Aus der Erinnerung

War ich nun durch die Gegenwart und Tätigkeit eines geschickten Künstlers und durch eigne, obgleich nur einzelne und schwächere Bemühungen gewiß, daß mir von den interessantesten Gegenden und ihren Teilen feste, wohlgewählte Bilder, im Umriß und nach Belieben auch ausgeführt, bleiben würden, so gab ich um so mehr einem nach und nach auflebenden Drange nach: die gegenwärtige herrliche Umgebung, das Meer, die Inseln, die Häfen, durch poetische würdige Gestalten zu beleben und mir auf und aus diesem Lokal eine Komposition zu bilden, in einem Sinne und in einem Ton, wie ich sie noch nicht hervorgebracht. Die Klarheit des Himmels, der Hauch des Meeres, die Düfte, wodurch die Gebirge mit Himmel und Meer gleichsam in ein Element aufgelöst wurden, alles dies gab Nahrung meinen Vorsätzen; und indem ich in jenem schönen öffentlichen Garten zwischen blühenden Hecken von Oleander, durch Lauben von fruchttragenden Orangen- und Zitronenbäumen wandelte und zwischen andern Bäumen und Sträuchen, die mir unbekannt waren, verweilte, fühlte ich den fremden Einfluß auf das allerangenehmste.

Ich hatte mir, überzeugt, daß es für mich keinen bessern Kommentar zur »Odyssee« geben könne als eben gerade diese lebendige Umgebung, ein Exemplar verschafft und las es nach meiner Art mit unglaublichem Anteil. Doch wurde ich gar bald zu eigner Produktion angeregt, die, so seltsam sie auch im ersten Augenblicke schien, mir doch immer lieber ward und mich endlich ganz beschäftigte. Ich ergriff nämlich den Gedanken, den Gegenstand der Nausikaa als Tragödie zu behandeln.

Es ist mir selbst nicht möglich, abzusehen, was ich daraus würde gemacht haben, aber ich war über den Plan bald mit mir einig. Der Hauptsinn war der: in der Nausikaa eine treffliche, von vielen umworbene Jungfrau darzustellen, die, sich keiner Neigung bewußt, alle Freier bisher ablehnend behandelt, durch einen seltsamen Fremdling aber gerührt, aus ihrem Zustand heraustritt und durch eine voreilige Äußerung ihrer Neigung sich kompromittiert, was die Situation vollkommen tragisch macht. Diese einfache Fabel sollte durch den Reichtum der subordinierten Motive und besonders durch das Meer- und Inselhafte der eigentlichen Ausführung und des besondern Tons erfreulich werden.

Der erste Akt begann mit dem Ballspiel. Die unerwartete Bekanntschaft wird gemacht, und die Bedenklichkeit, den Fremden nicht selbst in die Stadt zu führen, wird schon ein Vorbote der Neigung.

Der zweite Akt exponierte das Haus des Alcinous, die Charaktere der Freier, und endigte mit Eintritt des Ulysses.

Der dritte war ganz der Bedeutsamkeit des Abenteurers gewidmet, und ich hoffte, in der dialogierten Erzählung seiner Abenteuer, die von den verschiedenen Zuhörern sehr verschieden aufgenommen werden, etwas Künstliches und Erfreuliches zu leisten. Während der Erzählung erhöhen sich die Leidenschaften, und der lebhafte Anteil Nausikaas an dem Fremdling wird durch Wirkung und Gegenwirkung endlich hervorgeschlagen.

Im vierten Akte betätigt Ulysses außer der Szene seine Tapferkeit, indessen die Frauen zurückbleiben und der Neigung, der Hoffnung und allen zarten Gefühlen Raum lassen. Bei den großen Vorteilen, welche der Fremdling davonträgt, hält sich Nausikaa noch weniger zusammen und kompromittiert sich unwiderruflich mit ihren Landsleuten. Ulyß, der, halb schuldig, halb unschuldig, dieses alles veranlaßt, muß sich zuletzt als einen Scheidenden erklären, und es bleibt dem guten Mädchen nichts übrig, als im fünften Akte den Tod zu suchen.

Es war in dieser Komposition nichts, was ich nicht aus eignen Erfahrungen nach der Natur hätte ausmalen können. Selbst auf der Reise, selbst in Gefahr, Neigungen zu erregen, die, wenn sie auch kein tragisches Ende nehmen, doch schmerzlich genug, gefährlich und schädlich werden können; selbst in dem Falle, in einer so großen Entfernung von der Heimat abgelegne Gegenstände, Reiseabenteuer, Lebensvorfälle zu Unterhaltung der Gesellschaft mit lebhaften Farben auszumalen, von der Jugend für einen Halbgott, von gesetztern Personen für einen Aufschneider gehalten zu werden, manche unverdiente Gunst, manches unerwartete Hindernis zu erfahren; das alles gab mir ein solches Attachement an diesen Plan, an diesen Vorsatz, daß ich darüber meinen Aufenthalt zu Palermo, ja den größten Teil meiner übrigen sizilianischen Reise verträumte. Weshalb ich denn auch von allen Unbequemlichkeiten wenig empfand, da ich mich auf dem überklassischen Boden in einer poetischen Stimmung fühlte, in der ich das, was ich erfuhr, was ich sah, was ich bemerkte, was mir entgegenkam, alles auffassen und in einem erfreulichen Gefäß bewahren konnte.

Nach meiner löblichen oder unlöblichen Gewohnheit schrieb ich wenig oder nichts davon auf, arbeitete aber den größten Teil bis aufs letzte Detail im Geiste durch, wo es denn, durch nachfolgende Zerstreuungen zurückgedrängt, liegengeblieben, bis ich gegenwärtig nur eine flüchtige Erinnerung davon zurückrufe.

Den 8. Mai. Auf dem Wege nach Messina.

Man hat hohe Kalkfelsen links. Sie werden farbiger und machen schöne Meerbusen; dann folgt eine Art Gestein, das man Tonschiefer oder Grauwacke nennen möchte. In den Bächen finden sich schon Granitgeschiebe. Die gelben Äpfel des Solanum, die roten Blüten des Oleanders machen die Landschaft lustig. Der Fiume Nisi bringt Glimmerschiefer sowie auch die folgenden Bäche.

Mittwoch, den 9. Mai 1787.

Vom Ostwinde bestürmt, ritten wir zwischen dem rechter Hand wogenden Meere und den Felswänden hin, an denen wir vorgestern oben herab gesehen hatten, diesen Tag beständig mit dem Wasser im Kampfe; wir kamen über unzählige Bäche, unter welchen ein größerer, Nisi, den Ehrentitel eines Flusses führt; doch diese Gewässer sowie das Gerölle, das sie mitbringen, waren leichter zu überwinden als das Meer, das heftig stürmte und an vielen Stellen über den Weg hinweg bis an die Felsen schlug und zurück auf die Wanderer spritzte. Herrlich war das anzusehen, und die seltsame Begebenheit ließ uns das Unbequeme übertragen.

Zugleich sollte es nicht an mineralogischer Betrachtung fehlen. Die ungeheuren Kalkfelsen, verwitternd, stürzen herunter, deren weiche Teile, durch die Bewegung der Wellen aufgerieben, die zugemischten, festeren übriglassen, und so ist der ganze Strand mit bunten, hornsteinartigen Feuersteinen überdeckt, wovon mehrere Muster aufgepackt worden.

Messina, Donnerstag, den 10. Mai 1787.

Und so gelangten wir nach Messina, bequemten uns, weil wir keine Gelegenheit kannten, die erste Nacht in dem Quartier des Vetturins zuzubringen, um uns den andern Morgen nach einem bessern Wohnort umzusehen. Dieser Entschluß gab gleich beim Eintritt den fürchterlichsten Begriff einer zerstörten Stadt; denn wir ritten eine Viertelstunde lang an Trümmern nach Trümmern vorbei, ehe wir zur Herberge kamen, die, in diesem ganzen Revier allein wieder aufgebaut, aus den Fenstern des obern Stocks nur eine zackige Ruinenwüste übersehen ließ. Außer dem Bezirk dieses Gehöftes spürte man weder Mensch noch Tier, es war nachts eine furchtbare Stille. Die Türen ließen sich weder verschließen noch verriegeln, auf menschliche Gäste war man hier so wenig eingerichtet als in ähnlichen Pferdewohnungen, und doch schliefen wir ruhig auf einer Matratze, welche der dienstfertige Vetturin dem Wirte unter dem Leibe weggeschwatzt hatte.

Freitag, den 11. Mai 1787.

Heute trennten wir uns von dem wackern Führer, ein gutes Trinkgeld belohnte seine sorgfältigen Dienste. Wir schieden freundlich, nachdem er uns vorher noch einen Lohnbedienten verschafft, der uns gleich in die beste Herberge bringen und alles Merkwürdige von Messina vorzeigen sollte. Der Wirt, um seinen Wunsch, uns loszuwerden, schleunigst erfüllt zu sehen, half Koffer und sämtliches Gepäck auf das schnellste in eine angenehme Wohnung schaffen, näher dem belebten Teile der Stadt, das heißt, außerhalb der Stadt selbst. Damit aber verhält es sich folgendermaßen. Nach dem ungeheuren Unglück, das Messina betraf, blieb nach zwölftausend umgekommenen Einwohnern für die übrigen dreißigtausend keine Wohnung: die meisten Gebäude waren niedergestürzt, die zerrissenen Mauern der übrigen gaben einen unsichern Aufenthalt; man errichtete daher eiligst im Norden von Messina auf einer großen Wiese eine Bretterstadt, von der sich am schnellsten derjenige einen Begriff macht, der zu Meßzeiten den Römerberg zu Frankfurt, den Markt zu Leipzig durchwanderte, denn alle Kramläden und Werkstätte sind gegen die Straße geöffnet, vieles ereignet sich außerhalb. Daher sind nur wenig größere Gebäude, auch nicht sonderlich gegen das Öffentliche verschlossen, indem die Bewohner manche Zeit unter freiem Himmel zu bringen. So wohnen sie nun schon drei Jahre, und diese Buden-, Hütten-, ja Zeltwirtschaft hat auf den Charakter der Einwohner entschiedenen Einfluß. Das Entsetzen über jenes ungeheure Ereignis, die Furcht vor einem ähnlichen treibt sie, der Freuden des Augenblicks mit gutmütigem Frohsinn zu genießen. Die Sorge vor neuem Unheil ward am einundzwanzigsten April, also ungefähr vor zwanzig Tagen, erneuert, ein merklicher Erdstoß erschütterte den Boden abermals. Man zeigte uns eine kleine Kirche, wo eine Masse Menschen, gerade in dem Augenblick zusammengedrängt, diese Erschütterung empfanden. Einige Personen, die darin gewesen, schienen sich von ihrem Schrecken noch nicht erholt zu haben.

Beim Aufsuchen und Betrachten dieser Gegenstände leitete uns ein freundlicher Konsul, der, unaufgefordert, vielfache Sorge für uns trug – in dieser Trümmerwüste mehr als irgendwo dankbar anzuerkennen. Zugleich auch, da er vernahm, daß wir bald abzureisen wünschten, machte er uns einem französischen Kauffahrer bekannt, der im Begriff stehe, nach Neapel zu segeln. Doppelt erwünscht, da die weiße Flagge vor den Seeräubern sichert.

Eben hatten wir unserm gütigen Führer den Wunsch zu erkennen gegeben, eine der größern, obgleich auch nur einstöckigen Hütten inwendig, ihre Einrichtung und extemporierte Haushaltung zu sehen, als ein freundlicher Mann sich an uns anschloß, der sich bald als französischer Sprachmeister bezeichnete, welchem der Konsul nach vollbrachtem Spaziergange unsern Wunsch, solch ein Gebäude zu sehen, eröffnete, mit dem Ersuchen, uns bei sich einzuführen und mit den Seinigen bekannt zu machen.

Wir traten in die mit Brettern beschlagene und gedeckte Hütte. Der Eindruck war völlig wie der jener Meßbuden, wo man wilde Tiere oder sonstige Abenteuer für Geld sehen läßt: das Zimmerwerk an den Wänden wie am Dache sichtbar, ein grüner Vorhang sonderte den vordern Raum, der, nicht gedielt, tennenartig geschlagen schien. Stühle und Tische befanden sich da, nichts weiter von Hausgeräte. Erleuchtet war der Platz von oben durch zufällige Öffnungen der Bretter. Wir diskurierten eine Zeitlang, und ich betrachtete mir die grüne Hülle und das darüber sichtbare innere Dachgebälke, als auf einmal hüben und drüben des Vorhangs ein paar allerliebste Mädchenköpfchen neugierig herausguckten, schwarzäugig, schwarzlockig, die aber, sobald sie sich bemerkt sahen, wie der Blitz verschwanden, auf’ Ansuchen des Konsuls jedoch nach so viel verflossener Zeit, als nötig war, sich anzuziehen, auf wohlgeputzten und niedlichen Körperchen wieder hervortraten und sich mit ihren bunten Kleidern gar zierlich vor dem grünen Teppich ausnahmen. Aus ihren Fragen konnten wir wohl merken, daß sie uns für fabelhafte Wesen aus einer andern Welt hielten, in welchem liebenswürdigen Irrtum sie unsere Antworten nur mehr bestärken mußten. Auf eine heitere Weise malte der Konsul unsere märchenhafte Erscheinung aus; die Unterhaltung war sehr angenehm, schwer, sich zu trennen. Vor der Tür erst fiel uns auf, daß wir die innern Räume nicht gesehen und die Hauskonstruktion über die Bewohnerinnen vergessen hatten.

Messina, Sonnabend, den 12. Mai 1787.

Der Konsul unter andern sagte, daß es, wo nicht unumgänglich nötig, doch wohlgetan sei, dem Gouverneur aufzuwarten, der, ein wunderlicher alter Mann, nach Laune und Vorurteil ebensogut schaden als nutzen könne; dem Konsul werde es zu Gunsten gerechnet, wenn er bedeutende Fremde vorstelle, auch wisse der Ankömmling nie, ob er dieses Mannes auf eine oder andere Weise bedürfe. Dem Freunde zu Gefallen ging ich mit.

Ins Vorzimmer tretend, hörten wir drinne ganz entsetzlichen Lärm, ein Laufer mit Pulcinellgebärden raunte dem Konsul ins Ohr: »Böser Tag! gefährliche Stunde!« Doch traten wir hinein und fanden den uralten Gouverneur, uns den Rücken zugewandt, zunächst des Fensters an einem Tische sitzen. Große Haufen vergelbter alter Briefschaften lagen vor ihm, von denen er die unbeschriebenen Blätter mit größter Gelassenheit abschnitt und seinen haushältischen Charakter dadurch zu erkennen gab. Während dieser friedlichen Beschäftigung schalt und fluchte er fürchterlich auf einen anständigen Mann los, der seiner Kleidung nach mit Malta verwandt sein konnte und sich mit vieler Gemütsruhe und Präzision verteidigte, wozu ihm jedoch wenig Raum blieb. Der Gescholtene und Angeschriene suchte mit Fassung einen Verdacht abzulehnen, den der Gouverneur, so schien es, auf ihn als einen ohne Befugnis mehrmals An- und Abreisenden mochte geworfen haben, der Mann berief sich auf seine Pässe und bekannten Verhältnisse in Neapel. Dies aber half alles nichts, der Gouverneur zerschnitt seine alten Briefschaften, sonderte das weiße Papier sorgfältig und tobte fortwährend.

