1805
Also ward auch dieses Jahr mit den besten Vorsätzen und Hoffnungen angefangen und zumal »Demetrius« umständlich öfters besprochen. Weil wir aber beide durch körperliche Gebrechen öfters in den Hauptarbeiten gestört wurden, so setzte Schiller die Übertragung der »Phädra«, ich die des »Rameau« fort, wobei nicht eigne Produktion verlangt, sondern unser Talent durch fremde, schon vollendete Werke aufgeheitert und angeregt wurde.
Ich ward bei meiner Arbeit aufgemuntert, ja genötigt, die französische Literatur wieder vorzunehmen und zu Verständnis des seltsamen, frechen Büchleins manche, für uns Deutsche wenigstens, völlig verschollene Namen in charakteristischen Bildern abermals zu beleben. Musikalische Betrachtungen rief ich auch wieder hervor, obgleich diese mir früher so angenehme Beschäftigung lange geschwiegen hatte. Und so benutzte ich manche Stunde, die mir sonst in Leiden und Ungeduld verlorengegangen wäre. Durch einen sonderbar glücklichen Zufall traf zu gleicher Zeit ein Franzose hier ein, namens Texier, welcher sein Talent, französische Komödien mit abwechselnder Stimme, wie ihre Schauspieler sie vortragen, munter und geistreich vorzulesen, bei Hofe mehrere Abende hindurch zu bewundern gab; mir besonders zu Genuß und Nutzen, da ich Molièren, den ich höchlich schätzte, dem ich jährlich einige Zeit widmete, um eine wohlempfundene Verehrung immer wieder zu prüfen und zu erneuen, nunmehr in lebendiger Stimme von einem Landsmann vernahm, der, gleichfalls von einem so großen Talente durchdrungen, mit mir in Hochschätzung desselben darstellend wetteiferte.
Schiller, durch den 30. Januar gedrängt, arbeitete fleißig an »Phädra«, die auch wirklich am bestimmten Tage aufgeführt ward und hier am Orte wie nachher auswärts bedeutenden Schauspielerinnen Gelegenheit gab, sich hervorzutun und ihr Talent zu steigern.
Indessen war ich durch zwei schreckhafte Vorfälle, durch zwei Brände, welche in wenigen Abenden und Nächten hintereinander entstanden und wobei ich jedesmal persönlich bedroht war, in mein Übel, aus dem ich mich zu retten strebte, zurückgeworfen. Schiller fühlte sich von gleichen Banden umschlungen. Unsere persönlichen Zusammenkünfte waren unterbrochen; wir wechselten fliegende Blätter. Einige im Februar und März von ihm geschriebene zeugen noch von seinen Leiden, von Tätigkeit, Ergebung und immer mehr schwindender Hoffnung. Anfangs Mai wagt ich mich aus, ich fand ihn im Begriff, ins Schauspiel zu gehen, wovon ich ihn nicht abhalten wollte: Ein Mißbehagen hinderte mich, ihn zu begleiten, und so schieden wir vor seiner Haustüre, um uns niemals wiederzusehen. Bei dem Zustande meines Körpers und Geistes, die, um aufrecht zu bleiben, aller eigenen Kraft bedurften, wagte niemand, die Nachricht von seinem Scheiden in meine Einsamkeit zu bringen. Er war am Neunten verschieden und ich nun von allen meinen Übeln doppelt und dreifach angefallen.
Als ich mich ermannt hatte, blickt ich nach einer entschiedenen großen Tätigkeit umher; mein erster Gedanke war, den »Demetrius« zu vollenden. Von dem Vorsatz an bis in die letzte Zeit hatten wir den Plan öfters durchgesprochen: Schiller mochte gern unter dem Arbeiten mit sich selbst und andern für und wider streiten, wie es zu machen wäre; er ward ebensowenig müde, fremde Meinungen zu vernehmen, wie seine eigenen hin und her zu wenden. Und so hatte ich alle seine Stücke, vom »Wallenstein« an, zur Seite begleitet, meistenteils friedlich und freundlich, ob ich gleich manchmal, zuletzt wenn es zur Aufführung kam, gewisse Dinge mit Heftigkeit bestritt, wobei denn endlich einer oder der andere nachzugeben für gut fand. So hatte sein aus- und aufstrebender Geist auch die Darstellung des »Demetrius« in viel zu großer Breite gedacht; ich war Zeuge, wie er die Exposition in einem Vorspiel bald dem Wallensteinischen, bald dem Orleanischen ähnlich ausbilden wollte, wie er nach und nach sich ins Engere zog, die Hauptmomente zusammenfaßte und hie und da zu arbeiten anfing. Indem ihn ein Ereignis vor dem andern anzog, hatte ich beirätig und mittätig eingewirkt, das Stück war mir so lebendig als ihm. Nun brannt ich vor Begierde, unsere Unterhaltung, dem Tode zu Trutz, fortzusetzen, seine Gedanken, Ansichten und Absichten bis ins einzelne zu bewahren und ein herkömmliches Zusammenarbeiten bei Redaktion eigener und fremder Stücke hier zum letztenmal auf ihrem höchsten Gipfel zu zeigen. Sein Verlust schien mir ersetzt, indem ich sein Dasein fortsetzte. Unsere gemeinsamen Freunde hofft ich zu verbinden; das deutsche Theater, für welches wir bisher gemeinschaftlich, er dichtend und bestimmend, ich belehrend, übend und ausführend, gearbeitet hatten, sollte, bis zur Herankunft eines frischen ähnlichen Geistes, durch seinen Abschied nicht ganz verwaist sein. Genug, aller Enthusiasmus, den die Verzweiflung bei einem großen Verlust in uns aufregt, hatte mich ergriffen. Frei war ich von aller Arbeit, in wenigen Monaten hätte ich das Stück vollendet. Es auf allen Theatern zugleich gespielt zu sehen wäre die herrlichste Totenfeier gewesen, die er selbst sich und den Freunden bereitet hätte. Ich schien mir gesund, ich schien mir getröstet. Nun aber setzten sich der Ausführung mancherlei Hindernisse entgegen, mit einiger Besonnenheit und Klugheit vielleicht zu beseitigen, die ich aber durch leidenschaftlichen Sturm und Verworrenheit nur noch vermehrte; eigensinnig und übereilt gab ich den Vorsatz auf, und ich darf noch jetzt nicht an den Zustand denken, in welchen ich mich versetzt fühlte. Nun war mir Schiller eigentlich erst entrissen, sein Umgang erst versagt. Meiner künstlerischen Einbildungskraft war verboten, sich mit dem Katafalk zu beschäftigen, den ich ihm aufzurichten gedachte, der länger als jener zu Messina das Begräbnis überdauern sollte; sie wendete sich nun und folgte dem Leichnam in die Gruft, die ihn gepränglos eingeschlossen hatte. Nun fing er mir erst an zu verwesen; unleidlicher Schmerz ergriff mich, und da mich körperliche Leiden von jeglicher Gesellschaft trennten, so war ich in traurigster Einsamkeit befangen. Meine Tagebücher melden nichts von jener Zeit; die weißen Blätter deuten auf den hohlen Zustand, und was sonst noch an Nachrichten sich findet, zeugt nur, daß ich den laufenden Geschäften ohne weitern Anteil zur Seite ging und mich von ihnen leiten ließ, anstatt sie zu leiten. Wie oft mußt ich nachher im Laufe der Zeit still bei mir lächeln, wenn teilnehmende Freunde Schillers Monument in Weimar vermißten; mich wollte fort und fort bedünken, als hätt ich ihm und unserm Zusammensein das erfreulichste stiften können.
Die Übersetzung von »Rameaus Neffen« war noch durch Schillern nach Leipzig gesandt. Einige geschriebene Hefte der »Farbenlehre« erhielt ich nach seinem Tode zurück. Was er bei angestrichenen Stellen einzuwenden gehabt, konnt ich mir in seinem Sinne deuten, und so wirkte seine Freundschaft vom Totenreiche aus noch fort, als die meinige unter die Lebendigen sich gebannt sah.
Die einsame Tätigkeit mußt ich nun auf einen andern Gegenstand werfen. Winckelmanns Briefe, die mir zugekommen waren, veranlaßten mich, über diesen herrlichen, längst vermißten Mann zu denken und, was ich über ihn seit so viel Jahren im Geist und Gemüt herumgetragen, ins Enge zu bringen. Manche Freunde waren schon früher zu Beiträgen aufgefordert, ja Schiller hatte versprochen, nach seiner Weise teilzunehmen.
Nun aber darf ich es wohl als die Fürsorge eines gutgesinnten Genius preisen, daß ein vorzüglich geschätzter und verehrter Mann, mit dem ich früher nur in den allgemeinen Verhältnissen eines gelegentlichen Briefwechsels und Umgangs gestanden, sich mir näher anzuschließen Veranlassung fühlte. Professor Wolf aus Halle bewährte seine Teilnahme an Winckelmann und dem, was ich für sein Andenken zu tun gedachte, durch Übersendung eines Aufsatzes, der mir höchlich willkommen war, ob er ihn gleich für unbefriedigend erklärte. Schon im März des Jahres hatte er sich bei uns angekündigt, die sämtlichen weimarischen Freunde freuten sich, ihn abermals in ihrem Kreise zu besitzen, den er leider um ein edles Mitglied vermindert und uns alle in tiefer Herzenstrauer fand als er am 30. Mai in Weimar anlangte, begleitet von seiner jüngeren Tochter, die in allen Reizen der frischen Jugend mit dem Frühling wetteiferte. Ich konnte den werten Mann gastfreundlich aufnehmen und so mit ihm höchst erfreulich belehrende Stunden zubringen. Da nun in so vertraulichem Verhältnis jeder offen von demjenigen sprach, was ihm zunächst am Herzen lag, so tat sich sehr bald die Differenz entschieden hervor, die zwischen uns beiden obwaltete. Hier war sie von anderer Art als diejenige, welche mich mit Schiller, anstatt zu entzweien, innigst vereinigte. Schillers ideeller Tendenz konnte sich meine reelle gar wohl nähern, und weil beide vereinzelt doch nicht zu ihrem Ziele gelangen, so traten beide zuletzt in einem lebendigen Sinne zusammen.
Wolf dagegen hatte sein ganzes Leben den schriftlichen Überlieferungen des Altertums gewidmet, sie, insofern es möglich war, in Handschriften oder sonst in Ausgaben genau untersucht und verglichen. Sein durchdringender Geist hatte sich der Eigenheit der verschiedenen Autoren, wie sie sich nach Orten und Zeiten ausspricht, dergestalt bemächtigt, sein Urteil auf den höchsten Grad geschärft, daß er in dem Unterschied der Sprache und des Stils zugleich den Unter schied des Geistes und des Sinnes zu entdecken wußte, und dies vom Buchstaben, von der Silbe hinauf bis zum rhythmischen und prosaischen Wohlklang, von der einfachen Wortfügung bis zur mannigfaltigen Verflechtung der Sätze.
War es daher ein Wunder, daß ein so großes Talent, das mit solcher Sicherheit in diesem Elemente sich erging, mit einer fast magischen Gewandtheit Tugenden und Mängel zu erkennen und einem jeden seine Stelle nach Ländern und Jahren anzuweisen verstand und so im höchsten Grade die Vergangenheit sich vergegenwärtigen konnte! – War es also ein Wunder, daß ein solcher Mann dergleichen durchgreifende Bemühungen auf das höchste schätzen und die daraus entspringenden Resultate für einzig halten mußte! Genug, aus seinen Unterhaltungen ging hervor: er achte das nur einzig für geschichtlich, für wahrhaft glaubwürdig, was durch geprüfte und zu prüfende Schrift aus der Vorzeit zu uns herübergekommen sei.
Dagegen hatten die Weimarischen Freunde mit denselben Überzeugungen einen andern Weg eingeschlagen; bei leidenschaftlicher Neigung für bildende Kunst mußten sie gar bald gewahr werden, daß auch hier das Geschichtliche sowohl der Grund eines jeden Urteils als einer praktischen Nacheiferung werden könne. Sie hatten daher sowohl alte als neuere Kunst auf ihrem Lebenswege immer geschichtlich zu betrachten sich gewöhnt und glaubten auch von ihrer Seite sich gar manches Merkmals bemächtigt zu haben, woran sich Zeit und Ort, Meister und Schüler, Ursprüngliches und Nachgeahmtes, Vorgänger und Nachfolger füglich unterscheiden ließen.
Wenn nun im lebhaftesten Gespräche beide Arten, die Vergangenheit sich zu vergegenwärtigen, zur Sprache kamen, so durften die Weimarischen Kunstfreunde sich wohl gegen den trefflichen Mann im Vorteil dünken, da sie seinen Studien und Talenten volle Gerechtigkeit widerfahren ließen, ihren Geschmack an dem seinigen schärften, mit ihrem geistigen Vermögen seinem Geiste nachzudringen suchten und sich also im höheren Sinne auferbaulich bereicherten. Dagegen leugnete er hartnäckig die Zulässigkeit ihres Verfahrens, und es fand sich kein Weg, ihn vom Gegenteil zu überzeugen: denn es ist schwer, ja unmöglich, demjenigen, der nicht aus Liebe und Leidenschaft sich irgendeiner Betrachtung gewidmet hat und dadurch auch nach und nach zur genauern Kenntnis und zur Vergleichungsfähigkeit gelangt ist, auch nur eine Ahnung des zu Unterscheidenden aufzuregen, weil denn doch immer zuletzt in solchem Falle an Glauben, an Zutrauen Anspruch gemacht werden muß. Wenn wir ihm nun sehr willig zugaben, daß einige Reden Ciceros, vor denen wir den größten Respekt hatten, weil sie zu unserm wenigen Latein uns behülflich gewesen waren, für später untergeschobenes Machwerk und keineswegs für sonderliche Redemuster zu achten seien, so wollte er uns dagegen keineswegs zugeben, daß man auch die überbliebenen Bildwerke nach einer gewissen Zeitfolge zuversichtlich ordnen könne.
Ob wir nun gleich gern einräumten, daß auch hier manches problematisch möchte liegenbleiben, wie denn ja auch der Schriftforscher weder sich selbst noch andere jederzeit völlig befriedigen werde, so konnten wir doch niemals von ihm erlangen, daß er unseren Dokumenten gleiche Gültigkeit mit den seinigen, unserer durch Übung erworbenen Sagazität gleichen Wert wie der seinigen zugestanden hätte. Aber eben aus diesem hartnäckigen Konflikt ging für uns der bedeutende Vorteil hervor, daß alle die Argumente für und wider auf das entschiedenste zur Sprache kamen und es denn nicht fehlen konnte, daß jeder, indem er den andern zu erleuchten trachtete, bei sich selbst auch heller und klarer zu werden bestrebt sein mußte.
Da nun allen diesen Bestrebungen Wohlwollen, Neigung, Freundschaft, wechselseitiges Bedürfnis zum Grunde lag, weil beide Teile währender Unterhaltung noch immer ein Unendliches von Kenntnis und Bestreben vor sich sahen, so herrschte in der ganzen Zeit eines längeren Zusammenseins eine aufgeregte Munterkeit, eine heftige Heiterkeit, die kein Stillstehen duldete und innerhalb desselben Kreises immer neue Unterhaltung fand.
Nun aber mußte, indem von der ältern Kunstgeschichte die Rede war, der Name Phidias oft genug erwähnt werden, der so gut der Welt- als der Kunstgeschichte angehört: denn was wäre die Welt ohne Kunst? Und so ergab sich’s ganz natürlich, daß der beiden Kolossalköpfe der Dioskuren von Monte Cavallo als in Rudolstadt befindlich gedacht wurde. Der unglaubige Freund nahm hievon Gelegenheit zu einer Spazierfahrt als Beweis des guten Willens, sich uns zu nähern, allein, wie vorauszusehen war, ohne sonderlichen Erfolg: denn er fand leider die beiden Riesenköpfe, für welche man bis jetzt keinen schicklichen Raum finden können, an der Erde stehen, da denn nur dem liebevollsten Kenner ihre Trefflichkeit hätte entgegenleuchten mögen, indem jedes faßliche Anschauen ihrer Vorzüge versagt war. Wohl aufgenommen von dem dortigen Hofe, vergnügte er sich in den bedeutend schönen Umgebungen, und so kam er nach einem Besuch in Schwarzburg mit seinem Begleiter, Freund Meyer, vergnügt und behaglich, aber nicht überzeugt zurück.
Die Weimarischen Kunstfreunde hatten sich bei dem Aufenthalt dieses höchst werten Mannes so viel Fremdes zugeeignet, so viel Eigenes aufgeklärt und geordnet, daß sie in mehr als einem Sinne sich gefördert finden mußten, und da nun ihr Gast noch außerdem lebenslustig als teilnehmender Gesellschafter sich erwies, so war durch ihn der ganze Kreis auf das schönste belebt, und auch er kehrte mit heiterem Sinne und mit dringender Einladung zu einem baldigen Gegenbesuch in Halle wohlgemut nach Hause zurück.
Ich hatte daher die schönste Veranlassung, abermals nach Lauchstädt zu gehen, obgleich das Theater mich eigentlich nicht hinforderte. Das Repertorium enthielt so manches dort noch nicht gesehene Gute und Treffliche, so daß wir mit dem anlockenden Worte »Zum ersten Male« gar manchen unserer Anschläge zieren konnten. Möge hier den Freunden der Theatergeschichte zuliebe die damalige Konstellation vorgeführt werden, womit wir in jener Sphäre zu glänzen suchten. Als meistens neu oder doch sehr beliebt erschienen an Trauer- und Heldenspielen: »Othello«, »Regulus«, »Wallenstein«, »Nathan der Weise«, »Götz von Berlichingen«, »Jungfrau von Orleans«, »Johanna von Montfaucon«. Ebenmäßig führte man an Lust- und Gefühlspielen folgende vor: »Lorenz Stark«, »Beschämte Eifersucht«, »Mitschuldige«, »Laune des Verliebten«, »Die beiden Klingsberge«, »Hussiten« und »Pagenstreiche«. An Singspielen wurden vorgetragen: »Saalnixe«, »Cosa Rara«, »Fanchon«, »Unterbrochenes Opferfest«, »Schatzgräber«, »Soliman der Zweite«, zum Schlusse sodann das »Lied von der Glocke«, als ein wertes und würdiges Andenken des verehrten Schiller, da einer beabsichtigten eigentlichen Feier sich mancherlei Hindernisse entgegenstellten.
Bei einem kurzen Aufenthalt in Lauchstädt suchte ich daher vorzüglich dasjenige zu besorgen, was an Baulichkeiten und sonstigen Lokalitäten, nicht weniger, was mit dortigen Beamten zu verabreden und festzustellen war, und begab mich darauf nach Halle, wo ich in dem Hause meines Freundes die gastlichste Aufnahme fand. Die vor kurzem abgebrochene Unterhaltung ward lebhaft fortgesetzt und nach vielen Seiten hin erweitert: denn da ich hier den unablässig arbeitenden Mann mitten in seiner täglichen, bestimmten, manchmal aufgenötigten Tätigkeit fand, so gab es tausend Gelegenheiten, einen neuen Gegenstand, eine verwandte Materie, irgendeine ins Leben eingreifende Handlung zum Text geistreicher Gespräche aufzufassen, wobei denn der Tag und halbe Nächte schnell vorübergingen, aber bedeutenden Reichtum zurückließen.
Hatte ich nun an ihm die Gegenwart eines ungeheuren Wissens zu bewundern, so war ich doch auch neugierig zu vernehmen, wie er das einzelne an die Jugend methodisch und eingänglich überliefere. Ich hörte daher, durch seine liebenswürdige Tochter geleitet, hinter einer Tapetentüre seinem Vortrag mehrmals zu, wo ich denn alles, was ich von ihm erwarten konnte, in Tätigkeit fand: eine aus der Fülle der Kenntnis hervortretende freie Überlieferung, aus gründlichstem Wissen mit Freiheit, Geist und Geschmack sich über die Zuhörer verbreitende Mitteilung.
Was ich unter solchen Verhältnissen und Zuständen gewonnen, läßt sich nicht übersehen; wie einflußreich diese wenigen Monate auf mein Leben gewesen, wird aber der Verständige im allgemeinen mitempfinden können.
Hierauf nun erwartete mich in einem andern Fache eine höchst durchgreifende Belehrung. Dr. Gall begann seine Vorlesungen in den ersten Tagen des August, und ich gesellte mich zu den vielen sich an ihn herandrängenden Zuhörern. Seine Lehre mußte gleich, so wie sie bekannt zu werden anfing, mir dem ersten Anblicke nach zusagen. Ich war gewohnt, das Gehirn von der vergleichenden Anatomie her zu betrachten, wo schon dem Auge kein Geheimnis bleibt, daß die verschiedenen Sinne als Zweige des Rückenmarks ausfließen und erst einfach, einzeln zu erkennen, nach und nach aber schwerer zu beobachten sind, bis allmählich die angeschwollene Masse Unterschied und Ursprung völlig verbirgt. Da nun ebendiese organische Operation sich in allen Systemen des Tiers von unten auf wiederholt und sich vom Greiflichen bis zum Unbemerkbaren steigert, so war mir der Hauptbegriff keineswegs fremd, und sollte Gall, wie man vernahm, auch, durch seinen Scharfblick verleitet, zu sehr ins Spezifische gehen, so hing es ja nur von uns ab, ein scheinbar paradoxes Absondern in ein faßlicher Allgemeines hinüberzuheben. Man konnte den Mord-, Raub- und Diebsinn so gut als die Kinder-, Freundes- und Menschenliebe unter allgemeinere Rubriken begreifen und also gar wohl gewisse Tendenzen mit dem Vorwalten gewisser Organe in Bezug setzen.
Wer jedoch das Allgemeine zum Grund legt, wird sich nicht leicht einer Anzahl wünschenswerter Schüler zu erfreuen haben; das Besondere hingegen zieht die Menschen an, und mit Recht: denn das Leben ist aufs Besondere angewiesen, und gar viele Menschen können im einzelnen ihr Leben fortsetzen, ohne daß sie nötig hätten, weiter zu gehen als bis dahin, wo der Menschenverstand noch ihren fünf Sinnen zu Hülfe kommt.
