Winckelmann
Einleitung
Das Andenken merkwürdiger Menschen, so wie die Gegenwart bedeutender Kunstwerke, regt von Zeit zu Zeit den Geist der Betrachtung auf. Beide stehen da als Vermächtnisse für jede Generation, in Taten und Nachruhm jene, diese wirklich erhalten als unaussprechliche Wesen. Jeder Einsichtige weiß recht gut, daß nur das Anschaun ihres besonderen Ganzen einen wahren Wert hätte, und doch versucht man immer aufs neue, durch Reflexion und Wort ihnen etwas abzugewinnen.
Hiezu werden wir besonders aufgereizt, wenn etwas Neues entdeckt und bekannt wird, das auf solche Gegenstände Bezug hat; und so wird man unsre erneuerte Betrachtung über Winckelmann, seinen Charakter und sein Geleistetes in dem Augenblicke schicklich finden, da die eben jetzt herausgegebenen Briefe über seine Denkweise und Zustände ein lebhafteres Licht verbreiten.
Eintritt
Wenn die Natur gewöhnlichen Menschen die köstliche Mitgift nicht versagt, ich meine jenen lebhaften Trieb, von Kindheit an die äußere Welt mit Lust zu ergreifen, sie kennenzulernen, sich mit ihr in Verhältnis zu setzen, mit ihr verbunden ein Ganzes zu bilden, so haben vorzügliche Geister öfters die Eigenheit, eine Art von Scheu vor dem wirklichen Leben zu empfinden, sich in sich selbst zurückzuziehen, in sich selbst eine eigene Welt zu erschaffen und auf diese Weise das Vortrefflichste nach innen bezüglich zu leisten.
Findet sich hingegen in besonders begabten Menschen jenes gemeinsame Bedürfnis, eifrig zu allem, was die Natur in sie gelegt hat, auch in der äußeren Welt die antwortenden Gegenbilder zu suchen und dadurch das Innere völlig zum Ganzen und Gewissen zu steigern, so kann man versichert sein, daß auch so ein für Welt und Nachwelt höchst erfreuliches Dasein sich ausbilden werde.
Unser Winckelmann war von dieser Art. In ihn hatte die Natur gelegt, was den Mann macht und ziert. Dagegen verwendete er sein ganzes Leben, ein ihm Gemäßes, Treffliches und Würdiges im Menschen und in der Kunst, die sich vorzüglich mit dem Men schen beschäftigt, aufzusuchen.
Eine niedrige Kindheit, unzulänglicher Unterricht in der Jugend, zerrissene, zerstreute Studien im Jünglingsalter, der Druck eines Schulamtes, und was in einer solchen Laufbahn Ängstliches und Beschwerliches erfahren wird, hatte er mit vielen andern geduldet. Er war dreißig Jahr alt geworden, ohne irgendeine Gunst des Schicksals genossen zu haben; aber in ihm selbst lagen die Keime eines wünschenswerten und möglichen Glücks.
Wir finden schon in diesen seinen traurigen Zeiten die Spur jener Forderung, sich von den Zuständen der Welt mit eigenen Augen zu überzeugen, zwar dunkel und verworren, doch entschieden genug ausgesprochen. Einige nicht genugsam überlegte Versuche, fremde Länder zu sehen, mißglückten ihm. Er träumte sich eine Reise nach Ägypten; er begab sich auf den Weg nach Frankreich; unvorhergesehene Hindernisse wiesen ihn zurück. Besser geleitet von seinem Genius, ergriff er endlich die Idee, sich nach Rom durchzudrängen. Er fühlte, wie sehr ihm ein solcher Aufenthalt gemäß sei. Dies war kein Einfall, kein Gedanke mehr, es war ein entschiedener Plan, dem er mit Klugheit und Festigkeit entgegenging.
Antikes
Der Mensch vermag gar manches durch zweckmäßigen Gebrauch einzelner Kräfte, er vermag das Außerordentliche durch Verbindung mehrerer Fähigkeiten; aber das Einzige, ganz Unerwartete leistet er nur, wenn sich die sämtlichen Eigenschaften gleichmäßig in ihm vereinigen. Das letzte war das glückliche Los der Alten, besonders der Griechen in ihrer besten Zeit; auf die beiden ersten sind wir Neuern vom Schicksal angewiesen.
Wenn die gesunde Natur des Menschen als ein Ganzes wirkt, wenn er sich in der Welt als in einem großen, schönen, würdigen und werten Ganzen fühlt, wenn das harmonische Behagen ihm ein reines, freies Entzücken gewährt, dann würde das Weltall, wenn es sich selbst empfinden könnte, als an sein Ziel gelangt, aufjauchzen und den Gipfel des eigenen Werdens und Wesens bewundern. Denn wozu dient alle der Aufwand von Sonnen und Planeten und Monden, von Sternen und Milchstraßen, von Kometen und Nebelflecken, von gewordenen und werdenden Welten, wenn sich nicht zuletzt ein glücklicher Mensch unbewußt seines Daseins erfreut?
Wirft sich der Neuere, wie es uns eben jetzt ergangen, fast bei jeder Betrachtung ins Unendliche, um zuletzt, wenn es ihm glückt, auf einen beschränkten Punkt wieder zurückzukehren, so fühlten die Alten, ohne weitern Umweg, sogleich ihre einzige Behaglichkeit innerhalb der lieblichen Grenzen der schönen Welt. Hieher waren sie gesetzt, hiezu berufen, hier fand ihre Tätigkeit Raum, ihre Leidenschaft Gegenstand und Nahrung.
Warum sind ihre Dichter und Geschichtschreiber die Bewunderung des Einsichtigen, die Verzweiflung des Nacheifernden, als weil jene handelnden Personen, die aufgeführt werden, an ihrem eigenen Selbst, an dem engen Kreise ihres Vaterlandes, an der bezeichneten Bahn des eigenen sowohl als des mitbürgerlichen Lebens einen so tiefen Anteil nahmen, mit allem Sinn, aller Neigung, aller Kraft auf die Gegenwart wirkten; daher es einem gleichgesinnten Darsteller nicht schwerfallen konnte, eine solche Gegenwart zu verewigen.
Das, was geschah, hatte für sie den einzigen Wert, so wie für uns nur dasjenige, was gedacht oder empfunden worden, einigen Wert zu gewinnen scheint.
Nach einerlei Weise lebte der Dichter in seiner Einbildungskraft, der Geschichtschreiber in der politischen, der Forscher in der natürlichen Welt. Alle hielten sich am Nächsten, Wahren, Wirklichen fest, und selbst ihre Phantasiebilder haben Knochen und Mark. Der Mensch und das Menschliche wurden am wertesten geachtet und alle seine innern, seine äußern Verhältnisse zur Welt mit so großem Sinne dargestellt als angeschaut. Noch fand sich das Gefühl, die Betrachtung nicht zerstückelt, noch war jene kaum heilbare Trennung in der gesunden Menschenkraft nicht vorgegangen.
Aber nicht allein das Glück zu genießen, sondern auch das Unglück zu ertragen, waren jene Naturen höchlich geschickt: denn wie die gesunde Faser dem Übel widerstrebt und bei jedem krankhaften Anfall sich eilig wiederherstellt, so vermag der jenen eigene gesunde Sinn sich gegen innern und äußern Unfall geschwind und leicht wiederherzustellen. Eine solche antike Natur war, insofern man es nur von einem unsrer Zeitgenossen behaupten kann, in Winckelmann wieder erschienen, die gleich anfangs ihr ungeheures Probestück ablegte, daß sie durch dreißig Jahre Niedrigkeit, Unbehagen und Kummer nicht gebändigt, nicht aus dem Wege gerückt, nicht abgestumpft werden konnte. Sobald er nur zu einer ihm gemäßen Freiheit gelangte, erscheint er ganz und abgeschlossen, völlig im antiken Sinne. Angewiesen auf Tätigkeit, Genuß und Entbehrung, Freude und Leid, Besitz und Verlust, Erhebung und Erniedrigung, und in solchem seltsamen Wechsel immer mit dem schönen Boden zufrieden, auf dem uns ein so veränderliches Schicksal heimsucht.
Hatte er nun im Leben einen wirklich altertümlichen Geist, so blieb ihm derselbe auch in seinen Studien getreu. Doch wenn bei Behandlung der Wissenschaften im großen und breiten die Alten sich schon in einer gewissen peinlichen Lage befanden, indem zu Erfassung der mannigfaltigen außermenschlichen Gegenstände eine Zerteilung der Kräfte und Fähigkeiten, eine Zerstückelung der Einheit fast unerläßlich ist, so hat ein Neuerer im ähnlichen Falle ein noch gewagteres Spiel, indem er bei der einzelnen Ausarbeitung des mannigfaltigen Wißbaren sich zu zerstreuen, in unzusammenhängenden Kenntnissen sich zu verlieren in Gefahr kömmt, ohne, wie es den Alten glückte, das Unzulängliche durch das Vollständige seiner Persönlichkeit zu vergüten.
So vielfach Winckelmann auch in dem Wißbaren und Wissenswerten herumschweifte, teils durch Lust und Liebe, teils durch Notwendigkeit geleitet, so kam er doch früher oder später immer zum Altertum, besonders zum griechischen, zurück, mit dem er sich so nahe verwandt fühlte und mit dem er sich in seinen besten Tagen so glücklich vereinigen sollte.
Heidnisches
Jene Schilderung des altertümlichen, auf diese Welt und ihre Güter angewiesenen Sinnes führt uns unmittelbar zur Betrachtung, daß dergleichen Vorzüge nur mit einem heidnischen Sinne vereinbar seien. Jenes Vertrauen auf sich selbst, jenes Wirken in der Gegenwart, die reine Verehrung der Götter als Ahnherren, die Bewunderung derselben gleichsam nur als Kunstwerke, die Ergebenheit in ein übermächtiges Schicksal, die in dem hohen Werte des Nachruhms selbst wieder auf diese Welt angewiesene Zukunft gehören so notwendig zusammen, machen solch ein unzertrennliches Ganze, bilden sich zu einem von der Natur selbst beabsichtigten Zustand des menschlichen Wesens, daß wir in dem höchsten Augenblicke des Genusses, wie in dem tiefsten der Aufopferung, ja des Untergangs, eine unverwüstliche Gesundheit gewahr werden.
Dieser heidnische Sinn leuchtet aus Winckelmanns Handlungen und Schriften hervor und spricht sich besonders in seinen frühern Briefen aus, wo er sich noch im Konflikt mit neuern Religionsgesinnungen abarbeitet. Diese seine Denkweise, diese Entfernung von aller christlichen Sinnesart, ja seinen Widerwillen dagegen muß man im Auge haben, wenn man seine so genannte Religionsveränderung beurteilen will. Diejenigen Parteien, in welche sich die christliche Religion teilt, waren ihm völlig gleichgültig, indem er, seiner Natur nach, niemals zu einer der Kirchen gehörte, welche sich ihr subordinieren.
Freundschaft
Waren jedoch die Alten, so wie wir von ihnen rühmen, wahrhaft ganze Menschen, so mußten sie, indem sie sich selbst und die Welt behaglich empfanden, die Verbindungen menschlicher Wesen in ihrem ganzen Umfange kennenlernen, sie durften jenes Entzückens nicht ermangeln, das aus der Verbindung ähnlicher Naturen hervorspringt.
Auch hier zeigt sich ein merkwürdiger Unterschied alter und neuer Zeit. Das Verhältnis zu den Frauen, das bei uns so zart und geistig geworden, erhob sich kaum über die Grenze des gemeinsten Bedürfnisses. Das Verhältnis der Eltern zu den Kindern scheint einigermaßen zarter gewesen zu sein. Statt aller Empfindungen aber galt ihnen die Freundschaft unter Personen männlichen Geschlechtes, obgleich auch Chloris und Thyia noch im Hades als Freundinnen unzertrennlich sind.
Die leidenschaftliche Erfüllung liebevoller Pflichten, die Wonne der Unzertrennlichkeit, die Hingebung eines für den andern, die ausgesprochene Bestimmung für das ganze Leben, die notwendige Begleitung in den Tod setzen uns bei Verbindung zweier Jünglinge in Erstaunen, ja man fühlt sich beschämt, wenn uns Dichter, Geschichtschreiber, Philosophen, Redner mit Fabeln, Ereignissen, Gefühlen, Gesinnungen solchen Inhaltes und Gehaltes überhäufen.
Zu einer Freundschaft dieser Art fühlte Winckelmann sich geboren, derselben nicht allein sich fähig, sondern auch im höchsten Grade bedürftig; er empfand sein eigenes Selbst nur unter der Form der Freundschaft, er erkannte sich nur unter dem Bilde des durch einen Dritten zu vollendenden Ganzen. Frühe schon legte er dieser Idee einen vielleicht unwürdigen Gegenstand unter, er widmete sich ihm, für ihn zu leben und zu leiden; für denselben fand er selbst in seiner Armut Mittel, reich zu sein, zu geben, aufzuopfern, ja er zweifelt nicht, sein Dasein, sein Leben zu verpfänden. Hier ist es, wo sich Winckelmann, selbst mitten in Druck und Not, groß, reich, freigebig und glücklich fühlt, weil er dem etwas leisten kann, den er über alles liebt, ja dem er sogar, als höchste Aufopferung, Undankbarkeit zu verzeihen hat.
Wie auch die Zeiten und Zustände wechseln, so bildet Winckelmann alles Würdige, was ihm naht, nach dieser Urform zu seinem Freund um, und wenn ihm gleich manches von diesen Gebilden leicht und bald vorüberschwindet, so erwirbt ihm doch diese schöne Gesinnung das Herz manches Trefflichen, und er hat das Glück, mit den Besten seines Zeitalters und Kreises in dem schönsten Verhältnisse zu stehen.
Schönheit
Wenn aber jenes tiefe Freundschaftsbedürfnis sich eigentlich seinen Gegenstand erschafft und ausbildet, so würde dem altertümlich Gesinnten dadurch nur ein einseitiges, ein sittliches Wohl zuwachsen, die äußere Welt würde ihm wenig leisten, wenn nicht ein verwandtes, gleiches Bedürfnis und ein befriedigender Gegenstand desselben glücklich hervorträte; wir meinen die Forderung des sinnlich Schönen und das sinnlich Schöne selbst: denn das letzte Produkt der sich immer steigernden Natur ist der schöne Mensch. Zwar kann sie ihn nur selten hervorbringen, weil ihren Ideen gar viele Bedingungen widerstreben, und selbst ihrer Allmacht ist es unmöglich, lange im Vollkommnen zu verweilen und dem hervorgebrachten Schönen eine Dauer zu geben. Denn genau genommen kann man sagen, es sei nur ein Augenblick, in welchem der schöne Mensch schön sei.
Dagegen tritt nun die Kunst ein, denn indem der Mensch auf den Gipfel der Natur gestellt ist, so sieht er sich wieder als eine ganze Natur an, die in sich abermals einen Gipfel hervorzubringen hat. Dazu steigert er sich, indem er sich mit allen Vollkommenheiten und Tugenden durchdringt, Wahl, Ordnung, Harmonie und Bedeutung aufruft und sich endlich bis zur Produktion des Kunstwerkes erhebt, das neben seinen übrigen Taten und Werken einen glänzenden Platz einnimmt. Ist es einmal hervorgebracht, steht es in seiner idealen Wirklichkeit vor der Welt, so bringt es eine dauernde Wirkung, es bringt die höchste hervor: denn indem es aus den gesamten Kräften sich geistig entwickelt, so nimmt es alles Herrliche, Verehrungs- und Liebenswürdige in sich auf und erhebt, indem es die menschliche Gestalt beseelt, den Menschen über sich selbst, schließt seinen Lebens- und Tatenkreis ab und vergöttert ihn für die Gegenwart, in der das Vergangene und Künftige begriffen ist. Von solchen Gefühlen wurden die ergriffen, die den Olympischen Jupiter erblickten, wie wir aus den Beschreibungen, Nachrichten und Zeugnissen der Alten uns entwickeln können. Der Gott war zum Menschen geworden, um den Menschen zum Gott zu erheben. Man erblickte die höchste Würde und ward für die höchste Schönheit begeistert. In diesem Sinne kann man wohl jenen Alten recht geben, welche mit völliger Überzeugung aussprachen: es sei ein Unglück, zu sterben, ohne dieses Werk gesehen zu haben.
Für diese Schönheit war Winckelmann, seiner Natur nach, fähig, er ward sie in den Schriften der Alten zuerst gewahr; aber sie kam ihm aus den Werken der bildenden Kunst persönlich entgegen, aus denen wir sie erst kennenlernen, um sie an den Gebilden der lebendigen Natur gewahr zu werden und zu schätzen.
Finden nun beide Bedürfnisse der Freundschaft und der Schönheit zugleich an einem Gegenstande Nahrung, so scheint das Glück und die Dankbarkeit des Menschen über alle Grenzen hinauszusteigen, und alles, was er besitzt, mag er so gern als schwache Zeugnisse seiner Anhänglichkeit und seiner Verehrung hingeben.
So finden wir Winckelmann oft in Verhältnis mit schönen Jünglingen, und niemals erscheint er belebter und liebenswürdiger als in solchen oft nur flüchtigen Augenblicken.
Katholizismus
Mit solchen Gesinnungen, mit solchen Bedürfnissen und Wünschen frönte Winckelmann lange Zeit fremden Zwecken. Nirgend um sich her sah er die mindeste Hoffnung zu Hülfe und Beistand.
Der Graf Bünau, der als Partikulier nur ein bedeutendes Buch weniger hätte kaufen dürfen, um Winckelmann einen Weg nach Rom zu eröffnen, der als Minister Einfluß genug hatte, dem trefflichen Mann aus aller Verlegenheit zu helfen, mochte ihn wahrscheinlich als tätigen Diener nicht gern entbehren oder hatte keinen Sinn für das große Verdienst, der Welt einen tüchtigen Mann zugefördert zu haben. Der Dresdner Hof, woher allenfalls eine hinlänglich Unterstützung zu hoffen war, bekannte sich zur römischen Kirche, und kaum war ein anderer Weg, zu Gunst und Gnade zu gelangen, als durch Beichtväter und andre geistliche Personen.
Das Beispiel des Fürsten wirkt mächtig um sich her und fordert mit heimlicher Gewalt jeden Staatsbürger zu ähnlichen Handlungen auf, die in dem Kreise des Privatmanns irgend zu leisten sind, vorzüglich also zu sittlichen. Die Religion des Fürsten bleibt in gewissem Sinne immer die herrschende, und die römische Religion reißt, gleich einem immer bewegten Strudel, die ruhig vorbeiziehende Welle an sich und in ihren Kreis.
Dabei mußte Winckelmann fühlen, daß man, um in Rom ein Römer zu sein, um sich innig mit dem dortigen Dasein zu verweben, eines zutraulichen Umgangs zu genießen, notwendig zu jener Gemeine sich bekennen, ihren Glauben zugeben, sich nach ihren Gebräuchen bequemen müsse. Und so zeigte der Erfolg, daß er ohne diesen früheren Entschluß seinen Zweck nicht vollständig erreicht hätte, und dieser Entschluß ward ihm dadurch gar sehr erleichtert, daß ihn, als einen gründlich gebornen Heiden, die protestantische Taufe zum Christen einzuweihen nicht vermögend gewesen.
Doch gelang ihm die Veränderung seines Zustandes nicht ohne heftigen Kampf. Wir können nach unserer Überzeugung, nach genugsam abgewogenen Gründen endlich einen Entschluß fassen, der mit unserm Wollen, Wünschen und Bedürfen völlig harmonisch ist, ja zu Erhaltung und Förderung unserer Existenz unausweichlich scheint, so daß wir mit uns völlig zur Einigkeit gelangen. Ein solcher Entschluß aber kann mit der allgemeinen Denkweise, mit der Überzeugung vieler Menschen im Widerspruch stehen; dann beginnt ein neuer Streit, der zwar bei uns keine Ungewißheit, aber eine Unbehaglichkeit erregt, einen ungeduldigen Verdruß, daß wir nach außen hie und da Brüche finden, wo wir nach innen eine ganze Zahl zu sehen glauben.
Und so erscheint auch Winckelmann bei seinem vorgehabten Schritt besorgt, ängstlich, kummervoll und in leidenschaftlicher Bewegung, wenn er sich die Wirkung dieses Unternehmens, besonders auf seinen ersten Gönner, den Grafen, bedenkt. Wie schön, tief und rechtlich sind seine vertraulichen Äußerungen über diesen Punkt!
Denn es bleibt freilich ein jeder, der die Religion verändert, mit einer Art von Makel bespritzt, von der es unmöglich scheint, ihn zu reinigen. Wir sehen daraus, daß die Menschen den beharrenden Willen über alles zu schätzen wissen und um so mehr schätzen, als sie, sämtlich in Parteien geteilt, ihre eigene Sicherheit und Dauer beständig im Auge haben. Hier ist weder von Gefühl noch von Überzeugung die Rede. Ausdauern soll man da, wo uns mehr das Geschick als die Wahl hingestellt. Bei einem Volke, einer Stadt, einem Fürsten, einem Freunde, einem Weibe festhalten, darauf alles beziehen, deshalb alles wirken, alles entbehren und dulden, das wird geschätzt; Abfall dagegen bleibt verhaßt, Wankelmut wird lächerlich.