Außer uns beiden standen noch etwa zwölf Personen in einem weiten Kreise, dieses Tiergefechtes Zeugen, uns wahrscheinlich den Platz an der Türe beneidend, als gute Gelegenheit, wenn der Erzürnte allenfalls den Krückenstock erheben und dreinschlagen sollte. Die Gesichtszüge des Konsuls hatten sich bei dieser Szene merklich verlängert; mich tröstete des Laufers possenhafte Nähe, der draußen vor der Schwelle hinter mir allerlei Faxen schnitt, mich, wenn ich manchmal umblickte, zu beruhigen, als habe das so viel nicht zu bedeuten.

Auch entwirrte sich der gräßliche Handel noch ganz gelinde, der Gouverneur schloß damit, es halte ihn zwar nichts ab, den Betretenen einzustecken und in Verwahrung zappeln zu lassen, allein es möge diesmal hingehen, er solle die paar bestimmten Tage in Messina bleiben, alsdann aber sich fortpacken und niemals wiederkehren. Ganz ruhig, ohne die Miene zu verändern, beurlaubte sich der Mann, grüßte anständig die Versammlung und uns besonders, die er durchschneiden mußte, um zur Türe zu gelangen. Als der Gouverneur, ihm noch etwas nachzuschelten, sich ingrimmig umkehrte, erblickte er uns, faßte sich sogleich, winkte dem Konsul, und wir traten an ihn heran.

Ein Mann von sehr hohem Alter, gebückten Hauptes, unter grauen, struppigen Augenbrauen schwarze, tiefliegende Blicke hervorsendend; nun ein ganz anderer als kurz zuvor. Er hieß mich zu sich sitzen, fragte, in seinem Geschäft ununterbrochen fortfahrend, nach mancherlei, worüber ich ihm Bescheid gab, zuletzt fügte er hinzu, ich sei, so lange ich hier bliebe, zu seiner Tafel geladen. Der Konsul, zufrieden wie ich, ja noch zufriedener, weil er die Gefahr, der wir entronnen, besser kannte, flog die Treppe hinunter, und mir war alle Lust vergangen, dieser Löwenhöhle je wieder nah zu treten.

Messina, Sonntag, den 13. Mai 1787.

Zwar bei hellstem Sonnenschein in einer angenehmern Wohnung erwachend, fanden wir uns doch immer in dem unseligen Messina. Einzig unangenehm ist der Anblick der sogenannten Palazzata, einer sichelförmigen Reihe von wahrhaften Palästen, die wohl in der Länge einer Viertelstunde die Reede einschließen und bezeichnen. Alles waren steinerne, vierstockige Gebäude, von welchen mehrere Vorderseiten bis aufs Hauptgesims noch völlig stehen, andere bis auf den dritten, zweiten, ersten Stock heruntergebrochen sind, so daß diese ehemalige Prachtreihe nun aufs widerlichste zahnlückig erscheint und auch durchlöchert; denn der blaue Himmel schaut beinahe durch alle Fenster. Die inneren eigentlichen Wohnungen sind sämtlich zusammengestürzt.

An diesem seltsamen Phänomen ist Ursache, daß nach der von Reichen begonnenen architektonischen Prachtanlage weniger begüterte Nachbarn, mit dem Scheine wetteifernd, ihre alten, aus größern und kleinern Flußgeschieben und vielem Kalk zusammengekneteten Häuser hinter neuen, aus Quaderstücken aufgeführten Vorderseiten versteckten. Jenes an sich schon unsichere Gefüge mußte, von der ungeheuern Erschütterung aufgelöst und zerbröckelt, zusammenstürzen; wie man denn unter manchen bei so großem Unglück vorgekommenen wunderbaren Rettungen auch folgendes erzählt: der Bewohner eines solchen Gebäudes sei im furchtbaren Augenblick gerade in die Mauervertiefung eines Fensters getreten, das Haus aber hinter ihm völlig zusammengestürzt; und so habe er, in der Höhe gerettet, den Augenblick seiner Befreiung aus diesem luftigen Kerker beruhigt abgewartet. Daß jene aus Mangel naher Bruchsteine so schlechte Bauart hauptsächlich schuld an dem völligen Ruin der Stadt gewesen, zeigt die Beharrlichkeit solider Gebäude. Der Jesuiten Kollegium und Kirche, von tüchtigen Quadern aufgeführt, stehen noch unverletzt in ihrer anfänglichen Tüchtigkeit. Dem sei aber, wie ihm wolle, Messinas Anblick ist äußerst verdrießlich und erinnert an die Urzeiten, wo Sikaner und Sikuler diesen unruhigen Erdboden verließen und die westliche Küste Siziliens bebauten.

Und so brachten wir unsern Morgen zu, gingen dann, im Gasthof ein frugales Mahl zu verzehren. Wir saßen noch ganz vergnügt beisammen, als der Bediente des Konsuls atemlos hereinsprang und mir verkündigte, der Gouverneur lasse mich in der ganzen Stadt suchen; er habe mich zur Tafel geladen, und nun bleibe ich aus. Der Konsul lasse mich aufs inständigste bitten, auf der Stelle hinzugehen, ich möchte gespeist haben oder nicht, möchte aus Vergessenheit oder aus Vorsatz die Stunde versäumt haben. Nun fühlte ich erst den unglaublichen Leichtsinn, womit ich die Einladung des Zyklopen aus dem Sinne geschlagen, froh, daß ich das erste Mal entwischt. Der Bediente ließ mich nicht zaudern, seine Vorstellungen waren die dringendsten und triftigsten: der Konsul riskiere, hieß es, daß jener wütende Despot ihn und die ganze Nation auf den Kopf stelle.

Indessen ich nun Haare und Kleider zurechte putzte, faßte ich mir ein Herz und folgte mit heiterm Sinne meinen Führer, Odysseus, den Patron, anrufend und mir seine Vorsprache bei Pallas Athene erbittend.

In der Höhle des Löwen angelangt, ward ich vom lustigen Laufer in einen großen Speisesaal geführt, wo etwa vierzig Personen, ohne daß man einen Laut vernommen hätte, an einer länglichrunden Tafel saßen. Der Platz zur Rechten des Gouverneurs war offen, wohin mich der Laufer geleitete.

Nachdem ich den Hausherrn und die Gäste mit einer Verbeugung gegrüßt, setzte ich mich neben ihn, entschuldigte mein Außenbleiben mit der Weitläuftigkeit der Stadt und dem Irrtum, in welchen mich die ungewöhnliche Stundenzahl schon mehrmals geführt. Er versetzte mit glühenden Blick, man habe sich in fremden Landen nach den jedesmaligen Gewohnheiten zu erkundigen und zu richten. Ich erwiderte, dies sei jederzeit mein Bestreben, nur hätte ich gefunden, daß bei den besten Vorsätzen man gewöhnlich die ersten Tage, wo uns ein Ort noch neu und die Verhältnisse unbekannt seien, in gewisse Fehler verfalle, welche unverzeihlich scheinen müßten, wenn man nicht die Ermüdung der Reise, die Zerstreuung durch Gegenstände, die Sorge für ein leidliches Unterkommen, ja sogar für eine weitere Reise als Gründe der Entschuldigung möchte gelten lassen.

Er fragte darauf, wie lange ich hier zu bleiben gedächte. Ich versetzte, daß ich mir einen recht langen Aufenthalt wünsche, damit ich ihm die Dankbarkeit für die mir erwiesene Gunst durch die genaueste Befolgung seiner Befehle und Anordnungen betätigen könnte. Nach einer Pause fragte er sodann, was ich in Messina gesehen habe. Ich erzählte kürzlich meinen Morgen mit einigen Bemerkungen und fügte hinzu, daß ich am meisten bewundert die Reinlichkeit und Ordnung in den Straßen dieser zerstörten Stadt. Und wirklich war bewunderungswürdig, wie man die sämtlichen Straßen von Trümmern gereinigt, indem man den Schutt in die zerfallenen Mauerstätten selbst geworfen, die Steine dagegen an die Häuser angereiht und dadurch die Mitte der Straßen frei, dem Handel und Wandel offen wieder übergeben. Hiebei konnte ich dem Ehrenmanne mit der Wahrheit schmeicheln, indem ich ihm versicherte, daß alle Messineser dankbar erkennten, diese Wohltat seiner Vorsorge schuldig zu sein. – »Erkennen sie es«, brummte er, »haben sie doch früher genug über die Härte geschrien, mit der man sie zu ihrem Vorteile nötigen mußte.« Ich sprach von weisen Absichten der Regierung, von höhern Zwecken, die erst später eingesehen und geschätzt werden könnten, und dergleichen. Er fragte, ob ich die Jesuitenkirche gesehen habe, welches ich verneinte; worauf er mir denn zusagte, daß er mir sie wolle zeigen lassen, und zwar mit allem Zubehör.

Während diesem durch wenige Pausen unterbrochenen Gespräche sah ich die übrige Gesellschaft in dem tiefsten Stillschweigen, nicht mehr sich bewegen als nötig, die Bissen zum Munde zu bringen. Und so standen sie, als die Tafel aufgehoben und der Kaffee gereicht war, wie Wachspuppen rings an den Wänden. Ich ging auf den Hausgeistlichen los, der mir die Kirche zeigen sollte, ihm zum voraus für seine Bemühungen zu danken; er wich zur Seite, indem er demütig versicherte, die Befehle Ihro Exzellenz habe er ganz allein vor Augen. Ich redete darauf einen jungen, nebenstehenden Fremden an, dem es auch, ob er gleich ein Franzose war, nicht ganz wohl in seiner Haut zu sein schien; denn auch er war verstummt und erstarrt wie die ganze Gesellschaft, worunter ich mehrere Gesichter sah, die der gestrigen Szene mit dem Malteserritter bedenklich beigewohnt hatten.

Der Gouverneur entfernte sich, und nach einiger Zeit sagte mir der Geistliche, es sei nun an der Stunde, zu gehen. Ich folgte ihm, die übrige Gesellschaft hatte sich stille, stille verloren. Er führte mich an das Portal der Jesuitenkirche, das nach der bekannten Architektur dieser Väter prunkhaft und wirklich imposant in die Luft steht. Ein Schließer kam uns schon entgegen und lud zum Eintritt, der Geistliche hingegen hielt mich zurück mit der Weisung, daß wir zuvor auf den Gouverneur zu warten hätten. Dieser fuhr auch bald heran, hielt auf dem Platze unfern der Kirche und winkte, worauf wir drei ganz nah an seinem Kutschenschlag uns vereinigten. Er gebot dem Schließer, daß er mir nicht allein die Kirche in allen ihren Teilen zeigen, sondern auch die Geschichte der Altäre und anderer Stiftungen umständlich erzählen solle; ferner habe er auch die Sakristeien aufzuschließen und mich auf alles das darin enthaltene Merkwürdige aufmerksam zu machen. Ich sei ein Mann, den er ehren wolle, der alle Ursache haben solle, in seinem Vaterlande rühmlich von Messina zu sprechen. »Versäumen Sie nicht«, sagte er darauf, zu mir gewandt, mit einem Lächeln, insofern seine Züge dessen fähig waren, »versäumen Sie nicht, so lange Sie hier sind, zur rechten Stunde an Tafel zu kommen, Sie sollen immer wohl empfangen sein.« Ich hatte kaum Zeit, ihm hierauf verehrlich zu erwidern. Der Wagen bewegte sich fort.

Von diesem Augenblick an ward auch der Geistliche heiterer, wir traten in die Kirche. Der Kastellan, wie man ihn wohl in diesem entgottesdiensteten Zauberpalaste nennen dürfte, schickte sich an, die ihm scharf empfohlene Pflicht zu erfüllen, als der Konsul und Kniep in das leere Heiligtum hereinstürzten, mich umarmten und eine leidenschaftliche Freude ausdrückten, mich, den sie schon in Gewahrsam geglaubt, wiederzusehen. Sie hatten in Höllenangst gesessen, bis der gewandte Laufer, wahrscheinlich vom Konsul gut pensioniert, einen glücklichen Ausgang des Abenteuers unter hundert Possen erzählte, worauf denn ein erheiternder Frohsinn sich über die beiden ergoß, die mich sogleich aufsuchten, als die Aufmerksamkeit des Gouverneurs wegen der Kirche ihnen bekannt geworden.

Indessen standen wir vor dem Hochaltare, die Auslegung alter Kostbarkeiten vernehmend. Säulen von Lapislazuli, durch bronzene, vergoldete Stäbe gleichsam kanneliert, nach florentinischer Art eingelegte Pilaster und Füllungen; die prächtigen sizilianischen Achate in Überfluß, Erz und Vergoldung sich wiederholend und alles verbindend.

Nun war es aber eine wunderbare kontrapunktische Fuge, wenn Kniep und der Konsul die Verlegenheit des Abenteuers, der Vorzeiger dagegen die Kostbarkeiten der noch wohl erhaltenen Pracht verschränkt vortrugen, beide von ihrem Gegenstand durchdrungen; wobei ich denn das doppelte Vergnügen hatte, den Wert meines glücklichen Entkommens zu fühlen und zugleich die sizilianischen Gebirgsprodukte, um die ich mir schon manche Mühe gegeben, architektonisch angewendet zu sehen.

Die genaue Kenntnis der einzelnen Teile, woraus dieser Prunk zusammengesetzt war, verhalf mir zur Entdeckung, daß der sogenannte Lapislazuli jener Säulen eigentlich nur Calcara sei, aber freilich von so schöner Farbe, als ich sie noch nicht gesehn, und herrlich zusammengefügt. Aber auch so blieben diese Säulen noch immer ehrwürdig; denn es setzt eine ungeheure Menge jenes Materials voraus, um Stücke von so schöner und gleicher Farbe aussuchen zu können, und dann ist die Bemühung des Schneidens, Schleifens und Polierens höchst bedeutend. Doch was war jenen Vätern unüberwindlich?

Der Konsul hatte indessen nicht aufgehört, mich über mein bedrohliches Schicksal aufzuklären. Der Gouverneur nämlich, mit sich selbst unzufrieden, daß ich von seinem gewaltsamen Betragen gegen den Quasi-Malteser gleich beim ersten Eintritt Zeuge gewesen, habe sich vorgenommen, mich besonders zu ehren, und sich darüber einen Plan festgesetzt, dieser habe durch mein Außenbleiben gleich zu Anfang der Ausführung einen Strich erlitten. Nach langem Warten sich endlich zur Tafel setzend, habe der Despot sein ungeduldiges Mißvergnügen nicht verbergen können, und die Gesellschaft sei in Furcht gestanden, entweder bei meinem Kommen oder nach aufgehobener Tafel eine Szene zu erleben.

Indessen suchte der Küster immer wieder das Wort zu erhaschen, öffnete die geheimen Räume, nach schönen Verhältnissen gebaut, anständig, ja prächtig verziert, auch war darin noch manches bewegliche Kirchengeräte übriggeblieben, dem Ganzen gemäß geformt und geputzt. Von edeln Metallen sah ich nichts, so wenig als von ältern und neuern echten Kunstwerken.