Beim Anfang seiner Vorträge brachte er einiges die Metamorphose der Pflanze Berührendes zur Sprache, so daß der neben mir sitzende Freund Loder mich mit einiger Verwunderung ansah; aber eigentlich zu verwundern war es, daß er, ob er gleich diese Analogie gefühlt haben mußte, in der Folge nicht wieder darauf zurückkam, da doch diese Idee gar wohl durch sein ganzes Geschäft hätte walten können.
Außer diesen öffentlichen, vorzüglich kraniologischen Belehrungen entfaltete er privatim das Gehirn selbst vor unsern Augen, wodurch denn meine Teilnahme sich steigerte. Denn das Gehirn bleibt immer der Grund und daher das Hauptaugenmerk, da es sich nicht nach der Hirnschale, sondern diese nach jenem zu richten hat, und zwar dergestalt, daß die innere Diploe der Hirnschale vom Gehirn festgehalten und an ihre organische Beschränkung gefesselt wird; dagegen denn, bei genugsamem Vorrat von Knochenmasse, die äußere Lamina sich bis ins Monstrose zu erweitern und innerhalb so viele Kammern und Fächer auszubilden das Recht behauptet.
Galls Vortrag durfte man wohl als den Gipfel vergleichender Anatomie anerkennen, denn ob er gleich seine Lehre von dorther nicht ableitete und mehr von außen nach innen verfuhr, auch sich mehr eine Belehrung als eine Ableitung zum Zweck vorzusetzen schien, so stand doch alles mit dem Rückenmark in solchem Bezug, daß dem Geist vollkommene Freiheit blieb, sich nach seiner Art diese Geheimnisse auszulegen. Auf alle Weise war die Gallische Entfaltung des Gehirns in einem höheren Sinne als jene in der Schule hergebrachte, wo man etagen- oder segmentweise von oben herein durch bestimmten Messerschnitt von gewissen untereinander folgenden Teilen Anblick und Namen erhielt, ohne daß auf irgend etwas weiter daraus wäre zu folgern gewesen. Selbst die Basis des Gehirns, die Ursprünge der Nerven blieben Lokalkenntnisse, denen ich, so ernst mir es auch war, nichts abgewinnen konnte, weshalb auch noch vor kurzem die schönen Abbildungen von Vicq d’Azyr mich völlig in Verzweiflung gesetzt hatten.
Dr. Gall war in der Gesellschaft, die mich so freundlich aufgenommen hatte, gleichfalls mit eingeschlossen, und so sahen wir uns täglich, fast stündlich, und das Gespräch hielt sich immer in dem Kreise seiner bewündernswürdigen Beobachtung; er scherzte über uns alle und behauptete meinem Stirnbau zufolge: ich könne den Mund nicht auftun, ohne einen Tropus auszusprechen; worauf er mich denn freilich jeden Augenblick ertappen konnte. Mein ganzes Wesen betrachtet, versicherte er ganz ernstlich, daß ich eigentlich zum Volksredner geboren sei. Dergleichen gab nun zu allerlei scherzhaften Bezügen Gelegenheit, und ich mußte es gelten lassen, daß man mich mit Chrysostomus in eine Reihe zu setzen beliebte.
Nun mochte freilich solche geistige Anstrengung, verflochten in geselliges Wohlleben, meinen körperlichen Zuständen nicht eben zusagen; es überfiel mich ganz unversehens der Paroxysmus eines herkömmlichen Übels, das, von den Nieren ausgehend, sich von Zeit zu Zeit durch krankhafte Symptome schmerzlich ankündigte. Es brachte mir diesmal den Vorteil einer größern Annäherung an Bergrat Reil, welcher, als Arzt mich behandelnd, mir zugleich als Praktiker, als denkender, wohlgesinnter und anschauender Mann bekannt wurde. Wie sehr er sich meinen Zustand angelegen sein ließ, davon gibt ein eingenhändiges Gutachten Zeugnis, welches vom 17. September dieses Jahrs unter meinen Papieren noch mit Achtung verwahrt wird.
Dr. Galls ferneren Unterricht sollte ich denn auch nicht vermissen; er hatte die Gefälligkeit, den Apparat jeder Vorlesung auf mein Zimmer zu schaffen und mir, der ich durch mein Übel an höherer Beschauung und Betrachtung nicht gehindert war, sehr auslangende Kenntnis und Übersicht seiner Überzeugungen mitzuteilen.
Dr. Gall war abgegangen und besuchte Göttingen, wir aber wurden durch die Aussicht eines eigenen Abenteuers angezogen. Der wunderliche, in manchem Sinne viele Jahre durch schon bekannte problematische Mann, Hofrat Beireis in Helmstedt, war mir schon so oft genannt, seine Umgebung, sein merkwürdiger Besitz, sein sonderbares Betragen sowie das Geheimnis, das über allem diesem waltete, hatte schon längst auf mich und meine Freunde beunruhigend gewirkt, und man mußte sich schelten, daß man eine so einzig merkwürdige Persönlichkeit, die auf eine frühere, vorübergehende Epoche hindeutete, nicht mit Augen gesehen, nicht im Umgang einigermaßen erforscht habe. Professor Wolf war in demselbigen Falle, und wir beschlossen, da wir den Mann zu Hause wußten, eine Fahrt nach ihm, der wie ein geheimnisvoller Greif über außerordentlichen und kaum denkbaren Schätzen waltete. Mein humoristischer Reisegefährte erlaubte gern, daß mein vierzehnjähriger Sohn August teil an dieser Fahrt nehmen durfte, und dieses geriet zur besten geselligen Erheiterung; denn indem der tüchtige, gelehrte Mann den Knaben unausgesetzt zu necken sich zum Geschäft machte, so durfte dieser des Rechts der Notwehr, welche denn auch, wenn sie gelingen soll, offensiv verfahren muß, sich zu bedienen und wie der Angreifende auch wohl manchmal die Grenze überschreiten zu können glauben, wobei sich denn wohl mitunter die wörtlichen Neckereien in Kitzeln und Balgen zu allgemeiner Heiterkeit, obgleich im Wagen etwas unbequem, zu steigern pflegten. Nun machten wir halt in Bernburg, wo der würdige Freund gewisse Eigenheiten in Kauf und Tausch nicht unterließ, welche der junge, lose Vogel, auf alle Handlungen seines Gegners gespannt, zu bemerken, hervorzuheben und zu bescherzen nicht er mangelte.
Der ebenso treffliche als wunderliche Mann hatte auf alle Zöllner einen entschiedenen Haß geworfen und konnte sie, selbst wenn sie ruhig und mit Nachsicht verfuhren, ja wohl eben deshalb, nicht ungehudelt lassen, woraus denn unangenehme Begebenheiten beinahe entstanden wären.
Da nun aber auch dergleichen Abneigungen und Eigenheiten uns in Magdeburg vom Besuch einiger verdienten Männer abhielten, so beschäftigte ich mich vorzüglich mit den Altertümern des Doms, betrachtete die plastischen Monumente, vorzüglich die Grabmäler. Ich spreche nur von drei bronzenen derselben, welche für drei Erzbischöfe von Magdeburg errichtet waren. Adelbert II., nach 1403, steif und starr, aber sorgfältig und einigermaßen natürlich, unter Lebensgröße. Friedrich, nach 1464, über Lebensgröße, natur- und kunstgemäßer. Ernst, mit der Jahrzahl 1499, ein unschätzbares Denkmal von Peter Vischer, das wenigen zu vergleichen ist. Hieran konnte ich mich nicht genug erfreuen: denn wer einmal, auf die Zunahme der Kunst, auf deren Abnahme, Ausweichen zur Seite. Rückkehr in den rechten Weg, Herrschaft einer Hauptepoche, Einwirkung der Individualitäten gerichtet, Aug und Sinn darnach gebildet hat, der findet kein Zwiegespräch belehrender und unterhaltender als das schweigsame in einer Folge von solchen Monumenten. Ich verzeichnete meine Bemerkungen sowohl zur Übung als Erinnerung und finde die Blätter noch mit Vergnügen unter meinen Papieren; doch wünschte ich nichts mehr in diesen Stunden, als daß eine genaue Nachbildung, besonders des herrlichen Vischerschen Monuments, vorhanden sein möge. (Ist späterhin lobenswürdig mitgeteilt worden.)
Stadt, Festung und, von den Wällen aus, die Umgegend ward mit Aufmerksamkeit und Teilnahme betrachtet; besonders verweilte mein Blick lange auf der großen Baumgruppe, welche nicht allzu fern, die Fläche zu zieren, ehrwürdig dastand. Sie beschattete Kloster Berge, einen Ort, der mancherlei Erinnerungen aufrief. Dort hatte Wieland in allen konzentrierten jugendlichen Zartgefühlen gewandelt, zu höherer literarischen Bildung den Grund gelegt; dort wirkte Abt Steinmetz in frommem Sinne, vielleicht einseitig, doch redlich und kräftig. Und wohl bedarf die Welt in ihrer unfrommen Einseitigkeit auch solcher Licht- und Wärmequellen, um nicht durchaus im egoistischen Irrsale zu erfrieren und zu verdursten.
Bei wiederholten Besuchen des Doms bemerkten wir einen lebhaften Franzosen in geistlicher Kleidung, der, von dem Küster umhergeführt, sich mit seinen Gefährten sehr laut unterhielt, indessen wir als Eingewohnte unsere stillen Zwecke verfolgten. Wir erfuhren, es sei der Abbé Grégoire, und ob ich gleich sehr neugierig war, mich ihm zu nähern und eine Bekanntschaft anzuknüpfen, so wollte doch mein Freund, aus Abneigung gegen den Gallier, nicht einwilligen, und wir begnügten uns, in einiger Ferne beschäftigt, sein Betragen genauer zu bemerken und seine Urteile, die er laut aussprach, zu vernehmen.
Wir verfolgten unsern Weg, und da der Übergang aus einer Flußregion in die andere immer der Hauptaugenmerk mein, des Geognosten, war, so fielen mir die Sandsteinhöhen auf, die nun, statt nach der Elbe, nach der Weser hindeuteten. Helmstedt selbst liegt ganz freundlich, der Sand ist dort, wo ein geringes Wasser fließt, durch Gärten und sonst anmutige Umgebung gebändigt. Wer nicht gerade den Begriff einer lebhaften deutschen Akademie mitbringt, der wird angenehm überrascht sein, in einer solchen Lage eine ältere, beschränkte Studienanstalt zu finden, wo auf dem Fundament eines frühern Klosterwesens Lehrstühle späterer Art gegründet worden, wo gute Pfründen einen behaglichen Sitz darbieten, wo alträumliche Gebäude einem anständigen Haushalt, bedeutenden Bibliotheken, ansehnlichen Kabinetten hinreichenden Platz gewähren und eine stille Tätigkeit desto emsiger schriftstellerisch wirken kann, als eine geringe Versammlung von Studierenden nicht jene Hast der Überlieferung fordert, die uns auf besuchten Akademien nur übertäubt.
Das Personal der Lehrer war auf alle Weise bedeutend; ich darf nur die Namen Henke, Pott, Lichtenstein, Crell, Bruns und Bredow nennen, so weiß jedermann den damaligen Zirkel zu schätzen, in welchem die Reisenden sich befanden. Gründliche Gelehrsamkeit, willige Mitteilungen, durch immer nachwachsende Jugend erhaltene Heiterkeit des Umgangs, frohe Behaglichkeit bei ernsten und zweckmäßigen Beschäftigungen, das alles wirkte so schon ineinander, wozu noch die Frauen mitwirkten, ältere durch gastfreie Häuslichkeit, jüngere Gattinnen mit Anmut, Töchter in aller Liebenswürdigkeit, sämtlich nur einer allgemeinen einzigen Familie anzugehören scheinend. Eben die großen Räume altherkömmlicher Häuser erlaubten zahlreiche Gastmahle und die besuchtesten Feste.
Bei einem derselben zeigte sich auch der Unterschied zwischen mir und meinem Freunde. Am Ende einer reichlichen Abendtafel hatte man uns beiden zwei schön geflochtene Kränze zugedacht; ich hatte dem schönen Kinde, das mir ihn aufsetzte, mit einem lebhaft erwiderten Kuß gedankt und mich eitel genug gefreut, als ich in ihren Augen das Bekenntnis zu lesen schien, daß ich ihr so geschmückt nicht mißfalle. Indessen sträubte sich mir gegenüber der eigensinnige Gast gegen seine lebensmutige Gönnerin gar widerspenstig, und wenn auch der Kranz unter solchem Ziehen und Zerren nicht ganz entstellt wurde, so mußte doch das liebe Kind sich einigermaßen beschämt zurückziehen, daß sie ihn nicht losgeworden war.
Über so vieles Anmutige hätten wir nun fast den Zweck vergessen können, der uns eigentlich hieher geführt hatte; allein Beireis belebte durch seine heitere Gegenwart jedes Fest. Nicht groß, wohl und beweglich gebaut, konnte man eben die Legenden seiner Fechterkünste gelten lassen; eine unglaublich hohe und gewölbte Stirn, ganz in Mißverhältnis der untern, fein zusammengezogenen Teile, deutete auf einen Mann von besondern Geisteskräften, und in so hohen Jahren konnt er sich fürwahr einer besonders muntern und ungeheuchelten Tätigkeit erfreuen.
In Gesellschaften, besonders aber bei Tische, gab er seiner Galanterie die ganz eigene Wendung, daß er sich als ehemaliger Verehrer der Mutter, als jetziger Freier der Tochter oder Nichte ungezwungen darzustellen wußte, und man ließ sich dieses oft wiederholte Märchen gern gefallen, weil zwar niemand auf den Besitz seiner Hand, wohl aber mancher gern auf einen Anteil an seinem Nachlaß Anspruch gemacht hätte.
Angemeldet wie wir waren, bot er uns alle Gastfreundschaft an: Eine Aufnahme in sein Haus lehnten wir ab, dankbar aber ließen wir uns einen großen Teil des Tags bei ihm unter seinen Merkwürdigkeiten gefallen.
Gar manches von seinen früheren Besitzungen, das sich dem Namen und dem Ruhme nach noch lebendig erhalten hatte, war in den jämmerlichsten Umständen; die Vaucansonischen Automaten fanden wir durchaus paralysiert. In einem alten Gartenhause saß der Flötenspieler in sehr unscheinbaren Kleidern; aber er flötete nicht mehr, und Beireis zeigte die ursprüngliche Walze vor, deren erste einfache Stückchen ihm nicht genügt hatten. Dagegen ließ er eine zweite Walze sehen, die er von jahrelang im Hause unterhaltenen Orgelkünstlern unternehmen lassen, welche aber, da jene zu früh geschieden, nicht vollendet noch an die Stelle gesetzt werden können, weshalb denn der Flötenspieler gleich anfangs verstummte. Die Ente, unbefiedert, stand als Gerippe da, fraß den Haber noch ganz munter, verdaute jedoch nicht mehr. An allem dem ward er aber keineswegs irre, sondern sprach von diesen veralteten, halbzerstörten Dingen mit solchem Behagen und so wichtigem Ausdruck, als wenn seit jener Zeit die höhere Mechanik nichts frisches Bedeutenderes hervorgebracht hätte.
In einem großen Saale, der Naturgeschichte gewidmet, wurde gleichfalls die Bemerkung rege, daß alles, was sich selbst erhält, bei ihm gut aufgehoben sei. So zeigte er einen sehr kleinen Magnetstein vor, der ein großes Gewicht trug, einen echten Prehniten vom Kap von größter Schönheit und sonstige Mineralien in vorzüglichen Exemplaren.
Aber eine in der Mitte des Saals gedrängt stehende Reihe ausgestopfter Vögel zerfielen unmittelbar durch Mottenfraß so daß Gewürm und Federn auf den Gestellen selbst aufgehäuft lagen. Er bemerkte dies auch und versicherte, es sei eine Kriegslist: denn alle Motten des Hauses zögen sich hieher, und die übrigen Zimmer blieben von diesem Geschmeiße rein. In geordneter Folge kamen denn nach und nach die sieben Wunder von Helmstedt zutage, die Lieberkühnischen Präparate sowie die Hahnische Rechenmaschine. Von jenen wurden einige wirklich bewundernswürdige Beispiele vorgewiesen, an dieser komplizierte Exempel einiger Spezies durchgeführt. Das magische Orakel jedoch war verstummt; Beireis hatte geschworen, die gehorsame Uhr nicht wieder aufzuziehn, die auf seine, des Entferntstehenden, Befehle bald stillhielt, bald fortging. Ein Offizier, den man wegen Erzählung solcher Wunder Lügen gestraft, sei im Duell erstochen worden, und seit der Zeit habe er sich fest vorgenommen, seine Bewunderer nie solcher Gefahr wieder auszusetzen noch die Ungläubigen zu so übereilten Greueltaten zu veranlassen.
Nach dem bisher Erzählten darf man nun wohl sich einige Bemerkungen erlauben. Beireis, im Jahre 1730 geboren, fühlte sich als trefflicher Kopf eines weit umfassenden Wissens fähig und zu vielseitiger Ausübung geschickt. Den Anregungen seiner Zeit zufolge bildete er sich zum Polyhistor; seine Tätigkeit widmete er der Heilkunde, aber bei dem glücklichsten, alles festhaltenden Gedächtnis konnte er sich anmaßen, in den sämtlichen Fakultäten zu Hause zu sein, jeden Lehrstuhl mit Ehre zu betreten. Seine Unterschrift in meines Sohnes Stammbuch lautet folgendermaßen:
Godofredus Christophorus Beireis,
Primarius Professor Medicinae, Chemiae, Chirurgiae, Pharmaceutices, Physices, Botanices et reliquae Historiae naturalis.
Helmstadii a. d. XVII Augusti MDCCCV.
Aus dem bisher Vorgezeigten jedoch ließ sich einsehen, daß seine Sammlungen, dem naturhistorischen Teile nach, einen eigentlichen Zweck haben konnten, daß hingegen das, worauf er den meisten Wert legte, eigentlich Kuriositäten waren, die durch den hohen Kaufpreis Aufmerksamkeit und Bewunderung erregen sollten; wobei denn nicht vergessen wurde, daß bei Ankauf desselben Kaiser und Könige überboten worden.
Dem sei nun, wie ihm wolle, ansehnliche Summen mußten ihm zu Gebote stehn; denn er hatte, wie man wohl bemerken konnte, ebensosehr eine gelegene Zeit zu solchen Ankäufen abgewartet als auch, mehr denn andere vielleicht, sich sogleich zahlungsfähig erwiesen. Obgenannte Gegenstände zeigte er zwar mit Anteil und Behagen umständlich vor, allein die Freude daran schien selbst gewissermaßen nur historisch zu sein; wo er sich aber lebhaft, leidenschaftlich überredend und zudringlich bewies, war bei Vorzeigen seiner Gemälde, seiner neuesten Liebhaberei, in die er sich ohne die mindeste Kenntnis eingelassen hatte. Bis ins Unbegreifliche ging der Grad, womit er sich hierüber getäuscht hatte oder uns zu täuschen suchte, da er denn doch auch vor allen Dingen gewisse Kuriosa vorzustellen pflegte. Hier war ein Christus, bei dessen Anblick ein Göttinger Professor in den bittersten Tränenguß sollte ausgebrochen sein, sogleich darauf ein von einer englischen Dogge angebelltes, natürlich genug gemaltes Brot auf dem Tische der Jünger zu Emmaus, ein anderes aus dem Feuer wunderwürdig gerettetes Heiligenbild, und was dergleichen mehr sein mochte.
Die Art, seine Bilder vorzuweisen, war seltsam genug und schien gewissermaßen absichtlich; sie hingen nämlich nicht etwa an den hellen, breiten Wänden seiner oberen Stockwerke wohlgenießbar nebeneinander, sie standen vielmehr in seinem Schlafzimmer um das große Thronhimmelbette, an den Wänden geschichtet, übereinander, von wo er, alle Hülfleistung ablehnend, sie selbst herholte und dahin wieder zurückbrachte. Einiges blieb in dem Zimmer um die Beschauer herumgestellt, immer enger und enger zog sich der Kreis zusammen, so daß freilich die Ungeduld unseres Reisegefährten, allzustark erregt, plötzlich ausbrach und sein Entfernen veranlaßte.
Es war mir wirklich angenehm, denn solche Qualen der Unvernunft ertragen sich leichter allein als in Gesellschaft eines einsichtigen Freundes, wo man bei gesteigertem Unwillen jeden Augenblick einen Ausbruch von einer oder der andern Seite befürchten muß.
Und wirklich war es auch zu stark, was Beireis seinen Gästen zumutete; er wußte sich nämlich damit am meisten, daß er von den größten namhaften Künstlern drei Stücke besitze, von der ersten, zweiten und letzten Manier, und wie er sie vorstellte und vortrug, war jede Art von Fassung, die dem Menschen zu Gebot stehen soll, kaum hinreichend, denn die Szene war lächerlich und ärgerlich, beleidigend und wahnsinnig zugleich.
Die ersten Lehrlingsproben eines Raffael, Tizian, Carracci, Correggio, Dominichin, Guido und von wem nicht sonst waren nichts weiter als schwache, von mäßigen Künstlern gefertigte, auch wohl kopierte Bilder. Hier verlangte er nun jederzeit Nachsicht gegen dergleichen Anfänge, rühmte aber mit Bewunderung in den folgenden die außerordentlichsten Fort schritte. Unter solchen der zweiten Epoche zugeschriebenen fand sich wohl manches Gute, aber von dem Namen, dem es zugeeignet worden, sowohl dem Talent als der Zeit nach himmelweit entfernt. Ebenso verhielt es sich mit den letzten, wo denn auch die leersten Phrasen, deren anmaßliche Unkenner sich bedienen, gar wohlgefällig vom Munde flossen.
