Drittes Buch
Kapitel 1
Nach allem diesem, und was daraus erfolgen mochte, war nun Wilhelms erstes Anliegen, sich den Verbündeten wieder zu nähern und mit irgendeiner Abteilung derselben irgendwo zusammenzutreffen. Er zog daher sein Täfelchen zu Rat und begab sich auf den Weg, der ihn vor andern ans Ziel zu führen versprach. Weil er aber, den günstigsten Punkt zu erreichen, quer durchs Land gehen musste, so sah er sich genötigt, die Reise zu Fuß zu machen und das Gepäck hinter sich her tragen zu lassen. Für seinen Gang aber ward er auf jedem Schritt reichlich belohnt, indem er unerwartet ganz allerliebste Gegenden antraf; es waren solche, wie sie das letzte Gebirge gegen die Fläche zu bildet, bebuschte Hügel, die sanften Abhänge haushälterisch benutzt, alle Flächen grün, nirgends etwas Steiles, Unfruchtbares und Ungepflügtes zu sehen. Nun gelangte er zum Haupttal, worein die Seitenwasser sich ergossen; auch dieses war sorgfältig bebaut, anmutig übersehbar, schlanke Bäume bezeichneten die Krümmung des durchziehenden Flusses und einströmender Bäche, und als er die Karte, seinen Wegweiser, vornahm, sah er zu seiner Verwunderung, dass die gezogene Linie dieses Tal gerade durchschnitt und er sich also vorerst wenigstens auf rechtem Weg befinde.
Ein altes, wohl erhaltenes, zu verschiedenen Zeiten erneuertes Schloss zeigte sich auf einem bebuschten Hügel; am Fuß desselben zog ein heiterer Flecken sich hin mit vorstehendem, in die Augen fallendem Wirtshaus; auf letzteres ging er zu und ward zwar freundlich von dem Wirt empfangen, jedoch mit Entschuldigung, dass man ihn ohne Erlaubnis einer Gesellschaft nicht aufnehmen könne, die den ganzen Gasthof auf einige Zeit gemietet habe; deswegen er alle Gäste in die ältere, weiter hinauf liegende Herberge verweisen müsse. Nach einer kurzen Unterredung schien der Mann sich zu bedenken und sagte: „Zwar findet sich jetzt niemand im Haus, doch es ist eben Sonnabend, und der Vogt kann nicht lange ausbleiben, der wöchentlich alle Rechnungen berichtigt und seine Bestellungen für das Nächste macht. Wahrlich, es ist eine schickliche Ordnung unter diesen Männern und eine Lust, mit ihnen zu verkehren, ob sie gleich genau sind; denn man hat zwar keinen großen, aber einen sichern Gewinn.“ Er hieß darauf den neuen Gast in dem obern großen Vorsaal sich gedulden und, was ferner sich ereignen möchte, abwarten.
Hier fand nun der Herantretende einen weiten, saubern Raum, außer Bänken und Tischen völlig leer; desto mehr verwunderte er sich, eine große Tafel über einer Tür angebracht zu sehen, worauf die Worte in goldnen Buchstaben zu lesen waren: „Ubi homines sunt, modi sunt“; welches wir deutsch erklären, dass da, wo Menschen in Gesellschaft zusammentreten, sogleich die Art und Weise, wie sie zusammen sein und bleiben mögen, sich ausbilde. Dieser Spruch gab unserm Wanderer zu denken; er nahm ihn als gute Vorbedeutung, indem er das hier bekräftigt fand, was er mehrmals in seinem Leben als vernünftig und fördersam erkannt hatte. Es dauerte nicht lange, so erschien der Vogt, welcher, von dem Wirt vorbereitet, nach einer kurzen Unterredung und keinem sonderlichen Ausforschen ihn unter folgenden Bedingungen aufnahm: Drei Tage zu bleiben, an allem, was vorgehen möchte, ruhig teilzunehmen und, es geschehe was wolle, nicht nach der Ursache zu fragen, so wenig als beim Abschied nach der Zeche. Das alles musste der Reisende sich gefallen lassen, weil der Beauftragte in keinem Punkt nachgeben konnte.
Eben wollte der Vogt sich entfernen, als ein Gesang die Treppe herauf scholl; zwei hübsche junge Männer kamen heran, denen jener durch ein einfaches Zeichen zu verstehen gab, der Gast sei aufgenommen. Ihren Gesang nicht unterbrechend, begrüßten sie ihn freundlich, duettierten gar anmutig, und man konnte sehr leicht bemerken, dass sie völlig eingeübt und ihrer Kunst Meister seien. Als Wilhelm die aufmerksamste Teilnahme bewies, schlossen sie und fragten: ob ihm nicht auch manchmal ein Lied bei seinen Fußwanderungen einfalle und das er so vor sich hin singe. „Mir ist zwar von der Natur“, versetzte Wilhelm, „eine glückliche Stimme versagt, aber innerlich scheint mir oft ein geheimer Genius etwas Rhythmisches vorzuflüstern, so dass ich mich beim Wandern jedes Mal im Takt bewege und zugleich leise Töne zu vernehmen glaube, wodurch denn irgendein Lied begleitet wird, das sich mir auf eine oder die andere Weise gefällig vergegenwärtigt.“
„Erinnert Ihr Euch eines solchen, so schreibt es uns auf“, sagten jene, „wir wollen sehen, ob wir Euren singenden Dämon zu begleiten wissen.“ Er nahm hierauf ein Blatt aus seiner Schreibtafel und übergab ihnen folgendes:
„Von dem Berg zu den Hügeln,
Niederab das Tal entlang,
Da erklingt es wie von Flügeln,
Da bewegt sich’s wie Gesang;
Und dem unbedingten Triebe
Folgt Freude, folgt Rat;
Und dein Streben, sei’s in Liebe,
Und dein Leben sei die Tat.“
Nach kurzem Bedenken ertönte sogleich ein freudiger, dem Wanderschritt angemessener Zweigesang, der, bei Wiederholung und Verschränkung immer fortschreitend, den Hörenden mit hinriss; er war im Zweifel, ob dies seine eigne Melodie, sein früheres Thema, oder ob sie jetzt erst so angepasst sei, dass keine andere Bewegung denkbar wäre. Die Sänger hatten sich eine Zeitlang auf diese Weise vergnüglich ergangen, als zwei tüchtige Burschen herantreten, die man an ihren Attributen sogleich für Maurer anerkannte, zwei aber, die ihnen folgten, für Zimmerleute halten musste. Diese vier, ihr Handwerkszeug sachte niederlegend, horchten dem Gesang und fielen gar bald sicher und entschieden in denselben mit ein, so dass eine vollständige Wandergesellschaft über Berg und Tal dem Gefühl dahin zu schreiten schien und Wilhelm glaubte, nie etwas so Anmutiges, Herz und Sinn Erhebendes vernommen zu haben. Dieser Genuss jedoch sollte noch erhöht und bis zum Letzten gesteigert werden, als eine riesenhafte Figur, die Treppe heraufsteigend, einen starken, festen Tritt mit dem besten Willen kaum zu mäßigen imstande war. Ein schwer bepacktes Reff setzte er sogleich in die Ecke, sich aber auf eine Bank nieder, die zu krachen anfing, worüber die andern lachten, ohne jedoch aus ihrem Gesang zu fallen. Sehr überrascht aber fand sich Wilhelm, als mit einer ungeheuren Bassstimme dieses Enakskind gleichfalls einzufallen begann. Der Saal schütterte, und bedeutend war es, dass er den Refrain an seinem Teil sogleich verändert und zwar dergestalt sang:
„Du im Leben nichts verschiebe;
Sei dein Leben Tat um Tat!“
Ferner konnte man denn auch gar bald bemerken, dass er das Tempo zu einem langsameren Schritt hernieder ziehe und die übrigen nötige, sich ihm zu fügen. Als man zuletzt geschlossen und sich genugsam befriedigt hatte, warfen ihm die andern vor, als wenn er getrachtet habe, sie irre zu machen. „Keineswegs“, rief er aus, „ihr seid es, die ihr mich irre zu machen gedenkt; aus meinem Schritt wollt ihr mich bringen, der gemäßigt und sicher sein muss, wenn ich mit meiner Bürde bergauf, bergab schreite und doch zuletzt zur bestimmten Stunde eintreffen und euch befriedigen soll.“
Einer nach dem andern ging nunmehr zu dem Vogt hinein, und Wilhelm konnte wohl bemerken, dass es auf eine Abrechnung angesehen sei, wonach er sich nun nicht weiter erkundigen durfte. In der Zwischenzeit kamen ein paar muntere, schöne Knaben, eine Tafel in der Geschwindigkeit zu bereiten, mäßig mit Speise und Wein zu besetzen, worauf der heraustretende Vogt sie nunmehr alle sich mit ihm niederzulassen einlud. Die Knaben warteten auf, vergaßen sich aber auch nicht und nahmen stehend ihren Anteil dahin. Wilhelm erinnerte sich ähnlicher Szenen, da er noch unter den Schauspielern hauste, doch schien ihm die gegenwärtige Gesellschaft viel ernster, nicht zum Scherz auf Schein, sondern auf bedeutende Lebenszwecke gerichtet.
Das Gespräch der Handwerker mit dem Vogt belehrte den Gast hierüber aufs klarste. Die vier tüchtigen jungen Leute waren in der Nähe tätig, wo ein gewaltsamer Brand die anmutigste Landstadt in Asche gelegt hatte; nicht weniger hörte man, dass der wackere Vogt mit Anschaffung des Holzes und sonstiger Baumaterialien beschäftigt sei, welches dem Gast um so rätselhafter vorkam, als sämtliche Männer hier nicht wie Einheimische, sondern wie Vorüberwandernde sich in allem übrigen ankündigten. Zum Schluss der Tafel holte St. Christoph, so nannten sie den Riesen, ein beseitigtes gutes Glas Wein zum Schlaftrunk, und ein heiterer Gesang hielt noch einige Zeit die Gesellschaft für das Ohr zusammen, die dem Blick bereits auseinander gegangen war; worauf denn Wilhelm in ein Zimmer geführt wurde von der anmutigsten Lage. Der Vollmond, eine reiche Flur beleuchtend, war schon herauf und weckte ähnliche und gleiche Erinnerungen in dem Busen unseres Wanderers. Die Geister aller lieben Freunde zogen bei ihm vorüber, besonders aber war ihm Lenardos Bild so lebendig, dass er ihn unmittelbar vor sich zu sehen glaubte. Dies alles gab ihm ein inniges Behagen zur nächtlichen Ruhe, als er durch den wunderlichsten Laut beinahe erschreckt worden wäre. Es klang aus der Ferne her, und doch schien es im Haus selbst zu sein, denn das Haus zitterte manchmal, und die Balken dröhnten, wenn der Ton zu seiner größten Kraft stieg. Wilhelm, der sonst ein zartes Ohr hatte, alle Töne zu unterscheiden, konnte doch sich für nichts bestimmen; er verglich es dem Schnarren einer großen Orgelpfeife, die vor lauter Umfang keinen entschiedenen Ton von sich gibt. Ob dieses Nachtschrecken gegen Morgen nachließ, oder ob Wilhelm, nach und nach daran gewöhnt, nicht mehr dafür empfindlich war, ist schwer auszumitteln; genug, er schlief ein und ward von der aufgehenden Sonne anmutig erweckt.