War dieses nun die eine schroffe, sehr ernste Seite, so läßt sich die Sache auch von einer andern ansehn, von der man sie heiterer und leichter nehmen kann. Gewisse Zustände des Menschen, die wir keinesweges billigen, gewisse sittliche Flecken an dritten Personen haben für unsre Phantasie einen besondern Reiz. Will man uns ein Gleichnis erlauben, so möchten wir sagen, es ist damit, wie mit dem Wildbret, das dem feinen Gaumen mit einer kleinen Andeutung von Fäulnis weit besser als frisch gebraten schmeckt. Eine geschiedene Frau, ein Renegat machen auf uns einen besonders reizenden Eindruck. Personen, die uns sonst vielleicht nur merkwürdig und liebenswürdig vorkämen, erscheinen uns nun als wundersam, und es ist nicht zu leugnen, daß die Religionsveränderung Winckelmanns das Romantische seines Lebens und Wesens vor unserer Einbildungskraft merklich erhöht.
Aber für Winckelmann selbst hatte die katholische Religion nichts Anzügliches. Er sah in ihr bloß das Maskenkleid, das er umnahm, und drückt sich darüber hart genug aus. Auch später scheint er an ihren Gebräuchen nicht genugsam festgehalten, ja vielleicht gar durch lose Reden sich bei eifrigen Bekennern verdächtig gemacht zu haben, wenigstens ist hie und da eine kleine Furcht vor der Inquisition sichtbar.
Gewahrwerden griechischer Kunst
Von allem Literarischen, ja selbst von dem Höchsten, was sich mit Wort und Sprache beschäftigt, von Poesie und Rhetorik, zu den bildenden Künsten überzugehen, ist schwer, ja fast unmöglich; denn es liegt eine ungeheure Kluft dazwischen, über welche uns nur ein besonders geeignetes Naturell hinüberhebt. Um zu beurteilen, inwiefern dieses Winckelmannen gelungen, liegen der Dokumente nunmehr genugsam vor uns.
Durch die Freude des Genusses ward er zuerst zu den Kunstschätzen hingezogen; allein zu Benutzung, zu Beurteilung derselben bedurfte er noch der Künstler als Mittelspersonen, deren mehr oder weniger gültige Meinungen er aufzufassen, zu redigieren und aufzustellen wußte, woraus denn seine noch in Dresden herausgegebene Schrift »Über die Nachahmung der griechischen Werke in der Malerei und Bildhauerkunst«, nebst zwei Anhängen, entstanden ist.
So sehr Winckelmann schon hier auf dem rechten Wege erscheint, so köstliche Grundstellen diese Schriften auch enthalten, so richtig das letzte Ziel der Kunst darin schon aufgesteckt ist, so sind sie doch, sowohl dem Stoff als der Form nach, dergestalt barock und wunderlich, daß man ihnen wohl vergebens durchaus einen Sinn abzugewinnen suchen möchte, wenn man nicht von der Persönlichkeit der damals in Sachsen versammelten Kenner und Kunstrichter, von ihren Fähigkeiten, Meinungen, Neigungen und Grillen näher unterrichtet ist; weshalb diese Schriften für die Nachkommenden ein verschlossenes Buch bleiben werden, wenn sich nicht unterrichtete Liebhaber der Kunst die jenen Zeiten näher gelebt haben, bald entschließen sollten, eine Schilderung der damaligen Zustände, insofern es noch möglich ist, zu geben oder zu veranlassen.
Lippert, Hagedorn, Oeser, Dietrich, Heinecken, Oesterreich liebten, trieben, beförderten die Kunst, jeder auf seine Weise. Ihre Zwecke waren beschränkt, ihre Maximen einseitig, ja öfters wunderlich. Geschichten und Anekdoten kursierten, deren mannigfaltige Anwendung nicht allein die Gesellschaft unterhalten, sondern auch belehren sollte. Aus solchen Elementen entstanden jene Schriften Winckelmanns, der diese Arbeiten gar bald selbst unzulänglich fand, wie er es denn auch seinen Freunden nicht verhehlte.
Doch trat er endlich, wo nicht genugsam vorbereitet, doch einigermaßen vorgeübt, seinen Weg an und gelangte nach jenem Lande, wo für jeden Empfänglichen die eigenste Bildungsepoche beginnt, welche sich über dessen ganzes Wesen verbreitet und solche Wirkungen äußert, die ebenso reell als harmonisch sein müssen, weil sie sich in der Folge als ein festes Band zwischen höchst verschiedenen Menschen kräftig erweisen.
Rom
Winckelmann war nun in Rom, und wer konnte würdiger sein, die Wirkung zu fühlen, die jener große Zustand auf eine wahrhaft empfängliche Natur hervorzubringen imstande ist. Er sieht seine Wünsche erfüllt, sein Glück begründet, seine Hoffnungen überbefriedigt. Verkörpert stehn seine Ideen um ihn her, mit Staunen wandert er durch die Reste eines Riesenzeitalters, das Herrlichste, was die Kunst hervorgebracht hat, steht unter freiem Himmel; ohnentgeltlich, wie zu den Sternen des Firmaments, wendet er seine Augen zu solchen Wunderwerken empor, und jeder verschlossene Schatz öffnet sich für eine kleine Gabe. Der Ankömmling schleicht wie ein Pilgrim unbemerkt umher, dem Herrlichsten und Heiligsten naht er sich in unscheinbarem Gewand; noch läßt er nichts Einzelnes auf sich eindringen, das Ganze wirkt auf ihn unendlich mannigfaltig, und schon fühlt er die Harmonie voraus die aus diesen vielen, oft feindselig scheinenden Elementen zuletzt für ihn entstehen muß. Er beschaut, er betrachtet alles und wird, auf daß ja sein Behagen vollkommener werde, für einen Künstler gehalten, für den man denn doch am Ende so gerne gelten mag.
Wie uns ein Freund die mächtige Wirkung, welche jener Zustand ausübt, geistvoll entwickelte, teilen wir unsern Lesern statt aller weitern Betrachtungen mit.
»Rom ist der Ort, in dem sich für unsere Ansicht das ganze Altertum in eins zusammenzieht, und was wir also bei den alten Dichtern, bei den alten Staatsverfassungen empfinden, glauben wir in Rom mehr noch als zu empfinden, selbst anzuschauen. Wie Homer sich nicht mit andern Dichtern, so läßt sich Rom mit keiner andern Stadt, römische Gegend mit keiner andern vergleichen. Es gehört allerdings das meiste von diesem Eindruck uns und nicht dem Gegenstande; aber es ist nicht bloß der empfindelnde Gedanke, zu stehen, wo dieser oder jener große Mann stand, es ist ein gewaltsames Hinreißen in eine von uns nun einmal, sei es auch durch eine notwendige Täuschung, als edler und erhabener angesehene Vergangenheit; eine Gewalt, der selbst, wer wollte, nicht widerstehen kann, weil die Öde, in der die jetzigen Bewohner das Land lassen, und die unglaubliche Masse von Trümmern selbst das Auge dahin führen. Und da nun diese Vergangenheit dem innern Sinne in einer Größe erscheint, die allen Neid ausschließt, an der man sich überglücklich fühlt, nur mit der Phantasie teilzunehmen, ja an der keine andre Teilnahme nur denkbar ist, und dann den äußern Sinn zugleich die Lieblichkeit der Formen, die Größe und Einfachheit der Gestalten, der Reichtum der Vegetation, die doch wieder nicht üppig ist wie in noch südlichern Gegenden, die Bestimmtheit der Umrisse in dem klaren Medium und die Schönheit der Farben in durchgängige Klarheit versetzt, so ist hier der Naturgenuß reiner, von aller Bedürftigkeit entfernter Kunstgenuß. Überall sonst reihen sich Ideen des Kontrastes daran, und er wird elegisch oder satirisch. Freilich indes ist es auch nur für uns so. Horaz empfand Tibur moderner als wir Tivoli. Das beweist sein ›Beatus ille, qui procul negotiis‹. Aber es ist auch nur eine Täuschung, wenn wir selbst Bewohner Athens und Roms zu sein wünschten. Nur aus der Ferne, nur von allem Gemeinen getrennt, nur als vergangen muß das Altertum uns erscheinen. Es geht damit, wie wenigstens mir und einem Freunde mit den Ruinen. Wir haben immer einen Ärger, wenn man eine halb versunkene ausgräbt; es kann höchstens ein Gewinn für die Gelehrsamkeit auf Kosten der Phantasie sein. Ich kenne für mich nur noch zwei gleich schreckliche Dinge: wenn man die Campagna di Roma anbauen und Rom zu einer polizierten Stadt machen wollte, in der kein Mensch mehr Messer trüge. Kommt je ein so ordentlicher Papst, was denn die 72 Kardinäle verhüten mögen, so ziehe ich aus. Nur wenn in Rom eine so göttliche Anarchie und um Rom eine so himmlische Wüstenei ist, bleibt für die Schatten Platz, deren einer mehr wert ist als dies ganze Geschlecht.«
Mengs
Aber Winckelmann hätte lange Zeit in den weiten Kreisen altertümlicher Überbleibsel nach den wertesten, seiner Betrachtung würdigsten Gegenständen umhergetastet, hätte das Glück ihn nicht sogleich mit Mengs zusammengebracht. Dieser, dessen eigenes großes Talent auf die alten und besonders die schönen Kunstwerke gerichtet war, machte seinen Freund sogleich mit dem Vorzüglichsten bekannt, was unserer Aufmerksamkeit wert ist. Hier lernte dieser die Schönheit der Formen und ihrer Behandlung kennen und sah sich sogleich aufgeregt, eine Schrift »Vom Geschmack der griechischen Künstler« zu unternehmen.
Wie man aber nicht lange mit Kunstwerken aufmerksam umgehen kann, ohne zu finden, daß sie nicht allein von verschiedenen Künstlern, sondern auch aus verschiedenen Zeiten herrühren und daß sämtliche Betrachtungen des Ortes, des Zeitalters, des individuellen Verdienstes zugleich angestellt werden müssen, also fand auch Winckelmann mit seinem Geradsinne, daß hier die Achse der ganzen Kunstkenntnis befestigt sei. Er hielt sich zuerst an das Höchste, das er in einer Abhandlung »Von dem Stile der Bildhauerei in den Zeiten des Phidias« darzustellen gedachte. Doch bald erhob er sich über die Einzelheiten zu der Idee einer Geschichte der Kunst und entdeckte, als ein neuer Kolumbus, ein lange geahndetes, gedeutetes und besprochenes, ja man kann sagen, ein früher schon gekanntes und wieder verlornes Land.
Traurig ist immer die Betrachtung, wie erst durch die Römer, nachher durch das Eindrängen nordischer Völker und durch die daraus entstandene Verwirrung das Menschengeschlecht in eine solche Lage gekommen, daß alle wahre, reine Bildung in ihren Fortschritten für lange Zeit gehindert, ja beinahe für alle Zukunft unmöglich gemacht worden.
Man mag in eine Kunst oder Wissenschaft hineinblicken, in welche man will, so hatte der gerade, richtige Sinn dem alten Beobachter schon manches entdeckt, was durch die folgende Barbarei und durch die barbarische Art, sich aus der Barbarei zu retten, ein Geheimnis ward, blieb und für die Menge noch lange ein Geheimnis bleiben wird, da die höhere Kultur der neuern Zeit nur langsam ins Allgemeine wirken kann.
Vom Technischen ist hier die Rede nicht, dessen sich glücklicherweise das Menschengeschlecht bedient, ohne zu fragen, woher es komme und wohin es führe.
Zu diesen Betrachtungen werden wir durch einige Stellen alter Autoren veranlaßt, wo sich schon Ahndungen, ja sogar Andeutungen einer möglichen und notwendigen Kunstgeschichte finden.
Vellejus Paterculus bemerkt mit großem Anteil das ähnliche Steigen und Fallen aller Künste. Ihn als Weltmann beschäftigte besonders die Betrachtung, daß sie sich nur kurze Zeit auf dem höchsten Punkte, den sie erreichen können, zu erhalten wissen. Auf seinem Standorte war es ihm nicht gegeben, die ganze Kunst als ein Lebendiges (Ζωον) anzusehen, das einen unmerklichen Ursprung, einen langsamen Wachstum, einen glänzenden Augenblick seiner Vollendung, eine stufenfällige Abnahme, wie jedes andre organische Wesen, nur in mehreren Individuen not wendig darstellen muß. Er gibt daher nur sittliche Ursachen an, die freilich als mitwirkend nicht ausgeschlossen werden können, seinem großen Scharfsinn aber nicht genugtun, weil er wohl fühlt, daß eine Notwendigkeit hier im Spiel ist, die sich aus freien Elementen nicht zusammensetzen läßt.
»Daß wie den Rednern es auch den Grammatikern, Malern und Bildhauern gegangen, wird jeder finden, der die Zeugnisse der Zeiten verfolgt; durchaus wird die Vortrefflichkeit der Kunst von dem engsten Zeitraume umschlossen. Warum nun mehrere, ähnliche, fähige Menschen sich in einem gewissen Jahreskreis zusammenziehen und sich zu gleicher Kunst und deren Beförderung versammeln, bedenke ich immer, ohne die Ursachen zu entdecken, die ich als wahr angeben möchte. Unter den wahrscheinlichen sind mir folgende die wichtigsten. Nacheiferung nährt die Talente, bald reizt der Neid, bald die Bewunderung zur Nachahmung, und schnell erhebt sich das mit so großem Fleiß Geförderte auf die höchste Stelle. Schwer verweilt sich’s im Vollkommenen, und was nicht vorwärts gehen kann, schreitet zurück. Und so sind wir anfangs unsern Vordermännern nachzukommen bemüht dann aber, wenn wir sie zu übertreffen oder zu erreichen verzweifeln, veraltet der Fleiß mit der Hoffnung, und was man nicht erlangen kann, verfolgt man nicht mehr, man strebt nicht mehr nach dem Besitz, den andre schon ergriffen, man späht nach etwas Neuem, und so lassen wir das, worin wir nicht glänzen könnten, fahren und suchen für unser Streben ein ander Ziel. Aus dieser Unbeständigkeit, wie mich dünkt, entsteht das größte Hindernis, vollkommene Werke hervorzubringen.«
Auch eine Stelle Quintilians, die einen bündigen Entwurf der alten Kunstgeschichte enthält, verdient als ein wichtiges Denkmal in diesem Fache ausgezeichnet zu werden.
Quintilian mag gleichfalls, bei Unterhaltung mit römischen Kunstliebhabern, eine auffallende Ähnlichkeit zwischen dem Charakter der griechischen bildenden Künstler mit dem der römischen Redner gefunden und sich bei Kennern und Kunstfreunden deshalb näher unterrichtet haben, so daß er bei seiner gleichnisweisen Aufstellung, da jedesmal der Kunstcharakter mit dem Zeitcharakter zusammenfällt, ohne es zu wissen oder zu wollen, eine Kunstgeschichte selbst darzustellen genötigt ist.
»Man sagt, die ersten berühmten Maler, deren Werke man nicht bloß des Altertums wegen besucht, seien Polygnot und Aglaophon. Ihr einfaches Kolorit findet noch eifrige Liebhaber, welche dergleichen rohe Arbeiten und Anfänge einer sich entwickelnden Kunst den größten Meistern der folgenden Zeit vorziehen, wie mich dünkt, nach einer eigenen Sinnesweise.
Nachher haben Zeuxis und Parrhasius, die nicht weit auseinander lebten, beide ungefähr um die Zeit des Peloponnesischen Kriegs, die Kunst sehr befördert. Der erste soll die Gesetze des Lichtes und Schattens erfunden, der andre aber sich auf genaue Untersuchung der Linien eingelassen haben. Ferner gab Zeuxis den Gliedern mehr Inhalt und machte sie völliger und ansehnlicher. Er folgte hierin, wie man glaubt, dem Homer, welchem die gewaltigste Form auch an den Weibern gefällt. Parrhasius aber bestimmte alles dergestalt, daß sie ihn den Gesetzgeber nennen, weil die Vorbilder von Göttern und Helden, wie er sie überliefert hat, von andern als nötigend befolgt und beibehalten werden.
So blühte die Malerei um die Zeit des Philippus bis zu den Nachfolgern Alexanders, aber in verschiedenen Talenten. Denn an Sorgfalt ist Protogenes, an Überlegung Pamphilus und Melanthius, an Leichtigkeit Antiphilus, an Erfindung seltsamer Erscheinungen, die man Phantasien nennt, Theon der Samier, an Geist und Anmut Apelles von niemanden übertroffen worden. Euphranorn bewundert man, daß er in Rücksicht der Kunsterfordernisse überhaupt unter die Besten gerechnet werden muß und zugleich in der Maler-und Bildhauerkunst vortrefflich war.
Denselben Unterschied findet man auch bei der Plastik. Denn Kalon und Hegesias haben härter und den Toskanern ähnlich gearbeitet, Kalamis weniger streng, noch weicher Myron.
Fleiß und Zierlichkeit besitzt Polyklet vor allen. Ihm wird von vielen der Preis zuerkannt; doch damit ihm etwas abgehe, meint man, ihm fehle das Gewicht. Denn wie er die menschliche Form zierlicher gemacht, als die Natur sie zeigt, so scheint er die Würde der Götter nicht völlig auszufüllen, ja er soll sogar das ernstere Alter vermieden und sich über glatte Wangen nicht hinausgewagt haben.
Was aber dem Polyklet abgeht, wird dem Phidias und Alkamenes zugestanden. Phidias soll Götter und Menschen am vollkommensten gebildet, besonders in Elfenbein seinen Nebenbuhler weit übertroffen haben. Also würde man urteilen, wenn er auch nichts als die Minerva zu Athen oder den Olympischen Jupiter in Elis gemacht hätte, dessen Schönheit der angenommenen Religion, wie man sagt, zustatten kam, so sehr hat die Majestät des Werks dem Gotte sich gleichgestellt.
Lysippus und Praxiteles sollen nach der allgemeinen Meinung sich der Wahrheit am besten genähert haben; Demetrius aber wird getadelt, daß er hierin zuviel getan; er hat die Ähnlichkeit der Schönheit vorgezogen.«
Literarisches Metier
Nicht leicht ist ein Mensch glücklich genug, für seine höhere Ausbildung von ganz uneigennützigen Gönnern die Hülfsmittel zu erlangen. Selbst wer das Beste zu wollen glaubt, kann nur das befördern, was er liebt und kennt, oder noch eher, was ihm nutzt. Und so war auch die literarisch-bibliographische Bildung dasjenige Verdienst, das Winckelmannen früher dem Grafen Bünau und später dem Kardinal Passionei empfahl.
Ein Bücherkenner ist überall willkommen, und er war es in jener Zeit noch mehr, als die Lust, merkwürdige und rare Bücher zu sammeln, lebendiger, das bibliothekarische Geschäft noch mehr in sich selbst beschränkt war. Eine große deutsche Bibliothek sah einer großen römischen ähnlich. Sie konnten miteinander im Besitz der Bücher wetteifern. Der Bibliothekar eines deutschen Grafen war für einen Kardinal ein erwünschter Hausgenosse und konnte sich auch da gleich wieder als zu Hause finden. Die Bibliotheken waren wirkliche Schatzkammern, anstatt daß man sie jetzt bei dem schnellen Fortschreiten der Wissenschaften, bei dem zweckmäßigen und zwecklosen Anhäufen der Druckschriften mehr als nützliche Vorratskammern und zugleich als unnütze Gerümpelkammern anzusehen hat, so daß ein Bibliothekar weit mehr als sonst sich von dem Gange der Wissenschaft, von dem Wert und Unwert der Schriften zu unterrichten Ursache hat und ein deutscher Bibliothekar Kenntnisse besitzen muß, die fürs Ausland verloren wären.
Aber nur kurze Zeit und nur so lange, als es nötig war, um sich einen mäßigen Lebensunterhalt zu verschaffen, blieb Winckelmann seiner eigentlichen literarischen Beschäftigung getreu, so wie er auch bald das Interesse an dem, was sich auf kritische Untersuchungen bezog, verlor, weder Handschriften vergleichen noch deutschen Gelehrten, die ihn über manches befragten, zur Rede stehen wollte.