Zum Beweis der Echtheit solcher und anderer Bilder zeigte er die Auktionskatalogen vor und freute sich der gedruckten Lobpreisung jeder von ihm erstandenen Nummer. Darunter befanden sich zwar echte, aber stark restaurierte Originale; genug, an irgendeine Art von Kritik war bei diesem sonst werten und würdigen Manne gar nicht zu denken.
Hatte man nun die meiste Zeit alle Geduld und Zurückhaltung nötig, so ward man denn doch mitunter durch den Anblick trefflicher Bilder getröstet und belohnt.
Unschätzbar hielt ich Albrecht Dürers Porträt, von ihm selbst gemalt, mit der Jahrzahl 1493, also in seinem zweiundzwanzigsten Jahre, halbe Lebensgröße, Bruststück, zwei Hände, die Ellenbogen abgestutzt, purpurrotes Mützchen mit kurzen, schmalen Nesteln, Hals bis unter die Schlüsselbeine bloß, am Hemde gestickter Obersaum, die Falten der Ärmel mit pfirsichroten Bändern unterbunden, blaugrauer, mit gelben Schnüren verbrämter Überwurf, wie sich ein feiner Jüngling gar zierlich herausgeputzt hätte, in der Hand bedeutsam ein blaublühendes Eryngium, im Deutschen Mannstreue genannt, ein ernstes Jünglingsgesicht, keimende Barthaare um Mund und Kinn, das Ganze herrlich gezeichnet, reich und unschuldig, harmonisch in seinen Teilen, von der höchsten Ausführung, vollkommen Dürers würdig, obgleich mit sehr dünner Farbe gemalt, die sich an einigen Stellen zusammengezogen hatte.
Dieses preiswürdige, durchaus unschätzbare Bild, das ein wahrer Kunstfreund, im goldenen Rahmen eingefaßt, im schönsten Schränkchen aufbewahrt hätte, ließ er, das auf ein dünnes Brett gemalte, ohne irgendeinen Rahmen und Verwahrung. Jeden Augenblick sich zu spalten drohend, ward es unvorsichtiger als jedes andere hervorgeholt, auf- und wieder beiseite gestellt, nicht weniger die dringende Teilnahme des Gastes, die um Schonung und Sicherung eines solchen Kleinods flehte, gleichgültig abgelehnt; er schien sich wie Hofrat Büttner in einem herkömmlichen Unwesen eigensinnig zu gefallen.
Ferner gedenk ich eines geistreich frei gemalten Bildes von Rubens, länglich, nicht allzu groß, wie er sich’s für solche ausgeführte Skizzen liebte. Eine Hökenfrau, sitzend in der Fülle eines wohlversorgten Gemüskrams, Kohlhäupter und Salat aller Arten, Wurzeln, Zwiebeln aller Farben und Gestalten; sie ist eben im Handel mit einer stattlichen Bürgersfrau begriffen, deren behagliche Würde sich gar gut ausnimmt neben dem ruhig anbietenden Wesen der Verkäuferin, hinter welcher ein Knabe, soeben im Begriff, einiges Obst zu stehlen, von ihrer Magd mit einem unvorgesehenen Schlag bedroht wird. An der andern Seite, hinter der angesehenen Bürgersfrau, sieht man ihre Magd einen wohlgeflochtenen, mit Marktwaren schon einigermaßen versehenen Korb tragen, aber auch sie ist nicht müßig, sie blickt nach einem Burschen und scheint dessen Fingerzeig mit einem freundlichen Blick zu erwidern. Besser gedacht und meisterhafter ausgeführt war nicht leicht etwas zu schauen, und hätten wir nicht unsere jährlichen Ausstellungen abzuschließen festgestellt, so würden wir diesen Gegenstand, wie er hier beschrieben ist, als Preisaufgabe gesetzt haben, um die Künstler kennenzulernen, die, von der überhandnehmenden Verirrung auf Goldgrund noch unangesteckt, ins derbe, frische Leben Blick und Talent zu wenden geneigt wären.
Im kunstgeschichtlichen Sinne hatte denn auch Beireis bei Aufhebung der Klöster mehr als ein bedeutendes Bild gewonnen; ich betrachtete sie mit Anteil und bemerkte manches in mein Taschenbuch. Hier find ich nun verzeichnet, daß außer dem ersten vorgewiesenen, welches für echt byzantinisch zu halten wäre, die übrigen alle ins funfzehnte, vielleicht ins sechzehnte Jahrhundert fallen möchten. Zu einer genaueren Würdigung mangelte es mir an durchgreifender Kenntnis, und bei einigem, was ich allenfalls noch hätte näher bestimmen können, brachte mich Zeitrechnung und Nomenklatur unseres wunderlichen Sammlers Schritt vor Schritt aus der Richte.
Denn er wollte nun ein für allemal, wie persönlich, so auch in seinen Besitzungen, einzig sein, und wie er jenes erste byzantinische Stück dem vierten Jahrhundert zuschrieb, so wies er ferner eine ununterbrochene Reihe aus dem fünften, sechsten usw. bis ins funfzehnte mit einer Sicherheit und Überzeugung vor, daß einem die Gedanken vergingen, wie es zu geschehen pflegt, wenn uns das handgreiflich Unwahre als etwas, das sich von selbst versteht, zutraulich vorgesprochen wird, wo man denn weder den Selbstbetrug noch die Unverschämtheit in solchem Grade für möglich hält.
Ein solches Beschauen und Betrachten ward sodann durch festliche Gastmahle gar angenehm unterbrochen. Hier spielte der seltsame Mann seine jugendliche Rolle mit Behagen fort, er scherzte mit den Müttern, als wenn sie ihm auch wohl früher hätten geneigt sein mögen, mit den Töchtern, als wenn er im Begriff wäre, ihnen seine Hand anzubieten. Niemand erwiderte dergleichen Äußerungen und Anträge mit irgendeinem Befremden, selbst die geistreichen männlichen Glieder der Gesellschaft behandelten seine Torheiten mit einiger Achtung, und aus allem ging hervor, daß sein Haus, seine Natur- und Kunstschätze, seine Barschaften und Kapitalien, sein Reichtum, wirklich oder durch Großtun gesteigert, vielen ins Auge stach, weshalb denn die Achtung für seine Verdienste auch seinen Seltsamkeiten das Wort zu reden schien.
Und gewiß, es war niemand geschickter und gewandter, Erbschleicherei zu erzeugen, als er, ja es schien Maxime zu sein, sich dadurch eine neue, künstliche Familie und die unfromme Pietät einer Anzahl Menschen zu verschaffen.
In seinem Schlafzimmer hing das Bild eines jungen Mannes, von der Art, wie man Hunderte sieht, nicht ausgezeichnet, weder anziehend noch abstoßend; diesen ließ er seine Gäste gewöhnlich beschauen und bejammerte dabei das Ereignis, daß dieser junge Mann, an den er vieles gewendet, dem er sein ganzes Vermögen zugedacht, sich gegen ihn untreu und undankbar bewiesen, daß er ihn habe müssen fahrenlassen und nun vergebens nach einem zweiten sich umsehe, mit dem er ein gleiches und glücklicheres Verhältnis anknüpfen könne.
In diesem Vortrag war irgend etwas Schelmisches; denn wie jeder bei Erblickung eines Lotterieplans das Große Los auf sich bezieht, so schien auch jedem Zuhörer, wenigstens in dem Augenblick, ein Hofinungsgestirn zu leuchten; ja ich habe kluge Menschen gekannt, die sich eine Zeitlang von diesem Irrlicht nachziehen ließen.
Den größten Teil des Tages brachten wir bei ihm zu, und abends bewirtete er uns auf chinesischem Porzellan und Silber mit fetter Schafmilch, die er als höchst gesunde Nahrung pries und aufnötigte. Hatte man dieser ungewohnten Speise erst einigen Geschmack abgewonnen, so ist nicht zu leugnen, daß man sie gern genoß und sie auch wohl als gesund ansprechen durfte.
Und so besah man denn auch seine ältern Sammlungen, zu deren glücklichem Beischaffen historische Kenntnis genügt, ohne Geschmack zu verlangen. Die goldenen Münzen römischer Kaiser und ihrer Familien hatte er aufs vollständigste zusammengebracht, welches er durch die Katalogen des Pariser und gothaischen Kabinetts eifrig zu belegen und dabei zugleich sein Übergewicht durch mehrere dort fehlende Exemplare zu bezeugen wußte. Was jedoch an dieser Sammlung am höchsten zu bewundern, war die Vollkommenheit der Abdrücke, welche sämtlich, als kämen sie aus der Münze, vorlagen. Diese Bemerkung nahm er wohl auf und versicherte, daß er die einzelnen erst nach und nach eingetauscht und mit schwerer Zubuße zuletzt erhalten und doch noch immer von Glück zu sagen habe.
Brachte nun der geschäftige Besitzer aus einem nebenstehenden Schrank neue Schieber zum Anschauen, so ward man sogleich der Zeit und dem Ort nach anderswohin versetzt. Sehr schöne Silbermünzen griechischer Städte lagen vor, die, weil sie lange genug in feuchter, verschlossener Luft aufbewahrt worden, die wohlerhaltenen Gepräge mit einem bläulichen Anhauch darwiesen. Ebensowenig fehlte es sodann an goldenen Rosenoblen, päpstlichen älteren Münzen, an Brakteaten, verfänglichen satyrischen Geprägen und was man nur merkwürdig Seltsames bei einer so zahlreichen altherkömmlichen Sammlung erwarten konnte.
Nun war aber nicht zu leugnen, daß er in diesem Fache unterrichtet und in gewissem Sinne ein Kenner war: denn er hatte ja schon in früheren Jahren eine kleine Abhandlung, wie echte und falsche Münzen zu unterscheiden seien, herausgegeben. Indessen scheint er auch hier wie in andern Dingen sich einige Willkür vorbehalten zu haben, denn er behauptete, hartnäckig und über alle Münzkenner triumphierend, die goldnen Lysimachen seien durchaus falsch, und behandelte deshalb einige vorliegende schöne Exemplare höchst verächtlich. Auch dieses ließen wir, wie manches andere, hingehen und ergötzten uns mit Belehrung an diesen wirklich seltenen Schätzen.
Neben allen diesen Merkwürdigkeiten, zwischen so vieler Zeit, die uns Beireis widmete, trat immer zugleich seine ärztliche Tätigkeit hervor; bald war er morgens früh schon vom Lande, wo er eine Bauersfrau entbunden, zurückgekehrt, bald hatten ihn verwickelte Konsultationen beschäftigt und festgehalten.
Wie er nun aber zu solchen Geschäften Tag und Nacht bereit sein könne und sie doch mit immer gleicher äußerer Würde zu vollbringen imstande sei, machte er auf seine Frisur aufmerksam; er trug nämlich rollenartige Locken, länglich, mit Nadeln gesteckt, fest gepicht über beiden Ohren. Das Vorderhaupt war mit einem Toupet geschmückt, alles fest, glatt und tüchtig gepudert. Auf diese Weise, sagte er, lasse er sich alle Abend frisieren, lege sich, die Haare festgebunden, zu Bette, und welche Stunde er denn auch zu einem Kranken gerufen werde, erscheine er doch so anständig, eben als wie er in jede Gesellschaft komme. Und es ist wahr, man sah ihn in seiner hellblaugrauen vollständigen Kleidung, in schwarzen Strümpfen und Schuhen mit großen Schnallen überall ein wie das andere Mal.
Während solcher belebten Unterhaltung und fortdauernder Zerstreuung hatte er eigentlich von unglaublichen Dingen noch wenig vorgebracht; allein in der Folge konnte er nicht ganz unterlassen, die Litanei seiner Legenden nach und nach mitzuteilen Als er uns nun eines Tags mit einem ganz wohlbestellten Gastmahle bewirtete, so mußte man eine reichliche Schüssel besonders großer Krebse in einer so bach- und wasserarmen Gegend höchst merkwürdig finden; worauf er denn versicherte, sein Fischkasten dürfe niemals ohne dergleichen Vorrat gefunden werden: er sei diesen Geschöpfen so viel schuldig, er achte den Genuß derselben für so heilsam, daß er sie nicht nur als schmackhaftes Gericht für werte Gäste, sondern als das wirksamste Arzeneimittel in äußersten Fällen immerfort bereithalte. Nun aber schritt er zu einigen geheimnisvollen Einleitungen, er sprach von gänzlicher Erschöpfung, in die er sich durch ununterbrochene, höchst wichtige, aber auch höchst gefährliche Arbeit versetzt gesehen, und wollte dadurch den schwierigen Prozeß der höchsten Wissenschaft verstanden wissen.
In einem solchen Zustande habe er nun ohne Bewußtsein, in letzten Zügen, hoffnungslos dagelegen, als ein junger, ihm herzlich verbundener Schüler und Wärter, durch inspirationsmäßigen Instinkt angetrieben, eine Schüssel großer gesottener Krebse seinem Herrn und Meister dargebracht und davon genugsam zu sich zu nehmen genötigt; worauf denn dieser wundersam ins Leben zurückgekehrt und die hohe Verehrung für dieses Gericht behalten habe.
Schalkhafte Freunde behaupteten, Beireis habe sonst auch wohl gelegentlich zu verstehen gegeben, er wüßte durch das Universale ausgesuchte Maikäfer in junge Krebse zu verwandeln, die er denn auch nachher durch besondere spagirische Nahrung zu merkwürdiger Größe heraufzufüttern verstehe. Wir hielten dies wie billig für eine im Geist und Geschmack des alten Wundertäters erfundene Legende, dergleichen mehr auf seine Rechnung herumgehen und die er, wie ja wohl Taschenspieler und sonstige Thaumaturgen auch geraten finden, keineswegs abzuleugnen geneigt war.
Hofrat Beireisens ärztliches Ansehen war in der ganzen Gegend wohl gegründet, wie ihn denn auch die gräflich Veltheimische Familie zu Harbke als Hausarzt willkommen hieß, in die er uns daher einzuführen sich sogleich geneigt erklärte. Angemeldet traten wir dort ein; stattliche Wirtschaftsgebäude bildeten vor dem hohen, ältlichen Schlosse einen geräumigen Gutshof. Der Graf hieß uns willkommen und freute sich, an mir einen alten Freund seines Vaters kennenzulernen, denn mit diesem hatte uns andere durch mehrere Jahre das Studium des Bergwesens verbunden, nur daß er versuchte, seine Naturkenntnisse zu Aufklärung problematischer Stellen alter Autoren zu benutzen. Mochte man ihn bei diesem Geschäft auch allzu großer Kühnheit beschuldigen, so konnte man ihm einen geistreichen Scharfsinn nicht absprechen.
Gegen den Garten hin war das altertümlich aufgeschmückte, ansehnliche Schloß vorzüglich schön gelegen. Unmittelbar aus demselben trat man auf ebene, reinliche Flächen, woran sich sanft aufsteigende, von Büschen und Bäumen überschattete Hügel anschlossen. Bequeme Wege führten sodann aufwärts zu heiteren Aussichten gegen benachbarte Höhen, und man ward mit dem weiten Umkreis der Herrschaft, besonders auch mit den wohlbestandenen Wäldern, immer mehr bekannt. Den Großvater des Grafen hatte vor funfzig Jahren die Forstkultur ernstlich beschäftigt, wobei er denn nordamerikanische Gewächse der deutschen Landesart anzueignen trachtete. Nun führte man uns in einen wohlbestandenen Wald von Weymouthskiefern, ansehnlich stark und hoch gewachsen, in deren stattlichem Bezirk wir uns, wie sonst in den Forsten des Thüringer Waldes, auf Moos gelagert, an einem guten Frühstück erquickten und besonders an der regelmäßigen Pflanzung ergötzten. Denn dieser großväterliche Forst zeigte noch die Absichtlichkeit der ersten Anlage, indem die sämtlichen Bäume, reihenweis gestellt, sich überall ins Gevierte sehen lieben. Ebenso konnte man in jeder Forstabteilung bei jeder Baumgattung die Absicht des vorsorgenden Ahnherrn gar deutlich wahrnehmen.
Die junge Gräfin, soeben ihrer Entbindung nahe, blieb leider unsichtbar, da wir von ihrer gerühmten Schönheit selbst doch gern Zeugnis abgelegt hätten. Indessen wußten wir uns mit ihrer Frau Mutter, einer verwittibten Frau von Lauterbach aus Frankfurt am Main, von alten reichstädtischen Familienverhältnissen angenehm zu unterhalten.
Die beste Bewirtung, der anmutigste Umgang, belehrendes Gespräch, worin uns nach und nach die Vorteile einer so großen Besitzung im einzelnen deutlicher wurden, besonders da hier soviel für die Untertanen geschehen war, erregten den stillen Wunsch, länger zu verweilen, dem denn eine freundlich dringende Einladung unverhofft entgegenkam. Aber unser teurer Gefährte, der fürtreffliche Wolf, der hier für seine Neigung keine Unterhaltung fand und desto eher und heftiger von seiner gewöhnlichen Ungeduld ergriffen ward, verlangte so dringend, wieder in Helmstedt zu sein, daß wir uns entschließen mußten, aus einem so angenehmen Kreise zu scheiden; doch sollte sich bei unserer Trennung noch ein wechselseitiges Verhältnis entwickeln. Der freundliche Wirt verehrte aus seinen fossilen Schätzen einen köstlichen Enkriniten meinem Sohn, und wir glaubten kaum etwas Gleichgefälliges erwidern zu können, als ein forstmännisches Problem zur Sprache kam. Im Ettersberg nämlich bei Weimar solle, nach Ausweis eines beliebten Journals, eine Buche gefunden werden, welche sich in Gestalt und sonstigen Eigenschaften offenbar der Eiche nähere. Der Graf, mit angeerbter Neigung zur Forstkultur, wünschte davon eingelegte Zweige, und was sonst noch zu genauerer Kenntnis beitragen könne, besonders aber wo möglich einige lebendige Pflanzen. In der Folge waren wir so glücklich, dies Gewünschte zu verschaffen, unser Versprechen wirklich halten zu können, und hatten das Vergnügen, von dem zweideutigen Baume lebendige Abkömmlinge zu übersenden, auch nach Jahren von dem Gedeihen derselben erfreuliche Nachricht zu vernehmen.
Auf dem Rückwege nun wie auf dem Hinwege hatten wir denn mancherlei von des alten uns geleitenden Zauberers Großtaten zu hören. Nun vernahmen wir aus dessen Munde, was uns schon aus seinen frühern Tagen durch Überlieferung zugekommen war; doch genau besehen fand sich in der Legende dieses Heiligen eine merkliche Monotonie. Als Knabe jugendlich mutiger Entschluß, als Schüler rasche Selbstverteidigung; akademische Händel, Rapierfertigkeit, kunstmäßige Geschicklichkeit im Reiten und sonstige körperliche Vorzüge, Mut und Gewandtheit, Kraft und Ausdauer, Beständigkeit und Tatlust; alles dieses lag rückwärts in dunklen Zeiten; dreijährige Reisen blieben geheimnisvoll und sonst noch manches im Vortrag, gewiß aber in der Erörterung unbestimmt.
Weil jedoch das auffallende Resultat seines Lebensganges ein unübersehlicher Besitz von Kostbarkeiten, ein unschätzbarer Geldreichtum zu sein schien, so konnte es ihm an Gläubigen, an Verehrern gar nicht fehlen. Jene beiden sind eine Art von Hausgöttern, nach welchen die Menge andächtig und gierig die Augen wendet. Ist nun ein solcher Besitz nicht etwa ererbt und offenbaren Herkommens, sondern im Geheimnis selbst erworben, so gibt man im Dunkeln alles übrige Wunderbare zu, man läßt ihn sein märchenhaftes Wesen treiben: denn eine Masse gemünztes Gold und Silber verleiht selbst dem Unwahren Ansehen und Gewicht; man läßt die Lüge gelten, indem man die Barschaft beneidet.
Die möglichen oder wahrscheinlichen Mittel, wie Beireis zu solchen Gütern gelangt, werden einstimmig und einfach angegeben. Er solle eine Farbe erfunden haben, die sich an die Stelle der Cochenille setzen konnte; er solle vorteilhaftere Gärungsprozesse als die damals bekannten an Fabrikherren mitgeteilt haben. Wer in der Geschichte der Chemie bewandert ist, wird beurteilen, ob in der Hälfte des vorigen Jahrhunderts dergleichen Rezepte umherschleichen konnten, er wird wissen, inwiefern sie in der neuern Zeit offenbar und allgemein bekannt geworden. Sollte Beireis z.B. nicht etwa zeitig auf die Veredlung des Krapps gekommen sein?
Nach allem diesem aber ist das sittliche Element zu bedenken, worin und worauf er gewirkt hat, ich meine die Zeit, den eigentlichen Sinn, das Bedürfnis derselben. Die Kommunikation der Weltbürger ging noch nicht so schnell wie gegenwärtig; noch konnte jemand, der an entfernten Orten, wie Swedenborg, oder auf einer beschränkten Universität, wie Beireis, seinen Aufenthalt nahm, immer die beste Gelegenheit finden, sich in geheimnisvolles Dunkel zu hüllen, Geister zu berufen und am Stein der Weisen zu arbeiten. Haben wir nicht in den neuern Tagen Cagliostro gesehen, wie er, große Räume eilig durchstreifend, wechselsweise im Süden, Norden, Westen seine Taschenspielereien treiben und überall Anhänger finden konnte? Ist es denn zuviel gesagt, daß ein gewisser Aberglaube an dämonische Menschen niemals aufhören, ja daß zu jeder Zeit sich immer ein Lokal finden wird, wo das problematisch Wahre, vor dem wir in der Theorie allein Respekt haben, sich in der Ausübung mit der Lüge auf das allerbequemste begatten kann?