Unsere italienisch-deutsche Fuge, denn Pater und Küster psalmodierten in der ersten, Kniep und Konsul in der zweiten Sprache, neigte sich zu Ende, als ein Offizier sich zu uns gesellte, den ich bei Tafel gesehen. Er gehörte zum Gefolge des Gouverneurs. Dies konnte wieder einige Besorgnis erregen, besonders da er sich erbot, mich an den Hafen zu führen, wo er mich an Punkte bringen wolle, die Fremden sonst unzugänglich seien. Meine Freunde sahen sich an, ich ließ mich jedoch nicht abhalten, allein mit ihm zu gehen. Nach einigen gleichgültigen Gesprächen begann ich, ihn zutraulich anzureden, und gestand, bei Tafel gar wohl bemerkt zu haben, daß mehrere stille Beisitzer mir durch ein freundliches Zeichen zu verstehen gegeben, daß ich nicht unter weltfremden Menschen allein, sondern unter Freunden, ja Brüdern mich befinde und deshalb nichts zu besorgen habe. Ich halte für Pflicht, ihm zu danken und um Erstattung gleichen Danks an die übrigen Freunde zu ersuchen. Hierauf erwiderte derselbe, daß sie mich um so mehr zu beruhigen gesucht, als sie bei Kenntnis der Gemütsart ihres Vorgesetzten für mich eigentlich nichts befürchtet hätten; denn eine Explosion wie die gegen den Malteser sei nur selten, und gerade wegen einer solchen mache sich der würdige Greis selbst Vorwürfe, hüte sich lange, lebe dann eine Weile in einer sorglosen Sicherheit seiner Pflicht, bis er denn endlich, durch einen unerwarteten Vorfall überrascht, wieder zu neuen Heftigkeiten hingerissen werde. Der wackere Freund setzte hinzu, daß ihm und seinen Genossen nichts wünschenswerter wäre, als mit mir sich genauer zu verbinden, weshalb ich die Gefälligkeit haben möchte, mich näher zu bezeichnen, wozu sich heute nacht die beste Gelegenheit finden werde. Ich wich diesem Verlangen höflich aus, indem ich ihn bat, mir eine Grille zu verzeihen: ich wünsche nämlich, auf Reisen bloß als Mensch angesehen zu werden, könne ich als ein solcher Vertrauen erregen und Teilnahme erlangen, so sei es mir angenehm und erwünscht; in andere Verhältnisse einzugehen, verböten mir mancherlei Gründe.

Überzeugen wollt’ ich ihn nicht, denn ich durfte ja nicht sagen, was eigentlich mein Grund war. Merkwürdig genug aber schien mir’s, wie schön und unschuldig die wohldenkenden Männer unter einem despotischen Regiment sich zu eignem und zu der Fremdlinge Schutz verbündet hatten. Ich verhehlte ihm nicht, daß ich ihre Verhältnisse zu andern deutschen Reisenden recht wohl kenne, verbreitete mich über die löblichen Zwecke, die erreicht werden sollten, und setzte ihn immer mehr in Erstaunen über meine vertrauliche Hartnäckigkeit. Er versuchte alles mögliche, mich aus meinem Inkognito hervorzuziehen, welches ihm nicht gelang, teils weil ich, einer Gefahr entronnen, mich nicht zwecklos in eine andere begeben konnte, teils weil ich gar wohl bemerkte, die Ansichten dieser wackern Insulaner seien von den meinigen so sehr verschieden, daß ihnen mein näherer Umgang weder Freude noch Trost bringen könne.

Dagegen wurden abends mit dem teilnehmenden und tätigen Konsul noch einige Stunden verbracht, der denn auch die Szene mit dem Malteser aufklärte. Es sei dieser zwar kein eigentlicher Abenteurer, aber ein unruhiger Ortswechsler. Der Gouverneur, aus einer großen Familie, wegen Ernst und Tüchtigkeit verehrt, wegen bedeutender Dienste geschätzt, stehe doch im Rufe unbegrenzten Eigenwillens, zaumloser Heftigkeit und ehernen Starrsinns. Argwöhnisch als Greis und Despot, mehr besorgt als überzeugt, daß er Feinde bei Hofe habe, hasse er solche hin und wider ziehende Figuren, die er durchaus für Spione halte. Diesmal sei ihm der Rotrock in die Quer gekommen, da er nach einer ziemlichen Pause sich wieder einmal im Zorn habe ergehen müssen, um die Leber zu befreien.

Messina und auf der See, Montag, den 13. Mai 1787.

Beide wir erwachten mit gleicher Empfindung, verdrießlich, daß wir, durch den ersten wüsten Anblick von Messina zur Ungeduld gereizt, uns entschlossen hatten, mit dem französischen Kauffahrer die Rückfahrt abzuschließen. Nach dem glücklich beendigten Abenteuer mit dem Gouverneur, bei dem Verhältnis zu wackern Männern, denen ich mich nur näher zu bezeichnen brauchte, aus dem Besuch bei meinem Bankier, der auf dem Lande in der angenehmsten Gegend wohnte, ließ sich für einen längern Aufenthalt in Messina das Angenehmste hoffen. Kniep, von ein paar hübschen Kindern wohl unterhalten, wünschte nichts mehr als die längere Dauer des sonst verhaßten Gegenwindes. Indessen war die Lage unangenehm, alles mußte gepackt bleiben und wir jeden Augenblick bereit sein, zu scheiden.

So geschah denn auch dieser Aufruf gegen Mittag, wir eilten an Bord und fanden unter der am Ufer versammelten Menge auch unsern guten Konsul, von dem wir dankbar Abschied nahmen. Der gelbe Laufer drängte sich auch herbei, seine Ergötzlichkeiten abzuholen. Dieser ward nun belohnt und beauftragt, seinem Herrn unsere Abreise zu melden und mein Außenbleiben von Tafel zu entschuldigen. – »Wer absegelt, ist entschuldigt!« rief er aus; sodann mit einem seltsamen Sprung sich umkehrend, war er verschwunden.

Im Schiffe selbst sah es nun anders aus als auf der neapolitanischen Korvette; doch beschäftigte uns bei allmählicher Entfernung vom Ufer die herrliche Ansicht des Palastzirkels, der Zitadelle, der hinter der Stadt aufsteigenden Berge. Kalabrien an der andern Seite. Nun der freie Blick in die Meerenge nord- und südwärts, bei einer ausgedehnten, an beiden Seiten schön beuferten Breite. Als wir dieses nach und nach anstaunten, ließ man uns links in ziemlicher Ferne einige Bewegung im Wasser, rechts aber etwas näher einen vom Ufer sich auszeichnenden Felsen bemerken, jene als Charybdis, diesen als Scylla. Man hat sich bei Gelegenheit beider in der Natur so weit auseinander stehenden, von dem Dichter so nah zusammengerückten Merkwürdigkeiten über die Fabelei der Poeten beschwert und nicht bedacht, daß die Einbildungskraft aller Menschen durchaus Gegenstände, wenn sie sich solche bedeutend vorstellen will, höher als breit imaginiert und dadurch dem Bilde mehr Charakter, Ernst und Würde verschafft. Tausendmal habe ich klagen hören, daß ein durch Erzählung gekannter Gegenstand in der Gegenwart nicht mehr befriedige; die Ursache hievon ist immer dieselbe: Einbildung und Gegenwart verhalten sich wie Poesie und Prosa, jene wird die Gegenstände mächtig und steil denken, diese sich immer in die Fläche verbreiten. Landschaftsmaler des sechzehnten Jahrhunderts, gegen die unsrigen gehalten, geben das auffallendste Beispiel. Eine Zeichnung von Jodocus Momper neben einem Kniepschen Kontur würde den ganzen Kontrast sichtbar machen.

Mit solchen und ähnlichen Gesprächen unterhielten wir uns, indem selbst für Kniep die Küsten, welche zu zeichnen er schon Anstalt getroffen hatte, nicht reizend genug waren.

Mich aber befiel abermals die unangenehme Empfindung der Seekrankheit, und hier war dieser Zustand nicht wie bei der Überfahrt durch bequeme Absonderung gemildert; doch fand sich die Kajüte groß genug, um mehrere Personen einzunehmen, auch an guten Matratzen war kein Mangel. Ich nahm die horizontale Stellung wieder an, in welcher mich Kniep gar vorsorglich mit rotem Wein und gutem Brot ernährte. In dieser Lage wollte mir unsere ganze sizilianische Reise in keinem angenehmen Lichte erscheinen. Wir hatten doch eigentlich nichts gesehen, als durchaus eitle Bemühungen des Menschengeschlechts, sich gegen die Gewaltsamkeit der Natur, gegen die hämische Tücke der Zeit und gegen den Groll ihrer eigenen feindseligen Spaltungen zu erhalten. Die Karthager, Griechen und Römer und so viele nachfolgende Völkerschaften haben gebaut und zerstört. Selinunt liegt methodisch umgeworfen; die Tempel von Girgenti niederzulegen, waren zwei Jahrtausende nicht hinreichend, Catania und Messina zu verderben, wenige Stunden, wo nicht gar Augenblicke. Diese wahrhaft seekranken Betrachtungen eines auf der Woge des Lebens hin und wider Geschaukelten ließ ich nicht Herrschaft gewinnen.

Auf der See, Dienstag, den 13. Mai 1787.

Meine Hoffnung, diesmal schneller nach Neapel zu gelangen, oder von der Seekrankheit eher befreit zu sein, war nicht eingetroffen. Verschiedenemal versuchte ich, durch Kniep angeregt, auf das Verdeck zu treten, allein der Genuß eines so mannigfaltigen Schönen war mir versagt, nur einige Vorfälle ließen mich meinen Schwindel vergessen. Der ganze Himmel war mit einem weißlichen Wolkendunst umzogen, durch welchen die Sonne, ohne daß man ihr Bild hätte unterscheiden können, das Meer überleuchtete, welches die schönste Himmelsbläue zeigte, die man nur sehen kann. Eine Schar Delphine begleitete das Schiff, schwimmend und springend blieben sie ihm immer gleich. Mich deucht, sie hatten das aus der Tiefe und Ferne ihnen als ein schwarzer Punkt erscheinende Schwimmgebäude für irgendeinen Raub und willkommene Zehrung gehalten. Vom Schiff aus wenigstens behandelte man sie nicht als Geleitsmänner, sondern wie Feinde: einer ward mit dem Harpun getroffen, aber nicht herangebracht.

Der Wind blieb ungünstig, den unser Schiff, in verschiedenen Richtungen fortstreichend, nur überlisten konnte. Die Ungeduld hierüber ward vermehrt, als einige erfahrne Reisende versicherten, weder Hauptmann noch Steurer verstünden ihr Handwerk, jener möge wohl als Kaufmann, dieser als Matrose gelten, für den Wert so vieler Menschen und Güter seien sie nicht geeignet einzustehen.

Ich ersuchte diese übrigens braven Personen, ihre Besorgnisse geheimzuhalten. Die Anzahl der Passagiere war groß, darunter Weiber und Kinder von verschiedenem Alter, denn alles hatte sich auf das französische Fahrzeug gedrängt, die Sicherheit der weißen Flagge vor Seeräubern, sonst nichts weiter bedenkend. Ich stellte vor, daß Mißtrauen und Sorge jeden in die peinlichste Lage versetzen würde, da bis jetzt alle in der farb- und wappenlosen Leinwand ihr Heil gesehen.

Und wirklich ist zwischen Himmel und Meer dieser weiße Zipfel als entscheidender Talisman merkwürdig genug. Wie sich Abfahrende und Zurückbleibende noch mit geschwungenen weißen Taschentüchern begrüßen und dadurch wechselseitig ein sonst nie zu empfindendes Gefühl der scheidenden Freundschaft und Neigung erregen, so ist hier in dieser einfachen Fahne der Ursprung geheiligt; eben als wenn einer sein Taschentuch an eine Stange befestigte, um der ganzen Welt anzukündigen, es komme ein Freund über Meer.

Mit Wein und Brot von Zeit zu Zeit erquickt zum Verdruß des Hauptmanns, welcher verlangte, daß ich essen sollte, was ich bezahlt hatte, konnte ich doch auf dem Verdeck sitzen und an mancher Unterhaltung teilnehmen. Kniep wußte mich zu erheitern, indem er nicht wie auf der Korvette, über die vortreffliche Kost triumphierend, meinen Neid zu erregen suchte, mich vielmehr diesmal glücklich pries, daß ich keinen Appetit habe.

Montag, den 14. Mai 1787.

Und so war der Nachmittag vorbeigegangen, ohne daß wir unsern Wünschen gemäß in den Golf von Neapel eingefahren wären. Wir wurden vielmehr immer westwärts getrieben, und das Schiff, indem es sich der Insel Capri näherte, entfernte sich immer mehr von dem Kap Minerva. Jedermann war verdrießlich und ungeduldig, wir beiden aber, die wir die Welt mit malerischen Augen betrachteten, konnten damit sehr zufrieden sein; denn bei Sonnenuntergang genossen wir des herrlichsten Anblicks, den uns die ganze Reise gewährt hatte. In dem glänzendsten Farbenschmuck lag Kap Minerva mit den daranstoßenden Gebirgen vor unsern Augen, indes die Felsen, die sich südwärts hinabziehen, schon einen blaulichen Ton angenommen hatten. Vom Kap an zog sich die ganze erleuchtete Küste bis Sorrent hin. Der Vesuv war uns sichtbar, eine ungeheure Dampfwolke über ihm aufgetürmt, von der sich ostwärts ein langer Streif weit hinzog, so daß wir den stärksten Ausbruch vermuten konnten. Links lag Capri, steil in die Höhe strebend; die Formen seiner Felswände konnten wir durch den durchsichtigen bläulichen Dunst vollkommen unterscheiden. Unter einem ganz reinen, wolkenlosen Himmel glänzte das ruhige, kaum bewegte Meer, das bei einer völligen Windstille endlich wie ein klarer Teich vor uns lag. Wir entzückten uns an dem Anblick, Kniep trauerte, daß alle Farbenkunst nicht hinreiche, diese Harmonie wiederzugeben, so wie der feinste englische Bleistift die geübteste Hand nicht in den Stand setze, diese Linien nachzuziehen. Ich dagegen, überzeugt, daß ein weit geringeres Andenken, als dieser geschickte Künstler zu erhalten vermochte, in der Zukunft höchst wünschenswert sein würde, ich er munterte ihn, Hand und Auge zum letztenmal anzustrengen; er ließ sich bereden und lieferte eine der genausten Zeichnungen, die er nachher kolorierte und ein Beispiel zurückließ, daß bildlicher Darstellung das Unmögliche möglich wird. Den Übergang vom Abend zur Nacht verfolgten wir mit ebenso begierigen Augen. Capri lag nun ganz finster vor uns, und zu unserm Erstaunen entzündete sich die vesuvische Wolke sowie auch der Wolkenstreif, je länger, je mehr, und wir sahen zuletzt einen ansehnlichen Strich der Atmosphäre im Grunde unseres Bildes erleuchtet, ja, wetterleuchten.