Kaum hatte ihm einer der dienenden Knaben das Frühstück gebracht, als eine Figur herein trat, die er am Abendtische bemerkt hatte, ohne über deren Eigenschaften klar zu werden. Es war ein wohl gebauter, breitschultriger, auch behänder Mann, der sich durch ausgekramtes Gerät als Barbier ankündigte und sich bereitete, Wilhelm diesen so erwünschten Dienst zu leisten. Übrigens schwieg er still, und das Geschäft war mit sehr leichter Hand vollbracht, ohne dass er irgendeinen Laut von sich gegeben hätte. Wilhelm begann daher und sprach: „Eure Kunst versteht Ihr meisterlich, und ich wüsste nicht, dass ich ein zarteres Messer jemals an meinen Wangen gefühlt hätte; zugleich scheint Ihr aber die Gesetze der Gesellschaft genau zu beobachten.“
Schalkhaft lächelnd, den Finger auf den Mund legend, schlich der Schweigsame zur Türe hinaus. „Wahrlich!“, rief ihm Wilhelm nach, „Ihr seid jener Rotmantel, wo nicht selbst, doch wenigstens gewiss ein Abkömmling; es ist Euer Glück, dass Ihr den Gegendienst von mir nicht verlangen wollt; Ihr würdet Euch dabei schlecht befunden haben.“
Kaum hatte dieser wunderliche Mann sich entfernt, als der bekannte Vogt herein trat, zur Tafel für diesen Mittag eine Einladung ausrichtend, welche gleichfalls ziemlich seltsam klang: Das Band, so sagte der Einladende ausdrücklich, heiße den Fremden willkommen, berufe denselben zum Mittagsmahl und freue sich der Hoffnung, mit ihm in ein näheres Verhältnis zu treten. Man erkundigte sich ferner nach dem Befinden des Gastes, und wie er mit der Bewirtung zufrieden sei; der denn von allem, was ihm begegnet war, nur mit Lob sprechen konnte. Freilich hätte er sich gern bei diesem Mann, wie vorher bei dem schweigsamen Barbier, nach dem entsetzlichen Ton erkundigt, der ihn diese Nacht, wo nicht geängstigt, doch beunruhigt hatte; seines Angelöbnisses jedoch eingedenk, enthielt er sich jeder Frage und hoffte, ohne zudringlich zu sein, aus Neigung der Gesellschaft oder zufällig nach seinen Wünschen belehrt zu werden.
Als der Freund sich allein befand, dachte er über die wunderliche Person erst nach, die ihn hatte einladen lassen, und wusste nicht recht, was er daraus machen sollte. Einen oder mehrere Vorgesetzte durch ein Neutrum anzukündigen, kam ihm allzu bedenklich vor. Übrigens war es so still um ihn her, dass er nie einen stilleren Sonntag erlebt zu haben glaubte; er verließ das Haus, vernahm aber ein Glockengeläute und ging nach dem Städtchen zu. Die Messe war eben geendigt, und unter den sich herausdrängenden Einwohnern und Landleuten erblickte er drei Bekannte von gestern, einen Zimmergesellen, einen Maurer und einen Knaben. Später bemerkte er unter den protestantischen Gottesverehrern gerade die drei andern. Wie die übrigen ihrer Andacht pflegen mochten, ward nicht bekannt; so viel aber getraute er sich zu schließen, dass in dieser Gesellschaft eine entschiedene Religionsfreiheit obwalte.
Zu Mittag kam demselben am Schlosstor der Vogt entgegen, ihn durch mancherlei Hallen in einen großen Vorsaal zu führen, wo er ihn niedersetzen hieß. Viele Personen gingen vorbei, in einen anstoßenden Saalraum hinein. Die schon bekannten waren darunter zu sehen, selbst St. Christoph schritt vorüber; alle grüßten den Vogt und den Ankömmling. Was dem Freund dabei am meisten auffiel, war, dass er nur Handwerker zu sehen glaubte, alle nach gewohnter Weise, aber höchst reinlich gekleidet; wenige, die er allenfalls für Kanzleiverwandte gehalten hätte.
Als nun keine neuen Gäste weiter zudrangen, führte der Vogt unsern Freund durch die stattliche Pforte in einen weitläufigen Saal; dort war eine unübersehbare Tafel gedeckt, an deren unterem Ende er vorbeigeführt wurde, nach oben zu, wo er drei Personen quer vorstehen sah. Aber von welchem Erstaunen ward er ergriffen, als er in die Nähe trat und Lenardo, kaum noch erkannt, ihm um den Hals fiel. Von dieser Überraschung hatte man sich noch nicht erholt, als ein zweiter Wilhelm gleichfalls feurig und lebhaft umarmte und sich als den wunderlichen Friedrich, Natalies Bruder, zu erkennen gab. Das Entzücken der Freunde verbreitete sich über alle Gegenwärtigen; ein Freud- und Segensruf erscholl die ganze Tafel her. Auf einmal aber, als man sich gesetzt, ward alles still und das Gastmahl mit einer gewissen Feierlichkeit aufgetragen und eingenommen.
Gegen Ende der Tafel gab Lenardo ein Zeichen; zwei Sänger standen auf, und Wilhelm verwunderte sich sehr, sein gestriges Lied wiederholt zu hören, das wir, der nächsten Folge wegen hier wieder einzurücken für nötig finden.
„Von dem Berg zu den Hügeln,
Niederab das Tal entlang,
Da erklingt es wie von Flügeln,
Da bewegt sich’s wie Gesang;
Und dem unbedingten Triebe
Folgt Freude, folgt Rat;
Und dein Streben, sei’s in Liebe,
Und dein Leben sei die Tat.“
Kaum hatte dieser Zwiegesang, von einem gefällig mäßigen Chor begleitet, sich zum Ende geneigt, als gegenüber sich zwei andere Sänger ungestüm erhuben, welche mit ernster Heftigkeit das Lied mehr umkehrten als fortsetzten, zur Verwunderung des Ankömmlings aber sich also vernehmen ließen:
„Denn die Bande sind zerrissen,
Das Vertrauen ist verletzt;
Kann ich sagen, kann ich wissen,
Welchem Zufall ausgesetzt
Ich nun scheiden, ich nun wandern,
Wie die Witwe trauervoll,
Statt dem einen, mit dem andern
Fort und fort mich wenden soll!“
Der Chor, in diese Strophe einfallend, ward immer zahlreicher, immer mächtiger, und doch konnte man die Stimme des heiligen Christoph vom untern Ende der Tafel her, gar bald unterscheiden. Beinahe furchtbar schwoll zuletzt die Trauer; ein unmutiger Mut brachte bei Gewandtheit der Sänger etwas Fugenhaftes in das Ganze, dass es unserm Freund wie schauderhaft auffiel. Wirklich schienen alle völlig gleichen Sinnes zu sein und ihr eignes Schicksal eben kurz vor dem Aufbruch zu betrauern. Die wundersamsten Wiederholungen, das öftere Wiederaufleben eines beinahe ermattenden Gesanges schien zuletzt dem Band selbst gefährlich; Lenardo stand auf, und alle setzten sich sogleich nieder, den Hymnus unterbrechend. Jener begann mit freundlichen Worten: „Zwar kann ich euch nicht tadeln, dass ihr euch das Schicksal, das uns allen bevorsteht, immer vergegenwärtigt, um zu demselben jede Stunde bereit zu sein. Haben doch lebensmüde, bejahrte Männer den Ihrigen zugerufen: ‚Gedenke zu sterben!’, so dürfen wir lebenslustige Jüngere wohl uns immerfort ermuntern und ermahnen mit den heitern Worten: ‚Gedenke zu wandern!’ Dabei ist aber wohlgetan, mit Maß und Heiterkeit dessen zu erwähnen, was man entweder willig unternimmt, oder wozu man sich genötigt glaubt. Ihr wisst am besten, was unter uns fest steht und was beweglich ist; gebt uns dies auch in erfreulichen, aufmunternden Tönen zu genießen, worauf denn dieses Abschiedsglas für diesmal gebracht sei!“ Er leerte sodann seinen Becher und setzte sich nieder; die vier Sänger standen sogleich auf und begannen in abgeleiteten, sich anschließenden Tönen:
„Bleibe nicht am Boden heften,
Frisch gewagt und frisch hinaus!
Kopf und Arm mit heitern Kräften
Überall sind sie zu Haus;
Wo wir uns der Sonne freuen,
Sind wir jede Sorge los.
Dass wir uns in ihr zerstreuen,
Darum ist die Welt so groß.“
Bei dem wiederholenden Chorgesang stand Lenardo auf und mit ihm alle; sein Wink setzte die ganze Tischgesellschaft in singende Bewegung; die unteren zogen, St. Christoph voran, paarweise zum Saal hinaus, und der angestimmte Wandergesang ward immer heiterer und freier; besonders aber nahm er sich sehr gut aus, als die Gesellschaft, in den terrassierten Schlossgärten versammelt, von hier aus das geräumige Tal übersah, in dessen Fülle und Anmut man sich wohl gern verloren hätte. Indessen die Menge sich nach Belieben hier- und dorthin zerstreute, machte man Wilhelm mit dem dritten Vorsitzenden bekannt. Es war der Amtmann, der das gräfliche, zwischen mehreren Standesherrschaften liegende Schloss dieser Gesellschaft, so lange sie hier zu verweilen für gut fände, einzuräumen und ihr vielfache Vorteile zu verschaffen gewusst, dagegen aber auch, als ein kluger Mann, die Anwesenheit so seltener Gäste zu nutzen verstand. Denn indem er für billige Preise seine Fruchtböden auftat und, was sonst noch zu Nahrung und Notdurft erforderlich wäre, zu verschaffen wusste, so wurden bei solcher Gelegenheit längst vernachlässigte Dachreihen umgelegt, Dachstühle hergestellt, Mauern unterfahren, Planken gerichtet und andere Mängel auf den Grad gehoben, dass ein längst vernachlässigtes, in Verfall geratenes Besitztum verblühender Familien den frohen Anblick einer lebendig benutzten Wohnlichkeit gewährte und das Zeugnis gab: Leben schaffe Leben, und, wer andern nützlich sei, auch sie ihm zu nutzen in die Notwendigkeit versetze.
Kapitel 2
Hersilie an Wilhelm
Mein Zustand kommt mir vor wie ein Trauerspiel des Alfieri: da die Vertrauten völlig ermangeln, so muss zuletzt alles in Monologen verhandelt werden; und fürwahr, eine Korrespondenz mit Ihnen ist einem Monolog vollkommen gleich; denn Ihre Antworten nehmen eigentlich wie ein Echo unsre Silben nur oberflächlich auf, um sie verhallen zu lassen. Haben Sie auch nur ein einziges Mal etwas erwidert, worauf man wieder hätte erwidern können? Parierend, ablehnend sind Ihre Briefe! Indem ich aufstehe, Ihnen entgegenzutreten, so weisen Sie mich wieder auf den Sessel zurück.
Vorstehendes war schon einige Tage geschrieben; nun findet sich ein neuer Drang und Gelegenheit, Gegenwärtiges an Lenardo zu bringen; dort findet Sie’s, oder man weiß Sie zu finden. Wo es Sie aber auch antreffen mag, lautet meine Rede dahin, dass, wenn Sie, nach gelesenem diesem Blatt, nicht gleich vom Sitz aufspringen und als frommer Wanderer sich eilig bei mir einstellen, so erklär’ ich Sie für den männlichsten aller Männer, d. h dem die liebenswürdigste aller Eigenschaften unsers Geschlechts völlig abgeht; ich verstehe darunter die Neugierde, die mich eben in dem Augenblick auf das entschiedenste quält.
Kurz und gut! Zu Ihrem Prachtkästchen ist das Schlüsselchen gefunden; das darf aber niemand wissen als ich und Sie. Wie es in meine Hände gekommen, vernehmen Sie nun.
Vor einigen Tagen empfängt unser Gerichtshalter eine Ausfertigung von fremder Behörde, worin gefragt wird, ob nicht ein Knabe sich zu der und der Zeit in der Nachbarschaft aufgehalten, allerlei Streiche verübt und endlich bei einem verwegenen Unternehmen seine Jacke eingebüßt habe.
Wie dieser Schelm nun bezeichnet war, blieb kein Zweifel übrig, es sei jener Fitz, von dem Felix so viel zu erzählen wusste und den er sich oft als Spielkameraden zurückwünschte.
Nun erbat sich jene Stelle die benannte Kleidung, wenn sie noch vorhanden wäre, weil der in Untersuchung geratene Knabe sich darauf berufe. Von dieser Zumutung spricht nun unser Gerichtshalter gelegentlich und zeigt das Kittelchen vor, eh’ er es absendet.
Mich treibt ein guter oder böser Geist, in die Brusttasche zu greifen; ein winzig kleines, stachlichtes Etwas kommt mir in die Hand; ich, die ich sonst so apprehensiv, kitzlich und schreckhaft bin, schließe die Hand, schließe sie, schweige, und das Kleid wird fortgeschickt. Sogleich ergreift mich von allen Empfindungen die wunderlichste. Beim ersten verstohlenen Blick seh’ ich, errat’ ich, zu Ihrem Kästchen sei es der Schlüssel. Nun gab es wunderliche Gewissenszweifel, mancherlei Skrupel stiegen bei mir auf. Den Fund zu offenbaren, herzugeben, war mir unmöglich: Was soll es jenen Gerichten, da es dem Freunde so nützlich sein kann! Dann wollte sich mancherlei von Recht und Pflicht wieder auftun, welche mich aber nicht überstimmen konnten.