Doch hatten ihm seine Kenntnisse schon früher zu einer vorteilhaften Einleitung gedient. Das Privatleben der Italiener überhaupt, besonders aber der Römer, hat aus mancherlei Ursachen etwas Geheimnisvolles. Dieses Geheimnis, diese Absonderung, wenn man will, erstreckte sich auch über die Literatur. Gar mancher Gelehrter widmete sein Leben im stillen einem bedeutenden Werke, ohne jemals damit erscheinen zu wollen oder zu können. Auch fanden sich häufiger als in irgendeinem Lande Männer, welche, bei mannigfaltigen Kenntnissen und Einsichten, sich schriftlich oder gar gedruckt mitzuteilen nicht zu bewegen waren. Zu solchen fand Winckelmann den Eintritt gar bald eröffnet. Er nennt unter ihnen vorzüglich Giacomelli und Baldani und erwähnt seiner zunehmenden Bekanntschaften, seines wachsenden Einflusses mit Vergnügen.
Kardinal Albani
Über alles förderte ihn das Glück, ein Hausgenosse des Kardinal Albani geworden zu sein. Dieser, der bei einem großen Vermögen und bedeutendem Einfluß von Jugend auf eine entschiedene Kunstliebhaberei, die beste Gelegenheit, sie zu befriedigen, und ein bis ans Wunderbare grenzendes Sammlerglück gehabt hatte, fand in späteren Jahren in dem Geschäft, diese Sammlung würdig aufzustellen und so mit jenen römischen Familien zu wetteifern, die früher auf den Wert solcher Schätze aufmerksam gewesen, sein höchstes Vergnügen, ja den dazu bestimmten Raum nach Art der Alten zu überfüllen, war sein Geschmack und seine Lust. Gebäude drängten sich an Gebäude, Saal an Saal, Halle zu Halle; Brunnen und Obelisken, Karyatiden und Basreliefe, Statuen und Gefäße fehlten weder im Hofnoch Gartenraum, indes große und kleinere Zimmer, Galerien und Kabinette die merkwürdigsten Monumente aller Zeiten enthielten.
Im Vorbeigehen gedachten wir, daß die Alten ihre Anlagen durchaus gleicherweise gefüllt. So überhäuften die Römer ihr Kapitol, daß es unmöglich scheint, alles habe darauf Platz gehabt. So war die Via sacra, das Forum, der Palatin überdrängt mit Gebäuden und Denkmälern, so daß die Einbildungskraft kaum noch eine Menschenmasse in diesen Räumen unterbringen könnte, wenn ihr nicht die Wirklichkeit ausgegrabener Städte zu Hülfe käme, wenn man nicht mit Augen sehen könnte, wie eng, wie klein, wie gleichsam nur als Modell zu Gebäuden ihre Gebäude angelegt sind. Diese Bemerkung gilt sogar von der Villa des Hadrian, bei deren Anlage Raum und Vermögen genug zum Großen vorhanden war.
In einem solchen überfüllten Zustande verließ Winckelmann die Villa seines Herrn und Freundes, den Ort seiner höhern und erfreulichsten Bildung. So stand sie auch lange noch nach dem Tode des Kardinals, zur Freude und Bewunderung der Welt, bis sie in der alles bewegenden und zerstreuenden Zeit ihres sämtlichen Schmuckes beraubt wurde. Die Statuen waren aus ihren Nischen und von ihren Stellen gehoben, die Basreliefe aus den Mauern herausgerissen und der ungeheure Vorrat zum Transport eingepackt. Durch den sonderbarsten Wechsel der Dinge führte man diese Schätze nur bis an die Tiber. In kurzer Zeit gab man sie dem Besitzer zurück, und der größte Teil, bis auf wenige Juwelen, befindet sich wieder an der alten Stelle. Jenes erste traurige Schicksal dieses Kunstelysiums und dessen Wiederherstellung durch eine abenteuerliche Wendung der Dinge hätte Winckelmann erleben können. Doch wohl ihm, daß er dem irdischen Leid sowie der zum Ersatz nicht immer hinreichenden Freude schon entwachsen war.
Glücksfälle
Aber auch manches äußere Glück begegnete ihm auf seinem Wege, nicht allein, daß in Rom das Aufgraben der Altertümer lebhaft und glücklich vonstatten ging, sondern es waren auch die Herkulanischen und Pompejischen Entdeckungen teils neu, teils durch Neid, Verheimlichung und Langsamkeit unbekannt geblieben, und so kam er in eine Ernte, die seinem Geiste und seiner Tätigkeit genugsam zu schaffen gab.
Traurig ist es, wenn man das Vorhandne als fertig und abgeschlossen ansehen muß. Rüstkammern, Galerien und Museen, zu denen nichts hinzugefügt wird, haben etwas Grab- und Gespensterartiges; man beschränkt seinen Sinn in einem so beschränkten Kunstkreis, man gewöhnt sich, solche Sammlungen als ein Ganzes anzusehen, anstatt daß man durch immer neuen Zuwachs erinnert werden sollte, daß in der Kunst, wie im Leben, kein Abgeschlossenes beharre, sondern ein Unendliches in Bewegung sei.
In einer so glücklichen Lage befand sich Winckelmann. Die Erde gab ihre Schätze her, und durch den immerfort regen Kunsthandel bewegten sich manche alte Besitzungen ans Tageslicht, gingen vor seinen Augen vorbei, ermunterten seine Neigung, erregten sein Urteil und vermehrten seine Kenntnisse.
Kein geringer Vorteil für ihn war sein Verhältnis zu dem Erben der großen Stoschischen Besitzungen. Erst nach dem Tode des Sammlers lernte er diese kleine Kunstwelt kennen und herrschte darin nach seiner Einsicht und Überzeugung. Freilich ging man nicht mit allen Teilen dieser äußerst schätzbaren Sammlung gleich vorsichtig um, wiewohl das Ganze einen Katalog, zur Freude und zum Nutzen nachfolgender Liebhaber und Sammler, verdient hätte. Manches ward verschleudert; doch um die treffliche Gemmensammlung bekannter und verkäuflicher zu machen, unternahm Winckelmann mit dem Erben Stosch die Fertigung eines Katalogs, von welchem Geschäft und dessen übereilter und doch immer geistreicher Behandlung uns die überbliebene Korrespondenz ein merkwürdiges Zeugnis ablegt.
Bei diesem auseinanderfallenden Kunstkörper, wie bei der sich immer vergrößernden und mehr vereinigenden Albanischen Sammlung, zeigte sich unser Freund geschäftig, und alles, was zum Sammeln oder Zerstreuen durch seine Hände ging, vermehrte den Schatz, den er in seinem Geiste angefangen hatte aufzustellen.
Unternommene Schriften
Schon als Winckelmann zuerst in Dresden der Kunst und den Künstlern sich näherte und in diesem Fach als Anfänger erschien, war er als Literator ein gemachter Mann. Er übersah die Vorzeit sowie die Wissenschaften in manchem Sinne. Er fühlte und kannte das Altertum sowie das Würdige der Gegenwart, des Lebens und des Charakters, selbst in seinem tiefgedrückten Zustande. Er hatte sich einen Stil gebildet. In der neuen Schule, die er betrat, horchte er nicht nur als ein gelehriger, sondern als ein gelehrter Jünger seinen Meistern zu, er horchte ihnen ihre bestimmten Kenntnisse leicht ab und fing sogleich an, alles zu nutzen und zu verbrauchen.
Auf einem höhern Schauplatze als zu Dresden, in einem höhern Sinne, der sich ihm geöffnet hatte, blieb er derselbige. Was er von Mengs vernahm, was die Umgebung ihm zurief, bewahrte er nicht etwa lange bei sich, ließ den frischen Most nicht etwa gären und klar werden, sondern, wie man sagt, daß man durch Lehren lerne, so lernte er im Entwerfen und Schreiben. Wie manchen Titel hat er uns hinterlassen, wie manche Gegenstände benannt, über die ein Werk erfolgen sollte, und diesem Anfang glich seine ganze antiquarische Laufbahn. Wir finden ihn immer in Tätigkeit, mit dem Augenblick beschäftigt, ihn dergestalt ergreifend und festhaltend, als wenn der Augenblick vollständig und befriedigend sein könnte, und ebenso ließ er sich wieder vom nächsten Augenblicke belehren. Diese Ansicht dient zu Würdigung seiner Werke.
Daß sie so, wie sie daliegen, erst als Manuskript auf das Papier gekommen und sodann später im Druck für die Folgezeit fixiert worden, hing von unendlich mannigfaltigen kleinen Umständen ab. Nur einen Monat später, so hätten wir ein anderes Werk, richtiger an Gehalt, bestimmter in der Form, vielleicht etwas ganz anderes. Und eben darum bedauern wir höchlich seinen frühzeitigen Tod, weil er sich immer wieder umgeschrieben und immer sein ferneres und neustes Leben in seine Schriften eingearbeitet hätte.
Und so ist alles, was er uns hinterlassen, als ein Lebendiges für die Lebendigen, nicht für die im Buchstaben Toten geschrieben. Seine Werke, verbunden mit seinen Briefen, sind eine Lebensdarstellung, sind ein Leben selbst. Sie sehen, wie das Leben der meisten Menschen, nur einer Vorbereitung, nicht einem Werke gleich. Sie veranlassen zu Hoffnungen, zu Wünschen, zu Ahndungen; wie man daran bessern will, so sieht man, daß man sich selbst zu bessern hätte; wie man sie tadeln will, so sieht man, daß man demselbigen Tadel, vielleicht auf einer höhern Stufe der Erkenntnis, selbst ausgesetzt sein möchte: denn Beschränkung ist überall unser Los.
Philosophie
Da bei dem Fortrücken der Kultur nicht alle Teile des menschlichen Wirkens und Umtreibens, an denen sich die Bildung offenbaret, in gleichem Wachstum gedeihen, vielmehr, nach günstiger Beschaffenheit der Personen und Umstände, einer dem andern voreilen und ein allgemeineres Interesse erregen muß, so entsteht daraus ein gewisses eifersüchtiges Mißvergnügen bei den Gliedern der so mannigfaltig verzweigten großen Familie, die sich oft um desto weniger vertragen, je näher sie verwandt sind.
Zwar ist es meistens eine leere Klage, wenn sich bald diese oder jene Kunst- und Wissenschaftsbeflissene beschweren, daß gerade ihr Fach von den Mitlebenden vernachlässigt werde: denn es darf nur ein tüchtiger Meister sich zeigen, so wird er die Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Raffael möchte nur immer heute wieder hervortreten, und wir wollten ihm ein Übermaß von Ehre und Reichtum zusichern. Ein tüchtiger Meister weckt brave Schüler, und ihre Tätigkeit ästet wieder ins unendliche.
Doch haben freilich von jeher die Philosophen besonders den Haß nicht allein ihrer Wissenschaftsverwandten, sondern auch der Welt- und Lebensmenschen auf sich gezogen, und vielleicht mehr durch ihre Lage als durch eigene Schuld. Denn da die Philosophie ihrer Natur nach an das Allgemeinste, an das Höchste Anfoderung macht, so muß sie die weltlichen Dinge als in ihr begriffen, als ihr untergeordnet ansehen und behandeln.
Auch verleugnet man ihr diese anmaßlichen Forderungen nicht ausdrücklich, vielmehr glaubt jeder ein Recht zu haben, an ihren Entdeckungen teilzunehmen, ihre Maximen zu nutzen und, was sie sonst reichen mag, zu verbrauchen. Da sie aber, um allgemein zu werden, sich eigener Worte, fremdartiger Kombinationen und seltsamer Einleitungen bedienen muß, die mit den besondern Zuständen der Weltbürger und mit ihren augenblicklichen Bedürfnissen nicht eben zusammenfallen, so wird sie von denen geschmäht, die nicht gerade die Handhabe finden können, wobei sie allenfalls noch anzufassen wäre.
Wollte man aber dagegen die Philosophen beschuldigen, daß sie selbst den Übergang zum Leben nicht sicher zu finden wissen, daß sie gerade da, wo sie ihre Überzeugung in Tat und Wirkung verwandeln wollen, die meisten Fehlgriffe tun und dadurch ihren Kredit vor der Welt selbst schmälern, so würde es hiezu an mancherlei Beispielen nicht fehlen.
Winckelmann beklagt sich bitter über die Philosophen seiner Zeit und über ihren ausgebreiteten Einfluß; aber mich dünkt, man kann einem jeden Einfluß aus dem Wege gehen, indem man sich in sein eigenes Fach zurückzieht.
Sonderbar ist es, daß Winckelmann die Leipziger Akademie nicht bezog, wo er unter Christs Anleitung, und ohne sich um einen Philosophen in der Welt zu bekümmern, sich in seinem Hauptstudium bequemer hätte ausbilden können.
Doch steht, indem uns die Ereignisse der neuern Zeit vorschweben, eine Bemerkung hier wohl am rechten Platze, die wir auf unserm Lebenswege machen können, daß kein Gelehrter ungestraft jene große philosophische Bewegung, die durch Kant begonnen, von sich abgewiesen, sich ihr widersetzt, sie verachtet habe, außer etwa die echten Altertumsforscher, welche durch die Eigenheit ihres Studiums vor allen andern Menschen vorzüglich begünstigt zu sein scheinen.
Denn indem sie sich nur mit dem Besten, was die Welt hervorgebracht hat, beschäftigen und das Geringe, ja das Schlechtere nur im Bezug auf jenes Vortreffliche betrachten, so erlangen ihre Kenntnisse eine solche Fülle, ihre Urteile eine solche Sicherheit, ihr Geschmack eine solche Konsistenz, daß sie innerhalb ihres eigenen Kreises bis zur Verwunderung, ja bis zum Erstaunen ausgebildet erscheinen.
Auch Winckelmann gelang dieses Glück, wobei ihm freilich die bildende Kunst und das Leben kräftig einwirkend zu Hülfe kamen.
Poesie
So sehr Winckelmann bei Lesung der alten Schriftsteller auch auf die Dichter Rücksicht genommen, so finden wir doch, bei genauer Betrachtung seiner Studien und seines Lebensganges, keine eigentliche Neigung zur Poesie, ja man könnte eher sagen, daß hie und da eine Abneigung hervorblicke; wie denn seine Vorliebe für alte gewohnte Luthersche Kirchenlieder und sein Verlangen, ein solches unverfälschtes Gesangbuch selbst in Rom zu besitzen, wohl von einem tüchtigen, wackern Deutschen, aber nicht eben von einem Freunde der Dichtkunst zeuget.
Die Poeten der Vorzeit schienen ihn früher als Dokumente der alten Sprachen und Literaturen, später als Zeugnisse für bildende Kunst interessiert zu haben. Desto wunderbarer und erfreulicher ist es, wenn er selbst als Poet auftritt, und zwar als ein tüchtiger, unverkennbarer in seinen Beschreibungen der Statuen, ja beinahe durchaus in seinen spätern Schriften. Er sieht mit den Augen, er faßt mit dem Sinn unaussprechliche Werke, und doch fühlt er den unwiderstehlichen Drang, mit Worten und Buchstaben ihnen beizukommen. Das vollendete Herrliche, die Idee, woraus diese Gestalt entsprang, das Gefühl, das in ihm beim Schauen erregt ward, soll dem Hörer, dem Leser mitgeteilt werden, und indem er nun die ganze Rüstkammer seiner Fähigkeiten mustert, sieht er sich genötigt, nach dem Kräftigsten und Würdigsten zu greifen, was ihm zu Gebote steht. Er muß Poet sein, er mag daran denken, er mag wollen oder nicht.
Erlangte Einsicht
So sehr Winckelmann überhaupt auf ein gewisses Ansehn vor der Welt achtete, so sehr er sich einen literarischen Ruhm wünschte, so gut er seine Werke auszustatten und sie durch einen gewissen feierlichen Stil zu erheben suchte, so war er doch keinesweges blind gegen ihre Mängel, die er vielmehr auf das schnellste bemerkte, wie sich’s bei seiner fortschreitenden, immer neue Gegenstände fassenden und bearbeitenden Natur notwendig ereignen mußte. Je mehr er nun in irgendeinem Aufsatze dogmatisch und didaktisch zu Werke gegangen war, diese oder jene Erklärung eines Monuments, diese oder jene Auslegung und Anwendung einer Stelle behauptet und festgesetzt hatte, desto auffallender war ihm der Irrtum, sobald er durch neue Data sich davon überzeugt hielt, desto schneller war er geneigt, ihn auf irgendeine Weise zu verbessern.
Hatte er das Manuskript noch in der Hand, so ward es umgeschrieben; war es zum Druck abgesendet, so wurden Verbesserungen und Nachträge hinterdrein geschickt, und von allen diesen Reuschritten machte er seinen Freunden kein Geheimnis: denn auf Wahrheit, Geradheit, Derbheit und Redlichkeit stand sein ganzes Wesen gegründet.
Spätere Werke
Ein glücklicher Gedanke ward ihm, zwar auch nicht auf einmal, sondern nur durch die Tat selbst klar, das Unternehmen seiner »Monumenti inediti«.
Man sieht wohl, daß jene Lust, neue Gegenstände bekanntzumachen, sie auf eine glückliche Weise zu erklären, die Altertumskunde in so großem Maße zu erweitern, ihn zuerst angelockt habe; dann tritt das Interesse hinzu, die von ihm in der Kunstgeschichte einmal aufgestellte Methode auch hier an Gegenständen, die er dem Leser vor Augen legt, zu prüfen, da denn zuletzt der glückliche Vorsatz sich entwickelte, in der vorausgeschickten Abhandlung das Werk über die Kunstgeschichte, das ihm schon im Rücken lag, stillschweigend zu verbessern, zu reinigen, zusammenzudrängen und vielleicht sogar teilweise aufzuheben.
Im Bewußtsein früherer Mißgriffe, über die ihn der Nicht-Römer kaum zurechtweisen durfte, schrieb er ein Werk in italienischer Sprache, das auch in Rom gelten sollte. Nicht allein befleißigt er sich dabei der größten Aufmerksamkeit, sondern wählt sich auch freundschaftliche Kenner, mit denen er die Arbeit genau durchgeht, sich ihrer Einsicht, ihres Urteils auf das klügste bedient und so ein Werk zustande bringt, das als Vermächtnis auf alle Zeiten übergehen wird. Und er schreibt es nicht allein, er besorgt es, unternimmt es und leistet als ein armer Privatmann das, was einem wohlgegründeten Verleger, was akademischen Kräften Ehre machen würde.
Papst
Sollte man so viel von Rom sprechen, ohne des Papstes zu gedenken, der doch Winckelmannen wenigstens mittelbar manches Gute zufließen lassen!
Winckelmanns Aufenthalt in Rom fiel zum größten Teil unter die Regierung Benedikt des XIV. Lambertini, der als ein heiterer, behaglicher Mann lieber regieren ließ als regierte; und so mögen auch die verschiedenen Stellen, welche Winckelmann bekleidete, ihm durch die Gunst seiner hohen Freunde mehr als durch die Einsicht des Papstes in seine Verdienste geworden sein.
Doch finden wir ihn einmal auf eine bedeutende Weise in der Gegenwart des Hauptes der Kirche; ihm wird die besondre Auszeichnung, dem Papste aus den »Monumenti inediti« einige Stellen vorlesen zu dürfen, und er gelangt auch von dieser Seite zur höchsten Ehre, die einem Schriftsteller werden kann.
Charakter
Wenn bei sehr vielen Menschen, besonders aber bei Gelehrten, dasjenige, was sie leisten, als die Hauptsache erscheint und der Charakter sich dabei wenig äußert, so tritt im Gegenteil bei Winckelmann der Fall ein, daß alles dasjenige, was er hervorbringt, hauptsächlich deswegen merkwürdig und schätzenswert ist, weil sein Charakter sich immer dabei offenbart. Haben wir schon unter der Aufschrift vom Antiken und Heidnischen, vom Schönheits- und Freundschaftssinne einiges Allgemeine zum Anfang ausgesprochen, so wird das mehr Besondere hier gegen das Ende wohl seinen Platz verdienen.
Winckelmann war durchaus eine Natur, die es redlich mit sich selbst und mit andern meinte; seine angeborne Wahrheitsliebe entfaltete sich immer mehr und mehr, je selbständiger und unabhängiger er sich fühlte, so daß er sich zuletzt die höfliche Nachsicht gegen Irrtümer, die im Leben und in der Literatur so sehr hergebracht ist, zum Verbrechen machte.
Eine solche Natur konnte wohl mit Behaglichkeit in sich selbst zurückkehren, doch finden wir auch hier jene altertümliche Eigenheit, daß er sich immer mit sich selbst beschäftigte, ohne sich eigentlich zu beobachten. Er denkt nur an sich, nicht über sich, ihm liegt im Sinne, was er vorhat, er interessiert sich für sein ganzes Wesen, für den ganzen Umfang seines Wesens, und hat das Zutrauen, daß seine Freunde sich auch dafür interessieren werden. Wir finden daher in seinen Briefen vom höchsten moralischen bis zum gemeinsten physischen Bedürfnis alles erwähnt, ja er spricht es aus, daß er sich von persönlichen Kleinigkeiten lieber als von wichtigen Dingen unterhalte. Dabei bleibt er sich durchaus ein Rätsel und erstaunt manchmal über seine eigene Erscheinung, besonders in Betrachtung dessen, was er war und was er geworden ist. Doch so kann man überhaupt jeden Menschen als eine vielsilbige Scharade ansehen, wovon er selbst nur wenige Silben zusammenbuchstabiert, indessen andre leicht das ganze Wort entziffern.