Über diese uns so willkommenen Szenen hatten wir unbemerkt gelassen, daß uns ein großes Unheil bedrohe; doch ließ uns die Bewegung unter den Passagieren nicht lange in Ungewißheit. Sie, der Meeresereignisse kundiger als wir, machten dem Schiffsherrn und seinem Steuermanne bittre Vorwürfe; daß über ihre Ungeschicklichkeit nicht allein die Meerenge verfehlt sei, sondern auch die ihnen anvertraute Personenzahl, Güter und alles umzukommen in Gefahr schwebe. Wir erkundigten uns nach der Ursache dieser Unruhe, indem wir nicht begriffen, daß bei völliger Windstille irgendein Unheil zu befürchten sei. Aber eben diese Windstille machte jene Männer trostlos. »Wir befinden uns«, sagten sie, »schon in der Strömung, die sich um die Insel bewegt und durch einen sonderbaren Wellenschlag so langsam als unwiderstehlich nach dem schroffen Felsen hinzieht, wo uns auch nicht ein Fußbreit Vorsprung oder Bucht zur Rettung gegeben ist.«

Aufmerksam durch diese Reden, betrachteten wir nun unser Schicksal mit Grauen; denn obgleich die Nacht die zunehmende Gefahr nicht unterscheiden ließ, so bemerkten wir doch, daß das Schiff, schwankend und schwippend, sich den Felsen näherte, die immer finsterer vor uns standen, während über das Meer hin noch ein leichter Abendschimmer verbreitet lag. Nicht die geringste Bewegung war in der Luft zu bemerken: Schnupftücher und leichte Bänder wurden von jedem in die Höhe und ins Freie gehalten, aber keine Andeutung eines erwünschten Hauches zeigte sich. Die Menge ward immer lauter und wilder. Nicht etwa betend knieten die Weiber mit ihren Kindern auf dem Verdeck, sondern weil der Raum zu eng war, sich darauf zu bewegen, lagen sie gedrängt aneinander. Sie noch mehr als die Männer, welche besonnen auf Hülfe und Rettung dachten, schalten und tobten gegen den Kapitän. Nun ward ihm alles vorgeworfen, was man auf der ganzen Reise schweigend zu erinnern gehabt: für teures Geld einen schlechten Schiffsraum, geringe Kost, ein zwar nicht unfreundliches, aber doch stummes Betragen. Er hatte niemand von seinen Handlungen Rechenschaft gegeben, ja, selbst noch den letzten Abend ein hartnäckiges Stillschweigen über seine Manœuvres beobachtet. Nun hieß er und der Steuermann hergelaufene Krämer, die ohne Kenntnis der Schiffskunst sich aus bloßem Eigennutz den Besitz eines Fahrzeuges zu verschaffen gewußt und nun durch Unfähigkeit und Ungeschicklichkeit alle, die ihnen anvertraut, zugrunde richteten. Der Hauptmann schwieg und schien immer noch auf Rettung zu sinnen; mir aber, dem von Jugend auf Anarchie verdrießlicher gewesen als der Tod selbst, war es unmöglich, länger zu schweigen. Ich trat vor sie hin und redete ihnen zu, mit ungefähr ebensoviel Gemütsruhe als den Vögeln von Malcesine. Ich stellte ihnen vor, daß gerade in diesem Augenblick ihr Lärmen und Schreien denen, von welchen noch allein Rettung zu hoffen sei, Ohr und Kopf verwirrten, so daß sie weder denken noch sich untereinander verständigen könnten. »Was euch betrifft«, rief ich aus, »kehrt in euch selbst zurück und dann wendet euer brünstiges Gebet zur Mutter Gottes, auf die es ganz allein ankommt, ob sie sich bei ihrem Sohne verwenden mag, daß er für euch tue, was er damals für seine Apostel getan, als auf dem stürmenden See Tiberias die Wellen schon in das Schiff schlugen, der Herr aber schlief, der jedoch, als ihn die Trost- und Hülflosen aufweckten, sogleich dem Winde zu ruhen gebot, wie er jetzt der Luft gebieten kann, sich zu regen, wenn es anders sein heiliger Wille ist.«

Diese Worte taten die beste Wirkung. Eine unter den Frauen, mit der ich mich schon früher über sittliche und geistliche Gegenstände unterhalten hatte, rief aus: »Ah! il Barlamé! benedetto il Barlamé!« und wirklich fingen sie, da sie ohnehin schon auf den Knieen lagen, ihre Litaneien mit mehr als herkömmlicher Inbrunst leidenschaftlich zu beten an. Sie konnten dies mit desto größerer Beruhigung tun, als die Schiffsleute noch ein Rettungsmittel versuchten, das wenigstens in die Augen fallend war: sie ließen das Boot hinunter, das freilich nur sechs bis acht Männer fassen konnte, befestigten es durch ein langes Seil an das Schiff, welches die Matrosen durch Ruderschläge nach sich zu ziehen kräftig bemüht waren. Auch glaubte man einen Augenblick, daß sie es innerhalb der Strömung bewegten, und hoffte es bald aus derselben herausgerettet zu sehen. Ob aber gerade diese Bemühungen die Gegengewalt der Strömung vermehrt, oder wie es damit beschaffen sein mochte, so ward mit einmal an dem langen Seile das Boot und seine Mannschaft im Bogen rückwärts nach dem Schiffe geschleudert, wie die Schmitze einer Peitsche, wenn der Fuhrmann einen Zug tut. Auch diese Hoffnung ward aufgegeben! – Gebet und Klagen wechselten ab, und der Zustand wuchs um so schauerlicher, da nun oben auf den Felsen die Ziegenhirten, deren Feuer man schon längst gesehen hatte, hohl aufschrien, da unten strande das Schiff! Sie riefen einander noch viel unverständliche Töne zu, in welchen einige, mit der Sprache bekannt, zu vernehmen glaubten, als freuten sie sich auf manche Beute, die sie am andern Morgen aufzufischen gedächten. Sogar der tröstliche Zweifel, ob denn auch wirklich das Schiff dem Felsen sich so drohend nähere, war leider nur zu bald gehoben, indem die Mannschaft zu großen Stangen griff, um das Fahrzeug, wenn es zum Äußersten käme, damit von den Felsen abzuhalten, bis denn endlich auch diese brächen und alles verloren sei. Immer stärker schwankte das Schiff, die Brandung schien sich zu vermehren, und meine durch alles dieses wiederkehrende Seekrankheit drängte mir den Entschluß auf, hinunter in die Kajüte zu steigen. Ich legte mich halb betäubt auf meine Matratze, doch aber mit einer gewissen angenehmen Empfindung, die sich vom See Tiberias herzuschreiben schien; denn ganz deutlich schwebte mir das Bild aus Merians Kupferbibel vor Augen. Und so bewährt sich die Kraft aller sinnlich-sittlichen Eindrücke jedesmal am stärksten, wenn der Mensch ganz auf sich selbst zurückgewiesen ist. Wie lange ich so in halbem Schlafe gelegen, wüßte ich nicht zu sagen, aufgeweckt aber ward ich durch ein gewaltsames Getöse über mir; ich konnte deutlich vernehmen, daß es die großen Seile waren, die man auf dem Verdeck hin und wider schleppte, dies gab mir Hoffnung, daß man von den Segeln Gebrauch mache. Nach einer kleinen Weile sprang Kniep herunter und kündigte mir an, daß man gerettet sei, der gelindeste Windshauch habe sich erhoben; in dem Augenblick sei man bemüht gewesen, die Segel aufzuziehen, er selbst habe nicht versäumt, Hand anzulegen. Man entferne sich schon sichtbar vom Felsen, und obgleich noch nicht völlig außer der Strömung, hoffe man nun doch, sie zu überwinden. Oben war alles stille; sodann kamen mehrere der Passagiere, verkündigten den glücklichen Ausgang und legten sich nieder.

Als ich früh am vierten Tage unserer Fahrt erwachte, befand ich mich frisch und gesund, so wie ich auch bei der Überfahrt zu eben dieser Epoche gewesen war; so daß ich also auf einer längern Seereise wahrscheinlich mit einer dreitägigen Unpäßlichkeit meinen Tribut würde bezahlt haben.

Vom Verdeck sah ich mit Vergnügen die Insel Capri in ziemlicher Entfernung zur Seite liegen und unser Schiff in solcher Richtung, daß wir hoffen konnten, in den Golf hineinzufahren, welches denn auch bald geschah. Nun hatten wir die Freude, nach einer ausgestandenen harten Nacht dieselben Gegenstände, die uns abends vorher entzückt hatten, in entgegengesetztem Lichte zu bewundern. Bald ließen wir jene gefährliche Felseninsel hinter uns. Hatten wir gestern die rechte Seite des Golfs von weitem bewundert, so erschienen nun auch die Kastelle und die Stadt gerade vor uns, sodann links der Posilipo und die Erdzungen, die sich bis gegen Procida und Ischia erstreckten. Alles war auf dem Verdeck, voran ein für seinen Orient sehr eingenommener griechischer Priester, der den Landesbewohnern, die ihr herrliches Vaterland mit Entzücken begrüßten, auf ihre Frage, wie sich denn Neapel zu Konstantinopel verhalte, sehr pathetisch antwortete: »Anche questa è una città!« – »Auch dieses ist eine Stadt!« – Wir langten zur rechten Zeit im Hafen an, umsummt von Menschen; es war der lebhafteste Augenblick des Tages. Kaum waren unsere Koffer und sonstigen Gerätschaften ausgeladen und standen am Ufer, als gleich zwei Lastträger sich derselben bemächtigten, und kaum hatten wir ausgesprochen, daß wir bei Moriconi logieren würden, so liefen sie mit dieser Last wie mit einer Beute davon, so daß wir ihnen durch die menschenreichen Straßen und über den bewegten Platz nicht mit den Augen folgen konnten. Kniep hatte das Portefeuille unter dem Arm, und wir hätten wenigstens die Zeichnungen gerettet, wenn jene Träger, weniger ehrlich als die neapolitanischen armen Teufel, uns um dasjenige gebracht hätten, was die Brandung verschont hatte.

 
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Neapel

An Herder

Neapel, den 17. Mai 1787.

Hier bin ich wieder, meine Lieben, frisch und gesund. Ich habe die Reise durch Sizilien leicht und schnell getrieben, wenn ich wiederkomme, sollt Ihr beurteilen, wie ich gesehen habe. Daß ich sonst so an den Gegenständen klebte und haftete, hat mir nun eine unglaubliche Fertigkeit verschafft, alles gleichsam vom Blatt wegzuspielen, und ich finde mich recht glücklich, den großen, schönen, unvergleichbaren Gedanken von Sizilien so klar, ganz und lauter in der Seele zu haben. Nun bleibt meiner Sehnsucht kein Gegenstand mehr im Mittag, da ich auch gestern von Pästum zurückgekommen bin. Das Meer und die Inseln haben mir Genuß und Leiden gegeben, und ich kehre befriedigt zurück. Laßt mich jedes Detail bis zu meiner Wiederkehr aufsparen. Auch ist hier in Neapel kein Besinnens; diesen Ort werde ich Euch nun besser schildern, als es meine ersten Briefe taten. Den ersten Juni reise ich nach Rom, wenn mich nicht eine höhere Macht hindert, und Anfangs Juli denke ich von dort wieder abzugehen. Ich muß Euch so bald als möglich wiedersehen, es sollen gute Tage werden. Ich habe unsäglich aufgeladen und brauche Ruhe, es wieder zu verarbeiten.

Für alles, was Du Liebes und Gutes an meinen Schriften tust, danke ich Dir tausendmal, ich wünschte immer, etwas Besseres auch Dir zur Freude zu machen. Was mir auch von Dir begegnen wird und wo, soll mir willkommen sein, wir sind so nah in unsern Vorstellungsarten, als es möglich ist, ohne eins zu sein, und in den Hauptpunkten am nächsten. Wenn Du diese Zeit her viel aus Dir selbst geschöpft hast, so hab’ ich viel erworben, und ich kann einen guten Tausch hoffen.

Ich bin freilich, wie Du sagst, mit meiner Vorstellung sehr ans Gegenwärtige geheftet, und je mehr ich die Welt sehe, desto weniger kann ich hoffen, daß die Menschheit je eine weise, kluge, glückliche Masse werden könne. Vielleicht ist unter den Millionen Welten eine, die sich dieses Vorzugs rühmen kann; bei der Konstitution der unsrigen bleibt mir so wenig für sie, als für Sizilien bei der seinigen zu hoffen.

In einem beiliegenden Blatte sag’ ich etwas über den Weg nach Salerno und über Pästum selbst; es ist die letzte und, fast möcht’ ich sagen, herrlichste Idee, die ich nun nordwärts vollständig mitnehme. Auch ist der mittlere Tempel nach meiner Meinung allem vorzuziehen, was man noch in Sizilien sieht.

Was den Homer betrifft, ist mir wie eine Decke von den Augen gefallen. Die Beschreibungen, die Gleichnisse etc. kommen uns poetisch vor und sind doch unsäglich natürlich, aber freilich mit einer Reinheit und Innigkeit gezeichnet, vor der man erschrickt. Selbst die sonderbarsten erlogenen Begebenheiten haben eine Natürlichkeit, die ich nie so gefühlt habe als in der Nähe der beschriebenen Gegenstände. Laß mich meinen Gedanken kurz so ausdrücken: sie stellten die Existenz dar, wir gewöhnlich den Effekt; sie schilderten das Fürchterliche, wir schildern fürchterlich; sie das Angenehme, wir angenehm u.s.w. Daher kommt alles Übertriebene, alles Manierierte, alle falsche Grazie, aller Schwulst. Denn wenn man den Effekt und auf den Effekt arbeitet, so glaubt man ihn nicht fühlbar genug machen zu können. Wenn, was ich sage, nicht neu ist, so hab’ ich es doch bei neuem Anlaß recht lebhaft gefühlt. Nun ich alle diese Küsten und Vorgebirge, Golfe und Buchten, Inseln und Erdzungen, Felsen und Sandstreifen, buschige Hügel, sanfte Weiden, fruchtbare Felder, geschmückte Gärten, gepflegte Bäume, hängende Reben, Wolkenberge und immer heitere Ebnen, Klippen und Bänke und das alles umgebende Meer mit so vielen Abwechselungen und Mannigfaltigkeiten im Geiste gegenwärtig habe, nun ist mir erst die Odyssee ein lebendiges Wort.

Ferner muß ich Dir vertrauen, daß ich dem Geheimnis der Pflanzenzeugung und -organisation ganz nahe bin und daß es das einfachste ist, was nur gedacht werden kann. Unter diesem Himmel kann man die schönsten Beobachtungen machen. Den Hauptpunkt, wo der Keim steckt, habe ich ganz klar und zweifellos gefunden; alles übrige seh’ ich auch schon im ganzen, und nur noch einige Punkte müssen bestimmter werden. Die Urpflanze wird das wunderlichste Geschöpf von der Welt, um welches mich die Natur selbst beneiden soll. Mit diesem Modell und dem Schlüssel dazu kann man alsdann noch Pflanzen ins Unendliche erfinden, die konsequent sein müssen, das heißt, die, wenn sie auch nicht existieren, doch existieren könnten und nicht etwa malerische oder dichterische Schatten und Scheine sind, sondern eine innerliche Wahrheit und Notwendigkeit haben. Dasselbe Gesetz wird sich auf alles übrige Lebendige anwenden lassen.