Da sehen Sie nun, in was für einen Zustand mich die Freundschaft versetzt; ein famoses Organ entwickelt sich plötzlich, Ihnen zuliebe; welch ein wunderlich Ereignis! Möchte das nicht mehr als Freundschaft sein, was meinem Gewissen dergestalt die Waage hält! Wundersam bin ich beunruhigt, zwischen Schuld und Neugier; ich mache mir hundert Grillen und Märchen, was alles daraus erfolgen könnte: Mit Recht und Gericht ist nicht zu spaßen. Hersilie, das unbefangene, gelegentlich übermütige Wesen, in einen Kriminalprozess verwickelt – denn darauf geht’s doch hinaus – und was bleibt mir da übrig, als an den Freund zu denken, um dessentwillen ich das alles leide! Ich habe sonst auch an Sie gedacht, aber mit Pausen, jetzt aber unaufhörlich; jetzt, wenn mir das Herz schlägt und ich ans siebente Gebot denke, so muss ich mich an Sie wenden als den Heiligen, der das Verbrechen veranlasst und mich auch wohl wieder entbinden kann; und so wird allein die Eröffnung des Kästchens mich beruhigen. Die Neugierde wird doppelt mächtig. Kommen Sie eiligst und bringen das Kästchen mit. Für welchen Richterstuhl eigentlich das Geheimnis gehöre, das wollen wir unter uns ausmachen; bis dahin bleibt es unter uns; niemand wisse darum, es sei auch, wer es sei.
Hier aber, mein Freund, nun schließlich zu dieser Abbildung des Rätsels was sagen Sie? Erinnert es nicht an Pfeile mit Widerhaken? Gott sei uns gnädig! Aber das Kästchen muss zwischen mir und Ihnen erst uneröffnet stehen und dann eröffnet das Weitere selbst befehlen. Ich wollte, es fände sich gar nichts drinnen, und was ich sonst noch wollte und was ich sonst noch alles erzählen könnte – doch sei Ihnen das vorenthalten, damit Sie desto eiliger sich auf den Weg machen.
Und nun, mädchenhaft genug noch eine Nachschrift! Was geht aber mich und Sie eigentlich das Kästchen an? Es gehört Felix, der hat’s entdeckt, hat sich’s zugeeignet, den müssen wir herbeiholen; ohne seine Gegenwart sollen wir’s nicht öffnen.
Und was das wieder für Umstände sind! Das schiebt sich und verschiebt sich.
Was ziehen Sie so in der Welt herum? Kommen Sie! Bringen Sie den holden Knaben mit, den ich auch einmal wieder sehen möchte.
Und nun geht’s da wieder an, der Vater und der Sohn! Tun Sie, was Sie können, aber kommen Sie beide.
Kapitel 3
Vorstehender wunderliche Brief war freilich schon lange geschrieben und hin und wider getragen worden, bis er endlich, der Aufschrift gemäß, diesmal abgegeben werden konnte. Wilhelm nahm sich vor, mit dem ersten Boten, dessen Absendung bevorstand, freundlich, aber ablehnend zu antworten. Hersilie schien die Entfernung nicht zu berechnen, und er war gegenwärtig zu ernstlich beschäftigt, als dass ihn auch nur die mindeste Neugierde, was in jenem Kästchen befindlich sein möchte, hätte reizen dürfen.
Auch gaben ihm einige Unfälle, die den derbsten Gliedern dieser tüchtigen Gesellschaft begegneten, Gelegenheit, sich meisterhaft in der von ihm ergriffenen Kunst zu beweisen. Und wie ein Wort das andere gibt, so folgt noch glücklicher eine Tat aus der andern, und wenn dadurch zuletzt auch wieder Worte veranlasst werden, so sind diese umso fruchtbarer und geisterhebender. Die Unterhaltungen waren daher so belehrend als ergötzlich; denn die Freunde gaben sich wechselseitig Rechenschaft vom Gang des bisherigen Lernens und Tuns, woraus eine Bildung entstanden war, die sie wechselseitig erstaunen machte, dergestalt, dass sie sich untereinander erst selbst wieder mussten kennen lernen.
Eines Abends also fing Wilhelm seine Erzählung an: „Meine Studien als Wundarzt suchte ich sogleich in einer großen Anstalt der größten Stadt, wo sie nur allein möglich wird, zu fördern; zur Anatomie als Grundstudium wendete ich mich sogleich mit Eifer.
Auf eine sonderbare Weise, welche niemand erraten würde, war ich schon in Kenntnis der menschlichen Gestalt weit vorgeschritten, und zwar während meiner theatralischen Laufbahn; alles genau besehen, spielt denn doch der körperliche Mensch da die Hauptrolle, ein schöner Mann, eine schöne Frau! Ist der Direktor glücklich genug, ihrer habhaft zu werden, so sind Komödien- und Tragödiendichter geborgen. Der losere Zustand, in dem eine solche Gesellschaft lebt, macht ihre Genossen mehr mit der eigentlichen Schönheit der unverhüllten Glieder bekannt als irgendein anderes Verhältnis; selbst verschiedene Kostüms nötigen, zur Evidenz zu bringen, was sonst herkömmlich verhüllt wird. Hievon hätt’ ich viel zu sagen, so auch von körperlichen Mängeln, welche der kluge Schauspieler an sich und andern kennen muss, um sie, wo nicht zu verbessern, wenigstens zu verbergen; und auf diese Weise war ich vorbereitet genug, dem anatomischen Vortrag, der die äußern Teile näher kennen lehrte, eine folgerechte Aufmerksamkeit zu schenken; so wie mir denn auch die innern Teile nicht fremd waren, indem ein gewisses Vorgefühl davon mir immer gegenwärtig geblieben war. Unangenehm hindernd war bei dem Studium die immer wiederholte Klage vom Mangel der Gegenstände, über die nicht hinreichende Anzahl der verbliebenen Körper, die man zu so hohen Zwecken unter das Messer wünschte. Solche, wo nicht hinreichend, doch in möglichstes Zahl zu verschaffen, hatte man harte Gesetze ergehen lassen: Nicht allein Verbrecher, die ihr Individuum in jedem Sinn verwirkt, sondern auch andere körperlich, geistig verwahrloste Umgekommene wurden in Anspruch genommen.
Mit dem Bedürfnis wuchs die Strenge und mit dieser der Widerwille des Volks, das in sittlicher und religiöser Ansicht seine Persönlichkeit und die Persönlichkeit geliebter Personen nicht aufgeben kann.
Immer weiter aber stieg das Übel, indem die verwirrende Sorge hervortrat, dass man auch sogar für die friedlichen Gräber geliebter Abgeschiedener zu fürchten habe. Kein Alter, keine Würde, weder Hohes noch Niedriges war in seiner Ruhestätte mehr sicher; der Hügel, den man mit Blumen geschmückt, die Inschriften, mit denen man das Andenken zu erhalten getrachtet, nichts konnte gegen die einträgliche Raubsucht schützen; der schmerzlichste Abschied schien aufs grausamste gestört, und indem man sich vom Grabe wegwendete, musste schon die Furcht empfunden werden, die geschmückten, beruhigten Glieder geliebter Personen getrennt, verschleppt und entwürdigt zu wissen.
Alles dieses kam wiederholt und immer durchgedroschener zur Sprache, ohne dass irgendjemand an ein Hilfsmittel gedacht hätte oder daran hätte denken können; und immer allgemeiner wurden die Beschwerden, als junge Männer, die mit Aufmerksamkeit den Lehrvortrag gehört, sich auch mit Hand und Auge von dem bisher Gesehenen und Vernommenen überzeugen und sich die so notwendige Kenntnis immer tiefer und lebendiger der Einbildungskraft überliefern wollten.
In solchen Augenblicken entsteht eine Art von unnatürlichem wissenschaftlichem Hunger, welcher nach der widerwärtigsten Befriedigung wie nach dem Anmutigsten und Notwendigsten zu begehren aufregt.
Schon einige Zeit hatte ein solcher Aufschub und Aufenthalt die Wissens- und Tatlustigen beschäftigt und unterhalten, als endlich ein Fall, über den die Stadt in Bewegung geriet, eines Morgens das Für und Wider für einige Stunden heftig hervorrief. Ein sehr schönes Mädchen, verwirrt durch unglückliche Liebe, hatte den Tod im Wasser gesucht und gefunden; die Anatomie bemächtigte sich derselbigen; vergebens war die Bemühung der Eltern, Verwandten, ja des Liebhabers selbst, der nur durch falschen Argwohn verdächtig geworden. Die obern Behörden, die soeben das Gesetz geschärft hatten, durften keine Ausnahme bewilligen; auch eilte man, so schnell als möglich, die Beute zu benutzen und zur Benutzung zu verteilen.“
Wilhelm, der als nächster Aspirant gleichfalls berufen wurde, fand vor dem Sitz, den man ihm anwies, auf einem saubern Brett, reinlich zugedeckt, eine bedenkliche Aufgabe; denn als er die Hülle wegnahm, lag der schönste weibliche Arm zu erblicken, der sich wohl jemals um den Hals eines Jünglings geschlungen hatte. Er hielt sein Besteck in der Hand und getraute sich nicht, es zu eröffnen; er stand und getraute nicht nieder zu sitzen. Der Widerwille, dieses herrliche Naturerzeugnis noch weiter zu entstellen, stritt mit der Anforderung, welche der wissensbegierige Mann an sich zu machen hat und welcher sämtliche Umhersitzende Genüge leisteten.
In diesen Augenblicken trat ein ansehnlicher Mann zu ihm, den er zwar als einen seltenen, aber immer als einen sehr aufmerksamen Zuhörer und Zuschauer bemerkt und demselben schon nachgefragt hatte; niemand aber konnte nähere Auskunft geben. Dass es ein Bildhauer sei, darin war man einig; man hielt ihn aber auch für einen Goldmacher, der in einem großen, alten Hause wohnt, dessen erste Flur allein den Besuchenden oder bei ihm Beschäftigten zugänglich, die übrigen sämtlichen Räume jedoch verschlossen seien. Dieser Mann hatte sich Wilhelm verschiedentlich genähert, war mit ihm aus der Stunde gegangen, wobei er jedoch alle weitere Verbindung und Erklärung zu vermeiden schien.