Auch finden wir bei ihm keine ausgesprochenen Grundsätze; sein richtiges Gefühl, sein gebildeter Geist dienen ihm im Sittlichen wie im Ästhetischen zum Leitfaden. Ihm schwebt eine Art natürlicher Religion vor, wobei jedoch Gott als Urquell des Schönen und kaum als ein auf den Menschen sonst bezügliches Wesen erscheint. Sehr schön beträgt sich Winckelmann innerhalb der Grenzen der Pflicht und Dankbarkeit.
Seine Vorsorge für sich selbst ist mäßig, ja nicht durch alle Zeiten gleich. Indessen arbeitet er aufs fleißigste, sich eine Existenz aufs Alter zu sichern. Seine Mittel sind edel; er zeigt sich selbst auf dem Wege zu jedem Zweck redlich, gerade, sogar trotzig und dabei klug und beharrlich. Er arbeitet nie planmäßig, immer aus Instinkt und mit Leidenschaft. Seine Freude an jedem Gefundenen ist heftig, daher Irrtümer unvermeidlich, die er jedoch bei lebhaftem Vorschreiten ebenso geschwind zurücknimmt als einsieht. Auch hier bewährt sich durchaus jene antike Anlage, die Sicherheit des Punktes, von dem man ausgeht, die Unsicherheit des Zieles, wohin man gelangen will, sowie die Unvollständigkeit und Unvollkommenheit der Behandlung, sobald sie eine ansehnliche Breite gewinnt.
Gesellschaft
Wenn er sich, durch seine frühere Lebensart wenig vorbereitet, in der Gesellschaft anfangs nicht ganz bequem befand, so trat ein Gefühl von Würde bald an die Stelle der Erziehung und Gewohnheit, und er lernte sehr schnell sich den Umständen gemäß betragen. Die Lust am Umgang mit vornehmen, reichen und berühmten Leuten, die Freude, von ihnen geschätzt zu werden, dringt überall durch, und in Absicht auf die Leichtigkeit des Umgangs hätte er sich in keinem bessern Elemente als in dem römischen befinden können.
Er bemerkt selbst, daß die dortigen, besonders geistlichen Großen, so zeremoniös sie nach außen erscheinen, doch nach innen gegen ihre Hausgenossen bequem und vertraulich leben; allein er bemerkte nicht, daß hinter dieser Vertraulichkeit sich doch das orientalische Verhältnis des Herrn zum Knechte verbirgt. Alle südlichen Nationen würden eine unendliche Langeweile finden, wenn sie gegen die Ihrigen sich in der fortdauernden wechselseitigen Spannung erhalten sollten, wie es die Nordländer gewohnt sind. Reisende haben bemerkt, daß die Sklaven sich gegen ihre türkischen Herren mit weit mehr Aisance betragen, als nordische Hofleute gegen ihre Fürsten, und bei uns Untergebene gegen ihre Vorgesetzten; allein wenn man es genau betrachtet, so sind diese Achtungsbezeigungen eigentlich zugunsten der Untergebenen eingeführt, die dadurch ihren Obern immer erinnern, was er ihnen schuldig ist.
Der Südländer aber will Zeiten haben, wo er sich gehn läßt, und diese kommen seiner Umgebung zugut. Dergleichen Szenen schildert Winckelmann mit großem Behagen, sie erleichtern ihm seine übrige Abhängigkeit und nähren seinen Freiheitssinn, der mit Scheu auf jede Fessel hinsieht, die ihn allenfalls bedrohen könnte.
Fremde
Wenn Winckelmann durch den Umgang mit Einheimischen sehr glücklich ward, so erlebte er desto mehr Pein und Not von Fremden. Es ist wahr, nichts kann schrecklicher sein als der gewöhnliche Fremde in Rom. An jedem andern Orte kann sich der Reisende eher selbst suchen und auch etwas ihm Gemäßes finden; wer sich aber nicht nach Rom bequemt, ist den wahrhaft römisch Gesinnten ein Greuel.
Man wirft den Engländern vor, daß sie ihren Teekessel überall mitführen und sogar bis auf den Ätna hinaufschleppen; aber hat nicht jede Nation ihren Teekessel, worin sie, selbst auf Reisen, ihre von Hause mitgebrachten getrockneten Kräuterbündel aufbraut?
Solche nach ihrem engen Maßstab urteilende, nicht um sich her sehende, vorübereilende, anmaßliche Fremde verwünscht Winckelmann mehr als einmal, verschwört, sie nicht mehr herumzuführen, und läßt sich zuletzt doch wieder bewegen. Er scherzt über seine Neigung zum Schulmeistern, zu unterrichten, zu überzeugen, da ihm denn auch wieder in der Gegenwart durch Stand und Verdienste bedeutender Personen gar manches Gute zuwächst. Wir nennen hier nur den Fürsten von Dessau, die Erbprinzen von Mecklenburg-Strelitz und Braunschweig sowie den Baron von Riedesel, einen Mann, der sich in der Sinnesart gegen Kunst und Altertum ganz unseres Freundes würdig erzeigte.
Welt
Wir finden bei Winckelmann das unnachlassende Streben nach Ästimation und Konsideration; aber er wünscht sie durch etwas Reelles zu erlangen. Durchaus dringt er auf das Reale der Gegenstände, der Mittel und der Behandlung; daher hat er eine so große Feindschaft gegen den französischen Schein.
So wie er in Rom Gelegenheit gefunden hatte, mit Fremden aller Nationen umzugehen, so erhielt er auch solche Konnexionen auf eine geschickte und tätige Weise. Die Ehrenbezeigungen von Akademien und gelehrten Gesellschaften waren ihm angenehm, ja er bemühte sich darum.
Am meisten aber förderte ihn das im stillen mit großem Fleiß ausgearbeitete Dokument seines Verdienstes, ich meine die »Geschichte der Kunst«. Sie ward sogleich ins Französische übersetzt und er dadurch weit und breit bekannt.
Das, was ein solches Werk leistet, wird vielleicht am besten in den ersten Augenblicken anerkannt, das Wirksame desselben wird empfunden, das Neue lebhaft aufgenommen, die Menschen erstaunen, wie sie auf einmal gefördert werden; dahingegen eine kältere Nachkommenschaft mit eklem Zahn an den Werken ihrer Meister und Lehrer herumkostet und Forderungen aufstellt, die ihr gar nicht eingefallen wären, hätten jene nicht so viel geleistet, von denen man nun noch mehr fordert.
Und so war Winckelmann den gebildeten Nationen Europens bekannt geworden, in einem Augenblicke, da man ihm in Rom genugsam vertraute, um ihn mit der nicht unbedeutenden Stelle eines Präsidenten der Altertümer zu beehren.
Unruhe
Ungeachtet jener anerkannten und von ihm selbst öfters gerühmten Glückseligkeit war er doch immer von einer Unruhe gepeinigt, die, indem sie tief in seinem Charakter lag, gar mancherlei Gestalten annahm.
Er hatte sich früher kümmerlich beholfen, später von der Gnade des Hofs, von der Gunst manches Wohlwollenden gelebt, wobei er sich immer auf das geringste Bedürfnis einschränkte, um nicht abhängig oder abhängiger zu werden. Indessen war er auch auf das tüchtigste bemüht, sich für die Gegenwart, für die Zukunft aus eigenen Kräften einen Unterhalt zu verschaffen, wozu ihm endlich die gelungene Ausgabe seines Kupferwerks die schönste Hoffnung gab.
Allein jener ungewisse Zustand hatte ihn gewöhnt, wegen seiner Subsistenz bald hierhin, bald dorthin zu sehen, bald sich mit geringen Vorteilen im Hause eines Kardinals, in der Vaticana und sonst unterzutun, bald aber, wenn er wieder eine andre Aussicht vor sich sah, großmütig seinen Platz aufzugeben, indessen sich doch wieder nach andern Stellen umzusehen und manchen Anträgen ein Gehör zu leihen.
Sodann ist einer, der in Rom wohnt, der Reiselust nach allen Weltgegenden ausgesetzt. Er sieht sich im Mittelpunkt der Alten Welt und die für den Altertumsforscher interessantesten Länder nah um sich her, Großgriechenland und Sizilien, Dalmatien, der Peloponnes, Ionien und Ägypten, alles wird den Bewohnern Roms gleichsam angeboten und erregt in einem, der wie Winckelmann mit Begierde des Schauens geboren ist, von Zeit zu Zeit ein unsägliches Verlangen, welches durch so viele Fremde noch vermehrt wird, die auf ihren Durchzügen bald vernünftig, bald zwecklos jene Länder zu bereisen Anstalt machen, bald, indem sie zurückkehren, von den Wundern der Ferne zu erzählen und aufzuzeigen nicht müde werden.
So will denn unser Winckelmann auch überall hin, teils aus eigenen Kräften, teils in Gesellschaft solcher wohlhabender Reisenden, die den Wert eines unterrichteten, talentvollen Gefährten mehr oder weniger zu schätzen wissen.
Noch eine Ursache dieser innern Unruhe und Unbehaglichkeit macht seinem Herzen Ehre, es ist das unwiderstehliche Verlangen nach abwesenden Freunden. Hier scheint sich die Sehnsucht des Mannes, der sonst so sehr von der Gegenwart lebte, ganz eigentlich konzentriert zu haben. Er sieht sie vor sich, er unterhält sich mit ihnen durch Briefe, er sehnt sich nach ihrer Umarmung und wünscht die früher zusammen verlebten Tage zu wiederholen.
Diese besonders nach Norden gerichteten Wünsche hatte der Friede aufs neue belebt. Sich dem großen König darzustellen, der ihn schon früher eines Antrags seiner Dienste gewürdigt, war sein Stolz; den Fürsten von Dessau wiederzusehen, dessen hohe, ruhige Natur er als von Gott auf die Erde gesandt betrachtete, den Herzog von Braunschweig, dessen große Eigenschaften er zu würdigen wußte, zu verehren, den Minister von Münchhausen, der so viel für die Wissenschaften tat, persönlich zu preisen, dessen unsterbliche Schöpfung in Göttingen zu bewundern, sich mit seinen Schweizer Freunden wieder einmal lebhaft und vertraulich zu freuen, solche Lockungen tönten in seinem Herzen, in seiner Einbildungskraft wider, mit solchen Bildern hatte er sich lange beschäftigt, lange gespielt, bis er zuletzt unglücklicherweise diesem Trieb gelegentlich folgt und so in seinen Tod geht.
Schon war er mit Leib und Seele dem italienischen Zustand gewidmet, jeder andere schien ihm unerträglich, und wenn ihn der frühere Hineinweg durch das bergichte und felsichte Tirol interessiert, ja entzückt hatte, so fühlte er sich auf dem Rückwege in sein Vaterland wie durch eine kimmerische Pforte hindurchgeschleppt, beängstet und mit der Unmöglichkeit, seinen Weg fortzusetzen, behaftet.
Hingang
So war er denn auf der höchsten Stufe des Glücks, das er sich nur hätte wünschen dürfen, der Welt verschwunden. Ihn erwartete sein Vaterland, ihm streckten seine Freunde die Arme entgegen, alle Äußerungen der Liebe, deren er so sehr bedurfte, alle Zeugnisse der öffentlichen Achtung, auf die er so viel Wert legte, warteten seiner Erscheinung, um ihn zu überhäufen. Und in diesem Sinne dürfen wir ihn wohl glücklich preisen, daß er von dem Gipfel des menschlichen Daseins zu den Seligen emporgestiegen, daß ein kurzer Schrecken, ein schneller Schmerz ihn von den Lebendigen hinweggenommen. Die Gebrechen des Alters, die Abnahme der Geisteskräfte hat er nicht empfunden, die Zerstreuung der Kunstschätze, die er, obgleich in einem andern Sinne, vorausgesagt, ist nicht vor seinen Augen geschehen, er hat als Mann gelebt und ist als ein vollständiger Mann von hinnen gegangen. Nun genießt er im Andenken der Nachwelt den Vorteil, als ein ewig Tüchtiger und Kräftiger zu erscheinen: denn in der Gestalt, wie der Mensch die Erde verläßt, wandelt er unter den Schatten, und so bleibt uns Achill als ewig strebender Jüngling gegenwärtig. Daß Winckelmann früh hinwegschied, kommt auch uns zugute. Von seinem Grabe her stärkt uns der Anhauch seiner Kraft und erregt in uns den lebhaftesten Drang, das, was er begonnen, mit Eifer und Liebe fort- und immer fortzusetzen.
Alemannische Gedichte
Für Freunde ländlicher Natur und Sitten,
von J. P. Hebel, Professor zu Karlsruhe.
Karlsruhe, bei Macklot. Zweite Auflage 1804.
VIII und 232 S. 8°
Der Verfasser dieser Gedichte, die in einem oberdeutschen Dialekt geschrieben sind, ist im Begriff, sich einen eignen Platz auf dem deutschen Parnaß zu erwerben. Sein Talent neigt sich gegen zwei entgegengesetzte Seiten. An der einen beobachtet er mit frischem, frohem Blick die Gegenstände der Natur, die in einem festen Dasein, Wachstum und Bewegung ihr Leben aussprechen und die wir gewöhnlich leblos zu nennen pflegen, und nähert sich der beschreibenden Poesie; doch weiß er durch glückliche Personifikationen seine Darstellung auf eine höhere Stufe der Kunst heraufzuheben. An der andern Seite neigt er sich zum Sittlich-Didaktischen und zum Allegorischen; aber auch hier kommt ihm jene Personifikation zu Hülfe, und wie er dort für seine Körper einen Geist fand, so findet er hier für seine Geister einen Körper. Dies gelingt ihm nicht durchaus; aber wo es ihm gelingt, sind seine Arbeiten vortrefflich, und nach unserer Überzeugung verdient der größte Teil dieses Lob.
Wenn antike oder andere durch plastischen Kunstgeschmack gebildete Dichter das sogenannte Leblose durch idealische Figuren beleben und höhere, göttergleiche Naturen, als Nymphen, Dryaden und Hamadryaden, an die Stelle der Felsen, Quellen, Bäume setzen, so verwandelt der Verfasser diese Naturgegenstände zu Landleuten und verbauert auf die naivste, anmutigste Weise durchaus das Universum; so daß die Landschaft, in der man denn doch den Landmann immer erblickt, mit ihm in unserer erhöhten und erheiterten Phantasie nur eins auszumachen scheint.
Das Lokal ist dem Dichter äußerst günstig. Er hält sich besonders in dem Landwinkel auf, den der bei Basel gegen Norden sich wendende Rhein macht. Heiterkeit des Himmels, Fruchtbarkeit der Erde, Mannigfaltigkeit der Gegend, Lebendigkeit des Wassers, Behaglichkeit der Menschen, Geschwätzigkeit und Darstellungsgabe, zudringliche Gesprächsformen, neckische Sprachweise, so viel steht ihm zu Gebot, um das, was ihm sein Talent eingibt, auszuführen.
Gleich das erste Gedicht enthält einen sehr artigen Anthropomorphism. Ein kleiner Fluß, »die Wiese« genannt, auf dem Feldberg im Östreichischen entspringend, ist als ein immer fortschreitendes und wachsendes Bauermädchen vorgestellt, das, nachdem es eine sehr bedeutende Berggegend durchlaufen hat, endlich in die Ebene kommt und sich zuletzt mit dem Rhein vermählt. Das Detail dieser Wanderung ist außerordentlich artig, geistreich und mannigfaltig und mit vollkommener, sich selbst immer erhöhender Stetigkeit ausgeführt.
Wenden wir von der Erde unser Auge an den Himmel, so finden wir die großen leuchtenden Körper auch als gute, wohlmeinende, ehrliche Landleute. Die Sonne ruht hinter ihren Fensterläden; der Mond, ihr Mann, kommt forschend herauf, ob sie wohl schon zur Ruhe sei, daß er noch eins trinken könne; ihr Sohn, der Morgenstern, steht früher auf als die Mutter, um sein Liebchen aufzusuchen.
Hat unser Dichter auf Erden seine Liebesleute vorzustellen, so weiß er etwas Abenteuerliches drein zu mischen, wie im »Hexlein«, etwas Romantisches, wie im »Bettler«.
Dann sind sie auch wohl einmal recht freudig beisammen, wie in »Hans und Verene«.
Sehr gern verweilt er bei Gewerb und häuslicher Beschäftigung. »Der zufriedene Landmann«, »Der Schmelzofen«, »Der Schreinergesell« stellen mehr oder weniger eine derbe Wirklichkeit mit heiterer Laune dar. »Die Marktweiber in der Stadt« sind am wenigsten geglückt, da sie beim Ausgebot ihrer ländlichen Ware den Städtern gar zu ernstlich den Text lesen. Wir ersuchen den Verfasser, diesen Gegenstand nochmals vorzunehmen und einer wahrhaft naiven Poesie zu vindizieren.
Jahres- und Tageszeiten gelingen dem Verfasser besonders. Hier kommt ihm zugute, daß er ein vorzügliches Talent hat, die Eigentümlichkeiten der Zustände zu fassen und zu schildern. Nicht allein das Sichtbare daran, sondern das Hörbare, Riechbare, Greifbare und die aus allen sinnlichen Eindrücken zu sammen entspringende Empfindung weiß er sich zuzueignen und wiederzugeben. Dergleichen sind: »Der Winter«, »Der Jänner«, »Der Sommerabend«, vorzüglich aber »Sonntagsfrühe«, ein Gedicht, das zu den besten gehört, die jemals in dieser Art gemacht worden.
Eine gleiche Nähe fühlt der Verfasser zu Pflanzen, zu Tieren. Der Wachstum des Hafers, bei Gelegenheit eines »Habermuses« von einer Mutter ihren Kindern erzählt, ist vortrefflich idyllisch ausgeführt. Den »Storch« wünschten wir vom Verfasser nochmals behandelt und bloß die friedlichen Motive in das Gedicht aufgenommen. »Die Spinne« und »Der Käfer« dagegen sind Stücke, deren schöne Anlage und Ausführung man bewundern muß.
Deutet nun der Verfasser in allen genannten Gedichten immer auf Sittlichkeit hin, ist Fleiß, Tätigkeit, Ordnung, Mäßigkeit, Zufriedenheit überall das Wünschenswerte, was die ganze Natur ausspricht, so gibt es noch andere Gedichte, die zwar direkter, aber doch mit großer Anmut der Erfindung und Ausführung, auf eine heitere Weise vom Unsittlichen ab-und zum Sittlichen hinleiten sollen. Dahin rechnen wir den »Wegweiser«, den »Mann im Mond«, »Die Irrlichter«, das »Gespenst an der Kanderer Straße«, von welchem letzten man besonders auch sagen kann, daß in seiner Art nichts Besseres gedacht noch gemacht worden ist.
Das Verhältnis von Eltern zu Kindern wird auch von dem Dichter öfters benutzt, um zum Guten und Rechten zärtlicher und dringender hinzuleiten. Hieher gehören »Die Mutter am Christabend«, »Eine Frage«, »Noch eine Frage«.
Hat uns nun dergestalt der Dichter mit Heiterkeit durch das Leben geführt, so spricht er nun auch durch die Organe der Bauern und Nachtwächter die höheren Gefühle von Tod, Vergänglichkeit des Irdischen, Dauer des Himmlischen, vom Leben jenseits mit Ernst, ja melancholisch aus. »Auf einem Grabe«, »Wächterruf«, »Der Wächter in der Mitternacht«, »Die Vergänglichkeit« sind Gedichte, in denen der dämmernde, dunkle Zustand glücklich dargestellt wird. Hier scheint die Würde des Gegenstandes den Dichter manchmal aus dem Kreise der Volkspoesie in eine andere Region zu verleiten. Doch sind die Gegenstände, die realen Umgebungen durchaus so schön benutzt, daß man sich immer wieder in den einmal beschriebenen Kreis zurückgezogen fühlt.
Überhaupt hat der Verfasser den Charakter der Volkspoesie darin sehr gut getroffen, daß er durchaus, zarter oder derber, die Nutzanwendung ausspricht. Wenn der höher Gebildete von dem ganzen Kunstwerke die Einwirkung auf sein inneres Ganze erfahren und so in einem höheren Sinne erbaut sein will, so verlangen Menschen auf einer niederen Stufe der Kultur die Nutzanwendung von jedem Einzelnen, um es auch sogleich zum Hausgebrauch benutzen zu können. Der Verfasser hat nach unserem Gefühl das »fabula docet« meist sehr glücklich und mit viel Geschmack angebracht, so daß, indem der Charakter einer Volkspoesie ausgesprochen wird, der ästhetisch Genießende sich nicht verletzt fühlt.