Neapel, den 18. Mai 1787.

Tischbein, der nach Rom wieder zurückgekehrt ist, hat, wie wir merken, hier in der Zwischenzeit so für uns gearbeitet, daß wir seine Abwesenheit nicht empfinden sollen. Er scheint seinen sämtlichen hiesigen Freunden so viel Zutrauen zu uns eingeflößt zu haben, daß sie sich alle offen, freundlich und tätig gegen uns erweisen, welches ich besonders in meiner gegenwärtigen Lage sehr bedarf, weil kein Tag vergeht, wo ich nicht jemand um irgendeine Gefälligkeit und Beistand anzurufen hätte. Soeben bin ich im Begriff, ein summarisches Verzeichnis aufzusetzen von dem, was ich noch zu sehen wünschte; da denn die Kürze der Zeit Meisterin bleiben und andeuten wird, was denn auch wirklich nachgeholt werden könne.

Neapel, den 22. Mai 1787.

Heute begegnete mir ein angenehmes Abenteuer, welches mich wohl zu einigem Nachdenken bewegen konnte und des Erzählens wert ist.

Eine Dame, die mich schon bei meinem ersten Aufenthalt vielfach begünstigt, ersuchte mich, abends Punkt fünf Uhr bei ihr einzutreffen: es wolle mich ein Engländer sprechen, der mir über meinen »Werther« etwas zu sagen habe.

Vor einem halben Jahre würde hierauf, und wäre sie mir doppelt wert gewesen, gewiß eine abschlägige Antwort erfolgt sein; aber daran, daß ich zusagte, konnte ich wohl merken, meine sizilianische Reise habe glücklich auf mich gewirkt, und ich versprach zu kommen.

Leider aber ist die Stadt zu groß und der Gegenstände so viel, daß ich eine Viertelstunde zu spät die Treppe hinaufstieg und eben an der verschlossenen Türe auf der Schilfmatte stand, um zu klingeln, als die Türe schon aufging und ein schöner Mann in mittlern Jahren heraustrat, den ich sogleich für den Engländer erkannte. Er hatte mich kaum angesehen, als er sagte: »Sie sind der Verfasser des ›Werther‹!« Ich bekannte mich dazu und entschuldigte mich, nicht früher gekommen zu sein.

»Ich konnte nicht einen Augenblick länger warten«, versetzte derselbe, »was ich Ihnen zu sagen habe, ist ganz kurz und kann ebensogut hier auf der Schilfmatte geschehen. Ich will nicht wiederholen, was Sie von Tausenden gehört, auch hat das Werk nicht so heftig auf mich gewirkt als auf andere; sooft ich aber daran denke, was dazu gehörte, um es zu schreiben, so muß ich mich immer aufs neue verwundern.«

Ich wollte irgend etwas dankbar dagegen erwidern, als er mir ins Wort fiel und ausrief: »Ich darf keinen Augenblick länger säumen, mein Verlangen ist erfüllt, Ihnen dies selbst gesagt zu haben, leben Sie recht wohl und glücklich!« und so fuhr er die Treppe hinunter. Ich stand einige Zeit über diesen ehrenvollen Text nachdenkend und klingelte endlich. Die Dame vernahm mit Vergnügen unser Zusammentreffen und erzählte manches Vorteilhafte von diesem seltenen und seltsamen Manne.

Neapel, Freitag, den 25. Mai 1787.

Mein lockeres Prinzeßchen werde ich wohl nicht wiedersehen; sie ist wirklich nach Sorrent und hat mir die Ehre angetan, vor ihrer Abreise auf mich zu schelten, daß ich das steinichte und wüste Sizilien ihr habe vorziehen können. Einige Freunde gaben mir Auskunft über diese sonderbare Erscheinung. Aus einem guten, doch unvermögenden Hause geboren, im Kloster erzogen, entschloß sie sich, einen alten und reichen Fürsten zu heiraten, und man konnte sie um so eher dazu überreden, als die Natur sie zu einem zwar guten, aber zur Liebe völlig unfähigen Wesen gebildet hatte. In dieser reichen, aber durch Familienverhältnisse höchst beschränkten Lage suchte sie sich durch ihren Geist zu helfen und, da sie in Tun und Lassen gehindert war, wenigstens ihrem Mundwerk freies Spiel zu geben. Man versicherte mir, daß ihr eigentlichster Wandel ganz untadelig sei, daß sie sich aber fest vorgesetzt zu haben scheine, durch ein unbändiges Reden allen Verhältnissen ins Angesicht zu schlagen. Man bemerkte scherzend, daß keine Zensur ihre Diskurse, wären sie schriftlich verfaßt, könne durchgehen lassen, weil sie durchaus nichts vorbringe, als was Religion, Staat oder Sitten verletze.

Man erzählte die wunderlichsten und artigsten Geschichten von ihr, wovon eine hier stehen mag, ob sie gleich nicht die anständigste ist.

Kurz vor dem Erdbeben, das Kalabrien betraf, war sie auf die dortigen Güter ihres Gemahls gezogen. Auch in der Nähe ihres Schlosses war eine Baracke gebaut, das heißt ein hölzernes einstöckiges Haus, unmittelbar auf den Boden aufgesetzt; übrigens tapeziert, möbliert und schicklich eingerichtet. Bei den ersten Anzeigen des Erdbebens flüchtete sie dahin. Sie saß auf dem Sofa, Knötchen knüpfend, vor sich ein Nähtischchen, gegen ihr über ein Abbè, ein alter Hausgeistlicher. Auf einmal wogte der Boden, das Gebäude sank an ihrer Seite nieder, indem die entgegengesetzte sich emporhob, der Abbé und das Tischchen wurde also auch in die Höhe gehoben. »Pfui!« rief sie, an der sinkenden Wand mit dem Kopfe gelehnt, »schickt sich das für einen so ehrwürdigen Mann? Ihr gebärdet Euch ja, als wenn Ihr auf mich fallen wolltet. Das ist ganz gegen alle Sitte und Wohlstand.«

Indessen hatte das Haus sich wieder niedergesetzt, und sie wußte sich vor Lachen nicht zu lassen über die närrische, lüsterne Figur, die der gute Alte sollte gespielt haben, und sie schien über diesen Scherz von allen Kalamitäten, ja dem großen Verlust, der ihre Familie und so viel tausend Menschen betraf, nicht das mindeste zu empfinden. Ein wundersam glücklicher Charakter, dem noch eine Posse gelingt, indem ihn die Erde verschlingen will.

Neapel, Sonnabend, den 26. Mai 1787.

Genau betrachtet, möchte man doch wohl gutheißen, daß es so viele Heilige gibt; nun kann jeder Gläubige den seinigen auslesen und mit vollem Vertrauen sich gerade an den wenden, der ihm eigentlich zusagt. Heute war der Tag des meinigen, den ich denn ihm zu Ehren nach seiner Weise und Lehre andächtig-munter beging.

Philippus Neri steht in hohem Ansehn und zugleich heiterm Andenken; man wird erbaut und erfreut, wenn man von ihm und von seiner hohen Gottesfurcht vernimmt, zugleich aber hört man auch von seiner guten Laune sehr viel erzählen. Seit seinen ersten Jugendjahren fühlte er die brünstigsten Religionstriebe, und im Laufe seines Lebens entwickelten sich in ihm die höchsten Gaben des religiösen Enthusiasmus: die Gabe des unwillkürlichen Gebets, der tiefen, wortlosen Anbetung, die Gabe der Tränen, der Ekstase und zuletzt sogar des Aufsteigens vom Boden und Schwebens über demselben, welches vor allen für das Höchste gehalten wird.

Zu so vielen geheimnisvollen, seltsamen Innerlichkeiten gesellte er den klarsten Menschenverstand, die reinste Würdigung oder vielmehr Abwürdigung der irdischen Dinge, den tätigsten Beistand, in leiblicher und geistlicher Not seinem Nebenmenschen gewidmet. Streng beobachtete er alle Obliegenheiten, wie sie auch an Festen, Kirchenbesuchen, Beten, Fasten und sonst von dem gläubigen, kirchlichen Manne gefordert werden. Ebenso beschäftigte er sich mit Bildung der Jugend, mit musikalischer und rednerischer Übung derselben, indem er nicht allein geistliche, sondern auch geistreiche Themata vorlegte und sonst aufregende Gespräche und Disputationen veranlaßte. Hiebei möchte denn wohl das Sonderbarste scheinen, daß er das alles aus eignem Trieb und Befugnis tat und leistete, seinen Weg viele Jahre stetig verfolgte, ohne zu irgendeinem Orden oder Kongregation zu gehören, ja ohne die geistliche Weihe zu haben.

Doch bedeutender muß es auffallen, daß gerade dies zu Luthers Zeit geschah, und daß mitten in Rom ein tüchtiger, gottesfürchtiger, energischer, tätiger Mann gleichfalls den Gedanken hatte, das Geistliche, ja das Heilige mit dem Weltlichen zu verbinden, das Himmlische in das Säkulum einzuführen und dadurch ebenfalls eine Reformation vorzubereiten. Denn hier liegt doch ganz allein der Schlüssel, der die Gefängnisse des Papsttums öffnen und der freien Welt ihren Gott wiedergeben soll.

Der päpstliche Hof jedoch, der einen so bedeutenden Mann in der Nähe, im Bezirk von Rom, unter seinem Gewahrsam hatte, ließ nicht nach, bis dieser, der ohnehin ein geistliches Leben führte, schon seine Wohnung in Klöstern nahm, daselbst lehrte, ermunterte, ja sogar, wo nicht einen Orden, doch eine freie Versammlung zu stiften im Begriff war, endlich beredet ward, die Weihe zu nehmen und alle die Vorteile damit zu empfangen, die ihm denn doch bisher auf seinem Lebenswege ermangelt hatten.

Will man auch seine körperliche wunderbare Erhebung über den Boden, wie billig, in Zweifel ziehen, so war er doch dem Geiste nach hoch über dieser Welt erhoben und deswegen ihm nichts so sehr zuwider als Eitelkeit, Schein, Anmaßung, gegen die er auch immer, als gegen die größten Hindernisse eines wahren gottseligen Lebens, kräftig wirkte, und zwar, wie uns manche Geschichte überliefert, immer mit gutem Humor.

Er befindet sich z.B. eben in der Nähe des Papstes, als diesem berichtet wird, daß in der Nähe von Rom eine Klosterfrau mit allerlei wunderlichen geistlichen Gaben sich hervortue. Die Wahrhaftigkeit dieser Erzählungen zu untersuchen, erhält Neri den Auftrag. Er setzt sich sogleich zu Maultier und ist bei sehr bösem Wetter und Weg bald im Kloster. Eingeführt, unterhält er sich mit der Äbtissin, die ihm von allen diesen Gnadenzeichen mit vollkommener Beistimmung genaueste Kenntnis gibt. Die geforderte Nonne tritt ein, und er, ohne sie weiter zu begrüßen, reicht ihr den kotigen Stiefel hin, mit dem Ansinnen, daß sie ihn aus ziehen solle. Die heilige, reinliche Jungfrau tritt erschrocken zurück und gibt ihre Entrüstung über dieses Zumuten mit heftigen Worten zu erkennen. Neri erhebt sich ganz gelassen, besteigt sein Maultier und findet sich wieder vor dem Papst, ehe dieser es nur vermuten konnte; denn wegen Prüfung solcher Geistesgaben sind katholischen Beichtvätern bedeutende Vorsichtsmaßregeln aufs genaueste vorgeschrieben, weil die Kirche zwar die Möglichkeit solcher himmlischen Begünstigungen zugibt, aber die Wirklichkeit derselben nicht ohne die genaueste Prüfung zugesteht. Dem verwunderten Papste eröffnete Neri kürzlich das Resultat: »Sie ist keine Heilige«, ruft er aus, »sie tut keine Wunder! denn die Haupteigenschaft fehlt ihr, die Demut.«

Diese Maxime kann man als leitendes Prinzip seines ganzen Lebens ansehen; denn, um nur noch eins zu erzählen: als er die Kongregation der Padri dell’ Oratorio gestiftet hatte, die sich bald ein großes Ansehn erwarb und gar vielen den Wunsch einflößte, Mitglied derselben zu werden, kam ein junger römischer Prinz, um Aufnahme bittend, welchem denn auch das Noviziat und die demselben angewiesene Kleidung zugestanden wurde. Da aber selbiger nach einiger Zeit um wirklichen Eintritt nachsuchte, hieß es, daß vorher noch einige Prüfungen zu bestehen seien; wozu er sich denn auch bereit erklärte. Da brachte Neri einen langen Fuchsschwanz hervor und forderte, der Prinz solle diesen sich hinten an das lange Röckchen anheften lassen und ganz ernsthaft durch alle Straßen von Rom gehen. Der junge Mann entsetzte sich, wie oben die Nonne, und äußerte, er habe sich gemeldet, nicht um Schande, sondern um Ehre zu erlangen. Da meinte denn Vater Neri, dies sei von ihrem Kreise nicht zu erwarten, wo die höchste Entsagung das erste Gesetz bleibe. Worauf denn der Jüngling seinen Abschied nahm.

In einem kurzen Wahlspruch hatte Neri seine Hauptlehre verfaßt: »Spernere mundum, spernere te ipsum, spernere te sperni.« Und damit war freilich alles gesagt. Die beiden ersten Punkte bildet sich ein Hypochondrist wohl manchmal ein erfüllen zu können, um aber sich zum dritten zu bequemen, müßte man auf dem Wege sein, ein Heiliger zu werden.

Neapel, den 27. Mai 1787.

Die sämtlichen lieben Briefe vom Ende des vorigen Monats habe ich gestern alle auf einmal von Rom her durch Graf Fries erhalten und mir mit Lesen und Wiederlesen etwas Rechts zugute getan. Das sehnlich erwartete Schächtelchen war auch dabei, und ich danke tausendmal für alles.

Nun wird es aber bald Zeit, daß ich von hier flüchte; denn indem ich mir Neapel und seine Umgebungen noch recht zu guter Letzt vergegenwärtigen, den Eindruck erneuern und über manches abschließen möchte, so reißt der Strom des Tages mich fort, und nun schließen auch vorzügliche Menschen sich an, die ich als alte und neue Bekannte unmöglich so geradezu abweisen kann. Ich fand eine liebenswürdige Dame, mit der ich vorigen Sommer in Karlsbad die angenehmsten Tage verlebt hatte. Um wie manche Stunde betrogen wir die Gegenwart in heiterster Erinnerung. Alle die Lieben und Werten kamen wieder an die Reihe, vor allem der heitere Humor unseres teuren Fürsten. Sie besaß das Gedicht noch, womit ihn bei seinem Wegritt die Mädchen von Engelhaus überraschten. Es rief die lustigen Szenen alle zurück, die witzigen Neckereien und Mystifikationen, die geistreichen Versuche, das Vergeltungsrecht aneinander auszuüben. Schnell fühlten wir uns auf deutschem Boden in der besten deutschen Gesellschaft, eingeschränkt von Felswänden, durch ein seltsames Lokal zusammengehalten, mehr noch durch Hochachtung, Freundschaft und Neigung vereinigt. Sobald wir jedoch ans Fenster traten, rauschte der neapolitanische Strom wieder so gewaltsam an uns vorbei, daß jene friedlichen Erinnerungen nicht festzuhalten waren.