Länger, als wir gedacht, hatte uns die anmutige Gesellschaft in Helmstedt aufgehalten. Hofrat Beireis betrug sich in jedem Sinne wohlwollend und mitteilend, doch von seinem Hauptschatz, dem Diamanten, hatte er noch nicht gesprochen, geschweige denselben vorgewiesen. Niemand der Helmstedter Akademieverwandten hatte denselben gesehen, und ein oft wiederholtes Märchen, daß dieser unschätzbare Stein nicht am Orte sei, diente ihm, wie wir hörten, auch gegen Fremde zur Entschuldigung. Er pflegte nämlich scheinbar vertraulich zu äußern, daß er zwölf vollkommen gleiche versiegelte Kästchen eingerichtet habe, in deren einem der Edelstein befindlich sei. Diese zwölf Kästchen nun verteile er an auswärtige Freunde, deren jeder einen Schatz zu besitzen glaube; er aber wisse nur allein, wo er befindlich sei. Daher mußten wir befürchten, daß er auf Anfragen dieses Naturwunder gleichfalls verleugnen werde. Glücklicherweise jedoch kurz vor unserm Abschiede begegnete folgendes.
Eines Morgens zeigte er in einem Bande der Reise Tourneforts die Abbildung einiger natürlichen Diamanten, die sich in Eiform mit teilweiser Abweichung ins Nieren- und Zitzenförmige unter den Schätzen der Indier gefunden hatten. Nachdem er uns die Gestalt wohl eingeprägt, brachte er ohne weitere Zeremonien aus der rechten Hosentasche das bedeutende Naturerzeugnis. In der Größe eines mäßigen Gänseeies, war es vollkommen klar, durchsichtig, doch ohne Spur, daß daran geschliffen worden; an der Seite bemerkte man einen schwachen Höcker, einen nierenförmigen Auswuchs, wodurch der Stein jenen Abbildungen vollkommen ähnlich ward.
Mit seiner gewöhnlichen ruhigen Haltung zeigte er darauf einige zweideutige Versuche, welche die Eigenschaften eines Diamanten betätigen sollten: Auf mäßiges Reiben zog der Stein Papierschnitzchen an; die englische Feile schien ihm nichts anzuhaben; doch ging er eilig über diese Beweistümer hinweg und erzählte die oft wiederholte Geschichte: wie er den Stein unter einer Muffel geprüft und über das herrliche Schauspiel der sich entwidkelnden Flamme das Feuer zu mildern und auszulöschen vergessen, so daß der Stein über eine Million Taler an Wert in kurzem verloren habe. Dessenungeachtet aber pries er sich glücklich, daß er ein Feuerwerk gesehen, welches Kaisern und Königen versagt worden.
Indessen er nun sich weitläufig darüber herausließ, hatte ich, chromatischer Prüfungen eingedenk, das Wunderei vor die Augen genommen, um die horizontalen Fensterstäbe dadurch zu betrachten, fand aber die Farbensäume nicht breiter, als ein Bergkristall sie auch gegeben hätte; weshalb ich im stillen wohl einige Zweifel gegen die Echtheit dieses gefeierten Schatzes fernerhin nähren durfte. Und so war denn unser Aufenthalt durch die größte Rodomontade unseres wunderlichen Freundes ganz eigentlich gekrönt.
Bei heitern vertraulichen Unterhaltungen in Helmstedt, wo denn vorzüglich die Beireisischen Eigenheiten zur Sprache kamen, ward auch mehrmals eines höchst wunderlichen Edelmanns gedacht, welchen man, da unser Rückweg über Halberstadt genommen werden sollte, als unfern vom Wege wohnend, auf der Reise gar wohl besuchen und somit die Kenntnis seltsamer Charaktere erweitern könne. Man war zu einer solchen Expedition desto eher geneigt, als der heitere, geistreiche Propst Henke uns dorthin zu begleiten versprach; woraus wenigstens hervorzugehen schien, daß man über die Unarten und Unschicklichkeiten jenes berufenen Mannes noch allenfalls hinauskommen werde.
So saßen wir denn zu vier im Wagen, Propst Henke mit einer langen weißen Tonpfeife, die er, weil ihn jede andere Art zu rauchen anwiderte, sogar im Wagen, selbst, wie er versicherte, auf weiteren Reisen mit besonderer Vorsicht ganz und unzerstückt zu erhalten wußte.
In so froher als belehrender Unterhaltung legten wir den Weg zurück und langten endlich an dem Gute des Mannes an, der, unter dem Namen des Tollen Hagen weit und breit bekannt, wie eine Art von gefährlichem Zyklopen auf einer schönen Besitzung hauste. Der Empfang war schon charakteristisch genug. Er machte uns aufmerksam auf das an tüchtigem Schmiedewerk hangende Schild seines neuerbauten Gasthofes, das den Gästen zur Lockung dienen sollte. Wir waren jedoch nicht wenig verwundert, hier von einem nicht ungeschickten Künstler ein Bild ausgeführt zu sehen, welches das Gegenstück jenes Schildes vorstellt, an welchem der »Reisende in das südliche Frankreich« sich so umständlich ergeht und ergötzt; man sah auch hier ein Wirtshaus mit dem bedenklichen Zeichen und umstehende Betrachter vorgestellt.
Ein solcher Empfang ließ uns freilich das Schlimmste vermuten, und ich ward aufmerksamer, indem mich die Ahnung anflog, als hätten die werten neuen Freunde nach dem edlen Helmstedter Drama uns zu diesem Abenteuer beredet, um uns als Mitspieler in einer leidigen Satyrposse verwickelt zu sehen. Sollten sie nicht, wenn wir diesen Jokus unwillig aufnähmen, sich mit einer stillen Schadenfreude kitzeln?
Doch ich verscheuchte solchen Argwohn, als wir das ganz ansehnliche Gehöfte betraten. Die Wirtschaftsgebäude befanden sich im besten Zustand, die Höfe in zweckmäßiger Ordnung, obgleich ohne Spur irgendeiner ästhetischen Absicht. Des Herren gelegentliche Behandlung der Wirtschaftsleute mußte man rauh und hart nennen, aber ein guter Humor, der durchblickte, machte sie erträglich, auch schienen die guten Leute an diese Weise schon so gewöhnt zu sein, da sie ganz ruhig, als hätte man sie sanft angesprochen, ihrem Geschäft weiter oblagen.
In dem großen, reinlichen, hellen Tafelzimmer fanden wir die Hausfrau, eine schlanke, wohlgebildete Dame, die sich aber in stummer Leidensgestalt ganz unteilnehmend erwies und uns die schwere Duldung, die sie zu übertragen hatte, unmittelbar zu erkennen gab. Ferner zwei Kinder, ein preußischer Fähndrich auf Urlaub und eine Tochter aus der braunschweigischen Pension, zum Besuche da, beide noch nicht zwanzig, stumm wie die Mutter, mit einer Art von Verwunderung dreinsehend, wenn die Blicke jener ein vielfaches Leiden aussprachen.
Die Unterhaltung war sogleich einigermaßen soldatisch derb; der Burgunder, von Braunschweig bezogen, ganz vortrefflich; die Hausfrau machte sich durch eine so wohlbediente als wohlbestellte Tafel Ehre. Daher wäre denn bis jetzt alles ganz leidlich gegangen, nur durfte man sich nicht weit umsehen, ohne das Faunenohr zu erblicken, das durch die häusliche Zucht eines wohlhabenden Landedelmanns durchstach. In den Ecken des Saales standen saubere Abgüsse des Apollin und ähnlicher Statuen, wunderlich aber sah man sie aufgeputzt: denn er hatte sie mit Manschetten, von seinen abgelegten, wie mit Feigenblättern der guten Gesellschaft zu akkommodieren geglaubt. Ein solcher Anblick gab nur um so mehr Apprehension, da man versichert sein kann, daß ein Abgeschmacktes gewiß auf ein anderes hindeutet, und so fand sich’s auch. Das Gespräch war noch immer mit einiger Mäßigung, wenigstens von unserer Seite, geführt, aber doch auf alle Fälle in Gegenwart der heranwachsenden Kinder unschicklich genug. Als man sie aber während des Nachtisches fortgeschickt hatte, stand unser wunderlicher Wirt ganz feierlich auf, nahm die Manschettchen von den Statuen weg und meinte, nun sei es Zeit, sich etwas natürlicher und freier zu benehmen. Wir hatten indessen der bedauernswerten Leidensgestalt unserer Wirtin durch einen Schwank gleichfalls Urlaub verschafft; denn wir bemerkten, worauf unser Wirt ausgehen mochte, indem er noch schmackhafteren Burgunder vorsetzte, dem wir uns nicht abhold bewiesen. Dennoch wurden wir nicht gehindert, nach aufgehobener Tafel einen Spaziergang vorzuschlagen. Dazu wollte er aber keinen Gast zulassen, wenn er nicht vorher einen gewissen Ort besucht hätte. Dieser gehörte freilich auch zum Ganzen. Man fand in einem reinlichen Kabinett einen gepolsterten Großvatersessel und, um zu einem längeren Aufenthalt einzuladen, eine mannigfaltige Unzahl bunter, ringsumher aufgeklebter Kupferstiche satirischen, pasquillantischen, unsauberen Inhalts, neckisch genug. Diese Beispiele genügen wohl, die wunderliche Lage anzudeuten, in der wir uns befanden. Bei eintretender Nacht nötigte er seine bedrängte Hausfrau, einige Lieder nach eigener Wahl zum Flügel zu singen, wodurch sie uns bei gutem Vortrag allerdings Vergnügen machte; zuletzt aber enthielt er sich nicht, sein Mißfallen an solchen faden Gesängen zu bezeugen, mit der Anmaßung, ein tüchtigeres vorzutragen, worauf sich denn die gute Dame gemüßigt sah, eine höchst unschickliche und absurde Strophe mit dem Flügel zu begleiten. Nun fühlte ich, indigniert durch das Widerwärtige, inspiriert durch den Burgunder, es sei Zeit, meine Jugendpferde zu besteigen, auf denen ich mich sonst übermütig gerne herumgetummelt hatte.
Nachdem er auf mein Ersuchen die detestable Strophe noch einige Male wiederholt hatte, versicherte ich ihm, das Gedicht sei vortrefflich, nur müsse er suchen, durch künstlichen Vortrag sich dem köstlichen Inhalt gleichzustellen, ja ihn durch den rechten Ausdruck erst zu erhöhen. Nun war zuvörderst von Forte und Piano die Rede, sodann aber von feineren Abschattierungen, von Akzenten, und so mußte gar zuletzt ein Gegensatz von Lispeln und Ausschrei zur Sprache kommen. Hinter dieser Tollheit lag jedoch eine Art von Didaskalie verborgen, die mir denn auch eine große Mannigfaltigkeit von Forderungen an ihn verschaffte, woran er sich als ein geistreich barocker Mann zu unterhalten schien. Doch suchte er diese lästigen Zumutungen manchmal zu unterbrechen, indem er Burgunder einschenkte und Backwerk anbot. Unser Wolf hatte sich, unendlich gelangweilt, schon zurückgezogen; Abt Henke ging mit seiner langen tönernen Pfeife auf und ab und schüttete den ihm aufgedrungenen Burgunder, seine Zeit ersehend, zum Fenster hin aus, mit der größten Gemütsruhe den Verlauf dieses Unsinnes abzuwarten. Dies aber war kein Geringes: denn ich forderte immer mehr, noch immer einen wunderlicheren Ausdruck von meinem humoristisch gelehrigen Schüler und verwarf zuletzt gegen Mitternacht alles Bisherige. Das sei nur eingelernt, sagte ich, und gar nichts wert. Nun müsse er erst aus eignem Geist und Sinn das Wahre, was bisher verborgen geblieben, selbst erfinden und dadurch mit Dichter und Musiker als Original wetteifern.
Nun war er gewandt genug, um einigermaßen zu gewahren, daß hinter diesen Tollheiten ein gewisser Sinn verborgen sei, ja er schien sich an einem so freventlichen Mißbrauch eigentlich respektabler Lehren zu ergötzen; doch war er indessen selbst müde und sozusagen mürbe geworden, und als ich endlich den Schluß zog, er müsse nun erst der Ruhe pflegen und abwarten, ob ihm nicht vielleicht im Traum eine Aufklärung komme, gab er gerne nach und entließ uns zu Bette.
Den andern Morgen waren wir früh wieder bei der Hand und zur Abreise bereit. Beim Frühstück ging es ganz menschlich zu; es schien, als wolle er uns nicht mit ganz ungünstigen Begriffen entlassen. Als Landrat wußte er vom Zustand und den Angelegenheiten der Provinz sehr treffende, nach seiner Art barocke Rechenschaft zu geben. Wir schieden freundlich und konnten dem nach Helmstedt mit unzerbrochener langen Pfeife zurückkehrenden Freunde für sein Geleit bei diesem bedenklichen Abenteuer nicht genugsam Dank sagen.
Vollkommen friedlich und vernunftgemäß ward uns dagegen ein längerer Aufenthalt in Halberstadt beschert. Schon war vor einigen Jahren der edle Gleim zu seinen frühsten Freunden hinübergegangen; ein Besuch, den ich ihm vor geraumer Zeit abstattete, hatte nur einen dunklen Eindruck zurückgelassen, indem ein dazwischen rauschendes mannigfaltiges Leben mir die Eigenheiten seiner Person und Umgebung beinahe verlöschte. Auch konnte ich, damals wie in der Folge, kein Verhältnis zu ihm gewinnen, aber seine Tätigkeit war mir niemals fremd geworden; ich hörte viel von ihm durch Wieland und Herder, mit denen er immer in Briefwechsel und Bezug blieb.
Diesmal wurden wir in seiner Wohnung von Herrn Körte gar freundlich empfangen; sie deutete auf reinliche Wohlhäbigkeit, auf ein friedliches Leben und stilles, geselliges Behagen. Sein vorübergegangenes Wirken feierten wir an seiner Verlassenschaft; viel ward von ihm erzählt, manches vorgewiesen, und Herr Körte versprach, durch eine ausführliche Lebensbeschreibung und Herausgabe seines Briefwechsels einem jeden Anlaß genug zu verschaffen, auf seine Weise ein so merkwürdiges Individuum sich wieder hervorzurufen.
Dem allgemeinen deutschen Wesen war Gleim durch seine Gedichte am meisten verwandt, worin er als ein vorzüglich liebender und liebenswürdiger Mann erscheint. Seine Poesie, von der technischen Seite besehen, ist rhythmisch, nicht melodisch, weshalb er sich denn auch meistens freier Silbenmaße bedient; und so gewähren Vers und Reim, Brief und Abhandlung, durcheinander verschlungen, den Ausdruck eines gemütlichen Menschenverstandes innerhalb einer wohlgesinnten Beschränkung.
Vor allem aber war uns anziehend der Freundschaftstempel, eine Sammlung von Bildnissen älterer und neuerer Angehörigen. Sie gab ein schönes Zeugnis, wie er die Mitlebenden geschätzt, und uns eine angenehme Rekapitulation so vieler ausgezeichneter Gestalten, eine Erinnerung an die bedeutenden einwohnenden Geister, an die Bezüge dieser Personen untereinander und zu dem werten Manne, der sie meistens eine Zeitlang um sich versammelte und die Scheidenden, die Abwesenden wenigstens im Bilde festzuhalten Sorge trug. Bei solchem Betrachten ward gar manches Bedenken hervorgerufen; nur eines sprech ich aus: Man sah über hundert Poeten und Literatoren, aber unter diesen keinen einzigen Musiker und Komponisten. Wie? Sollte jener Greis, der, seinen Äußerungen nach, nur im Singen zu leben und zu atmen schien, keine Ahnung von dem eigentlichen Gesang gehabt haben? von der Tonkunst, dem wahren Element, woher alle Dichtungen entspringen und wohin sie zurückkehren?
Suchte man nun aber in einen Begriff zusammenzufassen, was uns von dem edlen Manne vorschwebt, so könnte man sagen: Ein leidenschaftliches Wohlwollen lag seinem Charakter zugrunde, das er durch Wort und Tat wirksam zu machen suchte. Durch Rede und Schrift aufmunternd, ein allgemeines, rein menschliches Gefühl zu verbreiten bemüht, zeigte er sich als Freund von jedermann, hülfreich dem Darbenden, armer Jugend aber besonders förderlich. Ihm, als gutem Haushalter, scheint Wohltätigkeit die einzige Liebhaberei gewesen zu sein, auf die er seinen Überschuß verwendet. Das meiste tut er aus eigenen Kräften; seltener und erst in späteren Jahren bedient er sich seines Namens, seines Ruhms, um bei Königen und Ministern einigen Einfluß zu gewinnen, ohne sich dadurch sehr gefördert zu sehen. Man behandelt ihn ehrenvoll, duldet und belobt seine Tätigkeit, hilft ihm auch wohl nach, trägt aber gewöhnlich Bedenken, in seine Absichten kräftig einzugehen.
Alles jedoch zusammengenommen, muß man ihm den eigentlichsten Bürgersinn in jedem Betracht zugestehen; er ruht als Mensch auf sich selbst, verwaltet ein bedeutendes öffentliches Amt und beweist sich übrigens gegen Stadt und Provinz und Königreich als Patriot, gegen deutsches Vaterland und Welt als echten Liberalen. Alles Revolutionäre dagegen, das in seinen älteren Tagen hervortritt, ist ihm höchlich verhaßt so wie alles, was früher Preußens großem Könige und seinem Reiche sich feindselig entgegenstellt.
Da nun ferner eine jede Religion das reine, ruhige Verkehr der Menschen untereinander befördern soll, die christlichevangelische jedoch hiezu besonders geeignet ist, so konnte er, die Religion des rechtschaffenen Mannes, die ihm angeboren und seiner Natur notwendig war, immerfort ausübend, sich für den rechtglaubigsten aller Menschen halten und an dem ererbten Bekenntnis sowie bei dem herkömmlichen einfachen Kultus der protestantischen Kirche gar wohl beruhigen.
Nach allen diesen lebhaften Vergegenwärtigungen sollten wir noch ein Bild des Vergänglichen erblicken, denn auf ihrem Siechbette begrüßten wir die ablebende Nichte Gleims, die unter dem Namen Gleminde viele Jahre die Zierde eines dichterischen Kreises gewesen. Zu ihrer anmutigen, obschon kränklichen Bildung stimmte gar fein die große Reinlichkeit ihrer Umgebung, und wir unterhielten uns gern mit ihr von vergangenen guten Tagen, die ihr mit dem Wandeln und Wirken ihres trefflichen Oheims immer gegenwärtig geblieben waren.
Zuletzt, um unsere Wallfahrt ernst und würdig abzuschließen, traten wir in den Garten um das Grab des edlen Greises, dem nach vieljährigen Leiden und Schmerzen, Tätigkeit und Erdulden, umgeben von Denkmalen vergangener Freunde, an der ihm gemütlichen Stelle gegönnt war auszuruhen.
Die öden, feuchten Räume des Doms besuchten wir zu wiederholten Malen; er stand, obgleich seines frühern religiosen Lebens beraubt, doch noch unerschüttert in ursprünglicher Würde. Dergleichen Gebäude haben etwas eigen Anziehendes, sie vergegenwärtigen uns tüchtige, aber düstere Zustände, und weil wir uns manchmal gern ins Halbdunkel der Vergangenheit einhüllen, so finden wir es willkommen, wenn eine ahnungsvolle Beschränkung uns mit gewissen Schauern ergreift, körperlich, physisch, geistig auf Gefühl, Einbildungskraft und Gemüt wirkt und somit sittliche, poetische und religiose Stimmung anregt.
Die Spiegelsberge, unschuldig buschig bewachsene Anhöhen, dem nachbarlichen Harze vorliegend, jetzt durch die seltsamsten Gebilde ein Tummelplatz häßlicher Kreaturen, eben als wenn eine vermaledeite Gesellschaft, vom Blocksberge wiederkehrend, durch Gottes unergründlichen Ratschluß hier wäre versteinert worden. Am Fuße des Aufstiegs dient ein ungeheures Faß abscheulichem Zwergengeschlecht zum Hochzeitsaal; und von da, durch alle Gänge der Anlagen, lauern Mißgeburten jeder Art, so daß der Mißgestalten liebende Prätorius seinen »Mundus anthropodemicus« hier vollkommen realisiert erblicken könnte.
Da fiel es denn recht auf, wie nötig es sei, in der Erziehung die Einbildungskraft nicht zu beseitigen, sondern zu regeln, ihr durch zeitig vorgeführte edle Bilder Lust am Schönen, Bedürfnis des Vortrefflichen zu geben. Was hilft es, die Sinnlichkeit zu zähmen, den Verstand zu bilden, der Vernunft ihre Herrschaft zu sichern, die Einbildungskraft lauert als der mächtigste Feind, sie hat von Natur einen unwiderstehlichen Trieb zum Absurden, der selbst in gebildeten Menschen mächtig wirkt und gegen alle Kultur die angestammte Roheit fratzenliebender Wilden mitten in der anständigsten Welt wieder zum Vorschein bringt.
Von der übrigen Rückreise darf ich nur vorübereilend sprechen. Wir suchten das Bodetal und den längst bekannten Hammer; von hier ging ich, nun zum dritten Male in meinem Leben, das von Granitfelsen eingeschlossene rauschende Wasser hinan, und hier fiel mir wiederum auf, daß wir durch nichts so sehr veranlaßt werden, über uns selbst zu denken, als wenn wir höchst bedeutende Gegenstände, besonders entschiedene charakteristische Naturszenen, nach langen Zwischenräumen endlich wiedersehen und den zurückgebliebenen Eindruck mit der gegenwärtigen Einwirkung vergleichen. Da werden wir denn im ganzen bemerken, daß das Objekt immer mehr hervortritt, daß, wenn wir uns früher an den Gegenständen empfanden, Freud und Leid, Heiterkeit und Verwirrung auf sie übertrugen, wir nunmehr bei gebändigter Selbstigkeit ihnen das gebührende Recht widerfahren lassen, ihre Eigenheiten zu erkennen und ihre Eigenschaften, sofern wir sie durchdringen, in einem höhern Grade zu schätzen wissen. Jene Art des Anschauens gewährt der künstlerische Blick, diese eignet sich dem Naturforscher, und ich mußte mich, zwar anfangs nicht ohne Schmerzen, zuletzt doch glücklich preisen, daß, indem jener Sinn mich nach und nach zu verlassen drohte, dieser sich in Aug und Geist desto kräftiger entwickelte.