Diesmal jedoch sprach er mit einer gewissen Offenheit: „Ich sehe, Sie zaudern, Sie staunen das schöne Gebild’ an, ohne es zerstören zu können; setzen Sie sich über das Gildegefühl hinaus und folgen Sie mir.“ Hiermit deckte er den Arm wieder zu, gab dem Saaldiener einen Wink, und beide verließen den Ort. Schweigend gingen sie nebeneinander her, als der Halbbekannte vor einem großen Tore still stand, dessen Pförtchen er aufschloss und unsern Freund hineinnötigte, der sich sodann auf einer Tenne befand, groß, geräumig, wie wir sie in alten Kaufhäusern sehen, wo die ankommenden Kisten und Ballen sogleich untergefahren werden. Hier standen Gipsabgüsse von Statuen und Büsten, auch Bohlenverschläge gepackt und leer. „Es sieht hier kaufmännisch aus“, sagte der Mann, „der von hier aus mögliche Wassertransport ist für mich unschätzbar.“ Dieses alles passte nun ganz gut zu dem Gewerb’ eines Bildhauers; ebenso konnte Wilhelm nichts anders finden, als der freundliche Wirt ihn wenige Stufen hinauf in ein geräumiges Zimmer führte, das ringsumher mit Hoch- und Flachgebilden, mit größeren und kleineren Figuren, Büsten und wohl auch einzelnen Gliedern der schönsten Gestalten geziert war. Mit Vergnügen betrachtete unser Freund dies alles und horchte gern den belehrenden Worten seines Wirtes, ob er gleich noch eine große Kluft zwischen diesen künstlerischen Arbeiten und den wissenschaftlichen Bestrebungen, von denen sie herkamen, gewahren musste. Endlich sagte der Hausbesitzer mit einigem Ernst: „Warum ich Sie hierher führe, werden Sie leicht einsehen; diese Türe“, fuhr er fort, indem er sich nach der Seite wandte, „liegt näher an der Saaltüre, woher wir kommen, als Sie denken mögen.“ Wilhelm trat hinein und hatte freilich zu erstaunen, als er, statt wie in den vorigen Nachbildung lebender Gestalten zu sehen, hier die Wände durchaus mit anatomischen Zergliederungen ausgestattet fand; sie mochten in Wachs oder sonstiger Masse verfertigt sein, genug, sie hatten durchaus das frische, farbige Ansehen erst fertig gewordener Präparate. „Hier, mein Freund“, sagte der Künstler, „hier sehen Sie schätzenswerte Surrogate für jene Bemühungen, die wir, mit dem Widerwillen der Welt, zu unzeitigen Augenblicken mit Ekel oft und großer Sorgfalt dem Verderben oder einem widerwärtigen Aufbewahren vorbereiten. Ich muss dieses Geschäft im tiefsten Geheimnis betreiben, denn Sie haben gewiss oft schon Männer vom Fach mit Geringschätzung davon reden hören. Ich lasse mich nicht irremachen und bereite etwas vor, welches in der Folge gewiss von großer Einwirkung sein wird. Der Chirurg besonders, wenn er sich zum plastischen Begriff erhebt, wird der ewig fortbildenden Natur bei jeder Verletzung gewiss am besten zu Hilfe kommen; den Arzt selbst würde ein solcher Begriff bei seinen Funktionen erheben. Doch lassen Sie uns nicht viel Worte machen! Sie sollen in kurzem erfahren, dass Aufbauen mehr belehrt als Einreißen, Verbinden mehr als Trennen, Totes beleben mehr, als das Getötete noch weiter töten; kurz also, wollen Sie mein Schüler sein?“ Und auf Bejahung legte der Wissende dem Gast das Knochenskelett eines weiblichen Armes vor, in der Stellung, wie sie jenen vor kurzem vor sich gesehen hatten. „Ich habe“, fuhr der Meister fort, „zu bemerken gehabt, wie Sie der Bänderlehre durchaus Aufmerksamkeit schenkten und mit Recht, denn mit ihnen beginnt sich für uns das tote Knochengerassel erst wieder zu beleben; Hesekiel musste sein Gebeinfeld sich erst auf diese Weise wieder sammeln und fügen sehen, ehe die Glieder sich regen, die Arme tasten und die Füße sich aufrichten konnten. Hier ist biegsam Masse, Stäbchen und was sonst nötig sein möchte; nun versuchen Sie Ihr Glück.“
Der neue Schüler nahm seine Gedanken zusammen, und als er die Knochenteile näher zu betrachten anfing, sah er, dass diese künstlich aus Holz geschnitzt seien. „Ich habe“, versetzte der Lehrer, „einen geschickten Mann, dessen Kunst nach Brot ging, indem die Heiligen und Märtyrer, die er zu schnitzen gewohnt war, keinen Abgang mehr fanden; ihn hab’ ich darauf geleitet, sich der Skelettbildung zu bemächtigen und solche im großen wie im kleinen naturgemäß zu befördern.“
Nun tat unser Freund sein Bestes und erwarb sich den Beifall des Anleitenden. Dabei war es ihm angenehm, sich zu erproben, wie stark oder schwach die Erinnerung sei, und er fand zu vergnüglicher Überraschung, dass sie durch die Tat wieder hervorgerufen werde; er gewann Leidenschaft für diese Arbeit und ersuchte den Meister, in seine Wohnung aufgenommen zu werden. Hier nun arbeitete er unablässig; auch waren die Knochen und Knöchelchen des Armes in kurzer Zeit gar schicklich verbunden. Von hier aber sollten die Sehnen und Muskeln ausgehen, und es schien eine völlige Unmöglichkeit, den ganzen Körper auf diese Weise nach allen seinen Teilen gleichmäßig herzustellen. Hierbei tröstete ihn der Lehrer, indem er die Vervielfältigung durch Abformung sehen ließ, da denn das Nacharbeiten, das Reinbilden der Exemplare eben wieder neue Anstrengung, neue Aufmerksamkeit verlangte.
Alles, worein der Mensch sich ernstlich einlässt, ist ein Unendliches; nur durch wetteifernde Tätigkeit weiß er sich dagegen zu helfen; auch kam Wilhelm bald über den Zustand von Gefühl seines Unvermögens, welches immer eine Art von Verzweiflung ist, hinaus und fand sich behaglich bei der Arbeit. „Es freut mich“, sagte der Meister, „dass Sie sich in diese Verfahrungsart zu schicken wissen und dass Sie mir ein Zeugnis geben, wie fruchtbar eine solche Methode sei, wenn sie auch von den Meistern des Fachs nicht anerkannt wird. Es muss eine Schule geben, und diese wird sich vorzüglich mit Überlieferung beschäftigen; was bisher geschehen ist, soll auch künftig geschehen, das ist gut und mag und soll so sein. Wo aber die Schule stockt, das muss man bemerken und wissen; das Lebendige muss man ergreifen und üben, aber im stillen, sonst wird man gehindert und hindert andere. Sie haben lebendig gefühlt und zeigen es durch Tat: Verbinden heißt mehr als Trennen, Nachbilden mehr als Ansehen.“
Wilhelm erfuhr nun, dass solche Modelle im stillen schon weit verbreitet seien, aber zu größter Verwunderung vernahm er, dass das Vorrätige eingepackt und über See gehen solle. Dieser wackere Künstler hatte sich schon mit Lothario und jenen Befreundeten in Verhältnis gesetzt; man fand die Gründung einer solchen Schule in jenen sich heranbildenden Provinzen ganz besonders am Platz, ja höchst notwendig, besonders unter natürlich gesitteten, wohl denkenden Menschen, für welche die wirkliche Zergliederung immer etwas Kannibalisches hat. „Geben Sie zu, dass der größte Teil von Ärzten und Wundärzten nur einen allgemeinen Eindruck des zergliederten menschlichen Körpers in Gedanken behält und damit auszukommen glaubt, so werden gewiss solche Modelle hinreichen, die in seinem Geist nach und nach erlöschenden Bilder wieder anzufrischen und ihm gerade das Nötige lebendig zu erhalten. Ja, es kommt auf Neigung und Liebhaberei an, so werden sich die zartesten Resultate der Zergliederungskunst nachbilden lassen. Leistet dies ja schon Zeichenfeder, Pinsel und Grabstichel.“
Hier öffnete er ein Seitenschränkchen und ließ die Gesichtsnerven auf die wundersamste Weise nachgebildet erblicken. „Dies ist leider“, sprach er, „das letzte Kunststück eines abgeschiedenen jungen Gehilfen, der mir die beste Hoffnung gab, meine Gedanken durchzuführen und meine Wünsche nützlich auszubreiten.“
Über die Einwirkung dieser Behandlungsweise nach manchen Seiten hin wurde gar viel zwischen beiden gesprochen, auch war das Verhältnis zur bildenden Kunst ein Gegenstand merkwürdiger Unterhaltung. Ein auffallendes, schönes Beispiel, wie auf diese Weise vorwärts und rückwärts zu arbeiten sei, ergab sich aus diesen Mitteilungen. Der Meister hatte einen schönen Sturz eines antiken Jünglings in eine bildsame Masse abgegossen und suchte nun mit Einsicht die ideelle Gestalt von der Epiderm zu entblößen und das schöne Lebendige in ein reales Muskelpräparat zu verwandeln. „Auch hier finden sich Mittel und Zweck so nahe beisammen, und ich will gern gestehen, dass ich über den Mitteln den Zweck vernachlässigt habe, doch nicht ganz mit eigener Schuld; der Mensch ohne Hülle ist eigentlich der Mensch, der Bildhauer steht unmittelbar an der Seite der Elohim, als sie den unförmlichen, widerwärtigen Ton zu dem herrlichsten Gebilde umzuschaffen wussten; solche göttliche Gedanken muss er hegen; dem Reinen ist alles rein, warum nicht die unmittelbare Absicht Gottes in der Natur? Aber vom Jahrhundert kann man dies nicht verlangen, ohne Feigenblätter und Tierfelle kommt es nicht aus, und das ist noch viel zu wenig. Kaum hatte ich etwas gelernt, so verlangten sie von mir würdige Männer in Schlafröcken und weiten Ärmeln und zahllosen Falten; da wendete ich mich rückwärts, und da ich das, was ich verstand, nicht einmal zum Ausdruck des Schönen anwenden durfte, so wählte ich, nützlich zu sein; und auch dies ist von Bedeutung. Wird mein Wunsch erfüllt, wird es als brauchbar anerkannt, dass, wie in so viel andern Dingen, Nachbildung und das Nachgebildete der Einbildungskraft und dem Gedächtnis zu Hülfe kommen, da, wo den Menschengeist eine gewisse Frische verlässt, so wird gewiss mancher bildende Künstler sich, wie ich es getan, herum wenden und lieber euch in die Hand arbeiten, als dass er gegen Überzeugung und Gefühl ein widerwärtiges Handwerk treibe.“
Hieran schloss sich die Betrachtung, dass es eben schön sei, zu bemerken, wie Kunst und Technik sich immer gleichsam die Waage halten und so nah verwandt immer eine zu der andern sich hinneigt, so dass die Kunst nicht sinken kann, ohne in löbliches Handwerk überzugehen, das Handwerk sich nicht steigern, ohne kunstreich zu werden.
Beide Personen fügten und gewöhnten sich so vollkommen aneinander, dass sie sich nur ungern trennten, als es nötig ward, um ihren eigentlichen großen Zwecken entgegenzusehen.
„Damit man aber nicht glaube“, sagte der Meister, „dass wir uns von der Natur ausschließen und sie verleugnen wollen, so eröffnen wir eine frische Aussicht. Drüben über dem Meer, wo gewisse menschenwürdige Gesinnungen sich immerfort steigern, muss man endlich bei Abschaffung der Todesstrafe weitläufige Kastelle, ummauerte Bezirke bauen, um den ruhigen Bürger gegen Verbrechen zu schützen und das Verbrechen nicht straflos walten und wirken zu lassen. Dort, mein Freund, in diesen traurigen Bezirken, lassen Sie uns dem Äskulap eine Kapelle vorbehalten, dort, so abgesondert wie die Strafe selbst, werde unser Wissen immerfort an solchen Gegenständen erfrischt, deren Zerstückelung unser menschliches Gefühl nicht verletze, bei deren Anblick uns nicht, wie es Ihnen bei jenem schönen, unschuldigen Arm erging, das Messer in der Hand stocke und alle Wissbegierde vor dem Gefühl der Menschlichkeit ausgelöscht werde.“
„Dieses“, sagte Wilhelm, „waren unsre letzten Gespräche, ich sah die wohl gepackten Kisten den Fluss hinab schwimmen, ihnen die glücklichste Fahrt und uns eine gemeinsame frohe Gegenwart beim Auspacken wünschend.“
Unser Freund hatte diesen Vortrag mit Geist und Enthusiasmus wie geführt so geendigt, besonders aber mit einer gewissen Lebhaftigkeit der Stimme und Sprache, die man in der neuem Zeit nicht an ihm gewohnt war. Da er jedoch am Schluss seiner Rede zu bemerken glaubte, dass Lenardo, wie zerstreut und abwesend, das Vorgetragene nicht zu verfolgen schien, Friedrich hingegen gelächelt, einige Mal beinahe den Kopf geschüttelt habe, so fiel dem zart empfindenden Mienenkenner eine so geringe Zustimmung bei der Sache, die ihm höchst wichtig schien, dergestalt auf, dass er nicht unterlassen konnte, seine Freunde deshalb zu berufen.
Friedrich erklärte sich hierüber ganz einfach und aufrichtig, er könne das Vornehmen zwar löblich und gut, keineswegs aber für so bedeutend, am wenigsten aber für ausführbar halten. Diese Meinung suchte er durch Gründe zu unterstützen, von der Art, wie sie demjenigen, der für eine Sache eingenommen ist und sie durchzusetzen gedenkt, mehr, als man sich vorstellen mag, beleidigend auffällt. Deshalb denn auch unser plastischer Anatom, nachdem er einige Zeit geduldig zuzuhören schien, lebhaft erwiderte:
„Du hast Vorzüge, mein guter Friedrich, die dir niemand leugnen wird, ich am wenigsten, aber hier sprichst du wie gewöhnliche Menschen gewöhnlich; am Neuen sehen sie nur das Seltsame, im Seltenen jedoch alsobald das Bedeutende zu erblicken, dazu gehört schon mehr. Für euch muss erst alles in Tat übergehen, es muss geschehen, als möglich, als wirklich vor Augen treten, und dann lasst ihr es auch gut sein wie etwas anderes. Was du vorbringst, hör’ ich schon zum voraus von Unterrichteten und Laien wiederholen; von jenen aus Vorurteil und Bequemlichkeit, von diesen aus Gleichgültigkeit. Ein Vorhaben wie das ausgesprochene kann vielleicht nur in einer neuen Welt durchgeführt werden, wo der Geist Mut fassen muss, zu einem unerlässlichen Bedürfnis neue Mittel auszuforschen, weil es an den herkömmlichen durchaus ermangelt. Da regt sich die Erfindung, da gesellt sich die Kühnheit, die Beharrlichkeit der Notwendigkeit hinzu.