Der Bekanntschaft des Herzogs und der Herzogin von Ursel konnt’ ich ebensowenig ausweichen. Treffliche Personen von hohen Sitten, reinem Natur- und Menschensinn, entschiedener Kunstliebe, Wohlwollen für Begegnende. Eine fortgesetzte und wiederholte Unterhaltung war höchst anziehend.

Hamilton und seine Schöne setzten gegen mich ihre Freundlichkeit fort. Ich speiste bei ihnen, und gegen Abend produzierte Miß Harte auch ihre musikalischen und melischen Talente.

Auf Antrieb Freund Hackerts, der sein Wohlwollen gegen mich steigert und mir alles Merkwürdige zur Kenntnis bringen möchte, führte uns Hamilton in sein geheimes Kunst- und Gerümpelgewölbe. Da sieht es denn ganz verwirrt aus; die Produkte aller Epochen zufällig durcheinander gestellt: Büsten, Torse, Vasen, Bronze, von sizilianischen Achaten allerlei Hauszierat, sogar ein Kapellchen, Geschnitztes, Gemaltes und was er nur zufällig zusammenkaufte. In einem langen Kasten an der Erde, dessen aufgebrochenen Deckel ich neugierig beiseiteschob, lagen zwei ganz herrliche Kandelaber von Bronze. Mit einem Wink machte ich Hackerten aufmerksam und lispelte ihm die Frage zu, ob diese nicht ganz denen in Portici ähnlich seien. Er winkte mir dagegen Stillschweigen; sie mochten sich freilich aus den pompejischen Grüften seitwärts hieher verloren haben. Wegen solcher und ähnlicher glücklicher Erwerbnisse mag der Ritter diese verborgenen Schätze nur wohl seinen vertrautesten Freunden sehen lassen.

Auffallend war mir ein aufrechtstehender, an der Vorderseite offener, inwendig schwarz angestrichener Kasten, von dem prächtigsten goldenen Rahmen eingefaßt. Der Raum groß genug, um eine stehende menschliche Figur aufzunehmen, und demgemäß erfuhren wir auch die Absicht. Der Kunst- und Mädchenfreund, nicht zufrieden, das schöne Gebild als bewegliche Statue zu sehen, wollte sich auch an ihr als an einem bunten, unnachahmbaren Gemälde ergötzen, und so hatte sie manchmal innerhalb dieses goldenen Rahmens, auf schwarzem Grund vielfarbig gekleidet, die antiken Gemälde von Pompeji und selbst neuere Meisterwerke nachgeahmt. Diese Epoche schien vorüber zu sein, auch war der Apparat schwer zu transportieren und ins rechte Licht zu setzen; uns konnte also ein solches Schauspiel nicht zuteil werden.

Hier ist der Ort, noch einer andern entschiedenen Liebhaberei der Neapolitaner überhaupt zu gedenken. Es sind die Krippchen (presepe), die man zu Weihnachten in allen Kirchen sieht, eigentlich die Anbetung der Hirten, Engel und Könige vorstellend, mehr oder weniger vollständig, reich und kostbar zusammen gruppiert. Diese Darstellung ist in dem heitern Neapel bis auf die flachen Hausdächer gestiegen; dort wird ein leichtes hüttenartiges Gerüste erbaut, mit immergrünen Bäumen und Sträuchen aufgeschmückt. Die Mutter Gottes, das Kind und die sämtlichen Umstehenden und Umschwebenden, kostbar ausgeputzt, auf welche Garderobe das Haus große Summen verwendet. Was aber das Ganze unnachahmlich verherrlicht, ist der Hintergrund, welcher den Vesuv mit seinen Umgebungen einfaßt.

Da mag man nun manchmal auch lebendige Figuren zwischen die Puppen mit eingemischt haben, und nach und nach ist eine der bedeutendsten Unterhaltungen hoher und reicher Familien geworden, zu ihrer Abendergötzung auch weltliche Bilder, sie mögen nun der Geschichte oder der Dichtkunst angehören, in ihren Palästen aufzuführen.

Darf ich mir eine Bemerkung erlauben, die freilich ein wohlbehandelter Gast nicht wagen sollte, so muß ich gestehen, daß mir unsere schöne Unterhaltende doch eigentlich als ein geistloses Wesen vorkommt, die wohl mit ihrer Gestalt bezahlen, aber durch keinen seelenvollen Ausdruck der Stimme, der Sprache sich geltend machen kann. Schon ihr Gesang ist nicht von zusagender Fülle.

Und so mag es sich auch am Ende mit jenen starren Bildern verhalten. Schöne Personen gibt’s überall, tiefempfindende, zugleich mit günstigen Sprachorganen versehene viel seltener, am allerseltensten solche, wo zu allem diesen noch eine einnehmende Gestalt hinzutritt.

Auf Herders dritten Teil freu’ ich mich sehr. Hebet mir ihn auf, bis ich sagen kann, wo er mir begegnen soll. Er wird gewiß den schönen Traumwunsch der Menschheit, daß es dereinst besser mit ihr werden solle, trefflich ausgeführt haben. Auch, muß ich selbst sagen, halt’ ich es für wahr, daß die Humanität endlich siegen wird, nur fürcht’ ich, daß zu gleicher Zeit die Welt ein großes Hospital und einer des andern humaner Krankenwärter sein werde.

Neapel, den 28. Mai 1787.

Der gute und so brauchbare Volkmann nötigt mich, von Zeit zu Zeit von seiner Meinung abzugehen. Er spricht z.B., daß, dreißig- bis vierzigtausend Müßiggänger in Neapel zu finden wären, und wer spricht’s ihm nicht nach! Ich vermutete zwar sehr bald nach einiger erlangter Kenntnis des südlichen Zustandes, daß dies wohl eine nordische Ansicht sein möchte, wo man jeden für einen Müßiggänger hält, der sich nicht den ganzen Tag ängstlich abmüht. Ich wendete deshalb vorzügliche Aufmerksamkeit auf das Volk, es mochte sich bewegen oder in Ruhe verharren, und konnte zwar sehr viel übelgekleidete Menschen bemerken, aber keine unbeschäftigten.

Ich fragte deswegen einige Freunde nach den unzähligen Müßiggängern, welche ich doch auch wollte kennen lernen; sie konnten mir aber solche ebensowenig zeigen, und so ging ich, weil die Untersuchung mit Betrachtung der Stadt genau zusammenhing, selbst auf die Jagd aus.

Ich fing an, mich in dem ungeheuren Gewirre mit den verschiedenen Figuren bekannt zu machen, sie nach ihrer Gestalt, Kleidung, Betragen, Beschäftigung zu beurteilen und zu klassifizieren. Ich fand diese Operation hier leichter als irgendwo, weil der Mensch sich hier mehr selbst gelassen ist und sich seinem Stande auch äußerlich gemäß bezeigt.

Ich fing meine Beobachtung bei früher Tageszeit an, und alle die Menschen, die ich hie und da stillstehen oder ruhen fand, waren Leute, deren Beruf es in dem Augenblick mit sich brachte.

Die Lastträger, die an verschiedenen Plätzen ihre privilegierten Stände haben und nur erwarten, bis sich jemand ihrer bedienen will; die Kalessaren, ihre Knechte und Jungen, die bei den einspännigen Kaleschen auf den großen Plätzen stehen, ihre Pferde besorgen und einem jeden, der sie verlangt, zu Diensten sind; Schiffer, die auf dem Molo ihre Pfeife rauchen; Fischer, die an der Sonne liegen, weil vielleicht ein ungünstiger Wind weht, der ihnen auf das Meer auszufahren verbietet. Ich sah auch wohl noch manche hin und wider gehen, doch trug meist ein jeder ein Zeichen seiner Tätigkeit mit sich. Von Bettlern war keiner zu bemerken als ganz alte, völlig unfähige und krüppelhafte Menschen. Je mehr ich mich umsah, je genauer ich beobachtete, desto weniger konnt’ ich, weder von der geringen noch von der mittlern Klasse, weder am Morgen noch den größten Teil des Tages, ja, von keinem Alter und Geschlecht, eigentliche Müßiggänger finden.

Ich gehe in ein näheres Detail, um das, was ich behaupte, glaubwürdiger und anschaulicher zu machen. Die kleinsten Kinder sind auf mancherlei Weise beschäftigt. Ein großer Teil derselben trägt Fische zum Verkauf von Santa Lucia in die Stadt; andere sieht man sehr oft in der Gegend des Arsenals, oder wo sonst etwas gezimmert wird, wobei es Späne gibt, auch am Meere, welches Reiser und kleines Holz auswirft, beschäftigt, sogar die kleinsten Stückchen in Körbchen aufzulesen. Kinder von einigen Jahren, die nur auf der Erde so hinkriechen in Gesellschaft älterer Knaben von fünf bis sechs Jahren, befassen sich mit diesem kleinen Gewerbe. Sie gehen nachher mit den Körbchen tiefer in die Stadt und setzen sich mit ihren kleinen Holzportionen gleichsam zu Markte. Der Handwerker, der kleine Bürger kauft es ihnen ab, brennt es auf seinem Dreifuß zu Kohlen, um sich daran zu erwärmen, oder verbraucht es in seiner sparsamen Küche.

Andere Kinder tragen das Wasser der Schwefelquellen, welches besonders im Frühjahr sehr stark getrunken wird, zum Verkauf herum. Andere suchen einen kleinen Gewinn, indem sie Obst, gesponnenen Honig, Kuchen und Zuckerware einkaufen und wieder als kindische Handelsleute den übrigen Kindern anbieten und verkaufen; allenfalls, nur um ihren Teil daran umsonst zu haben. Es ist wirklich artig anzusehen, wie ein solcher Junge, dessen ganzer Kram und Gerätschaft in einem Brett und Messer besteht, eine Wassermelone oder einen halben gebratenen Kürbis herumträgt, wie sich um ihn eine Schar Kinder versammelt, wie er sein Brett niedersetzt und die Frucht in kleine Stücke zu zerteilen anfängt. Die Käufer spannen sehr ernsthaft, ob sie auch für ihr klein Stückchen Kupfergeld genug erhalten sollen, und der kleine Handelsmann traktiert gegen die Begierigen die Sache ebenso bedächtig, damit er ja nicht um ein Stückchen betrogen werde. Ich bin überzeugt, daß man bei längerem Aufenthalt noch manche Beispiele solches kindischen Erwerbes sammeln könnte.

Eine sehr große Anzahl von Menschen, teils mittlern Alters, teils Knaben, welche meistenteils sehr schlecht gekleidet sind, beschäftigen sich, das Kehricht auf Eseln aus der Stadt zu bringen. Das nächste Feld um Neapel ist nur ein Küchengarten, und es ist eine Freude, zu sehen, welche unsägliche Menge von Küchengewächsen alle Markttage hereingeschafft wird und wie die Industrie der Menschen sogleich die überflüssigen, von den Köchen verworfenen Teile wieder in die Felder bringt, um den Zirkel der Vegetation zu beschleunigen. Bei der unglaublichen Konsumtion von Gemüse machen wirklich die Strünke und Blätter von Blumenkohl, Broccoli, Artischocken, Kohl, Salat, Knoblauch einen großen Teil des neapolitanischen Kehrichts aus; diesen wird denn auch besonders nachgestrebt. Zwei große biegsame Körbe hängen auf dem Rücken eines Esels und werden nicht allein ganz voll gefüllt, sondern noch auf jeden mit besonderer Kunst ein Haufen aufgetürmt. Kein Garten kann ohne einen solchen Esel bestehen. Ein Knecht, ein Knabe, manchmal der Patron selbst eilen des Tags so oft als möglich nach der Stadt, die ihnen zu allen Stunden eine reiche Schatzgrube ist. Wie aufmerksam diese Sammler auf den Mist der Pferde und Maultiere sind, läßt sich denken. Ungern verlassen sie die Straße, wenn es Nacht wird, und die Reichen, die nach Mitternacht aus der Oper fahren, denken wohl nicht, daß schon vor Anbruch des Tages ein emsiger Mensch sorgfältig die Spuren ihrer Pferde aufsuchen wird. Man hat mir versichert, daß ein paar solche Leute, die sich zusammentun, sich einen Esel kaufen und einem größern Besitzer ein Stückchen Krautland abpachten, durch anhaltenden Fleiß in dem glücklichen Klima, in welchem die Vegetation niemals unterbrochen wird, es bald so weit bringen, daß sie ihr Gewerbe ansehnlich erweitern.

Ich würde zu weit aus meinem Wege gehen, wenn ich hier von der mannigfaltigen Krämerei sprechen wollte, welche man mit Vergnügen in Neapel wie in jedem andern großen Orte bemerkt; allein ich muß doch hier von den Herumträgern sprechen, weil sie der letztern Klasse des Volks besonders angehören. Einige gehen herum mit Fäßchen Eiswasser, Gläsern und Zitronen, um überall gleich Limonade machen zu können, einen Trank, den auch der Geringste nicht zu entbehren vermag; andere mit Kredenztellern, auf welchen Flaschen mit verschiedenen Likören und Spitzgläsern in hölzernen Ringen vor dem Fallen gesichert stehen; andere tragen Körbe allerlei Backwerks, Näscherei, Zitronen und anderes Obst umher, und es scheint, als wolle jeder das große Fest des Genusses, das in Neapel alle Tage gefeiert wird, mitgenießen und vermehren.

Wie diese Art Herumträger geschäftig sind, so gibt es noch eine Menge kleine Krämer, welche gleichfalls herumgehen und ohne viele Umstände auf einem Brett, in einem Schachteldeckel ihre Kleinigkeiten, oder auf Plätzen geradezu auf flacher Erde ihren Kram ausbieten. Da ist nicht von einzelnen Waren die Rede, die man auch in größern Läden fände, es ist der eigentliche Trödelkram. Kein Stückchen Eisen, Leder, Tuch, Leinewand, Filz u.s.w., das nicht wieder als Trödelware zu Markte käme und das nicht wieder von einem oder dem andern gekauft würde. Noch sind viele Menschen der niedern Klasse bei Handelsleuten und Handwerkern als Beiläufer und Handlanger beschäftigt.