1806
Die Interimshoffnungen, mit denen wir uns philisterhaft schon manche Jahre hingehalten, wurden so abermals im gegenwärtigen genährt. Zwar brannte die Welt in allen Ecken und Enden, Europa hatte eine andere Gestalt genommen, zu Lande und See gingen Städte und Flotten zu Trümmern, aber das mittlere, das nördliche Deutschland genoß noch eines gewissen fieberhaften Friedens, in welchem wir uns einer problematischen Sicherheit hingaben. Das große Reich in Westen war gegründet, es trieb Wurzeln und Zweige nach allen Seiten hin. Indessen schien Preußen das Vorrecht gegönnt, sich in Norden zu befestigen. Zunächst besaß es Erfurt, einen sehr wichtigen Haltepunkt, und wir ließen uns in diesem Sinne gefallen, daß von Anfang des Jahrs preußische Truppen bei uns einkehrten. Dem Regiment Owstien folgten anfangs Februar Füseliere, sodann trafen ein die Regimenter Borcke, Arnim, Pirch; man hatte sich schon an diese Unruhe gewöhnt.
Der Geburtstag unserer verehrten Herzogin, der 30. Januar, ward für diesmal zwar pomphaft genug, aber doch mit unerfreulichen Vorahnungen gefeiert. Das Regiment Owstien rühmte sich eines Korps Trompeter, das seinesgleichen nicht hätte; sie traten in einem Halbkreis zum Willkommen auf das Theater, gaben Proben ihrer außerordentlichen Geschicklichkeit und begleiteten zuletzt einen Gesang, dessen allgemein bekannte Melodie, einem Inselkönig gewidmet und noch keineswegs von dem patriotischen Festland überboten, ihre vollkommen herzerhebende Wirkung tat.
Eine Übersetzung oder Umbildung des »Cid« von Corneille ward hiernach aufgeführt sowie auch »Stella«, zum erstenmal mit tragischer Katastrophe. »Götz von Berlichingen« kam wieder an die Reihe, nicht weniger »Egmont«. Schillers »Glocke« mit allem Apparat des Gießens und der fertigen Darstellung, die wir als Didaskalie schon längst versucht hatten, ward gegeben und so, daß die sämtliche Gesellschaft mitwirkte, indem der eigentliche dramatische Kunst- und Handwerksteil dem Meister und den Gesellen anheimfiel, das übrige Lyrische aber an die männlichen und weiblichen Glieder, von den ältesten bis zu den jüngsten, verteilt und jedem charakteristisch angeeignet ward.
Aufmerksamkeit erregte im ganzen der von Iffland zur Vorstellung gebrachte »Doktor Luther«, ob wir gleich zauderten, denselben gleichfalls aufzunehmen.
Bei dem verlängerten Aufenthalt in Karlsbad gedachte man der nächsten Theaterzeit und versuchte Öhlenschlägers verdienstliche Tragödie »Hakon Jarl« unserer Bühne anzueignen, ja es wurden sogar schon Kleider und Dekorationen aufgesucht und gefunden. Allein späterhin schien es bedenklich, zu einer Zeit, da mit Kronen im Ernst gespielt wurde, mit dieser heiligen Zierde sich scherzhaft zu gebärden. Im vergangenen Frühjahr hatte man nicht mehr tun können, als das bestehende Repertorium zu erhalten und einigermaßen zu vermehren. Im Spätjahr, als der Kriegsdrang jedes Verhältnis aufzulösen drohte, hielt man für Pflicht, die Theateranstalt als einen öffentlichen Schatz, als ein Gemeingut der Stadt zu bewahren. Nur zwei Monate blieben die Vorstellungen unterbrochen, die wissenschaftlichen Bemühungen nur wenige Tage, und Ifflands Theaterkalender gab der deutschen Bühne eine schwunghafte Aufmunterung.
Die projektierte neue Ausgabe meiner Werke nötigte mich, sie sämtlich wieder durchzugehen, und ich widmete jeder einzelnen Produktion die gehörige Aufmerksamkeit, ob ich gleich bei meinem alten Vorsatze blieb, nichts eigentlich umzuschreiben oder auf einen hohen Grad zu verändern.
Die zwei Abteilungen der »Elegien«, wie sie noch vorliegen, wurden eingerichtet und »Faust« in seiner jetzigen Gestalt fragmentarisch behandelt. So gelangte ich dieses Jahr bis zum vierten Teil einschließlich, aber mich beschäftigte ein wichtigeres Werk. Der epische »Tell« kam wieder zur Sprache, wie ich ihn 1797 in der Schweiz konzipiert und nachher dem dramatischen »Tell« Schillers zuliebe beiseite gelegt. Beide konnten recht gut nebeneinander bestehen; Schillern war mein Plan gar wohl bekannt, und ich war zufrieden, daß er den Hauptbegriff eines selbständigen, von den übrigen Verschwornen unabhängigen Tell benutzte; in der Ausführung aber mußte er, der Richtung seines Talents zufolge sowie nach den deutschen Theaterbedürfnissen, einen ganz anderen Weg nehmen, und mir blieb das Episch-Ruhig-Grandiose noch immer zu Gebot, so wie die sämtlichen Motive, wo sie sich auch berührten, in beiden Bearbeitungen durchaus eine andere Gestalt nahmen.
Ich hatte Lust, wieder einmal Hexameter zu schreiben, und mein gutes Verhältnis zu Voß, Vater und Sohn, ließ mich hoffen, auch in dieser herrlichen Versart immer sicherer vorzuschreiten. Aber die Tage und Wochen waren so ahnungsvoll, die letzten Monate so stürmisch und so wenig Hoffnung zu einem freieren Atemholen, daß ein Plan, auf dem Vierwaldstätter See und auf dem Wege nach Altdorf in der freien Natur konzipiert, in dem beängstigten Deutschland nicht wohl wäre auszuführen gewesen.
Wenn wir nun auch schon unser öffentliches Verhältnis zur bildenden Kunst aufgegeben hatten, so blieb sie uns doch im Innern stets lieb und wert. Bildhauer Weißer, ein Kunstgenosse von Friedrich Tieck, bearbeitete mit Glück die Büste des hier verstorbenen Herzogs von Braunschweig, welche, in der öffentlichen Bibliothek aufgestellt, einen schönen Beweis seines vielversprechenden Talents abgibt.
Kupferstiche sind überhaupt das Kunstmittel, durch welches Kenner und Liebhaber sich am meisten und bequemsten unterhalten, und so empfingen wir aus Rom von Gmelin das vorzügliche Blatt, unterzeichnet »Der Tempel der Venus«, nach Claude. Es war mir um soviel mehr wert, als das Original erst nach meinem Abgang von Rom bekannt geworden und ich mich also zum erstenmal von den Vorzügen desselben aus dieser kunstreichen Nachbildung überzeugen sollte.
Ganz in einem andern Fache, aber heiter und geistreich genug, erschienen die Riepenhausischen Blätter zur »Genoveva«, deren Originalzeichnungen wir schon früher gekannt. Auch diese jungen Männer, die sich zuvor an Polygnot geübt hatten, wandten sich nun gegen die Romantik, welche sich durch schriftstellerische Talente beim Publikum eingeschmeichelt hatte und so die Bemerkung wahr machte: daß mehr, als man denkt, der bildende Künstler vom Dichter und Schriftsteller abhängt.
In Karlsbad unterhielt mich belehrend eine Sammlung Kupfer, welche Graf Lepel mit sich führte; nicht weniger große, mit der Feder gezeichnete, aquarellierte Blätter von Ramberg bewährten das heitere, glücklich auffassende, mitunter extemporierende Talent des genannten Künstlers. Graf Corneillan besaß dieselben und nebst eigenen Arbeiten noch sehr schöne Landschaften in Deckfarben.
Die hiesigen Sammlungen vermehrten sich durch einen Schatz von Zeichnungen im höhern Sinne. Carstens’ künstlerische Verlassenschaft war an seinen Freund Fernow vererbt, man traf mit diesem eine billige Übereinkunft, und so wurden mehrere Zeichnungen des verschiedensten Formats, größere Kartone und kleinere Bilder, Studien in schwarzer Kreide, in Rotstein, aquarellierte Federzeichnungen und so vieles andere, was dem Künstler das jedesmalige Studium, Bedürfnis oder Laune mannigfaltig ergreifen läßt, für unser Museum erworben.
Wilhelm Tischbein, der nach seiner Entfernung von Neapel, von dem Herzog von Oldenburg begünstigt, sich in einer friedlichen, glücklichen Lage befand, ließ auch gelegentlich von sich hören und sendete dies Frühjahr manches Angenehme.
Er teilte zuerst die Bemerkung mit, daß die flüchtigsten Bilder oft die glücklichsten Gedanken haben: eine Beobachtung, die er gemacht, als ihm viele hundert Gemälde von trefflichen Meistern, herrlich gedacht, aber nicht sonderlich ausgeführt, vor die Augen gekommen; und es bewährt sich freilich, daß die ausgeführtesten Bilder der niederländischen Schule bei allem großen Reichtum, womit sie ausgestattet sind, doch manchmal etwas an geistreicher Erfindung zu wünschen übriglassen. Es scheint, als wenn die Gewissenhaftigkeit des Künstlers, dem Liebhaber und Kenner etwas vollkommen Würdiges überliefern zu wollen, den Aufflug des Geistes einigermaßen beschränke, dahingegen eine geistreich gefaßte, flüchtig hingeworfene Skizze außer aller Verantwortung das eigenste Talent des Künstlers offenbare. Er sendete einige aquarellierte Kopien, von welchen uns zwei geblieben sind: Schatzgräber in einem tiefen Stadtgraben und Kasematten, bei Nachtzeit durch unzulängliche Beschwörungen sich die bösen Geister auf den Hals ziehend, der entdeckten und schon halb ergriffenen Schätze verlustig. Der Anstand ist bei dieser Gelegenheit nicht durchaus beobachtet, Vorgestelltes und Ausführung einem Geheimbilde angemessen; das zweite Bild vielleicht noch mehr: eine greuliche Kriegsszene, erschlagene, beraubte Männer, trostlose Weiber und Kinder, im Hintergrunde ein Kloster in vollen Flammen, im Vordergrund mißhandelte Mönche; gleichfalls ein Bild, welches im Schränkchen müßte aufbewahrt werden.
Ferner sendete Tischbein an Herzogin Amalie einen mäßigen Folioband aquarellierter Federzeichnungen. Hierin ist nun Tischbein ganz besonders glücklich, weil auf diese leichte Weise ein geübtes Talent Gedanken, Einfälle, Grillen ohne großen Aufwand und ohne Gefahr, seine Zeit zu verlieren, ausspricht. Solche Blätter sind fertig, wie gedacht.
Tiere darzustellen war immer Tischbeins Liebhaberei; so erinnern wir uns hier auch eines Esels, der mit großem Behagen Ananas statt Disteln fraß.
Auf einem andern Bilde blickt man über die Dächer einer großen Stadt gegen die aufgehende Sonne; ganz nah an dem Beschauer, im vordersten Vordergrunde, sitzt ein schwarzer Össenjunge unmittelbar an dem Schornstein. Was an ihm noch Farbe annehmen konnte, war von der Sonne vergüldet, und man mußte den Gedanken allerliebst finden, daß der letzte Sohn des jammervollsten Gewerbes unter viel Tausenden der einzige sei, der eines solchen herzerhebenden Naturanblicks genösse.
Dergleichen Mitteilungen geschahen von Tischbein immer unter der Bedingung, daß man ihm eine poetische oder prosaische Auslegung seiner sittlich-künstlerischen Träume möge zukommen lassen. Die kleinen Gedichte, die man ihm zur Erwiderung sendete, finden sich unter den meinigen. Herzogin Amalie und ihre Umgebung teilten sich darin nach Stand und Würden und erwiderten so eigenhändig die Freundlichkeit des Gebers.
Auch ich war in Karlsbad angetrieben, die bedeutend abwechselnden Gegenstände mir durch Nachbildung besser einzuprägen; die vollkommnern Skizzen behielten einigen Wert für mich, und ich fing an, sie zu sammeln.
Ein Medaillenkabinett, welches von der zweiten Hälfte des funfzehnten Jahrhunderts an über den Weg, den die Bildhauerkunst genommen, hinlänglichen Aufschluß zu geben schon reich genug war, vermehrte sich ansehnlich und lieferte immer vollständigere Begriffe.
Ebenso wurde die Sammlung von eigenhändig geschriebenen Blättern vorzüglicher Männer beträchtlich vermehrt. Ein Stammbuch der Walchischen Familie, seit etwa den Anfängen des achtzehnten Jahrhunderts, worin Maffei voraussteht, war höchst schätzenswert, und ich dankte sehr verpflichtet den freundlichen Gebern. Ein alphabetisches Verzeichnis des handschriftlichen Besitzes war gedruckt, ich legte solches jedem Brief an Freunde bei und erhielt dadurch nach und nach fortdauernde Vermehrung.
Von Künstlern besuchte uns nun abermals Rabe von Berlin und empfahl sich ebenso durch sein Talent wie durch seine Gefälligkeit.
Aber betrüben mußte mich ein Brief von Hackert; dieser treffliche Mann hatte sich von einem apoplektischen Anfall nur insofern erholt, daß er einen Brief diktieren und unterschreiben konnte. Es jammerte mich, die Hand, die soviel sichre Charakterstriche geführt, nun zitternd und unvollständig den eigenen, so oft mit Freude und Vorteil unterzeichneten berühmten Namen bloß andeuten zu sehen.
Bei den jenaischen Museen drangen immer neue Gegenstände zu, und man mußte deshalb Erweiterungen vornehmen und in der Anordnung eine veränderte Methode befolgen.
Der Nachlaß von Batsch brachte neue Mühe und Unbequemlichkeit. Er hatte die Naturforschende Gesellschaft gestiftet, auch in einer Reihe von Jahren durch und für sie ein unterrichtendes Museum aller Art zusammengebracht, welches dadurch ansehnlicher und wichtiger geworden, daß er demselben seine eigene Sammlung methodisch eingeschaltet. Nach seinem Hintritt reklamierten die Direktoren und anwesenden Glieder jener Gesellschaft einen Teil des Nachlasses, besonders das ihr zustehende Museum; die Erben forderten den Rest, welchen man ihnen, da eine Schenkung des bisherigen Direktors nur mutmaßlich war, nicht vorenthalten konnte. Von seiten herzoglicher Kommission entschloß man sich, auch hier einzugreifen, und da man mit den Erben nicht einig werden konnte, so schritt man zu dem unangenehmen Geschäft der Sonderung und Teilung. Was dabei an Rückständen zu zahlen war, glich man aus und gab der Naturforschenden Gesellschaft ein Zimmer im Schlosse, wo die ihr zugehörigen Naturalien abgesondert stehen konnten. Man verpflichtete sich, die Erhaltung und Vermehrung zu begünstigen, und so ruhte auch dieser Gegenstand, ohne abzusterben.
Als ich von Karlsbad im September zurückkam, fand ich das mineralogische Kabinett in der schönsten Ordnung, auch das zoologische reinlich aufgestellt.
Dr. Seebeck brachte das ganze Jahr in Jena zu und förderte nicht wenig unsere Einsicht in die Physik überhaupt und besonders in die Farbenlehre. Wenn er zu jenen Zwecken sich um den Galvanismus bemühte, so waren seine übrigen Versuche auf Oxydation und Desoxydation, auf Erwarmen und Erkalten, Entzünden und Auslöschen für mich im chromatischen Sinne von der größten Bedeutung.
Ein Versuch, Glasscheiben trübe zu machen, wollte unserm wackern Göttling nicht gelingen, eigentlich aber nur deshalb, weil er die Sache zu ernst nahm, da doch diese chemische Wirkung, wie alle Wirkungen der Natur, aus einem Hauch, aus der mindesten Bedingung hervorgehen. Mit Professor Schelver ließen sich gar schöne Betrachtungen wechseln; das Zarte und Gründliche seiner Natur gab sich im Gespräch gar liebenswürdig hervor, wo es dem Mitredenden sich mehr anbequemte als sonst dem Leser, der sich immer, wie bei allzu tief gegriffenen Monologen, entfremdet fühlte.
Sömmerrings »Gehörwerkzeuge« führten uns zur Anatomie zurück; Alexander von Humboldts freundliche Sendungen riefen uns in die weit und breite Welt; Steffens’ »Grundzüge der philosophischen Naturwissenschaften« gaben genug zu denken, indem man gewöhnlich mit ihm in uneiniger Einigkeit lebte.
Um soviel, als mir gegeben sein möchte, an die Mathematik heranzugehen, las ich Montuclas »Histoire des mathématiques«, und nachdem ich die höheren Ansichten, woraus das einzelne sich herleitet, abermals bei mir möglichst aufgeklärt und mich in die Mitte des Reichs der Natur und der Freiheit zu stellen gesucht, schrieb ich das Schema der allgemeinen Naturlehre, um für die besondere Chromatik einen sicheren Standpunkt zu finden.
Aus der alten Zeit, in die ich so gern zurücktrete, um die Muster einer menschenverständigen Anschauung mir abermals zu vergegenwärtigen, las ich Agricola, »De ortu et causis subterraneorum«, und bemerkte hiebei, daß ich auf eben einer solchen Wanderung ins Vergangene die glaubwürdigste Nachricht von einem Meteorstein in der »Thüringer Chronik« fand.
Und so darf ich denn am Schlusse nicht vergessen, daß ich in der Pflanzenkunde zwei schöne Anregungen erlebte: Die große »Charte botanique d’après Ventenat« machte mir die Familienverhältnisse augenfälliger und eindrücklicher. Sie hing in einem großen Zimmer des jenaischen Schlosses, welches ich im ersten Stock bewohnte, und blieb, als ich eilig dem Fürsten Hohenlohe Platz machte, an der Wand zurück. Nun gab sie seinem unterrichteten Generalstab sowie nachher dem Napoleonschen gelegentliche Unterhaltung, und ich fand sie daselbst noch unversehrt, als ich nach soviel Sturm und Ungetüm meine sonst so friedliche Wohnung wieder bezog.
Cottas »Naturbetrachtung über das Wachstum der Pflanzen« nebst beigefügten Musterstücken von durchschnittenen Hölzern waren mir eine sehr angenehme Gabe. Abermals regte sie jene Betrachtungen auf, denen ich so viele Jahre durch nachhing, und war die Hauptveranlassung, daß ich, von neuem zur Morphologie mich wendend, den Vorsatz faßte, sowohl »Die Metamorphose der Pflanzen« als sonst sich Anschließendes wieder abdrucken zu lassen.
Die Vorarbeiten zur »Farbenlehre«, mit denen ich mich seit zwölf Jahren ohne Unterbrechung beschäftigte, waren so weit gediehen, daß sich die Teile immer mehr zu runden anfingen und das Ganze bald selbst eine Konsistenz zu gewinnen versprach. Was ich nach meiner Weise an den physiologischen Farben tun konnte und wollte, war getan, ebenso lagen die Anfänge des Geschichtlichen bereits vor, und man konnte daher den Druck des ersten und zweiten Teils zugleich anfangen. Ich wendete mich nun zu den pathologischen Farben; und im Geschichtlichen ward untersucht, was Plinius von den Farben mochte gesagt haben.
Während nun das einzelne vorschritt, ward ein Schema der ganzen Lehre immer durchgearbeitet.
Die physischen Farben verlangten nun der Ordnung nach meine ganze Aufmerksamkeit. Die Betrachtung ihrer Erscheinungsmittel und Bedingungen nahm alle meine Geisteskräfte in Anspruch. Hier mußt ich nun meine längst befestigte Überzeugung aussprechen, daß, da wir alle Farben nur durch Mittel und an Mitteln sehen, die Lehre vom Trüben, als dem allerzartesten und reinsten Materiellen, derjenige Beginn sei, woraus die ganze Chromatik sich entwickele.
Überzeugt, daß rückwärts, innerhalb dem Kreise der physiologischen Farben, sich auch ohne mein Mitwirken ebendasselbe notwendig offenbaren müsse, ging ich vorwärts und redigierte, was ich alles über Refraktion mit mir selbst und andern verhandelt hatte. Denn hier war eigentlich der Aufenthalt jener bezaubernden Prinzessin, welche im siebenfarbigen Schmuck die ganze Welt zum besten hatte. Hier lag der grimmig sophistische Drache, einem jeden bedrohlich, der sich unterstehen wollte, das Abenteuer mit diesen Irrsalen zu wagen. Die Bedeutsamkeit dieser Abteilung und der dazugehörigen Kapitel war groß, ich suchte ihr durch Ausführlichkeit genugzutun, und ich fürchte nicht, daß etwas versäumt worden sei. Daß, wenn bei der Refraktion Farben erscheinen sollen, ein Bild, eine Grenze verrückt werden müsse, ward festgestellt. Wie sich bei subjektiven Versuchen schwarze und weiße Bilder aller Art durchs Prisma an ihren Rändern verhalten, wie das gleiche geschieht an grauen Bildern aller Schattierungen, an bunten jeder Farbe und Abstufung, bei stärkerer oder geringerer Refraktion, alles ward streng auseinandergesetzt, und ich bin überzeugt, daß der Lehrer, die sämtlichen Erscheinungen in Versuchen vorlegend, weder an dem Phänomen noch am Vortrag etwas vermissen wird.
Die katoptrischen und paroptischen Farben folgten darauf, und es war in betreff jener zu bemerken, daß bei der Spiegelung nur alsdann Farben erscheinen, wenn der spiegelnde Körper geritzt oder fadenartig glänzend angenommen wird. Bei den paroptischen leugnete man die Beugung und leitete die farbigen Streifen von Doppellichtern her. Daß die Ränder der Sonne jeder für sich einen eigenen Schatten werfen, kam bei einer ringförmigen Sonnenfinsternis gar bekräftigend zum Vorschein.