Die höhere Gottheit bleibt bei ihm im Hintergrund der Sterne, und was positive Religion betrifft, so müssen wir gestehen, daß es uns sehr behaglich war, durch ein erzkatholisches Land zu wandern, ohne der Jungfrau Maria und den blutenden Wunden des Heilands auf jedem Schritte zu begegnen. Von Engeln macht der Dichter einen allerliebsten Gebrauch, indem er sie an Menschengeschick und Naturerscheinungen anschließt.
Hat nun der Dichter in den bisher erwähnten Stücken durchaus einen glücklichen Blick ins Wirkliche bewährt, so hat er, wie man bald bemerkt, die Hauptmotive der Volksgesinnung und Volkssagen sehr wohl aufzufassen verstanden. Diese schätzenswerte Eigenschaft zeigt sich vorzüglich in zwei Volksmärchen, die er idyllenartig behandelt.
Die erste, »Der Karfunkel«, eine gespensterhafte Sage, stellt einen liederlichen, besonders dem Kartenspiel ergebenen Bauernsohn dar, der unaufhaltsam dem Bösen ins Garn läuft, erst die Seinigen, dann sich zugrunde richtet. Die Fabel mit der ganzen Folge der aus ihr entspringenden Motive ist vortrefflich, und ebenso die Behandlung.
Ein Gleiches kann man von der zweiten, »Der Statthalter von Schopfheim«, sagen. Sie beginnt ernst und ahnungsvoll, fast ließe sich ein tragisches Ende vermuten; allein sie zieht sich sehr geschickt einem glücklichen Ausgang zu. Eigentlich ist es die Geschichte von David und Abigail, in moderne Bauertracht nicht parodiert, sondern verkörpert.
Beide Gedichte, idyllenartig behandelt, bringen ihre Geschichte als von Bauern erzählt dem Hörer entgegen und gewinnen dadurch sehr viel, indem die wackern naiven Erzähler, durch lebhafte Prosopopöien und unmittelbaren Anteil als an etwas Gegenwärtigem, die Lebendigkeit des Vorgetragenen zu erhöhen an der Art haben.
Allen diesen innern guten Eigenschaften kommt die behagliche naive Sprache sehr zustatten. Man findet mehrere sinnlich bedeutende und wohlklingende Worte, teils jenen Gegenden selbst angehörig, teils aus dem Französischen und Italienischen herübergenommen, Worte von einem, von zwei Buchstaben, Abbreviationen, Kontraktionen, viele kurze, leichte Silben, neue Reime, welches, mehr als man glaubt, ein Vorteil für den Dichter ist. Diese Elemente werden durch glückliche Konstruktionen und lebhafte Formen zu einem Stil zusammengedrängt, der zu diesem Zwecke vor unserer Büchersprache große Vorzüge hat.
Möge es doch dem Verfasser gefallen, auf diesem Wege fortzufahren, dabei unsere Erinnerungen über das innere Wesen der Dichtung vielleicht zu beherzigen und auch dem äußeren technischen Teil, besonders seinen reimfreien Versen, noch einige Aufmerksamkeit zu schenken, damit sie immer vollkommener und der Nation angenehmer werden mögen! Denn sosehr zu wünschen ist, daß uns der ganze deutsche Sprachschatz durch ein allgemeines Wörterbuch möge vorgelegt werden, so ist doch die praktische Mitteilung durch Gedichte und Schrift sehr viel schneller und lebendig eingreifender.
Vielleicht könnte man sogar dem Verfasser zu bedenken geben, daß, wie es für eine Nation ein Hauptschritt zur Kultur ist, wenn sie fremde Werke in ihre Sprache übersetzt, es ebenso ein Schritt zur Kultur der einzelnen Provinz sein muß, wenn man ihr Werke derselben Nation in ihrem eigenen Dialekt zu lesen gibt. Versuche doch der Verfasser, aus dem sogenannten Hochdeutschen schickliche Gedichte in seinen oberrheinischen Dialekt zu übersetzen. Haben doch die Italiener ihren Tasso in mehrere Dialekte übersetzt.
Nachdem wir nun die Zufriedenheit, die uns diese kleine Sammlung gewährt, nicht verbergen können, so wünschen wir nur auch, daß jenes Hindernis einer für das mittlere und niedere Deutschland seltsamen Sprech- und Schreibart einigermaßen gehoben werden möge, um der ganzen Nation diesen erfreulichen Genuß zu verschaffen. Dazu gibt es verschiedene Mittel, teils durch Vorlesen, teils durch Annäherung an die gewohnte Schreib- und Sprechweise, wenn jemand von Geschmack das, was ihm aus der Sammlung am besten gefällt, für seinen Kreis umzuschreiben unternimmt, eine kleine Mühe, die in jeder Sozietät großen Gewinn bringen wird. Wir fügen ein Musterstück unserer Anzeige bei und empfehlen nochmals angelegentlich dieses Bändchen allen Freunden des Guten und Schönen.
Sonntagsfrühe
Der Samstig het zum Sunntig gseit:
»Jez hani alli schlofe gleit;
sie sin vom Schaffe her und hi
gar sölli müed und schlöfrig gsi,
und’s gohtmer schier gar selber so,
i cha fast uf ke Bei meh stoh.«
So seit er, und wo’s zwölfi schlacht,
se sinkt er aben in d’ Mitternacht.
Der Sunntig seit: »Jez isch’s an mir!«
Gar still und heimli bschließt er d’ Tür;
er düselet hinter de Sterne no,
und cha schier gar nit obsi cho.
Doch endli ribt er d’ Augen us,
er chunnt der Sunn an Tür und Hus;
sie schloft im stille Chämmerli;
er pöpperlet am Lädemli;
er rüeft der Sunne: »d’ Zit isch do!«
Sie seit: »I chumm enanderno!« –
Und lisli uf de Zeche goht
und fründli uf de Berge stoht
der Sunntig, und’s schloft alles no;
es sieht und hört en niemes goh;
er chunnt ins Dorf mit stillem Tritt
und winkt im Guhl: »Verrot mi nit!«
Und wemmen endli au verwacht
und gschlofe het die ganzi Nacht,
se stoht er do im Sunne-Schi’
und luegt eim zu de Fenstren i
mit sinen Auge mild und guet
und mittem Meien uffem Huet.
Drum meint er’s treu, und was i sag,
es freut en, wemme schlofe mag
und meint, es seig no dunkel Nacht,
wenn d’ Sunn am heitere Himmel lacht;
drum isch er au so lisli cho,
drum stoht er au so liebli do.
Wie glitzeret uf Gras und Laub
vom Morgetau der Silberstaub!
Wie weiht e frische Maieluft
voll Chriesi-Bluest und Schleche-Duft!
Und d’ Immli sammle flink und frisch,
sie wüsse nit, aß’s Sunntig isch.
Wie pranget nit im Garte-Land
der Chriesi-Baum im Maie-Gwand,
Gel-Veieli und Tulipa
und Sterneblume nebe dra,
und gfüllti Zinkli blau und wiiß,
me meint, me lueg ins Paredies!
Und’s isch so still und heimli do,
men isch so rüeihig und so froh!
me hört im Dorf kei »Hüst« und »Hott«;
»e Guete Tag!« und »Dank der Gott!«
und »’s git gottlob e schöne Tag!«
isch alles, was me höre mag.
Und ’s Vögeli seit: »Frili jo!
Potz tausig, jo, er isch scho do:
Er dringtmer scho im Himmels-Glast
dur Bluest und Laub in Hurst und Nast!«
Und ’s Distelzwigli vorne dra
het ’s Sunntig-Röckli au scho a.
Sie lüte weger ’s Zeiche scho,
der Pfarer, schint’s, well zitli cho.
Gang, brechmer eis Aurikli ab,
verwüschet mer der Staub nit drab,
und Chüngeli, leg di weidli a,
de muesch derno ne Meje ha!
»Des Knaben Wunderhorn«
Alte deutsche Lieder,
herausgegeben von Achim von Arnim
und Clemens Brentano
Heidelberg, bei Mohr und Zimmer. 1806.
470 S. gr. 8° (2 Rtlr. 12 Gr.)
Die Kritik dürfte sich vorerst nach unserem Dafürhalten mit dieser Sammlung nicht befassen. Die Herausgeber haben solche mit so viel Neigung, Fleiß, Geschmack, Zartheit zusammengebracht und behandelt, daß ihre Landsleute dieser liebevollen Mühe nun wohl erst mit gutem Willen, Teilnahme und Mitgenuß zu danken hätten. Von Rechts wegen sollte dieses Büchlein in jedem Hause, wo frische Menschen wohnen, am Fenster, unterm Spiegel, oder wo sonst Gesang- und Kochbücher zu liegen pflegen, zu finden sein, um aufgeschlagen zu werden in jedem Augenblick der Stimmung oder Unstimmung, wo man denn immer etwas Gleichtönendes oder Anregendes fände, wenn man auch allenfalls das Blatt ein paarmal umschlagen müßte.
Am besten aber läge doch dieser Band auf dem Klavier des Liebhabers oder Meisters der Tonkunst, um den darin enthaltenen Liedern entweder mit bekannten, hergebrachten Melodien ganz ihr Recht widerfahren zu lassen oder ihnen schickliche Weisen anzuschmiegen oder, wenn Gott wollte, neue bedeutende Melodien durch sie hervorzulocken.
Würden dann diese Lieder nach und nach in ihrem eigenen Ton- und Klangelemente von Ohr zu Ohr, von Mund zu Mund getragen, kehrten sie allmählich belebt und verherrlicht zum Volke zurück, von dem sie zum Teil gewissermaßen ausgegangen, so könnte man sagen, das Büchlein habe seine Bestimmung erfüllt und könne nun wieder als geschrieben und gedruckt verlorengehen, weil es in Leben und Bildung der Nation übergegangen.
Weil nun aber in der neueren Zeit, besonders in Deutschland, nichts zu existieren und zu wirken scheint, wenn nicht darüber geschrieben und wieder geschrieben und geurteilt und gestritten wird, so mag denn auch über diese Sammlung hier einige Betrachtung stehen, die, wenn sie den Genuß auch nicht erhöht und verbreitet, doch wenigstens ihm nicht entgegenwirken soll.
Was man entschieden zu Lob und Ehren dieser Sammlung sagen kann, ist, daß die Teile derselben durchaus mannigfaltig charakteristisch sind. Sie enthält über zweihundert Gedichte aus den drei letzten Jahrhunderten, sämtlich dem Sinne, der Erfindung, dem Ton, der Art und Weise nach dergestalt voneinander unterschieden, daß man keins dem andern vollkommen gleichstellen kann. Wir übernehmen das unterhaltende Geschäft, sie alle der Reihe nach, so wie es uns der Augenblick eingibt, zu charakterisieren.
»Das Wunderhorn«. (Seite 13.) Feenhaft, kindlich, gefällig.
»Des Sultans Töchterlein«. (15.) Christlich zart, anmutig.
»Tell und sein Kind«. (17.) Rechtlich und tüchtig.
»Großmutter Schlangenköchin«. (19.) Tief, rätselhaft, dramatisch vortrefflich behandelt.
»Jesaias Gesicht«. (20.) Barbarisch groß.
»Das Feuerbesprechen«. (21.) Räuberisch ganz gehörig und recht.
»Der arme Schwartenhals«. (22.) Vagabundisch, launig, lustig.
»Der Tod und das Mädchen«. (24.) In Totentanzart, holzschnittmäßig, lobenswürdig.
»Nachtmusikanten«. (29.) Närrisch, ausgelassen, köstlich.
»Widerspenstige Braut«. (30.) Humoristisch, etwas fratzenhaft.
»Klosterscheu«. (32.) Launenhaft verworren und doch zum Zweck.
»Der vorlaute Ritter«. (32.) Im real-romantischen Sinn gar zu gut.
»Die schwarzbraune Hexe«. (34.) Durch Überlieferung etwas konfus, der Grund aber unschätzbar.
»Der Dollinger«. (36.) Ritterhaft tüchtig.
»Liebe ohne Stand«. (37.) Dunkel romantisch.
»Gastlichkeit des Winters«. (39.) Sehr zierlich.
»Die hohe Magd«. (40.) Christlich pedantisch, nicht ganz unpoetisch.
»Liebe spinnt keine Seide«. (42.) Lieblich konfus und deswegen Phantasie erregend.
»Husarenglaube«. (43.) Schnelligkeit, Leichtigkeit musterhaft ausgedrückt.
»Rattenfänger von Hameln«. (44.) Zuckt aufs Bänkelsängerische, aber nicht unfein.
»Schürz dich Gretlein«. (46.) Im Vagabundensinn. Unerwartet epigrammatisch.
»Lied vom Ringe«. (48.) Romantisch zart.
»Der Ritter und die Magd«. (50.) Dunkel romantisch, gewaltsam. »Der Schreiber im Korb«. (53.) Den Schlag wiederholendes zweckmäßiges Spottgedicht.
»Erntelied«. (55.) Katholisches Kirchentodeslied. Verdiente, protestantisch zu sein.
»Überdruß der Gelahrtheit«. (57.) Sehr wacker. Aber der Pedant kann die Gelahrtheit nicht loswerden.
»Schlacht bei Murten«. (58.) Realistisch, wahrscheinlich modernisiert.
»Liebesprobe«. (61.) Im besten Handwerksburschensinne und auch trefflich gemacht.
»Der Falke«. (63.) Groß und gut.
»Die Eile der Zeit in Gott«. (64.) Christlich, etwas zu historisch; aber dem Gegenstande gemäß und recht gut.
»Das Rautensträuchlein«. (69.) Eine Art Trümmer, sehr lieblich.
»Die Nonne«. (70.) Romantisch, empfindungsvoll und schön.
»Revelje«. (72.) Unschätzbar für den, dessen Phantasie folgen kann.
»Fastnacht«. (74.) Liebehaft, leise.
»Diebsstellung«. (75.) Holzschnittartig, sehr gut.
»Wassersnot«. (77.) Anschauung, Gefühl, Darstellung, überall das Rechte.
»Tamboursgesell«. (78.) Heitere Vergegenwärtigung eines ängstlichen Zustandes. Ein Gedicht, dem der Einsehende schwerlich ein gleiches an die Seite setzen könnte.
»David«. (79.) Katholisch hergebracht, aber noch ganz gut und zweckmäßig.
»Sollen und Müssen«. (80.) Vortrefflich in der Anlage, obgleich hier in einem zerstückten und wunderlich restaurierten Zustande.
»Liebesdienst«. (83.) Deutsch romantisch, fromm-sinnig und gefällig.
»Geht dir’s wohl, so denk an mich«. (84.) Anmutiger singbarer Klang.
»Der Tannhäuser«. (86.) Großes christlich-katholisches Motiv.
»Mißheirat«. (90.) Treffliche, rätselhafte Fabel, ließe sich vielleicht mit wenigem anschaulicher und für den Teilnehmer befriedigender behandeln.
»Wiegenlied«. (92.) Reimhafter Unsinn, zum Einschläfern völlig zweckmäßig.
»Frau Nachtigall«. (93.) Eine kunstlose Behandlung zugegeben, dem Sinne nach höchst anmutig.
»Die Juden in Passau«. (93.) Bänkelsängerisch, aber lobenswert.
»Kriegslied gegen Karl V.«. (97.) Protestantisch, höchst tüchtig.
»Der Bettelvogt«. (100.) Im Vagabundensinne gründlich und unschätzbar.
»Von den klugen Jungfrauen«. (101.) Recht großmütig, herzerhebend, wenn man in den Sinn eindringt.
»Müllers Abschied«. (102.) Für den, der die Lage fassen kann, unschätzbar, nur daß die erste Strophe einer Emendation bedarf.
»Abt Neidhard und seine Mönche«. (103.) Ein Till-Streich von der besten Sorte und trefflich dargestellt.
»Von zwölf Knaben«. (109.) Leichtfertig, ganz köstlich.
»Kurze Weile«. (110.) Deutsch romantisch, sehr lieblich.
»Kriegslied des Glaubens«. (112.) Protestantisch derb, treffend und durchschlagend.
»Tabakslied«. (114.) Trümmerhaft, aber Bergbau und Tabak gut bezeichnend.
»Das fahrende Fräulein«. (114.) Tief und schön.
»Bettelei der Vögel«. (115.) Gar liebenswürdig.
»Die Greuelhochzeit«. (117.) Ungeheurer Fall, bänkelsängerisch, aber lobenswürdig behandelt.
»Der vortreffliche Stallbruder«. (120.) Unsinn, aber wohl dem, der ihn behaglich singen könnte.
»Unerhörte Liebe«. (121.) Schön, sich aber doch einer gewissen philisterhaften Prosa nähernd.
»Das Bäumlein«. (124.) Sehnsuchtsvoll, spielend und doch herzinniglich.
»Lindenschmied«. (125.) Von dem Reiterhaften, Holzschnittartigen die allerbeste Sorte.
»Lied vom alten Hildebrand«. (128.) Auch sehr gut, doch früher und in der breiteren Manier gedichtet.
»Friedenslied«. (134.) Andächtig, bekannte Melodie, ans Herz redend.
»Friedenslied«. (137.) Gut, aber zu modern und reflektiert.
»Drei Schwestern«. (139.) Sehr wacker in der derben Art.
»Der Englische Gruß«. (140.) Die anmutige, bloß katholische Art, christliche Mysterien ans menschliche, besonders deutsche Gefühl herüberzuführen.
»Vertraue«. (141.) Seltsam, tragisch, zum Grund ein vortreffliches Motiv.
»Das Leiden des Herrn«. (142.) Die große Situation ins Gemeine gezogen, in diesem Sinne nicht tadelhaft.
»Der Schweizer«. (145.) Recht gut, sentimentaler, aber lange nicht so gut als der »Tamboursgesell« (78).
»Pura«. (146.) Schöne Fabel, nicht schlecht, aber auch nicht vorzüglich behandelt.
»Die kluge Schäferin«. (149.) Gar heiter, frei- und frohmütig.
»Ritter Sankt Georg«. (151.) Ritterlich, christlich, nicht ungeschickt dargestellt, aber nicht erfreulich.
»Die Pantoffeln«. (156.) Schöne Anlage, hier fragmentarisch, ungenießbar.
»Xaver«. (157.) Sehr wacker, dem Charakter nach, doch zu wort- und phrasenhaft.
»Wachtelwacht«. (159.) Als Ton nachahmend, Zustand darstellend, bestimmtes Gefühl aufrufend unschätzbar.
»Das Tod-Austreiben«. (161.) Gar lustig, wohlgefühlt und zweckmäßig.
»Gegen das Quartanfieber«. (161.) Unsinnige Formel, wie billig.
»Zum Festmachen«. (162.) Glücklicher Einfall.
»Aufgegebene Jagd«. (162.) Fordert den Ton des Waldhorns.
»Wer ’s Lieben erdacht«. (163.) Gar knabenhaft von Grund aus.
»Des Herrn Weingarten«. (165.) Liebliche Versinnlichung christlicher Mysterien.
»Cedrons Klage«. (166.) Nicht eben so glücklich. Man sieht dieser Klage zu sehr den »Gradus ad Parnassum« an.
»Frühlingsbeklemmung«. (172.) Besser als das vorige. Doch hört man immer noch das Wort- und Bildgeklapper.
»Lobgesang auf Maria«. (174.) Auch diesem läßt sich vielleicht ein Geschmack abgewinnen.
»Abschied von Maria«. (178.) Interessante Fabel und anmutige Behandlung.
»Ehstand der Freude«. (181.) Derb-lustig, muß gesungen werden wie irgendeins.
»Amor«. (182.) Niedlich und wunderlich genug.
»Vom großen Bergbau der Welt«. (183.) Tief und ahnungsvoll, dem Gegenstande gemäß. Ein Schatz für Bergleute.
»Husarenbraut«. (188.) Nicht eben schlimm.
»Das Straßburger Mädchen«. (189.) Liegt ein liebliches Begebnis zugrund, zart und phantastisch behandelt.
»Zwei Röselein«. (190.) Ein Ereignen zwischen Liebesleuten, von der zartesten Art, dargestellt, wie es besser nicht möglich ist.
»Das Mädchen und die Hasel«. (192.) Gar natürlich gute und frische Sittenlehre.
»Königstochter aus England«. (193.) Nicht zu schelten; doch spürt man zu sehr das Pfaffenhafte.
»Schall der Nacht«. (198.) Wird gesungen herzerfreulich sein.
»Große Wäsche«. (201.) Feenhaft und besonders.
»Der Palmbaum«. (202.) So recht von Grund aus herzlich.
»Der Fuhrmann«. (203.) Gehört zu den guten Vagabunden-, Handwerks- und Gewerbsliedern.
»Pfauenart«. (204.) Gute Neigung, bescheiden ausgedrückt.
»Der Schildwache Nachtlied«. (205.) Ans Quodlibet streifend, dem tiefen und dunklen Sinne der Ausdruck gemäß.