Es ist wahr, man tut nur wenig Schritte, ohne einem sehr übelgekleideten, ja sogar einem zerlumpten Menschen zu begegnen, aber dies ist deswegen noch kein Faulenzer, kein Tagedieb! Ja, ich möchte fast das Paradoxon aufstellen, daß zu Neapel verhältnismäßig vielleicht noch die meiste Industrie in der ganz niedern Klasse zu finden sei. Freilich dürfen wir sie nicht mit einer nordischen Industrie vergleichen, die nicht allein für Tag und Stunde, sondern am guten und heitern Tage für den bösen und trüben, im Sommer für den Winter zu sorgen hat. Dadurch, daß der Nordländer zur Vorsorge, zur Einrichtung von der Natur gezwungen wird, daß die Hausfrau einsalzen und räuchern muß, um die Küche das ganze Jahr zu versorgen, daß der Mann den Holz- und Fruchtvorrat, das Futter für das Vieh nicht aus der Acht lassen darf u.s.w., dadurch werden die schönsten Tage und Stunden dem Genuß entzogen und der Arbeit gewidmet. Mehrere Monate lang entfernt man sich gern aus der freien Luft und verwahrt sich in Häusern vor Sturm, Regen, Schnee und Kälte; unaufhaltsam folgen die Jahreszeiten aufeinander, und jeder, der nicht zugrunde gehen will, muß ein Haushälter werden. Denn es ist hier gar nicht die Frage, ob er entbehren wolle; er darf nicht entbehren wollen, er kann nicht entbehren wollen, denn er kann nicht entbehren; die Natur zwingt ihn, zu schaffen, vorzuarbeiten. Gewiß haben diese Naturwirkungen, welche sich Jahrtausende gleich bleiben, den Charakter der in so manchem Betracht ehrwürdigen nordischen Nationen bestimmt. Dagegen beurteilen wir die südlichen Völker, mit welchen der Himmel so gelinde umgegangen ist, aus unserm Gesichtspunkte zu streng. Was Herr von Pauw in seinen »Recherches sur les Grecs« bei Gelegenheit, da er von den zynischen Philosophen spricht, zu äußern wagt, paßt völlig hierher. Man mache sich, glaubt er, von dem elenden Zustande solcher Menschen nicht den richtigsten Begriff; ihr Grundsatz, alles zu entbehren, sei durch ein Klima sehr begünstigt, das alles gewährt. Ein armer, uns elend scheinender Mensch könne in den dortigen Gegenden die nötigsten und nächsten Bedürfnisse nicht allein befriedigen, sondern die Welt aufs schönste genießen; und ebenso möchte ein sogenannter neapolitanischer Bettler die Stelle eines Vizekönigs in Norwegen leicht verschmähen und die Ehre ausschlagen, wenn ihm die Kaiserin von Rußland das Gouvernement von Sibirien übertragen wollte.

Gewiß würde in unsern Gegenden ein zynischer Philosoph schlecht ausdauern, dahingegen in südlichen Ländern die Natur gleichsam dazu einladet. Der zerlumpte Mensch ist dort noch nicht nackt; derjenige, der weder ein eigenes Haus hat, noch zur Miete wohnt, sondern im Sommer unter den Überdächern, auf den Schwellen der Paläste und Kirchen, in öffentlichen Hallen die Nacht zubringt und sich bei schlechtem Wetter irgendwo gegen ein geringes Schlafgeld untersteckt, ist deswegen noch nicht verstoßen und elend; ein Mensch noch nicht arm, weil er nicht für den andern Tag gesorgt hat. Wenn man nur bedenkt, was das fischreiche Meer, von dessen Produkten sich jene Menschen gesetzmäßig einige Tage der Woche nähren müssen, für eine Masse von Nahrungsmitteln anbietet; wie allerlei Obst und Gartenfrüchte zu jeder Jahreszeit in Überfluß zu haben sind; wie die Gegend, worin Neapel liegt, den Namen Terra di Lavoro (nicht das Land der Arbeit, sondern das Land des Ackerbaues) sich verdienet hat und die ganze Provinz den Ehrentitel der glücklichen Gegend (Campagna felice) schon Jahrhunderte trägt, so läßt sich wohl begreifen, wie leicht dort zu leben sein möge.

Überhaupt würde jenes Paradoxon, welches ich oben gewagt habe, zu manchen Betrachtungen Anlaß geben, wenn jemand ein ausführliches Gemälde von Neapel zu schreiben unternehmen sollte; wozu denn freilich kein geringes Talent und manches Jahr Beobachtung erforderlich sein möchte. Man würde alsdann im ganzen vielleicht bemerken, daß der sogenannte Lazarone nicht um ein Haar untätiger ist als alle übrigen Klassen, zugleich aber auch wahrnehmen, daß alle in ihrer Art nicht arbeiten, um bloß zu leben, sondern um zu genießen, und daß sie sogar bei der Arbeit des Lebens froh werden wollen. Es erklärt sich hiedurch gar manches: daß die Handwerker beinahe durchaus gegen die nordischen Länder sehr zurück sind; daß Fabriken nicht zustande kommen; daß außer Sachwaltern und Ärzten in Verhältnis zu der großen Masse von Menschen wenig Gelehrsamkeit angetroffen wird, so verdiente Männer sich auch im einzelnen bemühen mögen; daß kein Maler der neapolitanischen Schule jemals gründlich gewesen und groß geworden ist; daß sich die Geistlichen im Müßiggange am wohlsten sein lassen und auch die Großen ihre Güter meist nur in sinnlichen Freuden, Pracht und Zerstreuung genießen mögen.

Ich weiß wohl, daß dies viel zu allgemein gesagt ist und daß die Charakterzüge jeder Klasse nur erst nach einer genauern Bekanntschaft und Beobachtung rein gezogen werden können, allein im ganzen würde man doch, glaube ich, auf diese Resultate treffen.

Ich kehre wieder zu dem geringen Volke in Neapel zurück. Man bemerkt bei ihnen, wie bei frohen Kindern, denen man etwas aufträgt, daß sie zwar ihr Geschäft verrichten, aber auch zugleich einen Scherz aus dem Geschäft machen. Durchgängig ist diese Klasse von Menschen eines sehr lebhaften Geistes und zeigt einen freien, richtigen Blick. Ihre Sprache soll figürlich, ihr Witz sehr lebhaft und beißend sein. Das alte Atella lag in der Gegend von Neapel, und wie ihr geliebter Pulcinell noch jene Spiele fortsetzt, so nimmt die ganz gemeine Klasse von Menschen noch jetzt Anteil an dieser Laune.

Plinius im fünften Kapitel des dritten Buchs seiner »Naturgeschichte« hält Kampanien allein einer weitläufigen Beschreibung wert. »So glücklich, anmutig, selig sind jene Gegenden«, sagt er, »daß man erkennt, an diesem Ort habe die Natur sich ihres Werks erfreut. Denn diese Lebensluft, diese immer heilsame Milde des Himmels, so fruchtbare Felder, so sonnige Hügel, so unschädliche Waldungen, so schattige Haine, so nutzbare Wälder, so luftige Berge, so ausgebreitete Saaten, solch eine Fülle von Reben und Ölbäumen, so edle Wolle der Schafe, so fette Nacken der Stiere, so viel Seen, so ein Reichtum von durchwässernden Flüssen und Quellen, so viele Meere, so viele Hafen! Die Erde selbst, die ihren Schoß überall dem Handel eröffnet und, gleichsam dem Menschen nachzuhelfen begierig, ihre Arme in das Meer hinausstreckt.

Ich erwähne nicht die Fähigkeiten der Menschen, ihre Gebräuche, ihre Kräfte und wie viele Völker sie durch Sprache und Hand überwunden haben.

Von diesem Lande fällten die Griechen, ein Volk, das sich selbst unmäßig zu rühmen pflegte, das ehrenvollste Urteil, indem sie einen Teil davon Großgriechenland nannten.«

Neapel, den 29. Mai 1787.

Eine ausgezeichnete Fröhlichkeit erblickt man überall mit dem größten teilnehmenden Vergnügen. Die vielfarbigen bunten Blumen und Früchte, mit welchen die Natur sich ziert, scheinen den Menschen einzuladen, sich und alle seine Gerätschaften mit so hohen Farben als möglich auszuputzen. Seidene Tücher und Binden, Blumen auf den Hüten schmücken einen jeden, der es einigermaßen vermag. Stühle und Kommoden in den geringsten Häusern sind auf vergoldetem Grund mit bunten Blumen geziert; sogar die einspännigen Kaleschen hochrot angestrichen, das Schnitzwerk vergoldet, die Pferde davor mit gemachten Blumen, hochroten Quasten und Rauschgold ausgeputzt. Manche haben Federbüsche, andere sogar kleine Fähnchen auf den Köpfen, die sich im Laufe nach jeder Bewegung drehen. Wir pflegen gewöhnlich die Liebhaberei zu bunten Farben barbarisch und geschmacklos zu nennen, sie kann es auch auf gewisse Weise sein und werden, allein unter einem recht heitern und blauen Himmel ist eigentlich nichts bunt, denn nichts vermag den Glanz der Sonne und ihren Widerschein im Meer zu überstrahlen. Die lebhafteste Farbe wird durch das gewaltige Licht gedämpft, und weil alle Farben, jedes Grün der Bäume und Pflanzen, das gelbe, braune, rote Erdreich in völliger Kraft auf das Auge wirken, so treten dadurch selbst die farbigen Blumen und Kleider in die allgemeine Harmonie. Die scharlachnen Westen und Röcke der Weiber von Nettuno, mit breitem Gold und Silber besetzt, die andern farbigen Nationaltrachten, die gemalten Schiffe, alles scheint sich zu beeifern, unter dem Glanze des Himmels und des Meeres einigermaßen sichtbar zu werden.

Und wie sie leben, so begraben sie auch ihre Toten; da stört kein schwarzer, langsamer Zug die Harmonie der lustigen Welt.

Ich sah ein Kind zu Grabe tragen. Ein rotsammetner, großer, mit Gold breit gestickter Teppich überdeckte eine breite Bahre, darauf stand ein geschnitztes, stark vergoldetes und versilbertes Kästchen, worin das weißgekleidete Tote mit rosenfarbnen Bändern ganz überdeckt lag. Auf den vier Ecken des Kästchens waren vier Engel, ungefähr jeder zwei Fuß hoch, angebracht, welche große Blumenbüschel über das ruhende Kind hielten, und, weil sie unten nur an Drähten befestigt waren, sowie die Bahre sich bewegte, wackelten und mild belebende Blumengerüche auszustreuen schienen. Die Engel schwankten um desto heftiger, als der Zug sehr über die Straßen wegeilte und die vorangehenden Priester und die Kerzenträger mehr liefen als gingen.

Es ist keine Jahreszeit, wo man sich nicht überall von Eßwaren umgeben sähe, und der Neapolitaner freut sich nicht allein des Essens, sondern er will auch, daß die Ware zum Verkauf schön aufgeputzt sei.

Bei Santa Lucia sind die Fische nach ihren Gattungen meist in reinlichen und artigen Körben, Krebse, Austern, Scheiden, kleine Muscheln, jedes besonders aufgetischt und mit grünen Blättern unterlegt. Die Läden von getrocknetem Obst und Hülsenfrüchten sind auf das mannigfaltigste herausgeputzt. Die ausgebreiteten Pomeranzen und Zitronen von allen Sorten, mit dazwischen hervorstechendem grünem Laub, dem Auge sehr erfreulich. Aber nirgends putzen sie mehr als bei den Fleischwaren, nach welchen das Auge des Volks besonders lüstern gerichtet ist, weil der Appetit durch periodisches Entbehren nur mehr gereizt wird.

In den Fleischbänken hängen die Teile der Ochsen, Kälber, Schöpse niemals aus, ohne daß neben dem Fett zugleich die Seite oder die Keule stark vergoldet sei. Es sind verschiedne Tage im Jahr, besonders die Weihnachtsfeiertage, als Schmausfeste berühmt; alsdann feiert man eine allgemeine Cocagna, wozu sich fünfhunderttausend Menschen das Wort gegeben haben. Dann ist aber auch die Straße Toledo und neben ihr mehrere Straßen und Plätze auf das appetitlichste verziert. Die Butiken, wo grüne Sachen verkauft werden, wo Rosinen, Melonen und Feigen aufgesetzt sind, erfreuen das Auge auf das allerangenehmste. Die Eßwaren hängen in Girlanden über die Straßen hinüber; große Paternoster von vergoldeten, mit roten Bändern geschnürten Würsten; welsche Hähne, welche alle eine rote Fahne unter dem Bürzel stecken haben. Man versicherte, daß deren dreißigtausend verkauft worden, ohne die zu rechnen, welche die Leute im Hause gemästet hatten. Außer diesem werden noch eine Menge Esel, mit grüner Ware, Kapaunen und jungen Lämmern beladen, durch die Stadt und über den Markt getrieben, und die Haufen Eier, welche man hier und da sieht, sind so groß, daß man sich ihrer niemals so viel beisammen gedacht hat. Und nicht genug, daß alles dieses verzehret wird: alle Jahre reitet ein Polizeidiener mit einem Trompeter durch die Stadt und verkündet auf allen Plätzen und Kreuzwegen, wieviel tausend Ochsen, Kälber, Lämmer, Schweine u.s.w. der Neapolitaner verzehrt habe. Das Volk höret aufmerksam zu, freut sich unmäßig über die großen Zahlen, und jeder erinnert sich des Anteils an diesem Genusse mit Vergnügen.

Was die Mehl- und Milchspeisen betrifft, welche unsere Köchinnen so mannigfaltig zu bereiten wissen, ist für jenes Volk, das sich in dergleichen Dingen gerne kurz faßt und keine wohleingerichtete Küche hat, doppelt gesorgt. Die Makkaroni, ein zarter, stark durchgearbeiteter, gekochter, in gewisse Gestalten gepreßter Teig von feinem Mehle, sind von allen Sorten überall um ein geringes zu haben. Sie werden meistens nur in Wasser abgekocht, und der geriebene Käse schmälzt und würzt zugleich die Schüssel. Fast an der Ecke jeder großen Straße sind die Backwerkverfertiger mit ihren Pfannen voll siedenden Öls, besonders an Fasttagen, beschäftigt, Fische und Backwerk einem jeden nach seinem Verlangen sogleich zu bereiten. Diese Leute haben einen unglaublichen Abgang, und viele tausend Menschen tragen ihr Mittag-und Abendessen von da auf einem Stückchen Papier davon.

Neapel, den 30. Mai 1787.

Nachts durch die Stadt spazierend, gelangt’ ich zum Molo. Dort sah ich mit einem Blick den Mond, den Schein desselben auf den Wolkensäumen, den sanft bewegten Abglanz im Meere, heller und lebhafter auf dem Saum der nächsten Welle. Und nun die Sterne des Himmels, die Lampen des Leuchtturms, das Feuer des Vesuvs, den Widerschein davon im Wasser und viele einzelne Lichter ausgesät über die Schiffe. Eine so mannigfaltige Aufgabe hätt’ ich wohl von Van der Neer gelöst sehen mögen.

Neapel, Donnerstag, den 31. Mai 1787.

Ich hatte das römische Fronleichnamfest und dabei besonders die nach Raffael gewirkten Teppiche so fest in den Sinn gefaßt, daß ich mich alle diese herrlichen Naturerscheinungen, ob sie schon in der Welt ihresgleichen nicht haben können, keineswegs irren ließ, sondern die Anstalten zur Reise hartnäckig fortsetzte. Ein Paß war bestellt, ein Vetturin hatte mir den Mietpfennig gegeben; denn es geschieht dort zur Sicherheit der Reisenden umgekehrt als bei uns. Kniep war beschäftigt, sein neues Quartier zu beziehen, an Raum und Lage viel besser als das vorige.

