Es leuchtete mir damals dergestalt in die Augen und machte einen so tiefen Eindruck, dass ich ganz entzückt war, als ich nach Jahren es in den Händen eines Jüngeren wieder fand. Dieser legte keinen besondern Wert darauf; die Instrumente sämtlich hatten sich in neuerer Zeit verbessert und waren zweckmäßiger eingerichtet, und ich erlangte jenes um desto eher, als ihm die Anschaffung eines neuen dadurch erleichtert wurde. Nun führte ich es immer mit mir, freilich zu keinem Gebrauch, aber desto sicherer zu tröstlicher Erinnerung: Es war Zeuge des Augenblicks, wo mein Glück begann, zu dem ich erst durch großen Umweg gelangen sollte.
Zufällig sah es Jarno, als wir bei dem Köhler übernachteten, der es alsobald erkannte und auf meine Erklärung erwiderte: „Ich habe nichts dagegen“, sprach er, „dass man sich einen solchen Fetisch aufstellt, zur Erinnerung an manches unerwartete Gute, an bedeutende Folgen eines gleichgültigen Umstandes; es hebt uns empor als etwas, das auf ein Unbegreifliches deutet, erquickt uns in Verlegenheiten und ermutigt unsere Hoffnungen; aber schöner wäre es, wenn du dich durch jene Werkzeuge hättest anreizen lassen, auch ihren Gebrauch zu verstehen und dasjenige zu leisten, was sie stumm von dir fordern.“
„Lass mich bekennen“, versetzte ich darauf, „dass mir dies hundertmal eingefallen ist; es regte sich in mir eine innere Stimme, die mich meinen eigentlichen Beruf hieran erkennen ließ.“ Ich erzählte ihm hierauf die Geschichte der ertrunkenen Knaben, und wie ich damals gehört, ihnen wäre zu helfen gewesen, wenn man ihnen zur Ader gelassen hätte; ich nahm mir vor, es zu lernen, doch jede Stunde löschte den Vorsatz aus.“
„So ergreif ihn jetzt“, versetzte jener, „ich sehe dich schon so lange mit Angelegenheiten beschäftigt, die des Menschen Geist, Gemüt, Herz, und wie man das alles nennt, betreffen und sich darauf beziehen; allein was hast du dabei für dich und andere gewonnen? Seelenleiden, in die wir durch Unglück oder eigne Fehler geraten, sie zu heilen vermag der Verstand nichts, die Vernunft wenig, die Zeit viel, entschlossene Tätigkeit hingegen alles. Hier wirke jeder mit und auf sich selbst; das hast du an dir, hast es an andern erfahren.“
Mit heftigen und bittern Worten, wie er gewohnt ist, setzte er mir zu und sagte manches Harte, das ich nicht wiederholen mag. Es sei nichts mehr der Mühe wert, schloss er endlich, zu lernen und zu leisten, als dem Gesunden zu helfen, wenn er durch irgendeinen Zufall verletzt sei; durch einsichtige Behandlung stelle sich die Natur leicht wieder her; die Kranken müsse man den Ärzten überlassen, niemand aber bedürfe eines Wundarztes mehr als der Gesunde. In der Stille des Landlebens, im engsten Kreis der Familie sei er ebenso willkommen als in und nach dem Getümmel der Schlacht; in den süßesten Augenblicken wie in den bittersten und grässlichsten; überall walte das böse Geschick grimmiger als der Tod, und ebenso rücksichtslos, ja noch auf eine schmählichere, Lust und Leben verletzende Weise.
Du kennst ihn und denkst ohne Anstrengung, dass er mich so wenig als die Welt schonte. Am stärksten aber lehnte er sich auf das Argument, das er im Namen der großen Gesellschaft gegen mich wendete. „Narrenpossen“, sagte er, „sind eure allgemeine Bildung und alle Anstalten dazu. Dass ein Mensch etwas ganz entschieden verstehe, vorzüglich leiste, wie nicht leicht ein anderer in der nächsten Umgebung, darauf kommt es an, und besonders in unserm Verband spricht es sich von selbst aus. Du bist gerade in einem Alter, wo man sich mit Verstand etwas vorsetzt, mit Einsicht das Vorliegende beurteilt, es von der rechten Seite angreift, seine Fähigkeiten und Fertigkeiten auf den rechten Zweck hinlenkt.“
Was soll ich nun weiter fortfahren auszusprechen, was sich von selbst versteht! Er machte mir deutlich, dass ich Dispensation von dem so wunderlich gebotenen unsteten Leben erhalten könne; es werde jedoch schwer sein, es für mich zu erlangen. „Du bist von der Menschenart“, sprach er, „die sich leicht an einen Ort, nicht leicht an eine Bestimmung gewöhnen. Allen solchen wird die unstete Lebensart vorgeschrieben, damit sie vielleicht zu einer sichern Lebensweise gelangen. Willst du dich ernstlich dem göttlichsten aller Geschäfte widmen, ohne Wunder zu heilen und ohne Worte Wunder zu tun, so verwende ich mich für dich.“ So sprach er hastig und fügte hinzu, was seine Beredsamkeit noch alles für gewaltige Gründe vorzubringen wusste.
Hier nun bin ich geneigt zu enden; zunächst aber sollst du umständlich erfahren, wie ich die Erlaubnis, an bestimmten Orten mich länger aufhalten zu dürfen, benutzt habe, wie ich in das Geschäft, wozu ich immer eine stille Neigung empfunden, mich gar bald zu fügen, mich darin auszubilden wusste. Genug! Bei dem großen Unternehmen, dem ihr entgegengeht, werd’ ich als ein nützliches, als ein nötiges Glied der Gesellschaft erscheinen und euren Wegen, mit einer gewissen Sicherheit, mich anschließen, mit einigem Stolz; denn es ist ein löblicher Stolz, euer wert zu sein.