»Der traurige Garten«. (206.) Süße Neigung.
»Hüt du dich«. (207.) Im Sinn und Klang des Vaudeville sehr gut.
»Die mystische Wurzel«. (208.) Geistreich, wobei man sich doch des Lächelns über ein falsches Gleichnis nicht enthalten kann.
»Rätsel«. (209.) Nicht ganz glücklich.
»Wie kommt’s, daß du so traurig bist«. (210.) Streift ans Quodlibet, wahrscheinlich Trümmer.
»Unkraut«. (211.) Quodlibet von der besten Art.
»Der Wirtin Töchterlein«. (212.) Höchst lieblich, aber nicht so recht ganz.
»Wer hat das Liedlein erdacht«. (213.) Eine Art übermütiger Fratze, zur rechten Zeit und Stunde wohl lustig genug.
»Doktor Faust«. (214.) Tiefe und gründliche Motive, könnten vielleicht besser dargestellt sein.
»Müllertücke«. (218.) Bedeutende Mordgeschichte, gut dargestellt.
»Der unschuldig Hingerichtete«. (220.) Ernste Fabel, lakonisch trefflich vorgetragen.
»Ringlein und Fähnlein«. (223.) Sehr gefällig romantisch. Das Reimgeklingel tut der Darstellung Schaden, bis man sich allenfalls daran gewöhnen mag.
»Die Hand«. (226.) Bedeutendes Motiv kurz abgefertigt.
»Martinsgans«. (226.) Bauerburschenhaft, lustig losgebunden.
»Die Mutter muß gar sein allein«. (227.) Nicht recht von Grund und Brust aus, sondern nach einer schon vorhandenen Melodie gesungen.
»Der stolze Schäfersmann«. (229.) Tiefe schöne Fabel, durch den Widerklang des Vaudeville ein sonderbarer, aber für den Gesang bedeutender Vortrag.
»Wenn ich ein Vöglein wär«. (231.) Einzig schön und wahr.
»An einen Boten«. (232.) Einzig lustig und gutlaunig.
»Weine nur nicht«. (232.) Leidlicher Humor, aber doch ein bißchen plump.
»Käuzlein«. (233.) Wunderlich, von tiefem, ernstem, köstlichem Sinn.
»Weinschröterlied«. (234.) Unsinn der Beschwörungsformeln.
»Maikäferlied«. (235.) Desgleichen.
»Marienwürmchen«. (235.) Desgleichen, mehr ins Zarte geleitet.
»Der verlorne Schwimmer«. (236.) Anmutig und voll Gefühl.
»Die Prager Schlacht«. (237.) Rasch und knapp, eben als wenn es drei Husaren gemacht hätten.
»Frühlingsblumen«. (239.) Wenn man die Blumen nicht so entsetzlich satt hätte, so möchte dieser Kranz wohl artig sein.
»Guckguck«. (241.) Neckisch bis zum Fratzenhaften, doch gefällig.
»Die Frau von Weißenburg«. (242.) Eine gewaltige Fabel, nicht ungemäß vorgetragen.
»Soldatentod«. (245.) Möchte vielleicht im Frieden und beim Ausmarsch erbaulich zu singen sein. Im Krieg und in der ernsten Nähe des Unheils wird so etwas greulich, wie das neuerlich belobte Lied: »Der Krieg ist gut«.
»Die Rose«. (251.) Liebliche Liebesergebenheit.
»Die Judentochter«. (252.) Passender seltsamer Vortrag zu konfusem und zerrüttetem Gemütswesen.
»Drei Reiter«. (253.) Ewiges und unzerstörliches Lied des Scheidens und Meidens.
»Schlachtlied«. (254.) In künftigen Zeiten zu singen.
»Herr von Falkenstein«. (255.) Von der guten, zarten, innigen Romanzenart.
»Das römische Glas«. (257.) Desgleichen. Etwas rätselhafter.
»Rosmarin«. (258.) Ruhiger Blick ins Reich der Trennung.
»Der Pfalzgraf am Rhein«. (259.) Barbarische Fabel und gemäßer Vortrag.
»Vogel Phönix«. (261.) Nicht mißlungene christliche Allegorie.
»Der unterirdische Pilger«. (262.) Müßte in Schächten, Stollen und auf Strecken gesungen und empfunden werden. Über der Erde wird’s einem zu dunkel dabei.
»Herr Olof«. (261 b.) Unschätzbare Ballade.
»Ewigkeit«. (263 b.) Katholischer Kirchengesang. Wenn man die Menschen konfus machen will, so ist dies ganz der rechte Weg.
»Der Graf und die Königstochter«. (265b.) Eine Art von Pyramus und Thisbe. Die Behandlung solcher Fabeln gelang unsern Voreltern nicht.
»Moritz von Sachsen«. (270.) Ein ahnungsvoller Zustand und großes trauriges Ereignis mit Phantasie dargestellt.
»Ulrich und Ännchen«. (274.) Die Fabel vom Blaubart, in mehr nördlicher Form, gemäß dargestellt.
»Vom vornehmen Räuber«. (276.) Sehr tüchtig, dem »Lindenschmied« (125) zu vergleichen.
»Der geistliche Kämpfer«. (277.) »Christ Gottes Sohn allhie« hätte durch sein Leiden wohl einen besseren Poeten verdient.
»Dusle und Babely«. (281.) Köstlicher Abdruck des schweizerbäurischen Zustandes und des höchsten Ereignisses dort zwischen zwei Liebenden.
»Der eifersüchtige Knabe«. (282.) Das Wehen und Weben der rätselhaft mordgeschichtlichen Romanzen ist hier höchst lebhaft zu fühlen.
»Der Herr am Ölberg«. (283.) Diesem Gedicht geschieht Unrecht, daß es hier steht. In dieser, meist natürlichen Gesellschaft wird einem die Allegorie der Anlage sowie das poetisch Blumenhafte der Ausführung unbillig zuwider.
»Abschied von Bremen«. (289.) Handwerksburschenhaft genug, doch zu prosaisch.
»Aurora«. (291.) Gut gedacht, aber doch nur gedacht.
»Werd ein Kind«. (291.) Ein schönes Motiv, pfaffenhaft verschoben.
»Der ernsthafte Jäger«. (292.) Ein bißchen barsch, aber gut.
»Der Mordknecht«. (294.) Bedeutend, seltsam und tüchtig.
»Der Prinzenraub«. (296.) Nicht gerade zu schelten, aber nicht befriedigend.
»Nächten und Heute«. (298.) Ein artig Lied des Inhalts, der so oft vorkommt: Cosi fan tutte und tutti.
»Der Spaziergang«. (299.) Mehr Reflexion als Gesang.
»Das Weltende«. (300.) Deutet aufs Quodlibet, läßt was zu wünschen übrig.
»Bayrisches Alpenlied«. (301.) Allerliebst, nur wird man vornherein irre, wenn man nicht weiß, daß unter dem Palmbaum die Stechpalme gemeint ist. Mit einem Dutzend solcher Noten wäre manchem Liede zu mehrerer Klarheit zu helfen gewesen.
»Jäger Wohlgemut«. (303.) Gut, aber nicht vorzüglich.
»Der Himmel hängt voll Geigen«. (304.) Eine christliche Cocagne, nicht ohne Geist.
»Die fromme Magd«. (306.) Gar hübsch und sittig.
»Jagdglück«. (306.) Zum Gesang erfreulich, im Sinne nicht besonders. Überhaupt wiederholen die Jägerlieder, vom Tone des Waldhorns gewiegt, ihre Motive zu oft ohne Abwechseln.
»Kartenspiel«. (308.) Artiger Einfall und guter Humor.
»Für funfzehn Pfennige«. (309.) Von der allerbesten Art, einen humoristischen Refrain zu nutzen.
»Der angeschossene Guckguck«. (311.) Nur Schall, ohne irgendeine Art von Inhalt.
»Warnung«. (313.) Ein »Guckguck« von einer viel besseren Sorte.
»Das große Kind«. (314.) Höchst süße. Wäre wohl wert, daß man ihm das Ungeschickte einiger Reime und Wendungen benähme.
»Das heiße Afrika«. (315.) Spukt doch eigentlich nur der Halberstädter Grenadier.
»Das Wiedersehn am Brunnen«. (317.) Voll Anmut und Gefühl.
»Das Haßlocher Tal«. (319.) Seltsame Mordgeschichte, gehörig vorgetragen.
»Abendlied«. (321.) Sehr lobenswürdig, von der recht guten lyrisch-episch-dramatischen Art.
»Der Scheintod«. (322.) Sehr schöne wohlausgestattete Fabel, gut vorgetragen.
»Die drei Schneider«. (325.) Wenn doch einmal eine Gilde vexiert werden soll, so geschieht’s hier lustig genug.
»Nächtliche Jagd«. (327.) Die Intention ist gut, der Ton nicht zu schelten, aber der Vortrag ist nicht hinreichend.
»Spielmanns Grab«. (328.) Ausgelassenheit, unschätzbarer sinnlicher Bauernhumor.
»Knabe und Veilchen«. (329.) Zart und zierlich.
»Der Graf im Pfluge«. (330.) Gute Ballade, doch zu lang.
»Drei Winterrosen«. (339.) Zu sehr abgekürzte Fabel von dem Wintergarten, der schon im Boiardo vorkommt.
»Der beständige Freier«. (341.) Echo, versteckter Totentanz, wirklich sehr zu loben.
»Von Hofleuten«. (343.) Wäre noch erfreulicher, wenn nicht eine, wie es scheint, falsche Überschrift auf eine Allegorie deutete, die man im Lied weder finden kann noch mag.
»Lied beim Heuen«. (345.) Köstliches Vaudeville, das unter mehreren Ausgaben bekannt ist.
»Fischpredigt«. (347.) Unvergleichlich, dem Sinne und der Behandlung nach.
»Die Schlacht bei Sempach«. (349.) Wacker und derb, doch nahe zu chronikenhaft prosaisch.
»Algerius«. (353.) Fromm, zart und voll Glaubenskraft.
»Doppelte Liebe«. (354.) Artig, könnte aber der Situation nach artiger sein.
»Manschettenblume«. (356.) Wunderlich romantisch, gehaltvoll.
»Der Fähndrich«. (358.) Mit Eigenheit; doch hätte die Gewalt, welche der Fähndrich dem Mädchen angetan, müssen ausgedrückt werden, sonst hat es keinen Sinn, daß er hängen soll.
»Gegen die Schweizer Bauern«. (360.) Tüchtige und doch poetische Gegenwart. Der Zug, daß ein Bauer das Glas in den Rhein wirft, weil er in dessen Farbenspiel den Pfauenschwanz zu sehen glaubt, ist höchst revolutionär und treffend.
»Kinder still zu machen«. (362.) Recht artig und kindlich.
»Gesellschaftslied«. (363.) In Tillen-Art kapital.
»Das Gnadenbild«. (366.) Ist hübsch, wenn man sich den Zustand um einen solchen Wallfahrtsort vergegenwärtigen mag.
»Geh du nur hin«. (371.) Frank und frech.
»Verlorne Mühe«. (372.) Treffliche Darstellung weiblicher Betulichkeit und täppischen Männerwesens.
»Starke Einbildungskraft«. (373.) Zarter Hauch, kaum festzuhalten.
»Die schlechte Liebste«. (374.) Innig gefühlt und recht gedacht.
»Maria auf der Reise«. (375.) Hübsch und zart, wie die Katholiken mit ihren mythologischen Figuren das gläubige Publikum gar zweckmäßig zu beschäftigen und zu belehren wissen.
»Der geadelte Bauer«. (376.) Recht gut gesehen und mit Verdruß launisch dargestellt.
»Abschiedszeichen«. (378.) Recht lieblich.
»Die Ausgleichung«. (379.) Die bekannte Fabel vom Becher und Mantel, kurz und bedeutend genug dargestellt.
»Petrus«. (382.) Scheint uns gezwungen freigeistisch.
»Gott grüß euch, Alter«. (384.) Modern und sentimental, aber nicht zu schelten.
»Schwere Wacht«. (386.) Zieht schon in das umständliche klang- und sangreiche Minnesängerwesen herüber.
1) »Jungfrau und Wächter«. Gar liebreich, doch auch zu umständlich.
2) »Der lustige Geselle«. Ist uns lieber als die vorhergehenden.
3) »Variation«. Macht hier zu großen Kontrast: denn es gehört zu der tiefen, wunderlichen, deutschen Balladenart.
4) »Beschluß«. Paßt nicht in diese Reihe.
»Der Pilger und die fromme Dame«. (396.) Ein guter, wohldargestellter Schwank.
»Kaiserliches Hochzeitlied«. (397.) Barbarisch-pedantisch und doch nicht ohne poetisches Verdienst.
»Antwort Mariä auf den Gruß der Engel«. (406.) Das liebenswürdigste von allen christ-katholischen Gedichten in diesem Bande.
»Stauffenberg und die Meerfeie«. (407.) Recht lobenswerte Fabel, gedrängt genug vorgetragen, klug verteilt. Würde zu kurz scheinen, wenn man nicht an lauter kürzere Gedichte gewöhnt wäre.
»Des Schneiders Feierabend«. (418.) In der Holzschnittsart, so gut als man es nur wünschen kann.
Mit dieser Charakterisierung aus dem Stegreife: denn wie könnte man sie anders unternehmen? gedenken wir niemand vorzugreifen, denen am wenigsten, die durch wahrhaft lyrischen Genuß und echte Teilnahme einer sich ausdehnenden Brust viel mehr von diesen Gedichten fassen werden, als in irgendeiner lakonischen Bestimmung des mehr oder minderen Bedeutens geleistet werden kann. Indessen sei uns über den Wert des Ganzen noch folgendes zu sagen vergönnt.
Diese Art Gedichte, die wir seit Jahren Volkslieder zu nennen pflegen, ob sie gleich eigentlich weder vom Volk noch fürs Volk gedichtet sind, sondern weil sie so etwas Stämmiges, Tüchtiges in sich haben und begreifen, daß der kern- und stammhafte Teil der Nationen dergleichen Dinge faßt, behält, sich zueignet und mitunter fortpflanzt – dergleichen Gedichte sind so wahre Poesie, als sie irgend nur sein kann; sie haben einen unglaublichen Reiz, selbst für uns, die wir auf einer höheren Stufe der Bildung stehen, wie der Anblick und die Erinnerung der Jugend fürs Alter hat. Hier ist die Kunst mit der Natur im Konflikt, und eben dieses Werden, dieses wechselseitige Wirken, dieses Streben scheint ein Ziel zu suchen, und es hat sein Ziel schon erreicht. Das wahre dichterische Genie, wo es auftritt, ist in sich vollendet; mag ihm Unvollkommenheit der Sprache, der äußeren Technik, oder was sonst will, entgegenstehen, es besitzt die höhere innere Form, der doch am Ende alles zu Gebote steht, und wirkt selbst im dunkeln und trüben Elemente oft herrlicher, als es später im klaren vermag. Das lebhafte poetische Anschauen eines beschränkten Zustandes erhebt ein Einzelnes zum zwar begrenzten, doch unumschränkten All, so daß wir im kleinen Raume die ganze Welt zu sehen glauben. Der Drang einer tiefen Anschauung fordert Lakonismus. Was der Prose ein unverzeihliches Hinterstzuvörderst wäre, ist dem wahren poetischen Sinne Notwendigkeit, Tugend, und selbst das Ungehörige, wenn es an unsere ganze Kraft mit Ernst anspricht, regt sie zu einer unglaublich genußreichen Tätigkeit auf.
Durch die obige einzelne Charakteristik sind wir einer Klassifikation ausgewichen, die vielleicht künftig noch eher geleistet werden kann, wenn mehrere dergleichen echte, bedeutende Grundgesänge zusammengestellt sind. Wir können jedoch unsere Vorliebe für diejenigen nicht bergen, wo lyrische, dramatische und epische Behandlung dergestalt ineinandergeflochten ist, daß sich erst ein Rätsel aufbaut und sodann mehr oder weniger, und wenn man will, epigrammatisch auflöst. Das bekannte: »Dein Schwert, wie ist’s vom Blut so rot, Eduard, Eduard!« ist besonders im Originale das Höchste, was wir in dieser Art kennen.
Möchten die Herausgeber aufgemuntert werden, aus dem reichen Vorrat ihrer Sammlungen, so wie aus alten vorliegenden schon gedruckten, bald noch einen Band folgen zu lassen, wobei wir denn freilich wünschen, daß sie sich vor dem Singsang der Minnesinger, vor der bänkelsängerischen Gemeinheit und vor der Plattheit der Meistersänger, so wie vor allem Pfäffischen und Pedantischen, höchlich hüten mögen.
Brächten sie uns noch einen zweiten Teil dieser Art deutscher Lieder zusammen, so wären sie wohl aufzurufen, auch was fremde Nationen, Engländer am meisten, Franzosen weniger, Spanier in einem andern Sinne, Italiener fast gar nicht, dieser Liederweise besitzen, auszusuchen und sie im Original und nach vorhandenen oder von ihnen selbst zu leistenden Übersetzungen darzulegen.
Haben wir gleich zu Anfang die Kompetenz der Kritik, selbst im höheren Sinn, auf diese Arbeit gewissermaßen bezweifelt, so finden wir noch mehr Ursache, eine sondernde Untersuchung, inwiefern das alles, was uns hier gebracht ist, völlig echt oder mehr und weniger restauriert sei, von diesen Blättern abzulehnen.
Die Herausgeber sind im Sinne des Erfordernisses so sehr, als man es in späterer. Zeit sein kann, und das hie und da seltsam Restaurierte, aus fremdartigen Teilen Verbundene, ja das Untergeschobene ist mit Dank anzunehmen. Wer weiß nicht, was ein Lied auszustehen hat, wenn es durch den Mund des Volkes, und nicht etwa nur des ungebildeten, eine Weile durchgeht! Warum soll der, der es in letzter Instanz aufzeichnet, mit andern zusammenstellt, nicht auch ein gewisses Recht daran haben? Besitzen wir doch aus früherer Zeit kein poetisches und kein heiliges Buch, als insofern es dem Auf- und Abschreiber solches zu überliefern gelang oder beliebte.
Wenn wir in diesem Sinne die vor uns liegende gedruckte Sammlung dankbar und läßlich behandeln, so legen wir den Herausgebern desto ernstlicher ans Herz, ihr poetisches Archiv rein, streng und ordentlich zu halten. Es ist nicht nütze, daß alles gedruckt werde; aber sie werden sich ein Verdienst um die Nation erwerben, wenn sie mitwirken, daß wir eine Geschichte unserer Poesie und poetischen Kultur, worauf es denn doch nunmehr nach und nach hinausgehen muß, gründlich, aufrichtig und geistreich erhalten.
Notiz
Wir geben hiermit vorläufige Nachricht von einem Werke, das zur Michaelismesse im Cottaschen Verlage herauskommen wird:
»Die Wahlverwandtschaften«,
ein Roman von Goethe
In zwei Teilen
Es scheint, daß den Verfasser seine fortgesetzten physikalischen Arbeiten zu diesem seltsamen Titel veranlaßten. Er mochte bemerkt haben, daß man in der Naturlehre sich sehr oft ethischer Gleichnisse bedient, um etwas von dem Kreise menschlichen Wesens weit Entferntes näher heranzubringen; und so hat er auch wohl, in einem sittlichen Falle, eine chemische Gleichnisrede zu ihrem geistigen Ursprunge zurückführen mögen, um so mehr, als doch überall nur eine Natur ist und auch durch das Reich der heitern Vernunftfreiheit die Spuren trüber, leidenschaftlicher Notwendigkeit sich unaufhaltsam hindurchziehen, die nur durch eine höhere Hand, und vielleicht auch nicht in diesem Leben, völlig auszulöschen sind.
Epoche der forcierten Talente
Entsprang aus der philosophischen. Höhere theoretische Ansichten wurden klar und allgemeiner. Die Notwendigkeit eines entschiedenen Gehaltes, man nenne ihn Idee oder Begriff, ward allgemein anerkannt, daher konnte der Verstand sich in die Erfindung mischen und, wenn er den Gegenstand klug entwickelte, sich dünken, er dichte wirklich.
Hiezu gaben den ersten theoretischen Anstoß Schillers »Ästhetische Briefe« in den »Horen«, seine Abhandlung »Über naive und sentimentale Dichtkunst«, kritisch und folglich praktisch seine Rezension über Bürger in der »Allgemeinen Literaturzeitung«.
Die Gebrüder Schlegel theoretisierten und kritisierten im ähnlichen Sinne: denn auch ihre Lehre, so wie ihr Streben, trat aus der Kantischen Philosophie hervor.
Dies wäre die Ableitung dieser Epoche, was den Gehalt betrifft.