Die sinnlich-sittliche Wirkung der Farbe ward darauf ausgeführt und im Geschichtlichen nebenher Gauthiers »Chroagenesie« betrachtet.
Mit dem Abdruck waren wir bis zum dreizehnten Bogen des ersten Teils und bis zum vierten des zweiten gelangt, als mit dem 14. Oktober das grimmigste Unheil über uns hereinbrach und die übereilt geflüchteten Papiere unwiederbringlich zu vernichten drohte.
Glücklich genug vermochten wir, bald wieder ermannt, mit andern Geschäften auch dieses von neuem zu ergreifen und in gefaßter Tätigkeit unser Tagewerk weiter zu fördern.
Nun wurden vor allen Dingen die nötigen Tafeln sorgfältig bearbeitet. Eine mit dem guten und werten Runge fortgesetzte Korrespondenz gab uns Gelegenheit, seinen Brief dem Schluß der »Farbenlehre« beizufügen, wie denn auch Seebecks gesteigerte Versuche dem Ganzen zugute kamen.
Mit befreiter Brust dankten wir den Musen für so offenbar gegönnten Beistand; aber kaum hatten wir einigermaßen frischen Atem geschöpft, so sahen wir uns genötigt, um nicht zu stocken, alsogleich den widerwärtigen polemischen Teil anzufassen und unsere Bemühungen um Newtons Optik sowie die Prüfung seiner Versuche und der daraus gezogenen Beweise auch ins Enge und dadurch endlich zum Abschluß zu bringen. Die Einleitung des polemischen Teils gelang mit Ausgang des Jahrs.
An fremdem poetischem Verdienst war wo nicht ausgedehnte, aber doch innig erfreuliche Teilnahme. Das »Wunderhorn«, altertümlich und phantastisch, ward seinem Verdienste gemäß geschätzt und eine Rezension desselben mit freundlicher Behaglichkeit ausgefertigt. Hillers Naturdichtungen, gerade im Gegensatz, ganz gegenwärtig und der Wirklichkeit angehörig, wurden nach ihrer Art mit billigem Urteil empfangen. »Aladdin« von Öhlenschläger war nicht weniger wohl aufgenommen, ließ auch nicht alles, besonders im Verlauf der Fabel, sich gutheißen. Und wenn ich unter den Studien früherer Zeit die »Perser« des Äschylus bemerkt finde, so scheint mir, als wenn eine Vorahnung dessen, was wir zu erwarten hatten, mich dahin getrieben habe.
Aber einen eigentlichen Nationalanteil hatten doch die »Nibelungen« gewonnen; sie sich anzueignen, sich ihnen hinzugeben war die Lust mehrerer verdienter Männer, die mit uns gleiche Vorliebe teilten.
Schillers Verlassenschaft blieb ein Hauptaugenmerk, ob ich gleich, jenes frühern Versuchs schmerzlich gedenkend, allem Anteil an einer Herausgabe und einer biographischen Skizze des trefflichen Freundes standhaft entsagte.
Adam Müllers »Vorlesungen« kamen mir in die Hände. Ich las, ja studierte sie, jedoch mit geteilter Empfindung: denn wenn man wirklich darin einen vorzüglichen Geist erblickte, so ward man auch mancher unsichern Schritte gewahr, welche nach und nach folgerecht das beste Naturell auf falsche Wege führen mußten.
Hamanns Schriften wurden von Zeit zu Zeit aus dem mystischen Gewölbe, wo sie ruhten, hervorgezogen. Der durch die sonderbare Sprachhülle hindurch wirkende rein kräftige Geist zog immer die Bildungslustigen wieder an, bis man, an soviel Rätseln müde und irre, sie beiseite legte und doch jedesmal eine vollständige Ausgabe zu wünschen nicht unterlassen konnte.
Wielands Übersetzung der Horazischen »Epistel an die Pisonen« leitete mich wirklich auf eine Zeitlang von andern Beschäftigungen ab. Dieses problematische Werk wird dem einen anders vorkommen als dem andern und jedem alle zehn Jahre auch wieder anders. Ich unternahm das Wagnis kühner und wunderlicher Auslegungen des Ganzen sowohl als des Einzelnen, die ich wohl aufgezeichnet wünschte, und wenn auch nur um der humoristischen Ansicht willen; allein diese Gedanken und Grillen, gleich so vielen tausend andern in freundschaftlicher Konversation ausgesprochen, gingen ins Nichts der Lüfte.
Der große Vorteil, mit einem Manne zu wohnen, der sich aus dem Grunde irgendeinem Gegenstande widmet, ward uns reichlich durch Fernows dauernde Gegenwart. Auch in diesem Jahre brachte er uns durch seine Abhandlung über die italienischen Dialekte mitten ins Leben jenes merkwürdigen Landes.
Auch die Geschichte der neuern deutschen Literatur gewann gar manches Licht: durch Johannes Müller in seiner Selbstbiographie, die wir mit einer Rezension begrüßten, ferner durch den Druck der Gleimischen Briefe, die wir dem eingeweihten Körte, Hubers Lebensjahre, die wir seiner treuen und in so vieler Hinsicht höchst schätzenswerten Gattin verdanken.
Von älteren geschichtlichen Studien findet sich nichts bemerkt, als daß ich des Lampridius Kaisergeschichte gelesen, und ich erinnere mich noch gar wohl des Grausens, das bei Betrachtung jenes Unregiments mich befiel.
An dem höhern Sittlich-Religiosen teilzunehmen, riefen mich die »Studien« von Daub und Creuzer auf, nicht weniger der »Hallischen Missionsberichte« zweiundsiebzigstes Stück, das ich wie die vorigen der Geneigtheit des Herrn Dr. Knapp verdankte, welcher, von meiner aufrichtigen Teilnahme an der Verbreitung des sittlichen Gefühls durch religiöse Mittel überzeugt, mir schon seit Jahren die Nachrichten von den gesegneten Fortschritten einer immer lebendigen Anstalt nicht vorenthielt.
Von anderer Seite ward ich zu der Kenntnis des gegenwärtig Politischen geführt durch die »Gegengewichte« von Gentz, so wie mir von Aufklärung einzelner Zeitereignisse noch wohl erinnerlich ist, daß ein bei uns wohnender Engländer von Bedeutung, Herr Osborn, die Strategie der Schlacht von Trafalgar ihrem großen Sinn und kühner Ausführung nach umständlich graphisch erklärte.
Seit 1801, wo ich nach überstandener großer Krankheit Pyrmont besucht hatte, war ich eigentlich meiner Gesundheit wegen in kein Bad gekommen; in Lauchstädt hatt ich dem Theater zuliebe manche Zeit zugebracht und in Weimar der Kunstausstellung wegen. Allein es meldeten sich dazwischen gar manche Gebrechen, die eine duldende Indolenz eine Zeitlang hingehen ließ; endlich aber, von Freunden und Ärzten bestimmt, entschloß ich mich, Karlsbad zu besuchen, um so mehr, als ein tätiger und behender Freund, Major von Hendrich, die ganze Reisesorge zu übernehmen geneigt war. Ich fuhr also mit ihm und Riemer Ende Mais ab. Unterwegs bestanden wir erst das Abenteuer, den »Hussiten vor Naumburg« beizuwohnen und in eine Verlegenheit anderer Art gerieten wir in Eger, als wir bemerkten, daß uns die Pässe fehlten, die, vor lauter Geschäftigkeit und Reiseanstalt vergessen, durch eine wunderliche Komplikation von Umständen auch an der Grenze nicht waren abgefordert worden. Die Polizeibeamten in Eger fanden eine Form, diesem Mangel abzuhelfen, wie denn dergleichen Fälle die schönste Gelegenheit darbieten, wo eine Behörde ihre Kompetenz und Gewandtheit betätigen kann; sie gaben uns einen Geleitschein nach Karlsbad gegen Versprechen, die Pässe nachzuliefern.
An diesem Kurorte, wo man sich, um zu genesen, aller Sorgen entschlagen sollte, kam man dagegen recht in die Mitte von Angst und Bekümmernis.
Fürst Reuß XIII., der mir immer ein gnädiger Herr gewesen, befand sich daselbst und war geneigt, mir mit diplomatischer Gewandtheit das Unheil zu entfalten, das unsern Zustand bedrohte. Gleiches Zutrauen hegte General Richter zu mir, der mich ins Vergangene gar manchen Blick tun ließ. Er hatte die harten Schicksale von Ulm miterlebt, und mir ward ein Tagebuch vom 3. Oktober 1805 bis zum 17., als dem Tage der Übergabe gedachter Festung, mitgeteilt. So kam der Julius heran, eine bedeutende Nachricht verdrängte die andere.
Zu Fördernis geologischer Studien hatte in den Jahren, da ich Karlsbad nicht besucht, Joseph Müller treulich vorgearbeitet. Dieser wackere Mann, von Turnau gebürtig, als Steinschneider erzogen, hatte sich in der Welt mancherlei versucht und war zuletzt in Karlsbad einheimisch geworden. Dort beschäftigte er sich mit seiner Kunst und geriet auf den Gedanken, die Karlsbader Sprudelsteine in Tafeln zu schneiden und reinlich zu polieren, wodurch denn diese ausgezeichneten Sinter nach und nach der naturliebenden Welt bekannt wurden. Von diesen Produktionen der heißen Quellen wendete er sich zu andern auffallenden Gebirgserzeugnissen, sammelte die Zwillingskristalle des Feldspates, welche die dortige Umgegend vereinzelt finden läßt.
Schon vor Jahren hatte er an unsern Spaziergängen teilgenommen, als ich mit Baron von Racknitz und andern Naturfreunden bedeutenden Gebirgsarten nachging, und in der Folge hatte er Zeit und Mühe nicht gespart, um eine mannigfaltige charakteristische Sammlung aufzustellen, sie zu numerieren und nach seiner Art zu beschreiben. Da er nun dem Gebirg gefolgt war, so hatte sich ziemlich, was zusammengehörte, auch zusammengefunden, und es bedurfte nur weniges, um sie wissenschaftlichen Zwecken näherzuführen, welches er sich denn auch, obgleich hie und da mit einigem Widerstreben, gefallen ließ.
Was von seinen Untersuchungen mir den größten Gewinn versprach, war die Aufmerksamkeit, die er dem Übergangsgestein geschenkt hatte, das sich dem Granit des Hirschensprungs vorlegt, einen mit Hornstein durchzogenen Granit darstellt, Schwefelkies und auch endlich Kalkspat enthält. Die heißen Quellen entspringen unmittelbar hieraus, und man war nicht abgeneigt, in dieser auffallenden geologischen Differenz, durch den Zutritt des Wassers, Erhitzung und Auflösung und so das geheimnisvolle Rätsel der wunderbaren Wasser aufgehellt zu sehen.
Er zeigte mir sorgfältig die Spuren obgedachten Gesteins, welches nicht leicht zu finden ist, weil die Gebäude des Schloßbergs darauf lasten. Wir zogen sodann zusammen durch die Gegend, besuchten die auf dem Granit aufsitzenden Basalte über dem Hammer, nahe dabei einen Acker, wo die Zwillingskristalle sich ausgepflügt finden. Wir fuhren nach Engelhaus, bemerkten im Orte selbst den Schriftgranit und anderes vom Granit nur wenig abweichendes Gestein. Der Klingsteinfelsen ward bestiegen und beklopft und von der weiten, obgleich nicht erheiternden Aussicht der Charakter gewonnen.
Zu allem diesem kam der günstige Umstand hinzu, daß Herr Legationsrat von Struve, in diesem Fache so unterrichtet als mitteilend und gefällig, seine schönen mitgeführten Stufen belehrend sehen ließ, auch an unsern geologischen Betrachtungen vielen Teil nahm und selbst einen ideellen Durchschnitt des Lessauer und Hohdorfer Gebirges zeichnete, wodurch der Zusammenhang der Erdbrände mit dem unter- und nebenliegenden Gebirg deutlich dargestellt und vermittelst vorliegender Muster sowohl des Grundgesteins als seiner Veränderung durch das Feuer belegt werden konnte.
Spazierfahrten, zu diesem Zwecke angestellt, waren zugleich belehrend, erheiternd und von den Angelegenheiten der Tags ablenkend.
Späterhin traten Bergrat Werner und August von Herder, jener auf längere, dieser auf kürzere Zeit, an uns heran. Wenn nun auch, wie bei wissenschaftlichen Unterhaltungen immer geschieht, abweichende, ja kontrastierende Vorstellungsarten an den Tag kommen, so ist doch, wenn man das Gespräch auf die Erfahrung hinzuwenden weiß, gar vieles zu lernen. Werners Ableitung des Sprudels von fortbrennenden Steinkohlenflözen war mir zu bekannt, als daß ich hätte wagen sollen, ihm meine neusten Überzeugungen mitzuteilen, auch gab er der Übergangsgebirgsart vom Schloßberge, die ich so wichtig fand, nur einen untergeordneten Wert. August von Herder teilte mir einige schöne Erfahrungen von dem Gehalt der Gebirgsgänge mit, der verschieden ist, indem sie nach verschiedenen Himmelsgegenden streichen. Es ist immer schön, wenn man das Unbegreifliche als wirklich vor sich sieht.
Über eine pädagogisch-militärische Anstalt bei der französischen Armee gab uns ein trefflicher aus Bayern kommender Geistlicher genaue Nachricht. Es werde nämlich von Offizieren und Unteroffizieren am Sonntage eine Art von Katechisation gehalten, worin der Soldat über seine Pflichten sowohl als auch über ein gewisses Erkennen, soweit es ihn in seinem Kreise fördert, belehrt werde. Man sah wohl, daß die Absicht war, durchaus kluge und gewandte, sich selbst vertrauende Menschen zu bilden; dies aber setzte freilich voraus, daß der sie anführende große Geist dessenungeachtet über jeden und alle hervorragend blieb und von Raisonneurs nichts zu fürchten hatte.
Angst und Gefahr jedoch vermehrte der brave, tüchtige Wille echter deutscher Patrioten, welche in der ganz ernstlichen und nicht einmal verhohlnen Absicht, einen Volksaufstand zu organisieren und zu bewirken, über die Mittel dazu sich leidenschaftlich besprachen, so daß, während wir von fernen Gewittern uns bedroht sahen, auch in der nächsten Nähe sich Nebel und Dunst zu bilden anfing.
Indessen war der Deutsche Rheinbund geschlossen und seine Folgen leicht zu übersehen; auch fanden wir bei unserer Rückreise durch Hof in den Zeitungen die Nachricht: das Deutsche Reich sei aufgelöst.
Zwischen diese beunruhigenden Gespräche jedoch traten manche ableitende. Landgraf Karl von Hessen, tieferen Studien von jeher zugetan, unterhielt sich gern über die Urgeschichte der Menschheit und war nicht abgeneigt, höhere Ansichten anzuerkennen, ob man gleich mit ihm einstimmig auf einen folgerechten Weg nicht gelangen konnte.
Karlsbad gab damals das Gefühl, als wäre man im Lande Gosen; Österreich war zu einem scheinbaren Frieden mit Frankreich genötigt, und in Böhmen ward man wenigstens nicht wie in Thüringen durch Märsche und Widermärsche jeden Augenblick aufgeregt. Allein kaum war man zu Hause, als man das bedrohende Gewitter wirklich heranrollen sah, die entschiedenste Kriegserklärung durch Heranmarsch unübersehlicher Truppen.
Eine leidenschaftliche Bewegung der Gemüter offenbarte sich nach ihrem verschiedenen Verhältnis, und wie sich in solcher Stimmung jederzeit Märchen erzeugen, so verbreitete sich auch ein Gerücht von dem Tode des Grafen Haugwitz, eines alten Jugendfreundes, früher als tätiger und gefälliger Minister anerkannt, jetzt der ganzen Welt verhaßt, da er den Unwillen der Deutschen durch abgedrungene Hinneigung zu dem französischen Übergewicht auf sich geladen.
Die Preußen fahren fort, Erfurt zu befestigen; auch unser Fürst, als preußischer General, bereitet sich zum Abzuge. Welche sorgenvolle Verhandlungen ich mit meinem treuen und ewig unvergeßlichen Geschäftsfreunde, dem Staatsminister von Voigt, damals gewechselt, möchte schwer auszusprechen sein; ebensowenig die prägnante Unterhaltung mit meinem Fürsten im Hauptquartier Niederroßla.
Die Herzoginmutter bewohnte Tiefurt, Kapellmeister Himmel war gegenwärtig, und man musizierte mit schwerem Herzen; es ist aber in solchen bedenklichen Momenten das Herkömmliche, daß Vergnügungen und Arbeiten so gut wie Essen, Trinken, Schlafen in düsterer Folge hintereinander fortgehen.
Die Karlsbader Gebirgsfolge war in Jena angelangt, ich begab mich am 26. September hin, sie auszupacken und unter Beistand des Direktors Lenz vorläufig zu katalogieren; auch ward ein solches Verzeichnis für das »Jenaische Literatur-Intelligenzblatt« fertig geschrieben und in die Druckerei gegeben.
Indessen war ich in den Seitenflügel des Schlosses gezogen, um dem Fürsten Hohenlohe Platz zu machen, der, mit seiner Truppenabteilung widerwillig heranrückend, lieber auf der Straße nach Hof dem Feind entgegenzugehen gewünscht hätte. Dieser trüben Ansichten ungeachtet, ward nach alter akademischer Weise mit Hegel manches philosophische Kapitel durchgesprochen. Schelling gab eine Erklärung heraus, von Ths beantwortet. Ich war bei Fürst Hohenlohe zu Tafel, sah manche bedeutende Männer wieder, machte neue Bekanntschaften; niemanden war wohl, alle fühlten sich in Verzweiflung, die keiner umhin konnte, wo nicht durch Worte, doch durch Betragen zu verraten.
Mit Obrist von Massenbach, dem Heißkopfe, hatte ich eine wunderliche Szene. Auch bei ihm kam die Neigung zu schriftstellern der politischen Klugheit und militärischen Tätigkeit in den Weg. Er hatte ein seltsames Opus verfaßt, nichts Geringeres als ein moralisches Manifest gegen Napoleon. Jedermann ahnete, fürchtete die Übergewalt der Franzosen, und so geschah es denn, daß der Drucker, begleitet von einigen Ratspersonen, mich anging und sie sämtlich mich dringend baten, den Druck des vorgelegten Manuskriptes abzuwenden, welches beim Einrücken des französischen Heeres der Stadt notwendig Verderben bringen müsse. Ich ließ mir es übergeben und fand eine Folge von Perioden, deren erste mit den Worten anfing: »Napoleon, ich liebte dich!«, die letzte aber: »Ich hasse dich« Dazwischen waren alle Hoffnungen und Erwartungen ausgesprochen, die man anfangs von der Großheit des Napoleonschen Charakters hegte, indem man dem außerordentlichen Manne sittlich-menschliche Zwecke unterlegen zu müssen wähnte, und zuletzt ward alles das Böse, was man in der neuern Zeit von ihm erdulden müssen, in geschärften Ausdrücken vorgeworfen. Mit wenigen Veränderungen hätte man es in den Verdruß eines betrogenen Liebhabers über seine untreue Geliebte übersetzen können, und so erschien dieser Aufsatz ebenso lächerlich als gefährlich.
Durch das Andringen der wackern Jenenser, mit denen ich so viele Jahre her in gutem Verhältnis gestanden, überschritt ich das mir selbst gegebene Gesetz, mich nicht in öffentliche Händel zu mischen; ich nahm das Heft und fand den Autor in den weitläufigen antiken Zimmern der Wilhelmischen Apotheke. Nach erneuerter Bekanntschaft rückte ich mit meiner Protestation hervor und hatte, wie zu erwarten, mit einem beharrlichen Autor zu tun. Ich aber blieb ein ebenso beharrlicher Bürger und sprach die Argumente, die freilich Gewicht genug hatten, mit beredter Heftigkeit aus, so daß er endlich nachgab. Ich erinnere mich noch, daß ein langer, stracker Preuße, dem Ansehn nach ein Adjutant, in unbewegter Stellung und unveränderten Gesichtszügen dabeistand und sich wohl über die Kühnheit eines Bürgers innerlich verwundern mochte. Genug, ich schied von dem Obristen im besten Vernehmen, verflocht in meinen Dank alle persuasorischen Gründe, die eigentlich an sich hinreichend gewesen wären, nun aber eine milde Versöhnung hervorbrachten.
Noch trefflichen Männern wartete ich auf; es war am Freitag, den 3. Oktober. Den Prinzen Louis Ferdinand traf ich nach seiner Art tüchtig und freundlich; Generallieutenant von Grawert, Obrist von Massow, Hauptmann Blumenstein, letzterer jung, Halbfranzos, freundlich und zutraulich. Zu Mittag mit allen bei Fürst Hohenlohe zur Tafel.
Verwunderlich schienen mir bei dem großen Zutrauen auf preußische Macht und Kriegsgewandtheit Warnungen, die hie und da an meinen Ohren vorübergingen: man solle doch die besten Sachen, die wichtigsten Papiere zu verbergen suchen; ich aber, unter solchen Umständen aller Hoffnung quitt, rief, als man eben die ersten Lerchen speiste: »Nun, wenn der Himmel einfällt, so werden ihrer viel gefangen werden.«
Den 6. fand ich in Weimar alles in voller Unruhe und Bestürzung. Die großen Charaktere waren gefaßt und entschieden, man fuhr fort zu überlegen, zu beschließen: Wer bleiben, wer sich entfernen sollte, das war die Frage.