Jeder Arzt, er mag mit Heilmitteln oder mit der Hand zu Werk gehen, ist nichts ohne die genauste Kenntnis der äußern und innern Glieder des Menschen, und es reicht keineswegs hin, auf Schulen flüchtige Kenntnis hievon genommen, sich von Gestalt, Lage, Zusammenhang der mannigfaltigsten Teile des unerforschlichen Organismus einen oberflächlichen Begriff gemacht zu haben. Täglich soll der Arzt, dem es Ernst ist, in der Wiederholung dieses Wissens, dieses Anschauens sich zu üben, sich den Zusammenhang dieses lebendigen Wunders immer vor Geist und Auge zu erneuern alle Gelegenheit suchen. Kennte er seinen Vorteil, er würde, da ihm die Zeit zu solchen Arbeiten ermangelt, einen Anatomen in Sold nehmen, der, nach seiner Anleitung für ihn im stillen beschäftigt, gleichsam in Gegenwart aller Verwicklungen des verflochtensten Lebens, auf die schwierigsten Fragen sogleich zu antworten verstände.
Je mehr man dies einsehen wird, je lebhafter, heftiger, leidenschaftlicher wird das Studium der Zergliederung getrieben werden. Aber in eben dem Maße werden sich die Mittel vermindern; die Gegenstände, die Körper, auf die solche Studien zu gründen sind, sie werden fehlen, seltener, teurer werden, und ein wahrhafter Konflikt zwischen Lebendigen und Toten wird entstehen.
In der alten Weit ist alles Schlendrian, wo man das Neue immer auf die alte, das Wachsende nach starrer Weise behandeln will. Dieser Konflikt, den ich ankündige zwischen Toten und Lebendigen, er wird auf Leben und Tod gehen, man wird erschrecken, man wird untersuchen, Gesetze geben und nichts ausrichten. Vorsicht und Verbot helfen in solchen Fällen nichts; man muss von vorn anfangen. Und das ist’s, was mein Meister und ich in den neuen Zuständen zu leisten hoffen, und zwar nichts Neues, es ist schon da; aber das, was jetzo Kunst ist, muss Handwerk werden; was im besondern geschieht, muss im allgemeinen möglich werden, und nichts kann sich verbreiten, als was anerkannt ist. Unter Tun und Leisten muss anerkannt werden als das einzige Mittel in einer entschiedenen Bedrängnis, welche besonders große Städte bedroht. Ich will die Worte meines Meisters anführen, aber merkt auf! Er sprach eines Tages im größten Vertrauen:
‚Der Zeitungsleser findet Artikel interessant und lustig beinah’, wenn er von Auferstehungsmännern erzählen hört. Erst stahlen sie die Körper in tiefem Geheimnis; dagegen stellt man Wächter auf; sie kommen mit gewaffneter Schar, um sich ihrer Beute gewaltsam zu bemächtigen. Und das Schlimmste zum Schlimmen wird sich ereignen; ich darf es nicht laut sagen, denn ich würde, zwar nicht als Mitschuldiger, aber doch als zufälliger Mitwisser, in die gefährlichste Untersuchung verwickelt werden, wo man mich in jedem Fall bestrafen müsste, weil ich die Untat, sobald ich sie entdeckt hatte, den Gerichten nicht anzeigte. Ihnen gesteh’ ich’s, mein Freund, in dieser Stadt hat man gemordet, um den dringenden, gut bezahlenden Anatomen einen Gegenstand zu verschaffen. Der entseelte Körper lag vor uns. Ich darf die Szene nicht ausmalen. Er entdeckte die Untat, ich aber auch, wir sahen einander an und schwiegen beide; wir sahen vor uns hin und schwiegen und gingen ans Geschäft. – Und dies ist’s, mein Freund, was mich zwischen Wachs und Gips gebannt hat; dies ist’s, was gewiss auch Sie bei der Kunst festhalten wird, welche früher oder später vor allen übrigen wird gepriesen werden.’“
Friedrich sprang auf, schlug in die Hände und wollte des Bravorufens kein Ende machen, so dass Wilhelm zuletzt im Ernst böse wurde. „Bravo!“, rief jener aus, „nun erkenne ich dich wieder! Das erste Mal seit langer Zeit hast du wieder gesprochen wie einer, dem etwas wahrhaft am Herzen liegt; zum ersten Mal hat der Fluss der Rede dich wieder fortgerissen, du hast dich als einen solchen erwiesen, der etwas zu tun und es anzupreisen imstande ist.“
Lenardo nahm hierauf das Wort und vermittelte diese kleine Misshelligkeit vollkommen. „Ich schien abwesend“, sprach er, „aber nur deshalb, weil ich mehr als gegenwärtig war. Ich erinnerte mich nämlich des großen Kabinetts dieser Art, das ich auf meinen Reisen gesehen und welches mich dergestalt interessierte, dass der Kustode, der, um nach Gewohnheit fertig zu werden, die auswendig gelernte Schnurre herzubeten anfing, gar bald, da er der Künstler selber war, aus der Rolle fiel und sich als einen kenntnisreichen Demonstrator bewies.
Der merkwürdige Gegensatz, im hohen Sommer in kühlen Zimmern, bei schwüler Wärme draußen, diejenigen Gegenstände vor mir zu sehen, denen man im strengsten Winter sich kaum zu nähern getraut. Hier diente bequem alles der Wissbegierde. In größter Gelassenheit und schönster Ordnung zeigte er mir die Wunder des menschlichen Baues und freute sich, mich überzeugen zu können, dass zum ersten Anfang und zu später Erinnerung eine solche Anstalt vollkommen hinreichend sei; wobei denn einem jeden frei bleibe, in der mittlern Zeit sich an die Natur zu wenden und bei schicklicher Gelegenheit sich um diesen oder jenen besondern Teil zu erkundigen. Er bat mich, ihn zu empfehlen. Denn nur einem einzigen, großen, auswärtigen Museum habe er eine solche Sammlung gearbeitet; die Universitäten aber widerständen durchaus dem Unternehmen, weil die Meister der Kunst wohl Prosektoren, aber keine Proplastiker zu bilden wüssten.
Hiernach hielt ich denn diesen geschickten Mann für den einzigen in der Welt, und nun hören wir, dass ein anderer auf dieselbe Weise bemüht ist; wer weiß, wo noch ein dritter und vierter an das Tageslicht hervortritt. Wir wollen von unsrer Seite dieser Angelegenheit einen Anstoß geben. Die Empfehlung muss von außen herkommen, und in unsern neuen Verhältnissen soll das nützliche Unternehmen gewiss gefördert werden.“
Kapitel 4
Des andern Morgens beizeiten trat Friedrich mit einem Heft in der Hand in Wilhelms Zimmer, und ihm solches überreichend, sprach er: „Gestern Abend hatte ich vor allen Euren Tugenden, welche herzuerzählen Ihr umständlich genug wart, nicht Raum, von mir und meinen Vorzügen zu reden, deren ich mich wohl auch zu rühmen habe und die mich zu einem würdigen Mitglied dieser großen Karawane stempeln. Beschaut hier dieses Heft, und Ihr werdet ein Probestück anerkennen.“
Wilhelm überlief die Blätter mit schnellen Blicken und sah, leserlich angenehm, obschon flüchtig geschrieben, die gestrige Relation seiner anatomischen Studien, fast Wort vor Wort, wie er sie abgestattet hatte, weshalb er denn seine Verwunderung nicht bergen konnte.
„Ihr wisst“, erwiderte Friedrich, „das Grundgesetz unserer Verbindung: In irgendeinem Fach muss einer vollkommen sein, wenn er Anspruch auf Mitgenossenschaft machen will. Nun zerbrach ich mir den Kopf, worin mir’s denn gelingen könnte, und wusste nichts aufzufinden, so nahe mir es auch lag, dass mich niemand an Gedächtnis übertreffe, niemand an einer schnellen, leichten, leserlichen Hand. Dieser angenehmen Eigenschaften erinnert Ihr Euch wohl von unsrer theatralischen Laufbahn her, wo wir unser Pulver nach Sperlingen verschossen, ohne daran zu denken, dass ein Schuss, vernünftiger angebracht, auch wohl einen Hasen in die Küche schaffe. Wie oft hab’ ich nicht ohne Buch souffliert, wie oft in wenigen Stunden die Rollen aus dem Gedächtnis geschrieben! Das war Euch damals recht, Ihr dachtet, es müsste so sein; ich auch, und es wäre mir nicht eingefallen, wie sehr es mir zustatten kommen könne. Der Abbé machte zuerst die Entdeckung; er fand, dass das Wasser auf seine Mühle sei, er versuchte, mich zu üben, und mir gefiel, was mir so leicht ward und einen ernsten Mann befriedigte. Und nun bin ich, wo’s Not tut, gleich eine ganze Kanzlei; außerdem führen wir noch so eine zweibeinige Rechenmaschine bei uns, und kein Fürst mit noch so viel Beamten ist besser versehen als unsre Vorgesetzten.“
Heiteres Gespräch über dergleichen Tätigkeiten führte die Gedanken auf andere Glieder der Gesellschaft. „Solltet Ihr wohl denken“, sagte Friedrich, „dass das unnützeste Geschöpf von der Welt, wie es schien, meine Philine, das nützlichste Glied der großen Kette werden wird? Legt ihr ein Stück Tuch hin, stellt Männer, stellt Frauen ihr vors Gesicht: Ohne Maß zu nehmen, schneidet sie aus dem Ganzen und weiß dabei alle Flecken und Gehren dergestalt zu nutzen, dass großer Vorteil daraus entsteht, und das alles ohne Papiermaß. Ein glücklicher geistiger Blick lehrt sie das alles; sie sieht den Menschen an und schneidet, dann mag er hingehen, wohin er will, sie schneidet fort und schafft ihm einen Rock auf den Leib wie angegossen. Doch das wäre nicht möglich, hätte sie nicht auch eine Nähterin herangezogen, Montans Lydie, die nun einmal still geworden ist und still bleibt, aber auch reinlich näht wie keine, Stich für Stich wie Perlen, wie gestickt. Das ist nun, was aus den Menschen werden kann; eigentlich hängt so viel Unnützes um uns herum, aus Gewohnheit, Neigung, Zerstreuung und Willkür ein Lumpenmantel zusammen gespettelt. Was die Natur mit uns gewollt, das Vorzüglichste, was sie in uns gelegt, können wir deshalb weder auffinden noch ausüben.“
Allgemeine Betrachtungen über die Vorteile der geselligen Verbindung, die sich so glücklich zusammengefunden, eröffneten die schönsten Aussichten.
Als nun Lenardo sich hierauf zu ihnen gesellte, ward er von Wilhelm ersucht, auch von sich zu sprechen, von dem Lebensgang, den er bisher geführt, von der Art, wie er sich und andere gefördert, freundliche Nachricht zu erteilen.
„Sie erinnern sich gar wohl, mein Bester“, versetzte Lenardo, „in welchem wundersamen, leidenschaftlichen Zustand Sie mich den ersten Augenblick unserer neuen Bekanntschaft getroffen; ich war versunken, verschlungen in das wunderlichste Verlangen, in eine unwiderstehliche Begierde; es konnte damals nur von der nächsten Stunde die Rede sein, vom schweren Leiden, das mir bereitet war, das mir selbst zu schärfen ich mich so emsig erwies. Ich konnte Sie nicht bekannt machen mit meinen früheren Jugendzuständen, wie ich jetzt tun muss, um Sie auf den Weg zu führen, der mich hierher gebracht hat.
Unter den frühsten meiner Fähigkeiten, die sich nach und nach durch Umstände entwickelten, tat sich ein gewisser Trieb zum Technischen hervor, welcher jeden Tag durch die Ungeduld genährt wurde, die man auf dem Land fühlt, wenn man bei größeren Bauten, besonders aber bei kleinen Veränderungen, Anlagen und Grillen ein Handwerk ums andere entbehren muss und lieber ungeschickt und pfuscherhaft eingreift, als dass man sich meistermäßig verspäten ließe. Zum Glück wanderte in unserer Gegend ein Tausendkünstler auf und ab, der, weil er bei mir seine Rechnung fand, mich lieber als irgendeinen Nachbar unterstützte; er richtete mir eine Drechselbank ein, deren er sich bei jedem Besuch mehr zu seinem Zweck als zu meinem Unterricht zu bedienen wusste. So auch schaffte ich Tischlerwerkzeug an, und meine Neigung zu dergleichen ward erhöht und belebt durch die damals laut ausgesprochene Überzeugung: Es könne niemand sich ins Leben wagen, als wenn er es im Notfall durch Handwerkstätigkeit zu fristen verstehe. Mein Eifer ward von den Erziehern nach ihren eigenen Grundsätzen gebilligt; ich erinnere mich kaum, dass ich je gespielt habe, denn alle freien Stunden wurden verwendet, etwas zu wirken und zu schaffen. Ja, ich darf mich rühmen, schon als Knabe einen geschickten Schmied durch meine Anforderungen zum Schlosser, Feilenhauer und Uhrmacher gesteigert zu haben.