Die äußere und letzte Form der Ausführung ward durch eine verbesserte Rhythmik sehr erleichtert. Voß, obgleich seine Bemühungen mit Undank belohnt wurden, zerstörte lieber den Effekt, den seine Arbeiten durch eine natürliche Behaglichkeit gemacht hatten, als daß er seinen Überzeugungen entsagt hätte. Dem ohngeachtet aber war jedermann aufmerksam auf seine Lehren und sein Beispiel; und so fand diese neue Epoche einen großen Vorteil vor sich an einer verbesserten Rhythmik.
Außer diesem ahmte man italienische und spanische Silbenmaße mit größerer Sorgfalt und Gewissenhaftigkeit nach, indem man die Oktaven-, Terzinen-und Sonettform auch im Deutschen ausbildete. Die beiden Enden der Dichtkunst waren also gegeben, entschiedener Gehalt dem Verstande, Technik dem Geschmack, und nun erschien das sonderbare Phänomen, daß jedermann glaubte, diesen Zwischenraum ausfüllen und also Poet sein zu können. Die Philosophen begünstigten diesen Irrtum: denn nachdem sie der Kunst einen so hohen Rang angewiesen, daß sie sogar die Philosophie unter die Kunst gesetzt, so wollten sie wenigstens persönlich jenes Vorrangs nicht entbehren und behaupteten, jedermann, wenigstens der Philosoph, müsse ein Poet sein können, wenn er nur wolle.
Durch diese Maximen wurde die Menge aufgefordert, und die Masse der Dichtenden nahm überhand.
Selbst Schiller, der ein wahrhaft poetisches Naturell hatte, dessen Geist sich aber zur Reflexion stark hinneigte und manches, was beim Dichter unbewußt und freiwillig entspringen soll, durch die Gewalt des Nachdenkens zwang, zog viele junge Leute auf seinem Weg mit fort, die aber eigentlich nur seine Sprache ihm nachlernen konnten.
Jene große Kluft aber zwischen dem gewählten Gegenstande und der letzten technischen Ausführung suchte man auf mancherlei Weise auszufüllen.
1. Durch religiose Gesinnungen:
a) christliche,
pietistische und katholische;
b) heidnische,
der Schicksalsbegriff;
c) romantische,
schlossen sich an a an.
2. Durch Kunstgegenstände und Gesinnungen:
a) heidnische;
b) christliche.
Die letztern nehmen überhand. Poesie und bildende Kunst verderben einander wechselsweise.
Weimar, den 17. Dezember 1812
Shakespeare und kein Ende!
Es ist über Shakespeare schon so viel gesagt, daß es scheinen möchte, als wäre nichts mehr zu sagen übrig, und doch ist dies die Eigenschaft des Geistes, daß er den Geist ewig anregt. Diesmal will ich Shakespeare von mehr als einer Seite betrachten, und zwar erstlich als Dichter überhaupt, sodann verglichen mit den Alten und den Neusten und zuletzt als eigentlichen Theaterdichter. Ich werde zu entwickeln suchen, was die Nachahmung seiner Art auf uns gewirkt und was sie überhaupt wirken kann. Ich werde meine Beistimmung zu dem, was schon gesagt ist, dadurch geben, daß ich es allenfalls wiederhole, meine Abstimmung aber kurz und positiv ausdrücken, ohne mich in Streit und Widerspruch zu verwickeln. Hier sei also von jenem ersten Punkt zuvörderst die Rede.
I. Shakespeare als Dichter überhaupt
Das Höchste, wozu der Mensch gelangen kann, ist das Bewußtsein eigner Gesinnungen und Gedanken, das Erkennen seiner selbst, welches ihm die Einleitung gibt, auch fremde Gemütsarten innig zu erkennen. Nun gibt es Menschen, die mit einer natürlichen Anlage hiezu geboren sind und solche durch Erfahrung zu praktischen Zwecken ausbilden. Hieraus entsteht die Fähigkeit, der Welt und den Geschäften im höheren Sinn etwas abzugewinnen. Mit jener Anlage nun wird auch der Dichter geboren, nur daß er sie nicht zu unmittelbaren, irdischen Zwecken, sondern zu einem höhern, geistigen, allgemeinen Zweck ausbildet. Nennen wir nun Shakespeare einen der größten Dichter, so gestehen wir zugleich, daß nicht leicht jemand die Welt so gewahrte wie er, daß nicht leicht jemand, der sein inneres Anschauen aussprach, den Leser in höherm Grade mit in das Bewußtsein der Welt versetzt. Sie wird für uns völlig durchsichtig; wir finden uns auf einmal als Vertraute der Tugend und des Lasters, der Größe, der Kleinheit, des Adels, der Verworfenheit, und dieses alles, ja noch mehr durch die einfachsten Mittel. Fragen wir aber nach diesen Mitteln, so scheint es, als arbeite er für unsre Augen; aber wir sind getäuscht. Shakespeares Werke sind nicht für die Augen des Leibes. Ich will mich zu erklären suchen.
Das Auge mag wohl der klarste Sinn genannt werden, durch den die leichteste Überlieferung möglich ist. Aber der innere Sinn ist noch klärer, und zu ihm gelangt die höchste und schnellste Überlieferung durchs Wort: denn dieses ist eigentlich fruchtbringend, wenn das, was wir durchs Auge auffassen, an und für sich fremd und keineswegs so tiefwirkend vor uns steht. Shakespeare nun spricht durchaus an unsern innern Sinn; durch diesen belebt sich zugleich die Bilderwelt der Einbildungskraft, und so entspringt eine vollständige Wirkung, von der wir uns keine Rechenschaft zu geben wissen; denn hier liegt eben der Grund von jener Täuschung, als begebe sich alles vor unsern Augen. Betrachtet man aber die Shakespeareschen Stücke genau, so enthalten sie viel weniger sinnliche Tat als geistiges Wort. Er läßt geschehen, was sich leicht imaginieren läßt, ja was besser imaginiert als gesehen wird. Hamlets Geist, Macbeths Hexen, manche Grausamkeiten erhalten ihren Wert durch die Einbildungskraft, und die vielfältigen kleinen Zwischenszenen sind bloß auf sie berechnet. Alle solche Dinge gehen beim Lesen leicht und gehörig an uns vorbei, da sie bei der Vorstellung lasten und störend, ja widerlich erscheinen.
Durchs lebendige Wort wirkt Shakespeare, und dies läßt sich beim Vorlesen am besten überliefern; der Hörer wird nicht zerstreut, weder durch schickliche noch unschickliche Darstellung. Es gibt keinen höhern Genuß und keinen reinern, als sich mit geschloßnen Augen durch eine natürlich richtige Stimme ein Shakespearesches Stück nicht deklamieren, sondern rezitieren zu lassen. Man folgt dem schlichten Faden, an dem er die Ereignisse abspinnt. Nach der Bezeichnung der Charaktere bilden wir uns zwar gewisse Gestalten, aber eigentlich sollen wir durch eine Folge von Worten und Reden erfahren, was im Innern vorgeht, und hier scheinen alle Mitspielenden sich verabredet zu haben, uns über nichts im Dunkeln, im Zweifel zu lassen. Dazu konspirieren Helden und Kriegsknechte, Herren und Sklaven, Könige und Boten, ja die untergeordneten Figuren wirken hier oft tätiger als die Hauptgestalten. Alles, was bei einer großen Weltbegebenheit heimlich durch die Lüfte säuselt, was in Momenten ungeheurer Ereignisse sich in dem Herzen der Menschen verbirgt, wird ausgesprochen; was ein Gemüt ängstlich verschließt und versteckt, wird hier frei und flüssig an den Tag gefördert; wir erfahren die Wahrheit des Lebens und wissen nicht wie.
Shakespeare gesellt sich zum Weltgeist; er durchdringt die Welt wie jener; beiden ist nichts verborgen; aber wenn des Weltgeists Geschäft ist, Geheimnisse vor, ja oft nach der Tat zu bewahren, so ist es der Sinn des Dichters, das Geheimnis zu verschwätzen und uns vor oder doch gewiß in der Tat zu Vertrauten zu machen. Der lasterhafte Mächtige, der wohldenkende Beschränkte, der leidenschaftlich Hingerissene, der ruhig Betrachtende, alle tragen ihr Herz in der Hand, oft gegen alle Wahrscheinlichkeit; jedermann ist redsam und redselig. Genug, das Geheimnis muß heraus, und sollten es die Steine verkünden. Selbst das Unbelebte drängt sich hinzu, alles Untergeordnete spricht mit, die Elemente, Himmel-, Erd- und Meerphänomene, Donner und Blitz, wilde Tiere erheben ihre Stimme, oft scheinbar als Gleichnis, aber ein wie das andre Mal mithandelnd.
Aber auch die zivilisierte Welt muß ihre Schätze hergeben; Künste und Wissenschaften, Handwerke und Gewerbe, alles reicht seine Gaben dar. Shakespeares Dichtungen sind ein großer belebter Jahrmarkt, und diesen Reichtum hat er seinem Vaterlande zu danken.
Überall ist England, das meerumflossene, von Nebel und Wolken umzogene, nach allen Weltgegenden tätige. Der Dichter lebt zur würdigen und wichtigen Zeit und stellt ihre Bildung, ja Verbildung mit großer Heiterkeit uns dar, ja er würde nicht so sehr auf uns wirken, wenn er sich nicht seiner lebendigen Zeit gleichgestellt hätte. Niemand hat das materielle Kostüm mehr verachtet als er; er kennt recht gut das innere Menschenkostüm, und hier gleichen sich alle. Man sagt, er habe die Römer vortrefflich dargestellt; ich finde es nicht; es sind lauter eingefleischte Engländer, aber freilich Menschen sind es, Menschen von Grund aus, und denen paßt wohl auch die römische Toga. Hat man sich einmal hierauf eingerichtet, so findet man seine Anachronismen höchst lobenswürdig, und gerade daß er gegen das äußere Kostüm verstößt, das ist es, was seine Werke so lebendig macht.
Und so sei es genug an diesen wenigen Worten, wodurch Shakespeares Verdienst keineswegs erschöpft ist. Seine Freunde und Verehrer werden noch manches hinzuzusetzen haben. Doch stehe noch eine Bemerkung hier: schwerlich wird man einen Dichter finden, dessen einzelnen Werken jedesmal ein andrer Begriff zugrunde liegt und im Ganzen wirksam ist, wie an den seinigen sich nachweisen läßt. So geht durch den ganzen »Coriolan« der Ärger durch, daß die Volksmasse den Vorzug der Bessern nicht anerkennen will. Im »Cäsar« bezieht sich alles auf den Begriff, daß die Bessern den obersten Platz nicht wollen eingenommen sehen, weil sie irrig wähnen, in Gesamtheit wirken zu können. »Antonius und Kleopatra« spricht mit tausend Zungen, daß Genuß und Tat unverträglich sei. Und so würde man bei weiterer Untersuchung ihn noch öfter zu bewundern haben.
II. Shakespeare, verglichen mit den Alten und Neusten
Das Interesse, welches Shakespeares großen Geist belebt, liegt innerhalb der Welt: denn wenn auch Wahrsagung und Wahnsinn, Träume, Ahnungen, Wunderzeichen, Feen und Gnomen, Gespenster, Unholde und Zauberer ein magisches Element bilden, das zur rechten Zeit seine Dichtungen durchschwebt, so sind doch jene Truggestalten keineswegs Hauptingredienzien seiner Werke, sondern die Wahrheit und Tüchtigkeit seines Lebens ist die große Base, worauf sie ruhen; deshalb uns alles, was sich von ihm herschreibt, so echt und kernhaft erscheint. Man hat daher schon eingesehen, daß er nicht sowohl zu den Dichtern der neuern Welt, welche man die romantischen genannt hat, sondern vielmehr zu jenen der naiven Gattung gehöre, da sein Wert eigentlich auf der Gegenwart ruht und er kaum von der zartesten Seite, ja nur mit der äußersten Spitze an die Sehnsucht grenzt.
Des ohngeachtet aber ist er, näher betrachtet, ein entschieden moderner Dichter, von den Alten durch eine ungeheure Kluft getrennt, nicht etwa der äußern Form nach, welche hier ganz zu beseitigen ist, sondern dem innersten, tiefsten Sinne nach.
Zuvörderst aber verwahre ich mich und sage: daß keineswegs meine Absicht sei, nachfolgende Terminologie als erschöpfend und abschließend zu gebrauchen; vielmehr soll es nur ein Versuch sein, zu andern, uns schon bekannten Gegensätzen nicht sowohl einen neuen hinzuzufügen, als, daß er schon in jenen enthalten sei, anzudeuten. Diese Gegensätze sind:
Antik, Modern.
Naiv, Sentimental.
Heidnisch, Christlich.
Heldenhaft, Romantisch.
Real, Ideal.
Notwendigkeit, Freiheit.
Sollen, Wollen.
Die größten Qualen sowie die meisten, welchen der Mensch ausgesetzt sein kann, entspringen aus den einem jeden inwohnenden Mißverhältnissen zwischen Sollen und Wollen, sodann aber zwischen Sollen und Vollbringen, Wollen und Vollbringen, und diese sind es, die ihn auf seinem Lebensgange so oft in Verlegenheit setzen. Die geringste Verlegenheit, die aus einem leichten Irrtum, der unerwartet und schadlos gelöst werden kann, entspringt, gibt die Anlage zu lächerlichen Situationen. Die höchste Verlegenheit hingegen, unauflöslich oder unaufgelöst, bringt uns die tragischen Momente dar.
Vorherrschend in den alten Dichtungen ist das Unverhältnis zwischen Sollen und Vollbringen, in den neuern zwischen Wollen und Vollbringen. Man nehme diesen durchgreifenden Unterschied unter die übrigen Gegensätze einstweilen auf und versuche, ob sich damit etwas leisten lasse. Vorherrschend, sagte ich, sind in beiden Epochen bald diese, bald jene Seite; weil aber Sollen und Wollen im Menschen nicht radikal getrennt werden kann, so müssen überall beide Ansichten zugleich, wenn schon die eine vorwaltend und die andre untergeordnet, gefunden werden. Das Sollen wird dem Menschen auferlegt, das Muß ist eine harte Nuß; das Wollen legt der Mensch sich selbst auf, des Menschen Wille ist sein Himmelreich. Ein beharrendes Sollen ist lästig, Unvermögen des Vollbringens fürchterlich, ein beharrliches Wollen erfreulich, und bei einem festen Willen kann man sich sogar über das Unvermögen des Vollbringens getröstet sehen. Betrachte man als eine Art Dichtung die Kartenspiele; auch diese bestehen aus jenen beiden Elementen. Die Form des Spiels, verbunden mit dem Zufalle, vertritt hier die Stelle des Sollens, gerade wie es die Alten unter der Form des Schicksals kannten; das Wollen, verbunden mit der Fähigkeit des Spielers, wirkt ihm entgegen. In diesem Sinn möchte ich das Whistspiel antik nennen. Die Form dieses Spiels beschränkt den Zufall, ja das Wollen selbst. Ich muß bei gegebenen Mit- und Gegenspielern mit den Karten, die mir in die Hand kommen, eine lange Reihe von Zufällen lenken, ohne ihnen ausweichen zu können; beim L’hombre und ähnlichen Spielen findet das Gegenteil statt. Hier sind meinem Wollen und Wagen gar viele Türen gelassen; ich kann die Karten, die mir zufallen, verleugnen, in verschiedenem Sinne gelten lassen, halb oder ganz verwerfen, vom Glück Hülfe rufen, ja durch ein umgekehrtes Verfahren aus den schlechtesten Blättern den größten Vorteil ziehen, und so gleichen diese Art Spiele vollkommen der modernen Denk- und Dichtart.
Die alte Tragödie beruht auf einem unausweichlichen Sollen, das durch ein entgegenwirkendes Wollen nur geschärft und beschleunigt wird. Hier ist der Sitz alles Furchtbaren der Orakel, die Region, in welcher Ödipus über alle thront. Zarter erscheint uns das Sollen als Pflicht in der »Antigone«, und in wie viele Formen verwandelt tritt es nicht auf. Aber alles Sollen ist despotisch. Es gehöre der Vernunft an: wie das Sitten- und Stadtgesetz, oder der Natur: wie die Gesetze des Werdens, Wachsens und Vergehens, des Lebens und Todes. Vor allem diesem schaudern wir, ohne zu bedenken, daß das Wohl des Ganzen dadurch bezielt sei. Das Wollen hingegen ist frei, scheint frei und begünstigt den Einzelnen. Daher ist das Wollen schmeichlerisch und mußte sich der Menschen bemächtigen, sobald sie es kennenlernten. Es ist der Gott der neuern Zeit; ihm hingegeben, fürchten wir uns vor dem Entgegengesetzten, und hier liegt der Grund, warum unsre Kunst sowie unsre Sinnesart von der antiken ewig getrennt bleibt. Durch das Sollen wird die Tragödie groß und stark, durch das Wollen schwach und klein. Auf dem letzten Wege ist das sogenannte Drama entstanden, indem man das ungeheure Sollen durch ein Wollen auflöste; aber eben weil dieses unsrer Schwachheit zu Hülfe kommt, so fühlen wir uns gerührt, wenn wir nach peinlicher Erwartung zuletzt noch kümmerlich getröstet werden.
Wende ich mich nun nach diesen Vorbetrachtungen zu Shakespeare, so muß der Wunsch entspringen, daß meine Leser selbst Vergleichung und Anwendung übernehmen möchten. Hier tritt Shakespeare einzig hervor, indem er das Alte und Neue auf eine überschwengliche Weise verbindet. Wollen und Sollen suchen sich durchaus in seinen Stücken ins Gleichgewicht zu setzen; beide bekämpfen sich mit Gewalt, doch immer so, daß das Wollen im Nachteile bleibt.
Niemand hat vielleicht herrlicher als er die erste große Verknüpfung des Wollens und Sollens im individuellen Charakter dargestellt. Die Person, von der Seite des Charakters betrachtet, soll; sie ist beschränkt, zu einem Besondern bestimmt; als Mensch aber will sie. Sie ist unbegrenzt und fordert das Allgemeine. Hier entspringt schon ein innerer Konflikt, und diesen läßt Shakespeare vor allen andern hervortreten. Nun aber kommt ein äußerer hinzu, und der erhitzt sich öfters dadurch, daß ein unzulängliches Wollen durch Veranlassungen zum unerläßlichen Sollen erhöht wird. Diese Maxime habe ich früher an Hamlet nachgewiesen; sie wiederholt sich aber bei Shakespeare; denn wie Hamlet durch den Geist, so kommt Macbeth durch Hexen, Hekate und die Überhexe, sein Weib, Brutus durch die Freunde in eine Klemme, der sie nicht gewachsen sind; ja sogar im »Coriolan« läßt sich das Ähnliche finden; genug, ein Wollen, das über die Kräfte eines Individuums hinausgeht, ist modern. Daß es aber Shakespeare nicht von innen entspringen, sondern durch äußere Veranlassung aufregen läßt, dadurch wird es zu einer Art von Sollen und nähert sich dem Antiken. Denn alle Helden des dichterischen Altertums wollen nur das, was Menschen möglich ist, und daher entspringt das schöne Gleichgewicht zwischen Wollen, Sollen und Vollbringen; doch steht ihr Sollen immer zu schroff da, als daß es uns, wenn wir es auch bewundern, anmuten könnte. Eine Notwendigkeit, die mehr oder weniger oder völlig alle Freiheit ausschließt, verträgt sich nicht mehr mit unsern Gesinnungen; diesen hat jedoch Shakespeare auf seinem Wege sich genähert: denn indem er das Notwendige sittlich macht, so verknüpft er die alte und neue Welt zu unserm freudigen Erstaunen. Ließe sich etwas von ihm lernen, so wäre hier der Punkt, den wir in seiner Schule studieren müßten. Anstatt unsre Romantik, die nicht zu schelten noch zu verwerfen sein mag, über die Gebühr ausschließlich zu erheben und ihr einseitig nachzuhängen, wodurch ihre starke, derbe, tüchtige Seite verkannt und verderbt wird, sollten wir suchen, jenen großen, unvereinbar scheinenden Gegensatz um so mehr in uns zu vereinigen, als ein großer und einziger Meister, den wir so höchlich schätzen und oft, ohne zu wissen warum, über alles präkonisieren, das Wunder wirklich schon geleistet hat. Freilich hatte er den Vorteil, daß er zur rechten Erntezeit kam, daß er in einem lebensreichen protestantischen Lande wirken durfte, wo der bigotte Wahn eine Zeitlang schwieg, so daß einem wahren Naturfrommen wie Shakespeare die Freiheit blieb, sein reines Innere, ohne Bezug auf irgendeine bestimmte Religion, religios zu entwickeln.