Schon früher, als diese Veränderung im Werke war, hatte mir der Freund einigemal zu bedenken gegeben, es sei doch unangenehm und gewissermaßen unanständig, wenn man in ein Haus ziehe und gar nichts mitbringe; selbst ein Bettgestell flöße den Wirtsleuten schon einigen Respekt ein. Als wir nun heute durch den unendlichen Trödel der Kastellweitung hindurchgingen, sah ich so ein paar eiserne Gestelle, bronzeartig angestrichen, welche ich sogleich feilschte und meinem Freund als künftigen Grund zu einer ruhigen und soliden Schlafstätte verehrte. Einer der allezeit fertigen Träger brachte sie nebst den erforderlichen Brettern in das neue Quartier, welche Anstalt Kniepen so sehr freute, daß er sogleich von mir weg und hier einzuziehen gedachte, große Reißbretter, Papier und alles Nötige schnell anzuschaffen besorgt war. Einen Teil der Konturen, in beiden Sizilien gezogen, übergab ich ihm nach unserer Verabredung.

Neapel, den 1. Juni 1787.

Die Ankunft des Marquis Lucchesini hat meine Abreise auf einige Tage weiter geschoben; ich habe viel Freude gehabt, ihn kennen zu lernen. Er scheint mir einer von denen Menschen zu sein, die einen guten moralischen Magen haben, um an dem großen Welttische immer mitgenießen zu können; anstatt daß unsereiner wie ein wiederkäuendes Tier sich zuzeiten überfüllt und dann nichts weiter zu sich nehmen kann, bis er eine wiederholte Kauung und Verdauung geendigt hat. Sie gefällt mir auch recht wohl, sie ist ein wackres deutsches Wesen.

Ich gehe nun gern aus Neapel, ja, ich muß fort. Diese letzten Tage überließ ich mich der Gefälligkeit, Menschen zu sehen; ich habe meist interessante Personen kennen lernen und bin mit den Stunden, die ich ihnen gewidmet, sehr zufrieden, aber noch vierzehn Tage, so hätte es mich weiter und weiter und abwärts von meinem Zwecke geführt. Und dann wird man hier immer untätiger. Seit meiner Rückkunft von Pästum habe ich außer den Schätzen von Portici wenig gesehen, und es bleibt mir manches zurück, um dessentwillen ich nicht den Fuß aufheben mag. Aber jenes Museum ist auch das ‚Α‘ und ‚Ω‘ aller Antiquitätensammlungen; da sieht man recht, was die alte Welt an freudigem Kunstsinn voraus war, wenn sie gleich in strenger Handwerksfertigkeit weit hinter uns zurückblieb.

Zum 1. Juni 1787.

Der Lohnbediente, welcher mir den ausgefertigten Paß zustellte, erzählte zugleich, meine Abreise bedauernd, daß eine starke Lava, aus dem Vesuv hervorgebrochen, ihren Weg nach dem Meere zu nehme; an steileren Abhängen des Berges sei sie beinahe schon herab und könne wohl in einigen Tagen das Ufer erreichen. Nun befand ich mich in der größten Klemme. Der heutige Tag ging auf Abschiedsbesuche hin, die ich so vielen wohlwollenden und befördernden Personen schuldig war; wie es mir morgen ergehen wird, sehe ich schon. Einmal kann man sich auf seinem Wege den Menschen doch nicht völlig entziehen, was sie uns aber auch nutzen und zu genießen geben, sie reißen uns doch zuletzt von unsern ernstlichen Zwecken zur Seite hin, ohne daß wir die ihrigen fördern. Ich bin äußerst verdrießlich.

Abends.

Auch meine Dankbesuche waren nicht ohne Freude und Belehrung, man zeigte mir noch manches freundlich vor, was man bisher verschoben oder versäumt. Cavaliere Venuti ließ mich sogar noch verborgene Schätze sehen. Ich betrachtete abermals mit großer Verehrung seinen, obgleich verstümmelten, doch unschätzbaren Ulysses. Er führte mich zum Abschied in die Porzellanfabrik, wo ich mir den Herkules möglichst einprägte und mir an den kampanischen Gefäßen die Augen noch einmal recht voll sah.

Wahrhaft gerührt und freundschaftlich Abschied nehmend, vertraute er mir dann noch zuletzt, wo ihn eigentlich der Schuh drücke, und wünschte nichts mehr, als daß ich noch eine Zeitlang mit ihm verweilen könnte. Mein Bankier, bei dem ich gegen Tischzeit eintraf, ließ mich nicht los; das wäre nun alles schön und gut gewesen, hätte nicht die Lava meine Einbildungskraft an sich gezogen. Unter mancherlei Beschäftigungen, Zahlungen und Einpacken kam die Nacht heran, ich aber eilte schnell nach dem Molo.

Hier sah ich nun alle die Feuer und Lichter und ihre Widerscheine, nur bei bewegtem Meer noch schwankender; den Vollmond in seiner ganzen Herrlichkeit neben dem Sprühfeuer des Vulkans, und nun die Lava, die neulich fehlte, auf ihrem glühenden ernsten Wege. Ich hätte noch hinausfahren sollen, aber die Anstalten waren zu weitschichtig, ich wäre erst am Morgen dort angekommen. Den Anblick, wie ich ihn genoß, wollte ich mir durch Ungeduld nicht verderben, ich blieb auf dem Molo sitzen, bis mir ungeachtet des Zu- und Abströmens der Menge, ihres Deutens, Erzählens, Vergleichens, Streitens, wohin die Lava strömen werde, und was dergleichen Unfug noch mehr sein mochte, die Augen zufallen wollten.

Neapel, Sonnabend, den 2. Juni 1787.

Und so hätte ich auch diesen schönen Tag zwar mit vorzüglichen Personen vergnüglich und nützlich, aber doch ganz gegen meine Absichten und mit schwerem Herzen zugebracht. Sehnsuchtsvoll blickte ich nach dem Dampfe, der, den Berg herab langsam nach dem Meer ziehend, den Weg bezeichnete, welchen die Lava stündlich nahm. Auch der Abend sollte nicht frei sein. Ich hatte versprochen, die Herzogin von Giovane zu besuchen, die auf dem Schlosse wohnte, wo man mich denn viele Stufen hinauf durch manche Gänge wandern ließ, deren oberste verengt waren durch Kisten, Schränke und alles Mißfällige eines Hofgarderobewesens. Ich fand in einem großen und hohen Zimmer, das keine sonderliche Aussicht hatte, eine wohlgestaltete junge Dame von sehr zarter und sittlicher Unterhaltung. Als einer gebornen Deutschen war ihr nicht unbekannt, wie sich unsere Literatur zu einer freieren, weit umherblickenden Humanität gebildet; Herders Bemühungen und was ihnen ähnelte, schätzte sie vorzüglich, auch Garvens reiner Verstand hatte ihr aufs innigste zugesagt. Mit den deutschen Schriftstellerinnen suchte sie gleichen Schritt zu halten, und es ließ sich wohl bemerken, daß es ihr Wunsch sei, eine geübte und belobte Feder zu führen. Dahin bezogen sich ihre Gespräche und verrieten zugleich die Absicht, auf die Töchter des höchsten Standes zu wirken; ein solches Gespräch kennt keine Grenzen. Die Dämmerung war schon eingebrochen, und man hatte noch keine Kerzen gebracht. Wir gingen im Zimmer auf und ab, und sie, einer durch Läden verschlossenen Fensterseite sich nähernd, stieß einen Laden auf, und ich erblickte, was man in seinem Leben nur einmal sieht. Tat sie es absichtlich, mich zu überraschen, so erreichte sie ihren Zweck vollkommen. Wir standen an einem Fenster des oberen Geschosses, der Vesuv gerade vor uns, die herabfließende Lava, deren Flamme bei längst niedergegangener Sonne schon deutlich glühte und ihren begleitenden Rauch schon zu vergolden anfing; der Berg gewaltsam tobend, über ihm eine ungeheure feststehende Dampfwolke, ihre verschiedenen Massen bei jedem Auswurf blitzartig gesondert und körperhaft erleuchtet. Von da herab bis gegen das Meer ein Streif von Gluten und glühenden Dünsten; übrigens Meer und Erde, Fels und Wachstum deutlich in der Abenddämmerung, klar, friedlich, in einer zauberhaften Ruhe. Dies alles mit einem Blick zu übersehen und den hinter dem Bergrücken hervortretenden Vollmond als die Erfüllung des wunderbarsten Bildes zu schauen, mußte wohl Erstaunen erregen.

Dies alles konnte von diesem Standpunkt das Auge mit einmal fassen, und wenn es auch die einzelnen Gegenstände zu mustern nicht imstande war, so verlor es doch niemals den Eindruck des großen Ganzen. War unser Gespräch durch dieses Schauspiel unterbrochen, so nahm es eine desto gemütlichere Wendung. Wir hatten nun einen Text vor uns, welchen Jahrtausende zu kommentieren nicht hinreichen. Je mehr die Nacht wuchs, desto mehr schien die Gegend an Klarheit zu gewinnen; der Mond leuchtete wie eine zweite Sonne; die Säulen des Rauchs, dessen Streifen und Massen durchleuchtet bis ins einzelne deutlich, ja, man glaubte mit halbweg bewaffnetem Auge die glühend ausgeworfenen Felsklumpen auf der Nacht des Kegelberges zu unterscheiden. Meine Wirtin, so will ich sie nennen, weil mir nicht leicht ein köstlichers Abendmahl zubereitet war, ließ die Kerzen an die Gegenseite des Zimmers stellen, und die schöne Frau, vom Monde beleuchtet, als Vordergrund dieses unglaublichen Bildes, schien mir immer schöner zu werden, ja ihre Lieblichkeit vermehrte sich besonders dadurch, daß ich in diesem südlichen Paradiese eine sehr angenehme deutsche Mundart vernahm. Ich vergaß, wie spät es war, so daß sie mich zuletzt aufmerksam machte, sie müsse mich, wiewohl ungerne, entlassen, die Stunde nahe schon, wo ihre Galerien klostermäßig verschlossen würden. Und so schied ich zaudernd von der Ferne und von der Nähe, mein Geschick segnend, das mich für die widerwillige Artigkeit des Tages noch schön am Abend belohnt hatte. Unter den freien Himmel gelangt, sagte ich mir vor, daß ich in der Nähe dieser größern Lava doch nur die Wiederholung jener kleinern würde gesehen haben, und daß mir ein solcher Überblick, ein solcher Abschied aus Neapel nicht anders als auf diese Weise hätte werden können. Anstatt nach Hause zu gehen, richtete ich meine Schritte nach dem Molo, um das große Schauspiel mit einem andern Vordergrund zu sehen; aber ich weiß nicht, ob die Ermüdung nach einem so reichen Tage oder ein Gefühl, daß man das letzte, schöne Bild nicht verwischen müsse, mich wieder nach Moriconi zurückzog, wo ich denn auch Kniepen fand, der aus seinem neu bezognen Quartier mir einen Abendbesuch abstattete. Bei einer Flasche Wein besprachen wir unsere künftigen Verhältnisse; ich konnte ihm zusagen, daß er, sobald ich etwas von seinen Arbeiten in Deutschland vorzeigen könne, gewiß dem trefflichen Herzog Ernst von Gotha empfohlen sein und von dort Bestellungen erhalten würde. Und so schieden wir mit herzlicher Freude, mit sicherer Aussicht künftiger wechselseitig wirkender Tätigkeit.

Neapel, Sonntag, den 3. Juni 1787. Dreieinigkeitsfest.

Und so fuhr ich denn durch das unendliche Leben dieser unvergleichlichen Stadt, die ich wahrscheinlich nicht wiedersehen sollte, halb betäubt hinaus; vergnügt jedoch, daß weder Reue noch Schmerz hinter mir blieb. Ich dachte an den guten Kniep und gelobte ihm auch in der Ferne meine beste Vorsorge.

An den äußersten Polizeischranken der Vorstadt störte mich einen Augenblick ein Marqueur, der mir freundlich ins Gesicht sah, aber schnell wieder hinwegsprang. Die Zollmänner waren noch nicht mit dem Vetturin fertig geworden, als aus der Kaffeebudentüre, die größte chinesische Tasse voll schwarzen Kaffee auf einem Präsentierteller tragend, Kniep heraustrat. Er nahte sich dem Wagenschlag langsam mit einem Ernst, der, von Herzen gehend, ihn sehr gut kleidete. Ich war erstaunt und gerührt, eine solche erkenntliche Aufmerksamkeit hat nicht ihresgleichen. »Sie haben«, sagte er, »mir so viel Liebes und Gutes, auf mein ganzes Leben Wirksames erzeigt, daß ich Ihnen hier ein Gleichnis anbieten möchte, was ich Ihnen verdanke.«

Da ich in solchen Gelegenheiten ohnehin keine Sprache habe, so brachte ich nur sehr lakonisch vor, daß er durch seine Tätigkeit mich schon zum Schuldner gemacht und durch Benutzung und Bearbeitung unserer gemeinsamen Schätze mich noch immer mehr verbinden werde.

Wir schieden, wie Personen selten voneinander scheiden, die sich zufällig auf kurze Zeit verbunden. Vielleicht hätte man viel mehr Dank und Vorteil vom Leben, wenn man sich wechselsweise gerade heraus spräche, was man voneinander erwartet. Ist das geleistet, so sind beide Teile zufrieden, und das Gemütliche, was das Erste und Letzte von allem ist, erscheint als reine Zugabe.

Unterwegs, am 4., 5. und 6. Juni.

Da ich diesmal allein reise, habe ich Zeit genug, die Eindrücke der vergangenen Monate wieder hervorzurufen; es geschieht mit vielem Behagen. Und doch tritt gar oft das Lückenhafte der Bemerkungen hervor, und wenn die Reise dem, der sie vollbracht hat, in einem Flusse vorüberzuziehen scheint und in der Einbildungskraft als eine stetige Folge hervortritt, so fühlt man doch, daß eine eigentliche Mitteilung un möglich sei. Der Erzählende muß alles einzeln hinstellen: wie soll daraus in der Seele des Dritten ein Ganzes gebildet werden?

Deshalb konnte mir nichts Tröstlicheres und Erfreulicheres begegnen als die Versicherungen eurer letzten Briefe, daß ihr euch fleißig mit Italien und Sizilien beschäftigt, Reisebeschreibungen leset und Kupferwerke betrachtet; das Zeugnis, daß dadurch meine Briefe gewinnen, ist mein höchster Trost. Hättet ihr es früher getan oder ausgesprochen, ich wäre noch eifriger gewesen, als ich war. Daß treffliche Männer wie Bartels, Münter, Architekten verschiedener Nationen vor mir hergingen, die gewiß äußere Zwecke sorgfältiger verfolgten als ich, der ich nur die innerlichsten im Auge hatte, hat mich oft beruhigt, wenn ich alle meine Bemühungen für unzulänglich halten mußte.

Überhaupt, wenn jeder Mensch nur als ein Supplement aller übrigen zu betrachten ist und am nützlichsten und liebenswürdigsten erscheint, wenn er sich als einen solchen gibt, so muß dieses vorzüglich von Reiseberichten und Reisenden gültig sein. Persönlichkeit, Zwecke, Zeitverhältnisse, Gunst und Ungunst der Zufälligkeiten, alles zeigt sich bei einem jeden anders. Kenn’ ich seine Vorgänger, so werd’ ich auch an ihm mich freuen, mich mit ihm behelfen, seinen Nachfolger erwarten und diesem, wäre mir sogar inzwischen das Glück geworden, die Gegend selbst zu besuchen, gleichfalls freundlich begegnen.

 
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