Das alles zu leisten, mussten denn freilich auch erst die Werkzeuge erschaffen werden, und wir litten nicht wenig an der Krankheit jener Techniker, welche Mittel und Zweck verwechseln, lieber Zeit auf Vorbereitungen und Anlagen verwenden, als dass sie sich recht ernstlich an die Ausführung hielten. Wo wird uns jedoch praktisch tätig erweisen konnten, war bei Auszierung der Parkanlagen, deren kein Gutsbesitzer mehr entbehren durfte; manche Moos- und Rindenhütte, Knittelbrücken und Bänke zeugten von unserer Emsigkeit, womit wir eine Urbaukunst in ihrer ganzen Rohheit mitten in der gebildeten Welt darzustellen eifrig bemüht gewesen.
Dieser Trieb führte mich bei zunehmenden Jahren auf ernstere Teilnahme an allem, was der Welt so nütze und in ihrer gegenwärtigen Lage so unentbehrlich ist, und gab meinen mehrjährigen Reisen ein eigentlichstes Interesse.
Da jedoch der Mensch gewöhnlich auf dem Weg, der ihn herangebracht, fortzuwandern pflegt, so war ich dem Maschinenwesen weniger günstig als der unmittelbaren Handarbeit, wo wir Kraft und Gefühl in Verbindung ausüben; deswegen ich mich auch besonders in solchen abgeschlossenen Kreisen gern aufhielt, wo nach Umständen diese oder jene Arbeit zu Hause war. Dergleichen gibt jeder Vereinigung eine besondere Eigentümlichkeit, jeder Familie, einer kleinen, aus mehreren Familien bestehenden Völkerschaft den entschiedensten Charakter; man lebt in dem reinsten Gefühl eines lebendigen Ganzen.
Dabei hatte ich mir angewöhnt, alles aufzuzeichnen, es mit Figuren auszustatten und so, nicht ohne Aussicht auf künftige Anwendung, meine Zeit löblich und erfreulich zuzubringen.
Diese Neigung, diese ausgebildete Gabe benutzt’ ich nun aufs beste bei dem wichtigen Auftrag, den mir die Gesellschaft gab, den Zustand der Gebirgsbewohner zu untersuchen und die brauchbaren Wanderlustigen mit in unsern Zug aufzunehmen. Mögen Sie nun den schönen Abend, wo mich mannigfaltige Geschäfte drängen, mit Durchlesung eines Teils meines Tagebuchs zubringen? Ich will nicht behaupten, dass es gerade angenehm zu lesen sei; mir schien es immer unterhaltend und gewissermaßen unterrichtend. Doch wir bespiegeln ja uns immer selbst in allem, was wir hervorbrachten.“
Kapitel 5
Lenardos Tagebuch
Montag, den 15.
Tief in der Nacht war ich nach mühsam erstiegener halber Gebirgshöhe eingetroffen in einer leidlichen Herberge und ward schon vor Tagesanbruch aus erquicklichem Schlaf durch ein andauerndes Schellen- und Glockengeläute zu meinem großen Verdruss aufgeweckt. Eine große Reihe Saumrosse zog vorbei, eh’ ich mich hätte ankleiden und ihnen zuvoreilen können. Nun erfuhr ich auch, meinen Weg antretend, gar bald, wie unangenehm und verdrießlich solche Gesellschaft sei. Das monotone Geläute betäubt die Ohren; das zu beiden Seiten weit über die Tiere hinausreichende Gepäck (sie trugen diesmal große Säcke Baumwolle) streift bald einerseits an die Felsen, und wenn das Tier, um dieses zu vermeiden, sich gegen die andere Seite zieht, so schwebt die Last über dem Abgrund, dem Zuschauer Sorge und Schwindel erregend, und, was das Schlimmste ist, in beiden Fällen bleibt man gehindert, an ihnen vorbei zu schleichen und den Vortritt zu gewinnen.
Endlich gelangt’ ich an der Seite auf einen freien Felsen, wo St. Christoph, der mein Gepäck kräftig einher trug, einen Mann begrüßte, welcher still dastehend den vorbeiziehenden Zug zu mustern schien. Es war auch wirklich der Anführer; nicht nur gehörte ihm eine beträchtliche Zahl der Last tragenden Tiere – andere hatte er nebst ihren Treibern gemietet –, sondern er war auch Eigentümer eines geringern Teils der Ware; vornehmlich aber bestand sein Geschäft darin, für größere Kaufleute den Transport der ihrigen treulich zu besorgen. Im Gespräch erfuhr ich von ihm, dass dieses Baumwolle sei, welche aus Mazedonien und Zypern über Triest komme und vom Fuß des Berges auf Maultieren und Saumrossen zu diesen Höhen und weiter bis jenseits des Gebirges gebracht werde, wo Spinner und Weber in Unzahl durch Täler und Schluchten einen großen Vertrieb gesuchter Waren ins Ausland vorbereiteten. Die Ballen waren bequemeren Ladens wegen teils anderthalb, teils drei Zentner schwer, welches letztere die volle Last eines Saumtiers ausmacht. Der Mann lobte die Qualität der auf diesem Weg ankommenden Baumwolle, verglich sie mit der von Ost- und Westindien, besonders mit der von Cayenne, als der bekanntesten; er schien von seinem Geschäft sehr gut unterrichtet, und da es mir auch nicht ganz unbekannt geblieben war, so gab es eine angenehme und nützliche Unterhaltung. Indessen war der ganze Zug vor uns vorüber, und ich erblickte nur mit Widerwillen auf dem in die Höhe sich schlängelnden Felsweg die unabsehliche Reihe dieser bepackten Geschöpfe, hinter denen her man schleichen und in der herankommenden Sonne zwischen Felsen braten sollte. Indem ich mich nun gegen meinen Boten darüber beschwerte, trat ein untersetzter, munterer Mann zu uns heran, der auf einem ziemlich großen Reff eine verhältnismäßig leichte Bürde zu tragen schien. Man begrüßte sich, und es war gar bald am derben Händeschütteln zu sehen, dass St. Christoph und dieser Ankömmling einander wohl bekannt seien; da erfuhr ich denn sogleich über ihn folgendes. Für die entfernteren Gegenden im Gebirge, woher zu Markt zu gehen für jeden einzelnen Arbeiter zu weit wäre, gibt es eine Art von untergeordnetem Handelsmann oder Sammler, welcher Garnträger genannt wird. Dieser steigt nämlich durch alle Täler und Winkel, betritt Haus für Haus, bringt den Spinnern Baumwolle in kleinen Partien, tauscht dagegen Garn ein oder kauft es, von welcher Qualität es auch sein möge, und überlässt es dann wieder mit einigem Profit im größern an die unterhalb ansässigen Fabrikanten.
Als nun die Unbequemlichkeit, hinter den Maultieren herzuschlendern, abermals zur Sprache kam, lud mich der Mann sogleich ein, mit ihm ein Seitental hinab zu steigen, das gerade hier von dem Haupttal sich trennte, um die Wasser nach einer andern Himmelsgegend hinzuführen. Der Entschluss war bald gefasst, und nachdem wir mit einiger Anstrengung einen etwas steilen Gebirgskamm überstiegen hatten, sahen wir die jenseitigen Abhänge vor uns, zuerst höchst unerfreulich: Das Gestein hatte sich verändert und eine schiefrige Lage genommen; keine Vegetation belebte Fels und Gerölle, und man sah sich von einem schroffen Niederstieg bedroht. Quellen rieselten von mehreren Seiten zusammen; man kam sogar an einem mit schroffen Felsen umgebenen kleinen See vorbei. Endlich traten einzeln und dann mehr gesellig Fichten, Lärchen und Birken hervor, dazwischen sodann zerstreute ländliche Wohnungen, freilich von der kärglichsten Sorte, jede von ihren Bewohnern selbst zusammengezimmert aus verschränkten Balken, die großen, schwarzen Schindeln der Dächer mit Steinen beschwert, damit sie der Wind nicht wegführe. Unerachtet dieser äußern traurigen Ansicht war der beschränkte innere Raum doch nicht unangenehm; warm und trocken, auch reichlich gehalten, passte er gar gut zu dem frohen Aussehen der Bewohner, bei denen man sich alsobald ländlich gesellig fühlte.
Der Bote schien erwartet, auch hatte man ihm aus dem kleinen Schiebefenster entgegengesehen, denn er war gewohnt, wo möglich immer an demselben Wochentag zu kommen; er handelte das Gespinst ein, teilte frische Baumwolle aus; dann ging es rasch hinabwärts, wo mehrere Häuser in geringer Entfernung nahe stehen. Kaum erblickt man uns, so laufen die Bewohner begrüßend zusammen, Kinder drängen sich hinzu und werden mit einem Eierbrot, auch einer Semmel hoch erfreut. Das Behagen war überall groß und vermehrt, als sich zeigte, dass St. Christoph auch dergleichen aufgepackt und also gleichfalls die Freude hatte, den kindlichsten Dank einzuernten; um so angenehmer für ihn, als er sich, wie sein Geselle, mit dem kleinen Volk gar wohl zu betun wusste.
Die Alten dagegen hielten gar mancherlei Fragen bereit; vom Krieg wollte jedermann wissen, der glücklicherweise sehr entfernt geführt wurde und auch näher solchen Gegenden kaum gefährlich gewesen wäre. Sie freuten sich jedoch des Friedens, obgleich in Sorge wegen einer andern drohenden Gefahr; denn es war nicht zu leugnen, das Maschinenwesen vermehre sich immer im Land und bedrohe die arbeitsamen Hände nach und nach mit Untätigkeit. Doch ließen sich allerlei Trost- und Hoffnungsgründe beibringen.
Unser Mann wurde dazwischen wegen manches Lebensfalles um Rat gefragt, ja sogar musste er sich nicht allein als Hausfreund, sondern auch als Hausarzt zeigen; Wundertropfen, Salze, Balsame führte er jederzeit bei sich.
In die verschiedenen Häuser eintretend fand ich Gelegenheit, meiner alten Liebhaberei nachzuhängen und mich von der Spinnertechnik zu unterrichten. Ich ward aufmerksam auf Kinder, welche sich sorgfältig und emsig beschäftigten, die Flocken der Baumwolle auseinanderzuzupfen und die Samenkörner, Splitter von den Schalen der Nüsse nebst andern Unreinheiten wegzunehmen; sie nennen es erlesen. Ich fragte, ob das nur das Geschäft der Kinder sei, erfuhr aber, dass es in Winterabenden auch von Männern und Brüdern unternommen werde.
Rüstige Spinnerinnen zogen sodann, wie billig, meine Aufmerksamkeit auf sich; die Vorbereitung geschieht folgendermaßen: Es wird die erlesene oder gereinigte Baumwolle auf die Karden, welche in Deutschland Krempel heißen, gleich ausgeteilt, gekardet, wodurch der Staub davongeht und die Haare der Baumwolle einerlei Richtung erhalten, dann abgenommen, zu Locken fest gewickelt und so zum Spinnen am Rad zubereitet.
Man zeigte mir dabei den Unterschied zwischen links und rechts gedrehtem Garn; jenes ist gewöhnlich feiner und wird dadurch bewirkt, dass man die Saite, welche die Spindel dreht, um den Wirtel verschränkt, wie die Zeichnung nebenbei deutlich macht (die wir leider wie die übrigen nicht mitgeben können).
Die Spinnende sitzt vor dem Rad, nicht zu hoch; mehrere hielten dasselbe mit übereinander gelegten Füßen in festem Stand, andere nur mit dem rechten Fuß, den linken zurücksetzend. Mit der rechten Hand dreht sie die Scheibe und langt aus, so weit und so hoch sie nur reichen kann, wodurch schöne Bewegungen entstehen und eine schlanke Gestalt sich durch zierliche Wendung des Körpers und runde Fülle der Arme gar vorteilhaft auszeichnet; die Richtung besonders der letzten Spinnweise gewährt einen sehr malerischen Kontrast, so dass unsere schönsten Damen an wahrem Reiz und Anmut zu verlieren nicht fürchten dürften, wenn sie einmal anstatt der Gitarre das Spinnrad handhaben wollten.