1807
Zu Ende des vorigen Jahrs war das Theater schon wieder eröffnet, Balkon und Logen, Parterre und Galerie bevölkerten sich gar bald wieder als Wahrzeichen und Gleichnis, daß in Stadt und Staat alles die alte Richtung angenommen. Freilich hatten wir von Glück zu sagen, daß der Kaiser seiner Hauptmaxime getreu blieb, mit allem, was den sächsischen Namen führte, in Frieden und gutem Willen zu leben, ohne sich durch irgendeinen Nebenumstand irremachen zu lassen. General Dentzel, der in Jena vor soviel Jahren Theologie studiert hatte und wegen seiner Lokalkenntnisse zu jener großen Expedition berufen ward, zeigte sich als Kommandant zu freundlicher Behandlung gar geneigt. Der jüngere Mounier, bei uns erzogen, mit Freundschaft an manches Haus geknüpft, war als Commissaire-Ordonnateur angestellt, und ein gelindes Verfahren beschwichtigte nach und nach die beunruhigten Gemüter. Jeder hatte von den schlimmen Tagen her etwas zu erzählen und gefiel sich in Erinnerung überstandenen Unheils, auch ertrug man gar manche Last willig, als die aus dem Stegreif einbrechenden Schrecknisse nicht mehr zu fürchten waren.
Ich und meine Nächsten suchten also dem Theater seine alte Konsistenz wiederzugeben, und es gelangte, zwar vorbereitet, aber doch zufällig, zu einem neuen Glanz durch eine freundliche, den innigsten Frieden herstellende Kunsterscheinung. »Tasso« ward aufgeführt, allerdings nicht erst unter solchen Stürmen, vielmehr längst im stillen eingelernt: denn wie bei uns antretende jüngere Schauspieler sich in manchen Rollen übten, die sie nicht alsobald übernehmen sollten, so verfuhren auch die älteren, indem sie manchmal ein Stück einzulernen unternahmen, das zur Aufführung nicht eben gleich geeignet schien. Hiernach hatten sie auch »Tasso« seit geraumer Zeit unter sich verabredet, verteilt und einstudiert, auch wohl in meiner Gegenwart gelesen, ohne daß ich jedoch, aus verzeihlichem Unglauben und daran geknüpftem Eigensinn, die Vorstellung hätte ansagen und entscheiden wollen. Nun, da manches zu stocken schien, da sich zu anderem Neuen weder Gelegenheit noch Mut fand, notwendig zu feiernde Festtage sich drängten, da regte sich die freundliche Zudringlichkeit meiner lieben Zöglinge, so daß ich zuletzt dasjenige halb unwillig zugestand, was ich eifrig hätte wünschen, befördern und mit Dank anerkennen sollen. Der Beifall, den das Stück genoß, war vollkommen der Reife gleich, die es durch ein liebevolles, anhaltendes Studium gewonnen hatte, und ich ließ mich gern beschämen, indem sie dasjenige als möglich zeigten, was ich hartnäckig als unmöglich abgewiesen hatte.
Mit beharrlicher, treuer Sorgfalt ward auch die nächsten Monate das Theater behandelt und junge Schauspieler in allem, was ihnen nötig war, besonders in einer gewissen natürlichen Gesetztheit und eigener persönlichen Ausbildung, die alle Manier ausschließt, geleitet und unterrichtet. Eine höhere Bedeutung für die Zukunft gab sodann »Der standhafte Prinz«, der, wie er einmal zur Sprache gekommen, im stillen unaufhaltsam fortwirkte. Auf ein anderes, freilich in anderem Sinne problematisches Theaterstück hatte man gleichfalls ein Auge geworfen, es war »Der zerbrochene Krug«, der gar mancherlei Bedenken erregte und eine höchst ungünstige Aufnahme zu erleben hatte. Aber eigentlich erholte sich das Weimarische Theater erst durch einen längeren Aufenthalt in Halle und Lauchstädt, wo man vor einem gleichfalls gebildeten, zu höhern Forderungen berechtigten Publikum das Beste, was man liefern konnte, zu leisten genötigt war. Das Repertorium dieser Sommervorstellungen ist vielleicht das bedeutendste, was die weimarische Bühne, wie nicht leicht eine andere, in so kurzer Zeit gedrängt aufzuweisen hat.
Gar bald nach Aufführung des »Tasso«, einer so reinen Darstellung zarter, geist- und liebevoller Hof-und Weltszenen, verließ Herzogin Amalie den für sie im tiefsten Grund erschütterten, ja zerstörten Vaterlandsboden, allen zur Trauer, mir zum besonderen Kummer. Ein eiliger Aufsatz, mehr in Geschäftsform als in höherem inneren Sinne abgefaßt, sollte nur Bekenntnis bleiben, wieviel mehr ihrem Andenken ich zu widmen verpflichtet sei. Indessen wird man jene Skizze zunächst mitgeteilt finden.
Um mich aber von allen diesen Bedrängnissen loszureißen und meine Geister ins Freie zu wenden, kehrte ich an die Betrachtung organischer Naturen zurück. Schon waren mehrmals Anklänge bis zu mir gedrungen, daß die frühere Denkweise, die mich glücklich gemacht, auch in verwandten Gemütern sich entwickle; daher fühlt ich mich bewogen, die »Metamorphose der Pflanzen« wieder abdrucken zu lassen, manchen alten Heft- und Papierbündel durchzusehen, um etwas den Naturfreunden Angenehmes und Nützliches daraus zu schöpfen. Ich glaubte des Gelingens dergestalt sicher zu sein, daß bereits im Meßkatalog Ostern dieses Jahres eine Ankündigung unter dem Titel »Goethes Ideen über organische Bildung« dieserwegen auftrat, als könnte zunächst ein solches Heft ausgegeben werden. Die tieferen, hierauf bezüglichen Betrachtungen und Studien wurden deshalb ernstlicher vorgenommen als je; besonders suchte man von Kaspar Friedrich Wolffs »Theorie der Generation« sich immer mehr zu durchdringen. Die älteren osteologischen Ansichten, vorzüglich die im Jahre 1791 in Venedig von mir gemachte Entdeckung, daß der Schädel aus Rückenwirbeln gebildet sei, ward näher beleuchtet und mit zwei teilnehmenden Freunden, Voigt dem Jüngeren und Riemer, verhandelt, welche beide mir mit Erstaunen die Nachricht brachten, daß soeben diese »Bedeutung der Schädelknochen« durch ein akademisches Programm ins Publikum gesprungen sei, wie sie, da sie noch leben, Zeugnis geben können. Ich ersuchte sie, sich stille zu halten, denn daß in eben gedachtem Programm die Sache nicht geistreich durchdrungen, nicht aus der Quelle geschöpft war, fiel dem Wissenden nur allzusehr in die Augen. Es geschahen mancherlei Versuche, mich reden zu machen, allein ich wußte zu schweigen.
Nächstdem wurden die versammelten Freunde der organischen Metamorphosenlehre durch einen Zufall begünstigt: Es zeigt sich nämlich der monoculus apus manchmal, obgleich selten, in stehenden Wassern der jenaischen Gegend; dergleichen ward mir diesmal gebracht, und nirgends ist wohl die Verwandlung eines Glieds, das immer dasselbige bleibt, in eine andere Gestalt deutlicher vor Augen zu sehen als bei diesem Geschöpfe.
Da nun ferner seit soviel Jahren Berg um Berg bestiegen, Fels um Fels beklettert und beklopft, auch nicht versäumt wurde, Stollen und Schächte zu befahren, so hatte ich auch die Naturerscheinungen dieser Art selbst gezeichnet, um ihre Weise und Wesen mir einzudrücken, teils zeichnen lassen, um richtigere Abbildungen zu gewinnen und festzuhalten. Bei allem diesem schwebte mir immer ein Modell im Sinne, wodurch das anschaulicher zu machen wäre, wovon man sich in der Natur überzeugt hatte. Es sollte auf der Oberfläche eine Landschaft vorstellen, die aus dem flachen Lande bis in das höchste Gebirg sich erhob. Hatte man die Durchschnittsteile auseinandergerückt, so zeigte sich an den innern Profilen das Fallen, Streichen und was sonst verlangt werden mochte. Diesen ersten Versuch bewahrte ich lange und bemühte mich, ihm von Zeit zu Zeit mehr Vollständigkeit zu geben. Freilich aber stieß ich dabei auf Probleme, die so leicht nicht zu lösen waren. Höchst erwünscht begegnete mir daher ein Antrag des wackern Naturforschers Haberle, den Legationsrat Bertuch bei mir eingeführt hatte. Ich legte ihm meine Arbeit vor mit dem Wunsch, daß er sie weiterbringen möge; allein bei einiger Beratung darüber ward ich nur allzubald gewahr, daß wir in der Behandlungsart nicht übereinstimmen dürften. Ich überließ ihm jedoch die Anlage, auf seine weitere Bearbeitung hoffend, habe sie aber, da er wegen meteorologischer Mißlehren sich von Weimar verdrießlich entfernte, niemals wiedergesehen.
Hochgeehrt fand ich mich auch in der ersten Hälfte des Jahrs durch ein von Herrn Alexander von Humboldt in bildlicher Darstellung mir auf so bedeutende Weise gewidmetes gehaltvolles Werk: »Ideen zu einer Geographie der Pflanzen« nebst einem Naturgemälde der Tropenländer.
Aus frühster und immer erneuter Freundschaft für den edlen Verfasser und durch diesen neusten, mir so schmeichelhaften Anklang aufgerufen, eilte ich, das Werk zu studieren; allein die Profilkarte dazu sollte, wie gemeldet ward, erst nachkommen. Ungeduldig, meine völlige Erkenntnis eines solchen Werkes aufgehalten zu sehen, unternahm ich gleich, nach seinen Angaben einen gewissen Raum mit Höhenmaßen an der Seite in ein landschaftliches Bild zu verwandeln. Nachdem ich, der Vorschrift gemäß, die tropische rechte Seite mir ausgebildet und sie als die Licht- und Sonnenseite dargestellt hatte, so setzt ich zur Linken an die Stelle der Schattenseite die europäischen Höhen, und so entstand eine symbolische Landschaft, nicht unangenehm dem Anblick. Diese zufällige Arbeit widmete ich inschriftlich dem Freunde, dem ich sie schuldig geworden war.
Das Industrie-Comptoir gab eine Abbildung mit einigem Text heraus, welche auch auswärts so viel Gunst erwarb, daß ein Nachstich davon in Paris erschien.
Zu der »Farbenlehre« wurden mit Genauigkeit und Mühe die längst vorbereiteten Tafeln nach und nach ins reine gebracht und gestochen, indessen der Abdruck des Entwurfs immer vorwärtsrückte und zu Ende des Januars vollendet ward. Nun konnte man sich mit mehr Freiheit an die Polemik wenden. Da Newton durch Verknüpfung mehrerer Werkzeuge und Vorrichtungen einen experimentalen Unfug getrieben hatte, so wurden besonders die Phänomene, wenn Prismen und Linsen aufeinander wirken, entwickelt und überhaupt die Newtonischen Experimente eins nach dem andern genauer untersucht. Somit konnte denn der Anfang des polemischen Teils zum Druck gegeben werden; das Geschichtliche behielt man zugleich immer im Auge. Nuguet »Über die Farben«, aus dem »Journal de Trevoux«, war höchst willkommen. Auch wandte man sich zurück in die mittlere Zeit; Roger Bacon kam wieder zur Sprache, und zur Vorbereitung schrieb man das Schema des funfzehnten Jahrhunderts.
Freund Meyer studierte das Kolorit der Alten und fing an, einen Aufsatz darüber auszuarbeiten; die Verdienste dieser nie genug zu schätzenden klassischen Altvordern wurden in ihrer reinen Natürlichkeit redlich geachtet. Eine Einleitung zur »Farbenlehre«, dazu ein Vorwort, war geschrieben; auch versuchte ein teilnehmender Freund eine Übersetzung ins Französische, wovon mich die bis jetzt erhaltenen Blätter noch immer an die schönsten Stunden erinnern. Indessen mußte die Polemik immer fortgesetzt und die gedruckten Bogen beider Teile berichtigt werden. Am Ende des Jahrs waren dreißig Aushängebogen des ersten und fünfe des zweiten Teils in meinen Händen.
Wie es nun geht, wenn man sich mit Gegenständen lange beschäftigt und sie uns so bekannt und eigen werden, daß sie uns bei jeder Gelegenheit vorschweben, so gebraucht man sie auch gleichnisweise im Scherz und Ernst; wie ich denn ein paar glückliche Einfälle heiterer Freunde in unsern literarischen Mitteilungen anführen werde.
Das Manuskript zu meinen Schriften wird nach und nach abgesendet, die erste Lieferung kommt gedruckt an.
Ich vernehme Hackerts Tod, man übersendet mir nach seiner Anordnung biographische Aufsätze und Skizzen, ich schreibe sein Leben im Auszuge, zuerst fürs »Morgenblatt«.
Der vorjährige Aufenthalt in Karlsbad hatte mein Befinden dergestalt verbessert, daß ich wohl das Glück, dem großen hereinbrechenden Kriegsunheil nicht unterlegen zu sein, ungezweifelt jener sorgfältig gebrauchten Kur zuschreiben durfte. Ich entschloß mich daher zu einer abermaligen Reise, und zwar einer baldigen, und schon in der zweiten Hälfte des Mais war ich daselbst angelangt. An kleineren Geschichten, ersonnen, angefangen, fortgesetzt, ausgeführt, war diese Jahrszeit reich; sie sollten alle, durch einen romantischen Faden unter dem Titel »Wilhelm Meisters Wanderjahre« zusammengeschlungen, ein wunderlich anziehendes Ganze bilden. Zu diesem Zweck finden sich bemerkt: Schluß der »Neuen Melusine«, »Der Mann von fünfzig Jahren«, »Die pilgernde Törin«.
Glücklich war ich nicht weniger mit Joseph Müllers Karlsbader Sammlung. Die Vorbereitungen des verflossenen Jahres waren sorgfältig und hinreichend; ich hatte Beispiele der darin aufzuführenden Gebirgsarten zur Genüge mitgenommen und dieselben, meine Zwecke hartnäckig verfolgend, in dem jenaischen Museum niedergelegt, mit Bergrat Lenz ihre Charakteristik und dem Vorkommen gemäße Anordnung besprochen.
Also ausgerüstet, gelangt ich diesmal nach Karlsbad in die Fülle des Müllerischen Steinvorrats. Mit weniger Abweichung von der vorjährigen Ordnung, in welcher ich eine Mustersammlung noch beisammen fand, wurde, mit gutem Willen und Überzeugung des alten Steinfreundes, die entschiedene neue Ordnung beliebt, sogleich ein Aufsatz gefertigt und wiederholt mit Sorgfalt durchgegangen.
Ehe der kleine Aufsatz nun abgedruckt werden konnte, mußte die Billigung der obern Prager Behörde eingeholt werden, und so hab ich das Vergnügen, auf einem meiner Manuskripte das »Vidi« der Prager Zensur zu erblicken. Diese wenigen Bogen sollten mir und andern in der Folge zum Leitfaden dienen und zu mehr spezieller Untersuchung Anlaß geben.
Zugleich war die Absicht, gewisse geologische Überzeugungen in die Wissenschaft einzuschwärzen.
Für den guten Joseph Müller aber war die erfreuliche Folge, daß die Aufmerksamkeit auf seine Sammlung gerichtet und mehrere Bestellungen darauf gegeben wurden. Doch so eingewurzelt war ihm die freilich wegen der Konkurrenz so nötige Geheimnislust, daß er mir den Fundort von einigen Nummern niemals entdecken wollte, vielmehr die seltsamsten Ausflüchte ersann, um seine Freunde und Gönner irrezuführen.
In reiferen Jahren, wo man nicht mehr so heftig wie sonst durch Zerstreuungen in die Weite getrieben, durch Leidenschaften in die Enge gezogen wird, hat eine Badezeit große Vorteile, indem die Mannigfaltigkeit so vieler bedeutender Personen von allen Seiten Lebensbelehrung zuführt. So war dieses Jahr in Karlsbad mir höchst günstig, indem nicht nur die reichste und angenehmste Unterhaltung mir ward, sondern sich auch ein Verhältnis anknüpfte, welches sich in der Folge sehr fruchtbar ausbildete. Ich traf mit dem Residenten von Reinhard zusammen, der mit Gattin und Kindern diesen Aufenthalt wählte, um von harten Schicksalen sich zu erholen und auszuruhen. In früheren Jahren mit in die Französische Revolution verflochten, hatte er sich einer Folge von Generationen angeähnlicht, war durch ministerielle und diplomatische Dienste hoch emporgekommen. Napoleon, der ihn nicht lieben konnte, wußte ihn doch zu gebrauchen, sendete ihn aber zuletzt an einen unerfreulichen und gefährlichen Posten, nach Jassy, wo er, seiner Pflicht treulich vorstehend, eine Zeitlang verweilte, sodann aber von den Russen aufgehoben, durch manche Länderstrecken mit den Seinigen geführt, endlich auf diensame Vorstellungen wieder losgegeben wurde. Hievon hatte seine höchst gebildete Gattin, eine Hamburgerin, Reimarus’ Tochter, eine treffliche Beschreibung aufgesetzt, wodurch man die verwickelten, ängstlichen Zustände genauer einsah und zu wahrer Teilnahme hingenötigt wurde.
Schon der Moment, in welchem sich ein neuer würdiger Landsmann von Schiller und Cuvier darstellte, war bedeutend genug, um alsobald eine nähere Verbindung zu bewirken. Beide Gatten, wahrhaft aufrichtig und deutsch gesinnt, nach allen Seiten gebildet, Sohn und Tochter anmutig und liebenswürdig, hatten mich bald in ihren Kreis gezogen. Der treffliche Mann schloß sich um so mehr an mich, als er, Repräsentant einer Nation, die im Augenblick so vielen Menschen wehe tat, von der übrigen geselligen Welt nicht wohlwollend angesehen werden konnte.
Ein Mann vom Geschäftsfache, gewohnt, sich die fremdesten Angelegenheiten vortragen zu lassen, um solche alsbald zurechtgelegt in klarer Ordnung zu erkennen, leiht einem jeden sein Ohr, und so gönnte mir auch dieser neue Freund anhaltende Aufmerksamkeit, als ich ihm meine Farbenlehre vorzutragen nicht unterlassen konnte. Er ward sehr bald damit vertraut, übernahm die Übersetzung einiger Stellen, ja wir machten den Versuch einer sonderbaren wechselseitigen Mitteilung, indem ich ihm Geschichte und Schicksale der Farbenlehre von den ältesten Zeiten bis auf die neusten und auch meine Bemühungen eines Morgens aus dem Stegreif vortrug und er dagegen seine Lebensgeschichte am andern Tage gleichfalls summarisch erzählte. So wurden wir denn, ich mit dem, was ihm begegnet, er mit dem, was mich auf das lebhafteste beschäftigte, zugleich bekannt und ein innigeres Eingreifen in die wechselseitigen Interessen erleichtert.
Zunächst hab ich nun der Fürstin Solms, einer gebornen Prinzessin von Mecklenburg, zu gedenken, die mir immer, wo ich ihr auch begegnete, ein gnädiges Wohlwollen erwies. Sie veranlaßte mich jederzeit, ihr etwas vorzulesen, und ich wählte stets das Neuste, was mir aus Sinn und Herz hervorgequollen war, wodurch denn die Dichtung jedesmal als der Ausdruck eines wahren Gefühls auch wahr erschien und, weil sie aus dem Innern hervortrat, wieder aufs Innerste ihre Wirkung ausübte. Eine freundlich sinnige Hofdame, Fräulein L’Estocq, war es, welche mit gutem Geiste diesen vertraulichen Mitteilungen beiwohnte.
Sodann sollte mir der Name Reinhard noch einmal teuer werden. Der Königlich Sächsische Oberhofprediger suchte seine schon sehr zerrüttete Gesundheit an der heißen Quelle wieder aufzubauen. So leid es tat, diesen Wackern in bedenklichen Krankheitsumständen zu sehen, so erfreulich war die Unterhaltung mit ihm. Seine schöne sittliche Natur, sein ausgebildeter Geist, sein redliches Wollen sowie seine praktische Einsicht, was zu wünschen und zu erstreben sei, traten überall in ehrwürdiger Liebenswürdigkeit hervor. Ob er gleich mit meiner Art, mich über das Vorliegende zu äußern, sich nicht ganz befreunden konnte, so hatt ich doch die Freude, in einigen Hauptpunkten gegen die herrschende Meinung mit ihm vollkommen übereinzustimmen, woraus er einsehen mochte, daß mein scheinbarer liberalistischer Indifferentismus, im tiefsten Ernste mit ihm praktisch zusammentreffend, doch nur eine Maske sein dürfte, hinter der ich mich sonst gegen Pedanterie und Dünkel zu schützen suchte. Auch gewann ich in einem hohen Grade sein Vertrauen, wodurch mir manches Treffliche zuteil ward. Und so waren es sittliche, das Unvergängliche berührende Gespräche, welche das Gewaltsame der aufeinander folgenden Kriegsnachrichten ablehnten oder milderten.
Die erneuerte Bekanntschaft mit dem verdienten Kreishauptmann von Schiller gewährte gleichfalls, ungeachtet der vielfachen Arbeiten dieses überhäuften Geschäftsmannes, gar manche angenehme Stunde. Auch überraschte mich durch seine Gegenwart Hauptmann Blumenstein, den ich vor einem Jahr in Jena am furchtbaren Vorabend unserer Unglückstage teilnehmend und aufrichtig gefunden. Voller Einsicht, Heiterkeit und glücklicher Einfälle, war er der beste Gesellschafter, und wir trieben manchen Schwank zusammen; doch konnte er als leidenschaftlicher Preuße mir nicht verzeihen, daß ich mit einem französischen Diplomaten zu vertraulich umgehe. Aber auch dieses ward durch ein paar lustige Einfälle bald zwischen uns in Freundschaft abgetan.