In einer solchen Umgebung drängten sich neue, eigene Gefühle mir auf; die schnurrenden Räder haben eine gewisse Beredsamkeit, die Mädchen singen Psalmen, auch, obwohl seltener, andere Lieder.
Zeisige und Stieglitze, in Käfigen aufgehängt, zwitschern dazwischen, und nicht leicht möchte ein Bild regeren Lebens gefunden werden als in einer Stube, wo mehrere Spinnerinnen arbeiten.
Dem beschriebenen Rädligarn ist jedoch das Briefgarn vorzuziehen; hierzu wird die beste Baumwolle genommen, welche längere Haare hat als die andere. Ist sie rein gelesen, so bringt man sie, anstatt zu krempeln, auf Kämme, welche aus einfachen Reihen langer, stählerner Nadeln bestehen, und kämmt sie; alsdann wird das längere und feinere Teil derselben mit einem stumpfen Messer bänderweise (das Kunstwort heißt: ein Schnitz) abgenommen, zusammengewickelt und in eine Papierdüte getan und diese nachher an der Kunkel befestigt. Aus einer solchen Tüte nun wird mit der Spindel von der Hand gesponnen, daher heißt es aus dem Brief spinnen und das gewonnene Garn Briefgarn.
Dieses Geschäft, welches nur von ruhigen, bedächtigen Personen getrieben wird, gibt der Spinnerin ein sanfteres Ansehen als das am Rad; kleidet dies letzte eine große, schlanke Figur zum besten, so wird durch jenes eine ruhige, zarte Gestalt gar sehr begünstigt. Dergleichen verschiedene Charaktere, verschiedenen Arbeiten zugetan, erblickte ich mehrere in einer Stube und wusste zuletzt nicht recht, ob ich meine Aufmerksamkeit der Arbeit oder den Arbeiterinnen zu widmen hätte.
Leugnen aber dürft’ ich nicht sodann, dass die Bergbewohnerinnen, durch die seltenen Gäste aufgeregt, sich freundlich und gefällig erwiesen. Besonders freuten sie sich, dass ich mich nach allem so genau erkundigte, was sie mir vorsprachen, bemerkte, ihre Gerätschaften und einfaches Maschinenwerk zeichnete, ja selbst ihre Arme, Hände und hübschen Glieder mit Zierlichkeit flüchtig abschilderte, wie hier neben zu sehen sein sollte. Auch ward, als der Abend herein trat, die vollbrachte Arbeit vorgewiesen, die vollen Spindeln in dazu bestimmten Kästchen beiseite gelegt und das ganze Tagewerk sorgfältig aufgehoben. Nun war man schon bekannter geworden, die Arbeit jedoch ging ihren Gang; nun beschäftigte man sich mit dem Haspeln und zeigte schon viel freier teils die Maschine, teils die Behandlung vor, und ich schrieb sorgfältig auf.
Der Haspel hat Rad und Zeiger, so dass sich bei jedesmaligem Umdrehen eine Feder hebt, welche niederschlägt, sooft hundert Umgänge auf den Haspel gekommen sind. Man nennt nun die Zahl von tausend Umgängen einen Schneller, nach deren Gewicht die verschiedene Feine des Garns gerechnet wird.
Rechts gedreht Garn gehen 25 bis 30 auf ein Pfund, links gedreht 60 bis 80, vielleicht auch 90. Der Umgang des Haspels wird ungefähr sieben viertel Ellen oder etwas mehr betragen, und die schlanke, fleißige Spinnerin behauptete, 4, auch 5 Schneller, das wären 5 000 Umgänge, also 8 bis 9000 Ellen Garn, täglich am Rad zu spinnen; sie erbot sich zur Wette, wenn wir noch einen Tag bleiben wollten.
Darauf konnte denn doch die stille und bescheidene Briefspinnerin es nicht ganz lassen und versicherte, dass sie aus dem Pfund 120 Schneller spinne in verhältnismäßiger Zeit. (Briefgarnspinnen geht nämlich langsamer als das Spinnen am Rad, wird auch besser bezahlt. Vielleicht spinnt man am Rad wohl das Doppelte.) Sie hatte eben die Zahl der Umgänge auf dem Haspel voll und zeigte mir, wie nun das Ende des Fadens ein paar Mal umgeschlagen und geknüpft werde; sie nahm den Schneller ab, drehte ihn so, dass er in sich zusammenlief, zog das eine Ende durch das andere durch und konnte das Geschäft der geübten Spinnerin als abgeschlossen mit unschuldiger Selbstgefälligkeit vorzeigen.
Da nun hier weiter nichts zu bemerken war, stand die Mutter auf und sagte: Da der junge Herr doch alles zu sehen wünsche, so wolle sie ihm nun auch die Trockenweberei zeigen. Sie erklärte mir mit gleicher Gutmütigkeit, indem sie sich an den Webstuhl setzte, wie sie nur diese Art handhabten, weil sie eigentlich allein für grobe Kattune gelte, wo der Einschlag trocken eingetragen und nicht sehr dicht geschlagen wird; sie zeigte mir denn auch solche trockene Ware; diese ist immer glatt, ohne Streifen und Quadrate oder sonst irgendein Abzeichen, und nur fünf bis fünfeinhalbes Viertel Elle breit.
Der Mond leuchtete hell vom Himmel, und unser Garnträger bestand auf einer weitern Wallfahrt, weil er Tag und Stunde halten und überall richtig eintreffen müsse; die Fußpfade seien gut und klar, besonders bei solcher Nachtfackel. Wir von unserer Seite erheiterten den Abschied durch seidene Bänder und Halstücher, dergleichen Ware St. Christoph ein ziemliches Paket mit sich trug; das Geschenk wurde der Mutter gegeben, um es an die Ihrigen zu verteilen.
Dienstags, den 16. früh.
Die Wanderung durch eine herrliche klare Nacht war voll Anmut und Erfreulichkeit; wir gelangten zu einer etwas größern Hüttenversammlung, die man vielleicht hätte ein Dorf nennen dürfen; in einiger Entfernung davon auf einem freien Hügel stand eine Kapelle, und es fing schon an, wohnlicher und menschlicher auszusehen. Wir kamen an Umzäunungen vorbei, die zwar auf keine Gärten, aber doch auf spärlichen, sorgfältig gehüteten Wieswachs hindeuteten.
Wir waren an einen Ort gelangt, wo neben dem Spinnen das Weben ernstlicher getrieben wird.
Unsere gestrige Tagesreise, bis in die Nacht hinein verlängert, hatte die rüstigen und jugendlichen Kräfte aufgezehrt; der Garnbote bestieg den Heuboden, und ich war eben im Begriff, ihm zu folgen, als St. Christoph mir sein Reff befahl und zur Türe hinausging. Ich kannte seine löbliche Absicht und ließ ihn gewähren.
Des andern Morgens jedoch war das erste, dass die Familie zusammenlief und den Kindern streng verboten ward, nicht aus der Türe zu gehen, indem ein gräulicher Bär oder sonst ein Ungetüm in der Nähe sich aufhalten müsse; denn es habe die Nacht über von der Kapelle her dergestalt gestöhnt und gebrummt, dass Felsen und Häuser hier hüben hätten erzittern mögen, und man riet, bei unserer heutigen längeren Wanderung wohl auf der Hut zu sein. Wir suchten die guten Leute möglichst zu beruhigen, welches in dieser Einöde jedoch schwer erschien.
Der Garnbote erklärte nunmehr, dass er eiligst sein Geschäft abtun und alsdann kommen wolle, uns abzuholen; denn wir hätten heute einen langen und beschwerlichen Weg vor uns, weil wir nicht mehr so im Tal nur hinabschlendern, sondern einen vorgeschobenen Gebirgsriegel mühsam überklettern würden. Ich entschloss mich daher, die Zeit so gut als möglich zu nutzen und mich von unsern guten Wirtsleuten in die Vorhalle des Webens einführen zu lassen.
Beide waren ältliche Leute, in späteren Tagen noch mit zwei, drei Kindern gesegnet; religiöse Gefühle und ahnungsvolle Vorstellungen ward man an ihrer Umgebung, Tun und Reden gar bald gewahr. Ich kam gerade zum Anfang einer solchen Arbeit, dem Übergang vom Spinnen zum Weben, und da ich zu keiner weitern Zerstreuung Anlass fand, so ließ ich mir das Geschäft, wie es eben gerade im Gang war, in meine Schreibtafel gleichsam diktieren.
Die erste Arbeit, das Garn zu leimen, war gestern verrichtet. Man siedet solches zu einem dünnen Leimwasser, welches aus Stärkemehl und etwas Tischlerleim besteht, wodurch die Fäden mehr Halt bekommen. Früh waren die Garnstränge schon trocken, und man bereitete sich zu spulen, nämlich das Garn am Rad auf Rohrspulen zu winden. Der alte Großvater, am Ofen sitzend, verrichtete diese leichte Arbeit, ein Enkel stand neben ihm und schien begierig, das Spulrad selbst zu handhaben. Indessen steckte der Vater die Spulen, um zu zetteln, auf einen mit Querstäben abgeteilten Rahmen, so dass sie sich frei um perpendikulär stehende starke Drähte bewegten und den Faden ablaufen ließen. Sie werden mit gröberm und feinerm Garn in der Ordnung aufgesteckt, wie das Muster oder vielmehr die Striche im Gewebe es erfordern. Ein Instrument (das Brittli), ungefähr wie ein Sistrum gestaltet, hat Löcher auf beiden Seiten, durch welche die Fäden gezogen sind; dieses befindet sich in der Rechten des Zettlers, mit der Linken fasst er die Fäden zusammen und legt sie, hin und wider gehend, auf den Zettelrahmen. Einmal von oben herunter und von unten herauf heißt ein Gang, und nach Verhältnis der Dichtigkeit und Breite des Gewebes macht man viele Gänge. Die Länge beträgt entweder 64 oder nur 32 Ellen. Beim Anfang eines jeden Ganges legt man mit den Fingern der linken Hand immer einen oder zwei Fäden herauf und ebensoviel herunter und nennt solches die Rispe; so werden die verschränkten Fäden über die zwei oben an dem Zettelrahmen angebrachten Nägel gelegt. Dieses geschieht, damit der Weber die Fäden in gehörig gleicher Ordnung erhalten kann. Ist man mit dem Zetteln fertig, so wird das Gerispe unterbunden und dabei ein jeder Gang besonders abgeteilt, damit sich nichts verwirren kann; sodann werden mit aufgelöstem Grünspan am letzten Gang Male gemacht, damit der Weber das gehörige Maß wiederbringe; endlich wird abgenommen, das Ganze in Gestalt eines großen Knäuels aufgewunden, welcher die Werfte genannt wird.
Mittwoch, den 17.
Wir waren früh vor Tage aufgebrochen und genossen eines herrlichen verspäteten Mondscheins. Die hervorbrechende Helle, die aufgehende Sonne ließ uns ein besser bewohntes und bebautes Land sehen. Hatten wir oben, um über Bäche zu kommen, Schrittsteine oder zuweilen einen schmalen Steg, nur an der einen Seite mit Lehne versehen, angetroffen, so waren hier schon steinerne Brücken über das immer breiter werdende Wasser geschlagen; das Anmutige wollte sich nach und nach mit dem Wilden gatten, und ein erfreulicher Eindruck ward von den sämtlichen Wanderern empfunden.
Über den Berg herüber, aus einer andern Flussregion, kam ein schlanker, schwarzlockiger Mann hergeschritten und rief schon von weitem, als einer, der gute Augen und eine tüchtige Stimme hat: „Grüß’ Euch Gott, Gevatter Garnträger!“ Dieser ließ ihn näher herankommen, dann rief auch er mit Verwunderung: „Dank’ Euch Gott, Gevatter Geschirrfasser! Woher des Landes? Welche unerwartete Begegnung!“ Jener antwortete herantretend: „Schon zwei Monate schreit’ ich im Gebirge herum, allen guten Leuten ihr Geschirr zurecht zu machen und ihre Stühle so einzurichten, dass sie wieder eine Zeitlang ungestört fortarbeiten können.“ Hierauf sprach der Garnbote, sich zu mir wendend: „Da Ihr, junger Herr, so viel Lust und Liebe zu dem Geschäft beweist und Euch sorgfältig drum bekümmert, so kommt dieser Mann gerade zur rechten Zeit, den ich Euch in diesen Tagen schon still herbeigewünscht hatte; er würde Euch alles besser erklärt haben als die Mädchen mit allem guten Willen; er ist Meister in seinem Geschäft und versteht, was zur Spinnerei und Weberei und dergleichen gehört, vollkommen anzugeben, auszuführen, zu erhalten, wiederherzustellen, wie es Not tut und es jeder nur wünschen mag.“
Ich besprach mich mit ihm und fand einen sehr verständigen, in gewissem Sinn gebildeten, seiner Sache völlig gewachsenen Mann, indem ich einiges, was ich dieser Tage gelernt hatte, mit ihm wiederholte und einige Zweifel zu lösen bat; auch sagt’ ich ihm, was ich gestern schon von den Anfängen der Weberei gesehen. Jener rief dagegen freudig aus: „Das ist recht erwünscht, da komm’ ich gerade zur rechten Zeit, um einem so werten, lieben Herrn über die älteste und herrlichste Kunst, die den Menschen eigentlich zuerst vom Tier unterscheidet, die nötige Auskunft zu geben. Wir gelangen heute gerade zu guten und geschickten Leuten, und ich will nicht Geschirrfasser heißen, wenn Ihr nicht sogleich das Handwerk so gut fassen sollt wie ich selbst.“
Ihm wurde freundlicher Dank gezollt, das Gespräch mannigfaltig fortgesetzt, und wir gelangten nach einigem Rasten und Frühstück, zu einer zwar auch unter- und übereinander, doch besser gebauten Häusergruppe. Er wies uns an das beste. Der Garnbote ging mit mir und St. Christoph nach Abrede zuerst hinein, sodann aber, nach den ersten Begrüßungen und einigen Scherzen, folgte der Schirrfasser, und es war auffallend, dass sein Hereintreten eine freudige Überraschung in der Familie hervorbrachte. Vater, Mutter, Töchter und Kinder versammelten sich um ihn; einem am Weberstuhl sitzenden, wohl gebildeten Mädchen stockte das Schiffchen in der Hand, das just durch den Zettel durchfahren sollte; ebenso hielt sie auch den Tritt an, stand auf und kam später, mit langsamer Verlegenheit ihm die Hand zu reichen. Beide, der Garnbote sowohl als der Schirrfasser, setzten sich bald durch Scherz und Erzählung wieder in das alte Recht, welches Hausfreunden gebührt, und nachdem man sich eine Zeitlang gelabt, wendete sich der wackere Mann zu mir und sagte: „Sie, mein guter Herr, dürfen wir über diese Freude des Wiedersehens nicht hintansetzen; wir können noch tagelang miteinander schnacken; Sie müssen morgen fort. Lassen wir den Herrn in das Geheimnis unserer Kunst sehen; Leimen und Zetteln kennt er, zeigen wir ihm das übrige vor, die Jungfrauen da sind mir ja wohl behilflich. Ich sehe, an diesem Stuhl ist man beim Aufwinden.“ Das Geschäft war der jüngeren, zu der sie traten. Die ältere setzte sich wieder an ihren Webstuhl und verfolgte mit stiller, liebevoller Miene ihre lebhafte Arbeit.
Ich betrachtete nun sorgfältig das Aufwinden. Zu diesem Zweck lässt man die Gänge des Zettels nach der Ordnung durch einen großen Kamm laufen, der eben die Breite des Weberbaums hat, auf welchen aufgewunden werden soll; dieser ist mit einem Einschnitt versehen, worin ein rundes Stäbchen liegt, welches durch das Ende des Zettels durchgesteckt und in dem Einschnitt befestigt wird. Ein kleiner Junge oder Mädchen sitzt unter dem Weberstuhl und hält den Strang des Zettels stark an, während die Weberin den Weberbaum an einem Hebel gewaltsam umdreht und zugleich Acht gibt, dass alles in der Ordnung zu liegen komme. Wenn alles aufgewunden ist, so werden durch die Rispe ein runder und zwei flache Stäbe, Schienen, gestoßen, damit sie sich halte, und nun beginnt das Eindrehen.
Vom alten Gewebe ist noch etwa eine viertel Elle am zweiten Weberbaum übrig geblieben, und von diesem laufen etwa drei viertel Ellen lang die Fäden durch das Blatt in der Lade sowohl als durch die Flügel des Geschirrs. An diese Fäden nun dreht die Weberin die Fäden des neuen Zettels, einen um den andern, sorgfältig an, und wenn sie fertig ist, wird alles Angedrehte auf einmal durchgezogen, so dass die neuen Fäden bis an den noch leeren vordern Weberbaum reichen; die abgerissenen Fäden werden angeknüpft, der Eintrag auf kleine Spulen gewunden, wie sie ins Weberschiffchen passen, und die letzte Vorbereitung zum Weben gemacht, nämlich geschlichtet.
So lang der Weberstuhl ist, wird der Zettel mit einem Leimwasser, aus Handschuhleder bereitet, vermittelst eingetauchter Bürsten durch und durch angefeuchtet; sodann werden die oben gedachten Schienen, die das Gerispe halten, zurückgezogen, alle Fäden aufs genaueste in Ordnung gelegt und alles so lange mit einem an einen Stab gebundenen Gänseflügel gefächelt, bis es trocken ist, und nun kann das Weben begonnen und fortgesetzt werden, bis es wieder nötig wird zu schlichten.
Das Schlichten und Fächeln ist gewöhnlich jungen Leuten überlassen, welche zu dem Webergeschäft herangezogen werden, oder in der Muße der Winterabende leistet ein Bruder oder ein Liebhaber der hübschen Weberin diesen Dienst, oder diese machen wenigstens die kleinen Spülchen mit dem Eintragsgarn.
Feine Musseline werden nass gewebt, nämlich der Strang des Einschlagegarns wird in Leimwasser getaucht, noch nass auf die kleinen Spulen gewunden und sogleich verarbeitet, wodurch sich das Gewebe gleicher schlagen lässt und klarer erscheint.
Donnerstag, den 18.
Ich fand überhaupt etwas Geschäftiges, unbeschreiblich Belebtes, Häusliches, Friedliches in dem ganzen Zustand einer solchen Weberstube; mehrere Stühle waren in Bewegung, da gingen noch Spinn- und Spulräder, und am Ofen saßen die Alten mit den besuchenden Nachbarn oder Bekannten trauliche Gespräche führend. Zwischendurch ließ sich wohl auch Gesang hören, meistens Ambrosius Lobwassers vierstimmige Psalmen, seltener weltliche Lieder; dann bricht auch wohl ein fröhlich schallendes Gelächter der Mädchen aus, wenn Vetter Jakob einen witzigen Einfall gesagt hat.
Eine recht flinke und zugleich fleißige Weberin kann, wenn sie Hilfe hat, allenfalls in einer Woche ein Stück von 32 Ellen nicht gar zu feine Musseline zustande bringen; es ist aber sehr selten, und bei einigen Hausgeschäften ist solches gewöhnlich die Arbeit von vierzehn Tagen.
Die Schönheit des Gewebes hängt vom gleichen Auftreten des Webegeschirres ab, vom gleichen Schlag der Lade, wie auch davon, ob der Eintrag nass oder trocken geschieht. Völlig egale und zugleich kräftige Anspannung trägt ebenfalls bei, zu welchem Ende die Weberin feiner baumwollener Tücher einen schweren Stein an den Nagel des vordern Weberbaums hängt. Wenn während der Arbeit das Gewebe kräftig angespannt wird (das Kunstwort heißt dämmen), so verlängert es sich merklich, auf 32 Ellen ¾ Ellen und auf 64 etwa 1½ Elle; dieser Überschuss nun gehört der Weberin, wird ihr extra bezahlt, oder sie hebt sich’s zu Halstüchern, Schürzen usw. auf.
In der klarsten, sanftesten Mondnacht, wie sie nur in hohen Gebirgszügen obwaltet, saß die Familie mit ihren Gästen vor der Haustüre im lebhaftesten Gespräch, Lenardo in tiefen Gedanken. Schon unter allem dem Weben und Wirken und so manchen handwerklichen Betrachtungen und Bemerkungen war ihm jener von Freund Wilhelm zu seiner Beruhigung geschriebene Brief wieder ins Gedächtnis gekommen. Die Worte, die er so oft gelesen, die Zeilen, die er mehrmals angeschaut, stellten sich wieder seinem innern Sinn dar. Und wie eine Lieblingsmelodie, ehe wir uns versehen, auf einmal dem tiefsten Gehör leise hervortritt, so wiederholte sich jene zarte Mitteilung in der stillen, sich selbst angehörigen Seele.
„Häuslicher Zustand, auf Frömmigkeit gegründet, durch Fleiß und Ordnung belebt und erhalten, nicht zu eng, nicht zu weit, im glücklichsten Verhältnis der Pflichten zu den Fähigkeiten und Kräften. Um sie her bewegt sich ein Kreislauf von Handarbeitenden im reinsten, anfänglichsten Sinn; hier ist Beschränktheit und Wirkung in die Ferne, Umsicht und Mäßigung, Unschuld und Tätigkeit.“
Aber diesmal mehr aufregend als beschwichtigend war die Erinnerung. „Passt doch“, sprach er zu sich selbst, „diese allgemein lakonische Beschreibung ganz und gar auf den Zustand, der mich hier umgibt. Ist nicht auch hier Friede, Frömmigkeit, ununterbrochene Tätigkeit? Nur eine Wirkung in die Ferne will mir nicht gleichermaßen deutlich scheinen. Mag doch die Gute einen ähnlichen Kreis beleben, aber einen weitern, einen bessern; sie mag sich behaglich wie diese hier, vielleicht noch behaglicher, finden, mit mehr Heiterkeit und Freiheit umherschauen.“
Nun aber durch ein lebhaftes, sich steigerndes Gespräch der übrigen aufgeregt, mehr Acht habend auf das, was verhandelt wurde, ward ihm ein Gedanke, den er diese Stunden her gehegt, vollkommen lebendig. Sollte nicht ebendieser Mann, dieser mit Werkzeug und Geschirr so meisterhaft umgehende, für unsre Gesellschaft das nützlichste Mitglied werden können? Er überlegte das und alles, wie ihm die Vorzüge dieses gewandten Arbeiters schon stark in die Augen geleuchtet. Er lenkte daher das Gespräch dahin und machte, zwar wie im Scherz, aber desto unbewundender, jenem den Antrag, ob er sich nicht mit einer bedeutenden Gesellschaft verbinden und den Versuch machen wolle, übers Meer auszuwandern.
Jener entschuldigte sich, gleichfalls heiter beteuernd, dass es ihm hier wohl gehe, dass er noch Besseres erwarte; in dieser Landesart sei er geboren, darin gewöhnt, weit und breit bekannt und überall vertraulich aufgenommen. Überhaupt werde man in diesen Tälern keine Neigung zur Auswanderung finden, keine Not ängstige sie und ein Gebirge halte seine Leute fest.
„Deswegen wundert’s mich“, sagte der Garnbote, „dass es heißen will, Frau Susanne werde den Faktor heiraten, ihr Besitztum verkaufen und mit schönem Geld übers Meer ziehen.“ Auf Befragen erfuhr unser Freund, es sei eine junge Witwe, die in guten Umständen ein reichliches Gewerbe mit den Erzeugnissen des Gebirges betreibe, wovon sich der wandernd Reisende morgen gleich selbst überzeugen könne, indem man auf dem eingeschlagenen Weg zeitig bei ihr eintreffen werde. „Ich habe sie schon verschiedentlich nennen hören“, versetzte Lenardo, „als belebend und wohltätig in diesem Tal, und versäumte, nach ihr zu fragen.“
„Gehen wir aber zur Ruh“, sagte der Garnbote, „um den morgigen Tag, der heiter zu werden verspricht, von früh auf zu nutzen.“
Hier endigte das Manuskript, und als Wilhelm nach der Fortsetzung verlangte, hatte er zu erfahren, dass sie gegenwärtig nicht in den Händen der Freunde sei. Sie ward, sagte man, an Makarie gesendet, welche gewisse Verwicklungen, deren darin gedacht worden, durch Geist und Liebe schlichten und bedenkliche Verknüpfungen auflösen solle. Der Freund musste sich diese Unterbrechung gefallen lassen und sich bereiten, an einem geselligen Abend, in heiterer Unterhaltung, Vergnügen zu finden.