Nun aber schloß sich mir ein neuer Kreis auf: Fürstin Bagration, schön, reizend, anziehend, versammelte um sich eine bedeutende Gesellschaft. Hier ward ich dem Fürsten Ligne vorgestellt, dessen Name mir schon so viele Jahre bekannt, dessen Persönlichkeit mir durch Verhältnisse zu meinen Freunden höchst merkwürdig geworden. Seine Gegenwart bestätigte seinen Ruf; er zeigte sich immer heiter, geistreich, allen Vorfällen gewachsen und als Welt- und Lebemann überall willkommen und zu Hause. Der Herzog von Koburg zeichnete sich aus durch schöne Gestalt und anmutig würdiges Betragen. Der Herzog von Weimar, den ich in bezug auf mich zuerst hätte nennen sollen, weil ich ihm die ehrenvolle Aufnahme in diesen Kreis zu verdanken hatte, belebte denselben durch seine Gegenwart vorzüglich. Graf Corneillan war auch hier, durch sein ernstes, ruhiges Betragen und dadurch, daß er angenehme Kunstwerke zur Unterhaltung brachte, immer willkommen. Vor der Wohnung der Fürstin, mitten auf der Wiese, fanden sich stets einige Glieder dieser Kette zusammen; unter diesen auch Hofrat von Gentz, der mit großer Einsicht und Übersicht der kurzvergangenen Kriegsereignisse mir gar oft seine Gedanken vertraulich eröffnete, die Stellungen der Armeen, den Erfolg der Schlachten und endlich sogar die erste Nachricht von dem Frieden zu Tilsit mitteilte.
An Ärzten war diesmal Karlsbad gleichfalls gesegnet. Dr. Kapp von Dresden nenne ich zuerst, dessen Anwesenheit im Bade mich immer glücklich machte, weil seine Unterhaltung überaus lehrreich und seine Sorgfalt für den, der sich ihm anvertraute, höchst gewissenhaft war. Hofrat Sulzer von Ronneburg, ein treuer Naturforscher und emsiger Mineralog, schloß sich an; Dr. Mitterbacher, sofern seine Geschäfte erlaubten, war auch beirätig. Dr. Florian, ein Böhme von Manetin, trat gleichfalls hinzu, und so hatte man Gelegenheit, mehr als eine der ärztlichen Denk- und Behandlungsweisen gewahr zu werden.
Auch von seiten der Stadt und Regierung schien man geneigt, Anstalt zu treffen, diese heißen Quellen besser als bisher zu ehren und den herangelockten Fremden eine angenehmere Lokalität zu bereiten. Ein zur Seite des Bernhardfelsens angelegtes Hospital gab Hoffnungen für die unvermögende Klasse, und die höheren Stände freuten sich schon zum voraus, dereinst am Neubrunnen einen bequemern und schicklichern Spaziergang zu finden. Man zeigte mir die Plane vor, die nicht anders als zu billigen waren; man hatte die Sache wirklich im großen überdacht, und ich freute mich gleichfalls der nahen Aussicht, mit soviel tausend anderen aus dem möglichst unanständigen Gedränge in eine würdig-geräumige Säulenhalle versetzt zu sein.
Meiner Neigung zur Mineralogie war noch manches andere förderlich. Die Porzellanfabrik in Dalwitz bestätigte mich abermals in meiner Überzeugung, daß geognostische Kenntnis im großen und im kleinen jedem praktischen Unternehmen von der größten Wichtigkeit sei. Was wir sonst nur diesem oder jenem Lande zugeeignet glaubten, wissen wir jetzt an hundert Orten zu finden: man erinnere sich der vormals wie ein Kleinod geachteten sächsischen Porzellanerde, die sich jetzt überall hervortut.
Für ein näheres Verständnis der Edelsteine war mir die Gegenwart eines Juweliers, Zöldner von Prag, höchst interessant: denn ob ich ihm gleich nur weniges abkaufte, so machte er mich mit so vielem bekannt, was mir im Augenblick zur Freude und in der Folge zum Nutzen gereichte.
Übergehen will ich nicht, daß ich in meinen Tagebüchern angemerkt finde, wie des Dr. Hausmanns und seiner Reise nach Norwegen mit Ehren und Zutrauen in der Gesellschaft gedacht worden.
Und so wurde mir auch noch, wie gewöhnlich in den spätesten Tagen des Karlsbader Aufenthalts, Bergrat Werners Anwesenheit höchst belebend. Wir kannten einander seit vielen Jahren und harmonierten, vielleicht mehr durch wechselseitige Nachsicht als durch übereinstimmende Grundsätze. Ich vermied, seinen Sprudelursprung aus Kohlenflözen zu berühren, war aber in andern Dingen aufrichtig und mitteilend, und er, mit wirklich musterhafter Gefälligkeit, mochte gern meinen dynamischen Thesen, wenn er sie auch für Grillen hielt, aus reicher Erfahrung belehrend nachhelfen.
Es lag mir damals mehr als je am Herzen, die porphyrartige Bildung gegen konglomeratische hervorzuheben, und ob ihm gleich das Prinzip nicht zusagte, so machte er mich doch in Gefolg meiner Fragen mit einem höchst wichtigen Gestein bekannt; er nannte es nach trefflicher eigenartiger Bestimmung dattelförmig-körnigen Quarz, der bei Prieborn in Schlesien gefunden werde. Er zeichnete mir sogleich die Art und Weise des Erscheinens und veranlaßte dadurch vieljährige Nachforschungen.
Es begegnet uns auf Reisen, wo wir entweder mit fremden oder doch lange nicht gesehenen Personen, es sei nun an ihrem Wohnort oder auch unterwegs, zusammentreffen, daß wir sie ganz anders finden, als wir sie zu denken gewohnt waren. Wir erinnern uns, daß dieser oder jener namhafte Mann einem oder dem andern Wissen mit Neigung und Leidenschaft zugetan ist; wir treffen ihn und wünschen uns gerade in diesem Fache zu belehren, und siehe da, er hat sich ganz woanders hingewendet, und das, was wir bei ihm suchen, ist ihm völlig aus den Augen gekommen. So ging es mir diesmal mit Bergrat Werner, welcher oryktognostische und geognostische Gespräche lieber vermied und unsere Aufmerksamkeit für ganz andere Gegenstände forderte.
Der Sprachforschung war er diesmal ganz eigentlich ergeben; deren Ursprung, Ableitung, Verwandtschaft gab seinem scharfsinnigen Fleiß hinreichende Beschäftigung, und es bedurfte nicht viel Zeit, so hatte er uns auch für diese Studien gewonnen. Er führte eine Bibliothek von Pappenkasten mit sich, worin er alles, was hierher gehörte, ordnungsgemäß, wie es einem solchen Mann geziemt, verwahrte und dadurch eine freie, geistreiche Mitteilung erleichterte.
Damit aber dieses nicht allzu paradox erscheine, so denke man an die Nötigung, wodurch dieser Treffliche in ein solches Fach hingedrängt worden. Jedes Wissen fordert ein zweites, ein drittes und immer so fort; wir mögen den Baum in seinen Wurzeln oder in seinen Ästen und Zweigen verfolgen, eins ergibt sich immer aus dem andern, und je lebendiger irgendein Wissen in uns wird, desto mehr sehen wir uns getrieben, es in seinem Zusammenhange auf- und abwärts zu verfolgen. Werner hatte sich in seinem Fach, wie er herankam, für die Einzelheiten solcher Namen bedient, wie sie seinem Vorgänger beliebt; da er aber zu unterscheiden anfing, da sich täglich neue Gegenstände aufdrangen, so fühlte er die Notwendigkeit, selbst Namen zu erteilen.
Namen zu geben ist nicht so leicht, wie man denkt, und ein recht gründlicher Sprachforscher würde zu manchen sonderbaren Betrachtungen aufgeregt werden, wenn er eine Kritik der vorliegenden oryktognostischen Nomenklatur schreiben wollte. Werner fühlte das gar wohl und holte freilich weit aus, indem er, um Gegenstände eines gewissen Fachs zu benennen, die Sprachen überhaupt in ihrem Entstehen, Entwicklungs- und Bildungssinne betrachten und ihnen das, was zu seinem Zwecke gefordert ward, ablernen wollte.
Niemand hat das Recht, einem geistreichen Manne vorzuschreiben, womit er sich beschäftigen soll. Der Geist schießt aus dem Zentrum seine Radien nach der Peripherie; stößt er dort an, so läßt er’s auf sich beruhen und treibt wieder neue Versuchslinien aus der Mitte, auf daß er, wenn ihm nicht gegeben ist, seinen Kreis zu überschreiten, er ihn doch möglichst erkennen und ausfüllen möge. Und wenn auch Werner über dem Mittel den Zweck vergessen hätte, welches wir doch keineswegs behaupten dürfen, so waren wir doch Zeugen der Freudigkeit, womit er das Geschäft betrieb, und wir lernten von ihm und lernten ihm ab, wie man verfährt, um sich in einem Unternehmen zu beschränken und darin eine Zeitlang Glück und Befriedigung zu finden.
Sonst ward mir weder Muße noch Gelegenheit, in ältere Behandlungen der Naturgeschichte einzugehen. Ich studierte den Albertus Magnus, aber mit wenigem Erfolg. Man müßte sich den Zustand seines Jahrhunderts vergegenwärtigen, um nur einigermaßen zu begreifen, was hier gemeint und getan sei.
Gegen das Ende der Kur kam mein Sohn nach Karlsbad, dem ich den Anblick des Ortes, wovon so oft zu Hause die Rede war, auch gönnen wollte. Dies gab Gelegenheit zu einigen Abenteuern, welche den innern unruhigen Zustand der Gesellschaft offenbarten. Es war zu jener Zeit eine Art von Pekeschen Mode, grün, mit Schnüren von gleicher Farbe vielfach besetzt, beim Reiten und auf der Jagd sehr bequem und deshalb ihr Gebrauch sehr verbreitet. Diese Hülle hatten sich mehrere durch den Krieg versprengte preußische Offiziere zu einer Interimsuniform beliebt und konnten überall unter Pächtern, Gutsbesitzern, Jägern, Pferdehändlern und Studenten unerkannt umhergehen. Mein Sohn trug dergleichen. Indessen hatte man in Karlsbad einige dieser verkappten Offiziere ausgewittert, und nun deutete gar bald dieses ausgezeichnete Kostüm auf einen Preußen.
Niemand wußte von der Ankunft meines Sohnes. Ich stand mit Fräulein L’Estocq an der Tepelmauer vor dem Sächsischen Saale; er geht vorbei und grüßt; sie zieht mich beiseite und sagt mit Heftigkeit: »Dies ist ein preußischer Offizier, und was mich erschreckt, er sieht meinem Bruder sehr ähnlich.« – »Ich will ihn herrufen«, versetzte ich, »will ihn examinieren.« Ich war schon weg, als sie mir nachrief: »Um Gottes willen, machen Sie keine Streiche!« Ich brachte ihn zurück, stellte ihn vor und sagte: »Diese Dame, mein Herr, wünscht einige Auskunft. Mögen Sie uns wohl entdecken, woher Sie kommen und wer Sie sind?« Beide junge Personen waren verlegen, eins wie das andere. Da mein Sohn schwieg und nicht wußte, was es bedeuten solle, und das Fräulein schweigend auf einen schicklichen Rückzug zu denken schien, nahm ich das Wort und erklärte mit einer scherzhaften Wendung, daß es mein Sohn sei, und wir müßten es für ein Familienglück halten, wenn er ihrem Bruder einigermaßen ähnlich sehen könnte. Sie glaubte es nicht, bis das Märchen endlich in Wahrscheinlichkeit und zuletzt in Wirklichkeit überging.
Das zweite Abenteuer war nicht so ergötzlich. Wir waren schon in den September gelangt, zu der Jahrszeit, in welcher die Polen häufiger sich in Karlsbad zu versammeln pflegen. Ihr Haß gegen die Preußen war schon seit langer Zeit groß und nach den letzten Unfällen in Verachtung übergegangen. Sie mochten unter der grünen, als polnischen Ursprungs recht eigentlich polnischen Jacke diesmal auch einen Preußen wittern. Er geht auf dem Platz umher, vor den Häusern der Wiese, vier Polen begegnen ihm, auf der Mitte des Sandweges hergehend; einer löst sich ab, geht an ihm vorbei, sieht ihm ins Gesicht und gesellt sich wieder zu den andern. Mein Sohn weiß so zu manövrieren, daß er ihnen nochmals begegnet, in der Mitte des Sandwegs auf sie losgeht und die viere durchschneidet, dabei sich auch ganz kurz erklärt, wie er heiße, wo er wohne und zugleich, daß seine Abreise auf morgen früh bestimmt sei und daß, wer was an ihn zu suchen habe, es diesen Abend noch tun könne. Wir verbrachten den Abend, ohne beunruhigt zu sein, und so reisten wir auch den andern Morgen ab. Es war, als könnte diese Komödie von vielen Akten wie ein englisches Lustspiel nicht endigen ohne Ehrenhändel.
Bei meiner Rückkunft von Karlsbad brachten mir die Sänger ein Ständchen, woraus ich zugleich Neigung, guten Willen, Fortschreiten in der Kunst und manch anderes Erfreuliche gewahr werden konnte. Ich vergnügte mich nunmehr, bekannten Melodien neue, aus der Gegenwart geschöpfte Lieder zu heiterer Geselligkeit unterzulegen; Demoiselle Engels trug sie mit Geist und Leben vor, und so eigneten wir uns die beliebtesten Sangweisen nach und nach dergestalt an, als wenn sie für unsern Kreis wären gedichtet worden. Musikalische mehrstimmige Vorübungen fanden fleißig statt, und am 30. Dezember konnte der erste Sonntag vor großer Gesellschaft gefeiert werden.
Das Weimarische Theater gewann zu Michael einen angenehmen und hoffnungsvollen Tenoristen, Morhard. Seine Ausbildung beförderte ein älterer musikalischer Freund, dem eine gewisse konzertmeisterliche Geschicklichkeit eigen war, mit der Violine dem Gesang nachzuhelfen und dem Sänger Sicherheit, Mut und Lust einzuflößen. Dies gab Veranlassung, musikalische Didaskalien nach Art jener dramatischen zu halten, als Vorübung, um den Sänger in Rollen einzuleiten, die ihm vielleicht, nur später, zugeteilt würden. Zugleich war die Absicht, Personen von weniger Stimme in leichten, faßlichen Opern, die als Einschub immer willkommen sind, brauchbar und angenehm zu machen. Hieraus entsprang fernerhin eine Übung mehrstimmigen Gesanges, welches denn früher oder später dem Theater zum Nutzen zugute kommen mußte.
Auch als Dichter wollte ich für die Bühne nicht untätig bleiben. Ich schrieb einen Prolog für Leipzig, wo unsere Schauspieler eine Zeitlang auftreten sollten; ferner einen Prolog zum 19. September, um die Wiedervereinigung der fürstlichen Familie nach jener widerwärtigen Trennung zu feiern.
Als das wichtigste Unternehmen bemerke ich jedoch, daß ich »Pandorens Wiederkunft« zu bearbeiten anfing. Ich tat es zwei jungen Männern, vieljährigen Freunden, zuliebe. Leo von Seckendorf und Dr. Stoll, beide von literarischem Bestreben, dachten einen Musenalmanach in Wien herauszufördern; er sollte den Titel »Pandora« führen, und da der mythologische Punkt, wo Prometheus auftritt, mir immer gegenwärtig und zur belebten Fixidee geworden, so griff ich ein, nicht ohne die ernstlichsten Intentionen, wie ein jeder sich überzeugen wird, der das Stück, soweit es vorliegt, aufmerksam betrachten mag.
Dem Bande meiner epischen Gedichte sollte »Achilleis« hinzugefügt werden; ich nahm das Ganze wieder vor, hatte jedoch genug zu tun, nur die beiden ersten Gesänge so weit zu führen, um sie anfügen zu können.
Gedenken muß ich auch noch einer ebenfalls aus freundschaftlichem Sinne unternommenen Arbeit. Johannes von Müller hatte mit Anfang des Jahres zum Andenken König Friedrichs des Zweiten eine akademische Rede geschrieben und wurde deshalb heftig angefochten. Nun hatte er seit den ersten Jahren unserer Bekanntschaft mir viele Liebe und Treue erwiesen und wesentliche Dienste geleistet; ich dachte daher ihm wieder etwas Gefälliges zu erzeigen und glaubte, es würde ihm angenehm sein, wenn er von irgendeiner Seite her sein Unternehmen gebilligt sähe. Ein freundlicher Widerhall durch eine harmlose Übersetzung schien mir das Geeignetste; sie trat im »Morgenblatt« hervor, und er wußte mir’s Dank, ob an der Sache gleich nichts gebessert wurde.
»Pandoras Wiederkunft« war schematisiert, und die Ausführung geschah nach und nach. Nur der erste Teil ward fertig, zeigt aber schon, wie absichtlich dieses Werk unternommen und fortgeführt worden.
Die bereits zum öftern genannten kleinen Erzählungen beschäftigten mich in heitern Stunden, und auch »Die Wahlverwandtschaften« sollten in der Art kurz behandelt werden. Allein sie dehnten sich bald aus; der Stoff war allzu bedeutend und zu tief in mir gewurzelt, als daß ich ihn auf eine so leichte Weise hätte beseitigen können.
»Pandora« sowohl als »Die Wahlverwandtschaften« drücken das schmerzliche Gefühl der Entbehrung aus und konnten also nebeneinander gar wohl gedeihen. »Pandorens« erster Teil gelangte zu rechter Zeit gegen Ende des Jahrs nach Wien; das Schema der »Wahlverwandtschaften« war weit gediehen und manche Vorarbeiten teilweise vollbracht. Ein anderes Interesse tat sich im letzten Viertel des Jahres hervor; ich wendete mich an die »Nibelungen«, wovon wohl manches zu sagen wäre.
Ich kannte längst das Dasein dieses Gedichts aus Bodmers Bemühungen. Christoph Heinrich Müller sendete mir seine Ausgabe leider ungeheftet, das köstliche Werk blieb roh bei mir liegen, und ich, in anderem Geschäft, Neigung und Sorge befangen, blieb so stumpf dagegen wie die übrige deutsche Welt; nur las ich zufällig eine Seite, die nach außen gekehrt war, und fand die Stelle, wo die Meerfrauen dem kühnen Helden weissagen. Dies traf mich, ohne daß ich wäre gereizt worden, ins Ganze tiefer einzugehen; ich phantasierte mir vielmehr eine für sich bestehende Ballade des Inhalts, die mich in der Einbildungskraft oft beschäftigte, obschon ich es nicht dazu brachte, sie abzuschließen und zu vollenden.
Nun aber ward, wie alles seine Reife haben will, durch patriotische Tätigkeit die Teilnahme an diesem wichtigen Altertum allgemeiner und der Zugang bequemer. Die Damen, denen ich das Glück hatte noch immer am Mittwoche Vorträge zu tun, erkundigten sich darnach, und ich säumte nicht, ihnen davon gewünschte Kenntnis zu geben. Unmittelbar ergriff ich das Original und arbeitete mich bald dermaßen hinein, daß ich, den Text vor mir habend, Zeile für Zeile eine verständliche Übersetzung vorlesen konnte. Es blieb der Ton, der Gang, und vom Inhalt ging auch nichts verloren. Am besten glückt ein solcher Vortrag ganz aus dem Stegreife, weil der Sinn sich beisammenhalten und der Geist lebendig-kräftig wirken muß, indem es eine Art von Improvisieren ist Doch indem ich in das Ganze des poetischen Werks auf diese Weise einzudringen dachte, so versäumte ich nicht, mich auch dergestalt vorzubereiten, daß ich auf Befragen über das einzelne einigermaßen Rechenschaft zu geben imstande wäre. Ich verfertigte mir ein Verzeichnis der Personen und Charaktere, flüchtige Aufsätze über Lokalität und Geschichtliches, Sitten und Leidenschaften, Harmonie und Inkongruitäten und entwarf zugleich zum ersten Teil eine hypothetische Karte. Hierdurch gewann ich viel für den Augenblick, mehr für die Folge, indem ich nachher die ernsten, anhaltenden Bemühungen deutscher Sprach- und Altertumsfreunde besser zu beurteilen, zu genießen und zu benutzen wußte.
Zwei weit ausgreifende Werke wurden durch Dr. Niethammer angeregt von München her: ein historisch-religioses Volksbuch und eine allgemeine Liedersammlung zu Erbauung und Ergötzung der Deutschen. Beides wurde eine Zeitlang durchgedacht und schematisiert, das Unternehmen jedoch wegen mancher Bedenklichkeit aufgegeben.. Indessen wurden von beiden, weil doch in der Folge etwas Ähnliches unternommen werden konnte, die gesammelten Papiere zurückgelegt.
Zu Hackerts Biographie wurde die Vorarbeit ernstlich betrieben. Es war eine schwierige Aufgabe, denn die mir überlieferten Papiere waren weder ganz als Stoff noch ganz als Bearbeitung anzusehen. Das Gegebene war nicht ganz aufzulösen und, wie es lag, nicht völlig zu gebrauchen. Es verlangte daher diese Arbeit mehr Sorgfalt und Mühe als ein eigenes, aus mir selbst entsprungenes Werk, und es gehörte einige Beharrlichkeit und die ganze dem abgeschiedenen Freunde gewidmete Liebe und Hochachtung dazu, um nicht die Unternehmung aufzugeben, da die Erben des edlen Mannes, welche sich den Wert der Manuskripte sehr hoch vorstellten, mir nicht auf das allerfreundlichste begegneten.
Sowohl der polemische als der historische Teil der »Farbenlehre« rücken zwar langsam, aber doch gleichmäßig fort; von geschichtlichen Studien bleiben Roger Bacon, Aguillonius und Boyle die Hauptschriftsteller; am Ende des Jahrs ist der erste Teil meist vollendet, der zweite nur zum neunten Revisionsbogen gelangt.
Die jenaischen Anstalten hatten sich nach den kriegerischen Stürmen, aus denen sie glücklich und wie durch ein Wunder gerettet worden, völlig wieder erholt, alle Teilnehmenden hatten eifrig eingegriffen, und als man im September sie sämtlich revidierte, ließ sich dem Schöpfer derselben, unserm gnädigsten Herrn, bei seiner glücklichen Rückkehr davon genüglicher Vortrag abstatten.