Vorstehendes ward im Sommer 1813 geschrieben, und man will daran nicht markten noch mäkeln, sondern nur an das oben Gesagte erinnern: daß Gegenwärtiges gleichfalls ein einzelner Versuch sei, um zu zeigen, wie die verschiedenen poetischen Geister jenen ungeheuern und unter so viel Gestalten hervortretenden Gegensatz auf ihre Weise zu vereinigen und aufzulösen gesucht. Mehreres zu sagen wäre um so überflüssiger, als man seit gedachter Zeit auf diese Frage von allen Seiten aufmerksam gemacht worden und wir darüber vortreffliche Erklärungen erhalten haben. Vor allen gedenke ich Blümners höchst schätzbare Abhandlung »Über die Idee des Schicksals in den Tragödien des Äschylus« und deren fürtreffliche Rezension in den Ergänzungsblättern der »Jenaischen Literaturzeitung«. Worauf ich mich denn ohne weiteres zu dem dritten Punkt wende, welcher sich unmittelbar auf das deutsche Theater bezieht und auf jenen Vorsatz, welchen Schiller gefaßt, dasselbe auch für die Zukunft zu begründen.
III. Shakespeare als Theaterdichter
Wenn Kunstliebhaber und -freunde irgend ein Werk freudig genießen wollen, so ergötzen sie sich am Ganzen und durchdringen sich von der Einheit, die ihm der Künstler geben können. Wer hingegen theoretisch über solche Arbeiten sprechen, etwas von ihnen behaupten und also lehren und belehren will, dem wird Sondern zur Pflicht. Diese glaubten wir zu erfüllen, indem wir Shakespeare erst als Dichter Überhaupt betrachteten und sodann mit den Alten und den Neuesten verglichen. Nun aber gedenken wir unsern Vorsatz dadurch abzuschließen, daß wir ihn als Theaterdichter betrachten.
Shakespeares Name und Verdienst gehören in die Geschichte der Poesie; aber es ist eine Ungerechtigkeit gegen alle Theaterdichter früherer und späterer Zeiten, sein ganzes Verdienst in der Geschichte des Theaters aufzuführen.
Ein allgemein anerkanntes Talent kann von seinen Fähigkeiten einen Gebrauch machen, der problematisch ist. Nicht alles, was der Vortreffliche tut, geschieht auf die vortrefflichste Weise. So gehört Shakespeare notwendig in die Geschichte der Poesie; in der Geschichte des Theaters tritt er nur zufällig auf. Weil man ihn dort unbedingt verehren kann, so muß man hier die Bedingungen erwägen, in die er sich fügte, und diese Bedingungen nicht als Tugenden oder als Muster anpreisen.
Wir unterscheiden nahverwandte Dichtungsarten, die aber bei lebendiger Behandlung oft zusammenfließen: Epos, Dialog, Drama, Theaterstück lassen sich sondern. Epos fordert mündliche Überlieferungen an die Menge durch einen Einzelnen; Dialog Gespräch in geschlossener Gesellschaft, wo die Menge allenfalls zuhören mag; Drama Gespräch in Handlungen, wenn es auch nur vor der Einbildungskraft geführt würde; Theaterstück alles dreies zusammen, insofern es den Sinn des Auges mit beschäftigt und unter gewissen Bedingungen örtlicher und persönlicher Gegenwart faßlich werden kann.
Shakespeares Werke sind in diesem Sinne am meisten dramatisch; durch seine Behandlungsart, das innerste Leben hervorzukehren, gewinnt er den Leser; die theatralischen Forderungen erscheinen ihm nichtig, und so macht er sich’s bequem, und man läßt sich’s, geistig genommen, mit ihm bequem werden. Wir springen mit ihm von Lokalität zu Lokalität, unsere Einbildungskraft ersetzt alle Zwischenhandlungen, die er ausläßt, ja wir wissen ihm Dank, daß er unsere Geisteskräfte auf eine so würdige Weise anregt. Dadurch, daß er alles unter der Theaterform vorbringt, erleichtert er der Einbildungskraft die Operation; denn mit den »Brettern, die die Welt bedeuten« sind wir bekannter als mit der Welt selbst, und wir mögen das Wunderlichste lesen und hören, so meinen wir, das könne auch da droben einmal vor unsern Augen vorgehen; daher die so oft mißlungene Bearbeitung von beliebten Romanen in Schauspielen.
Genau aber genommen, so ist nichts theatralisch, als was für die Augen zugleich symbolisch ist: eine wichtige Handlung, die auf eine noch wichtigere deutet. Daß Shakespeare auch diesen Gipfel zu erfassen gewußt, bezeugt jener Augenblick, wo dem todkranken schlummernden König der Sohn und Nachfolger die Krone von seiner Seite wegnimmt, sie aufsetzt und damit fortstolziert. Dieses sind aber nur Momente, ausgesäte Juwelen, die durch viel Untheatralisches auseinandergehalten werden. Shakespeares ganze Verfahrungsart findet an der eigentlichen Bühne etwas Widerstrebendes; sein großes Talent ist das eines Epitomators, und da der Dichter überhaupt als Epitomator der Natur erscheint, so müssen wir auch hier Shakespeares großes Verdienst anerkennen, nur leugnen wir dabei, und zwar zu seinen Ehren, daß die Bühne ein würdiger Raum für sein Genie gewesen. Indessen veranlaßt ihn gerade diese Bühnenenge zu eigner Begrenzung. Hier aber nicht, wie andere Dichter, wählt er sich zu einzelnen Arbeiten besondere Stoffe, sondern er legt einen Begriff in den Mittelpunkt und bezieht auf diesen die Welt und das Universum. Wie er alte und neue Geschichte in die Enge zieht, kann er den Stoff von jeder Chronik brauchen, an die er sich oft sogar wörtlich hält. Nicht so gewissenhaft verfährt er mit den Novellen, wie uns »Hamlet« bezeugt. »Romeo und Julie« bleibt der Überlieferung getreuer, doch zerstört er den tragischen Gehalt derselben beinahe ganz durch die zwei komischen Figuren Mercutio und die Amme, wahrscheinlich von zwei beliebten Schauspielern, die Amme wohl auch von einer Mannsperson gespielt. Betrachtet man die Ökonomie des Stücks recht genau, so bemerkt man, daß diese beiden Figuren, und was an sie grenzt, nur als possenhafte Intermezzisten auftreten, die uns bei unserer folgerechten, Übereinstimmung liebenden Denkart auf der Bühne unerträglich sein müssen.
Am merkwürdigsten erscheint jedoch Shakespeare, wenn er schon vorhandene Stücke redigiert und zusammenschneidet. Bei »König Johann« und »Lear« können wir diese Vergleichung anstellen, denn die ältern Stücke sind noch übrig. Aber auch in diesen Fällen ist er wieder mehr Dichter überhaupt als Theaterdichter.
Lasset uns denn aber zum Schluß zur Auflösung des Rätsels schreiten. Die Unvollkommenheit der englischen Bretterbühne ist uns durch kenntnisreiche Männer vor Augen gestellt. Es ist keine Spur von der Natürlichkeitsforderung, in die wir nach und nach durch Verbesserung der Maschinerie und der perspektivischen Kunst und der Garderobe hineingewachsen sind und von wo man uns wohl schwerlich in jene Kindheit der Anfänge wieder zurückführen dürfte: vor ein Gerüste, wo man wenig sah, wo alles nur bedeutete, wo sich das Publikum gefallen ließ, hinter einem grünen Vorhang das Zimmer des Königs anzunehmen, den Trompeter, der an einer gewissen Stelle immer trompetete, und was dergleichen mehr ist. Wer will sich nun gegenwärtig so etwas zumuten lassen? Unter solchen Umständen waren Shakespeares Stücke höchst interessante Märchen, nur von mehreren Personen erzählt, die sich, um etwas mehr Eindruck zu machen, charakteristisch maskiert hatten, sich, wie es not tat, hin und her bewegten, kamen und gingen, dem Zuschauer jedoch überließen, sich auf der öden Bühne nach Belieben Paradies und Paläste zu imaginieren.
Wodurch erwarb sich denn Schröder das große Verdienst, Shakespeares Stücke auf die deutsche Bühne zu bringen, als daß er der Epitomator des Epitomators wurde! Schröder hielt sich ganz allein ans Wirksame, alles andere warf er weg, ja sogar manches Notwendige, wenn es ihm die Wirkung auf seine Nation, auf seine Zeit zu stören schien. So ist es z.B. wahr, daß er durch Weglassung der ersten Szenen des »Königs Lear« den Charakter des Stücks aufgehoben; aber er hatte doch recht, denn in dieser Szene erscheint Lear so absurd, daß man seinen Töchtern in der Folge nicht ganz unrecht geben kann. Der Alte jammert einen, aber Mitleid hat man nicht mit ihm, und Mitleid wollte Schröder erregen, so wie Abscheu gegen die zwar unnatürlichen, aber doch nicht durchaus zu scheltenden Töchter.
In dem alten Stücke, welches Shakespeare redigiert, bringt diese Szene im Verlaufe des Stücks die lieblichsten Wirkungen hervor. Lear entflieht nach Frankreich, Tochter und Schwiegersohn, aus romantischer Grille, machen verkleidet irgendeine Wallfahrt ans Meer und treffen den Alten, der sie nicht erkennt. Hier wird alles süß, was Shakespeares hoher tragischer Geist uns verbittert hat. Eine Vergleichung dieser Stücke macht dem denkenden Kunstfreunde immer aufs neue Vergnügen.
Nun hat sich aber seit vielen Jahren das Vorurteil in Deutschland eingeschlichen, daß man Shakespeare auf der deutschen Bühne Wort für Wort aufführen müsse, und wenn Schauspieler und Zuschauer daran erwürgen sollten. Die Versuche, durch eine vortreffliche genaue Übersetzung veranlaßt, wollten nirgends gelingen, wovon die Weimarische Bühne bei redlichen und wiederholten Bemühungen das beste Zeugnis ablegen kann. Will man ein Shakespearisch Stück sehen, so muß man wieder zu Schröders Bearbeitung greifen; aber die Redensart, daß auch bei der Vorstellung von Shakespeare kein Jota zurückbleiben dürfe, so sinnlos sie ist, hört man immer wiederklingen. Behalten die Verfechter dieser Meinung die Oberhand, so wird Shakespeare in wenigen Jahren ganz von der deutschen Bühne verdrängt sein, welches denn auch kein Unglück wäre, denn der einsame oder gesellige Leser wird an ihm desto reinere Freude empfinden.
Um jedoch in dem Sinne, wie wir oben weitläufig gesprochen, einen Versuch zu machen, hat man »Romeo und Julie« für das Weimarische Theater redigiert. Die Grundsätze, wonach solches geschehen, wollen wir ehestens entwickeln, woraus sich denn vielleicht auch ergeben wird, warum diese Redaktion, deren Vorstellung keineswegs schwierig ist, jedoch kunstmäßig und genau behandelt werden muß, auf dem deutschen Theater nicht gegriffen. Versuche ähnlicher Art sind im Werke, und vielleicht bereitet sich für die Zukunft etwas vor, da ein häufiges Bemühen nicht immer auf den Tag wirkt.
Geistesepochen nach Hermanns neusten Mitteilungen
Die Urzeit der Welt, der Nationen, der einzelnen Menschen ist sich gleich. Wüste Leerheit umfängt erst alles, der Geist jedoch brütet schon über Beweglichem und Gebildetem. Indes die Autochthonenmenge staunend ängstlich umherblickt, kümmerlich das unentbehrlichste Bedürfnis zu befriedigen, schaut ein begünstigter Geist in die großen Welterscheinungen hinein, bemerkt, was sich ereignet, und spricht das Vorhandene ahndungsvoll aus, als wenn es entstünde. So haben wir in der ältesten Zeit Betrachtung, Philosophie, Benamsung und Poesie der Natur alles in einem.
Die Welt wird heiterer, jene düstere Elemente klären sich auf, entwirren sich, der Mensch greift nach ihnen, sie auf andere Weise zu gewältigen. Eine frische gesunde Sinnlichkeit blickt umher, freundlich sieht sie im Vergangenen und Gegenwärtigen nur ihresgleichen. Dem alten Namen verleiht sie neue Gestalt, anthropomorphosiert, personifiziert das Leblose wie das Abgestorbene und verteilt ihren eigenen Charakter über alle Geschöpfe. So lebt und webt der Volksglaube, der sich von allem Abstrusen, was aus jener Urepoche übriggeblieben sein mag, oft leichtsinnig befreit. Das Reich der Poesie blüht auf, und nur der ist Poet, der den Volksglauben besitzt oder sich ihn anzueignen weiß. Der Charakter dieser Epoche ist freie, tüchtige, ernste, edle Sinnlichkeit, durch Einbildungskraft erhöht.
Da jedoch der Mensch in Absicht der Veredlung sein selbst keine Grenzen kennt, auch die klare Region des Daseins ihm nicht in allen Umständen zusagt, so strebt er ins Geheimnis zurück, sucht höhere Ableitung dessen, was ihm erscheint. Und wie die Poesie Dryaden und Hamadryaden schafft, über denen höhere Götter ihr Wesen treiben, so erzeugt die Theologie Dämonen, die sie so lange einander unterordnet, bis sie zuletzt sämtlich von einem Gotte abhängig gedacht werden. Diese Epoche dürfen wir die heilige nennen, sie gehört im höchsten Sinne der Vernunft an, kann sich aber nicht lange rein erhalten und muß, weil sie denn doch zu ihrem Behuf den Volksglauben aufstutzt, ohne Poesie zu sein, weil sie das Wunderbarste ausspricht und ihm objektive Gültigkeit zuschreibt, endlich dem Verstand verdächtig werden. Dieser, in seiner größten Energie und Reinheit, verehrt die Uranfänge, erfreut sich am poetischen Volksglauben und schätzt das edle Menschenbedürfnis, ein Oberstes anzuerkennen. Allein der Verständige strebt, alles Denkbare seiner Klarheit anzueignen und selbst die geheimnisvollsten Erscheinungen faßlich aufzulösen. Volks- und Priesterglaube wird daher keineswegs verworfen, aber hinter demselben ein Begreifliches, Löbliches, Nützliches angenommen, die Bedeutung gesucht, das Besondere ins Allgemeine verwandelt und aus allem Nationalen, Provinzialen, ja Individuellen etwas der Menschheit überhaupt Zuständiges herausgeleitet. Dieser Epoche kann man ein edles, reines, kluges Bestreben nicht absprechen, sie genügt aber mehr dem einzelnen wohlbegabten Menschen als ganzen Völkern.
Denn wie sich diese Sinnesart verbreitet, folgt sogleich die letzte Epoche, welche wir die prosaische nennen dürfen, da sie nicht etwa den Gehalt der frühern humanisieren, dem reinen Menschenverstand und Hausgebrauch aneignen möchte, sondern das Älteste in die Gestalt des gemeinen Tags zieht und auf diese Weise Urgefühle, Volks- und Priesterglauben, ja den Glauben des Verstandes, der hinter dem Seltsamen noch einen löblichen Zusammenhang vermutet, völlig zerstört.
Diese Epoche kann nicht lange dauern. Das Menschenbedürfnis, durch Weltschicksale aufgeregt, überspringt rückwärts die verständige Leitung, vermischt Priester-, Volks- und Urglauben, klammert sich bald da, bald dort an Überlieferungen, versenkt sich in Geheimnisse, setzt Märchen an die Stelle der Poesie und erhebt sie zu Glaubensartikeln. Anstatt verständig zu belehren und ruhig einzuwirken, streut man willkürlich Samen und Unkraut zugleich nach allen Seiten; kein Mittelpunkt, auf den hingeschaut werde, ist mehr gegeben, jeder Einzelne tritt als Lehrer und Führer hervor und gibt seine vollkommene Torheit für ein vollendetes Ganze.
Und so wird denn auch der Wert eines jeden Geheimnisses zerstört, der Volksglaube selbst entweiht; Eigenschaften, die sich vorher naturgemäß auseinanderenwickelten, arbeiten wie streitende Elemente gegeneinander, und so ist das Tohuwabohu wieder da, aber nicht das erste, befruchtete, gebärende, sondern ein absterbendes, in Verwesung übergehendes, aus dem der Geist Gottes kaum selbst eine ihm würdige Welt abermals erschaffen könnte.
Indische Dichtungen
Wir würden höchst undankbar sein, wenn wir nicht indischer Dichtung[en] gleichfalls gedenken wollten, und zwar solcher, die deshalb bewundernswürdig sind, weil sie sich aus dem Konflikt mit der abstrusesten Philosophie in einer und mit der monstrosesten Religion auf der andern Seite im glücklichsten Naurell durchhelfen und von beiden nicht mehr annehmen, als ihnen zur inneren Tiefe und äußeren Würde frommen mag.
Vor allen wird »Sakontala« von uns genannt, in deren Bewunderung wir uns jahrelang versenkten. Weibliche Reinheit, schuldlose Nachgiebigkeit, Vergeßlichkeit des Mannes, mütterliche Abgesondertheit, Vater und Mutter durch den Sohn vereint, die allernatürlichsten Zustände, hier aber in die Regionen der Wunder, die zwischen Himmel und Erde wie fruchtbare Wolken schweben, poetisch erhöht, und ein ganz gewöhnliches Naturschauspiel, durch Götter und Götterkinder aufgeführt.
Mit »Gita-Govinda« ist es derselbige Fall; auch hier kann das Äußerste nur dargestellt werden, wenn Götter und Halbgötter die Handlung bilden.
Uns Westländern konnte der würdige Übersetzer nur die erste Hälfte zuteilen, welche die grenzenloseste Eifersucht darstellt einer Halbgöttin, die von ihrem Liebhaber verlassen ist oder sich verlassen glaubt. Die Ausführlichkeit dieser Malerei bis ins Allerkleinste spricht uns durchgängig an. Wie müßte uns aber bei der zweiten Hälfte zumute werden, welche den rückkehrenden Gott, die unmäßige Freude der Geliebten, den grenzenlosen Genuß der Liebenden darzustellen bestimmt ist und es wohl auf eine solche Weise tun mag, die jene erste überschwengliche Entbehrung aufzuwiegen geeignet sei.
Der unvergleichliche Jones kannte seine westlichen Insulaner gut genug, um sich auch in diesem Falle wie immer in den Grenzen europäischer Schicklichkeit zu halten, und doch hat er solche Andeutungen gewagt, daß einer seiner deutschen Übersetzer sie zu beseitigen und zu tilgen vor nötig erachtet.
Enthalten können wir uns zum Schlusse nicht, des neueren bekannt gewordenen Gedichtes »Megha-Duta« zu gedenken. Auch dieses enthält wie die vorigen rein menschliche Verhältnisse. Ein aus dem nördlichen Indien in das südliche verbannter Höfling gibt zur Zeit, da der ungeheure Zug geballter und sich ewig verwandelnder Wolken von der Südspitze der Halbinsel nach den nördlichen Gebirgen unaufhaltsam hinzieht und die Regenzeit vorbereitet, einer dieser riesenhaften Lufterscheinung[en] den Auftrag, seine zurückgebliebene Gattin zu begrüßen, sie wegen der noch kurzen Zeit seines Exils zu trösten, unterwegs aber Städte und Länder, wo seine Freunde befindlich, zu beachten und zu segnen, wodurch man einen Begriff des Raumes erhält, der ihn von der Geliebten trennt, und zugleich ein Bild, wie reichlich diese Landsschaft im einzelnen ausgestattet sein müßte.
Alle diese Gedichte sind uns durch Übersetzungen mitgeteilt, die sich mehr oder weniger vom Original entfernen, so, daß wir nur ein allgemeines Bild ohne die begrenzte Eigentümlichkeit des Originals gewahr werden. Der Unterschied ist freilich sehr groß, wie aus einer Übersetzung mehrerer Verse unmittelbar aus dem Sanskrit, die ich Herrn Professor Kosegarten schuldig geworden, aufs klarste in die Augen leuchtet.
Aus diesem fernen Osten können wir nicht zurückkehren, ohne des neuerlich mitgeteilten chinesischen Dramas zu gedenken; hier ist das wahre Gefühl eines alternden Mannes, der ohne männliche Erben abscheiden soll, auf das rührendste dargestellt, und zwar gerade dadurch, daß hervortritt, daß er der schönsten Zeremonien, die zur Ehre des Abgeschiedenen landesüblich verordnet sind, wo nicht gar entbehren, doch wenigstens unwilligen und nachlässigen Verwandten überlassen soll. Es ist ein ganz eigentliches, nicht im Besonderen, sondern ins Allgemeine gedichtetes Familiengemälde. Es erinnert sehr an Ifflands »Hagestolzen«, nur daß bei dem Deutschen alles aus dem Gemüt oder aus den Unbilden häuslicher und bürgerlicher Umgebung ausgehen konnte, bei dem Chinesen aber außer ebendenselben Motiven noch alle religiose und polizeiliche Zeremonien [mitwirken], die dem glücklichen Stammvater zugute kommen, unsern wackern Greis aber unendlich peinigen und einer grenzenlosen Verzweiflung überliefern, bis denn zuletzt [durch] eine leise vorbereitete, aber doch überraschende Wendung das Ganze noch einen fröhlichen Abschluß gewinnt.
Antik und modern
Da ich in vorstehendem genötigt war, zugunsten des Altertums, besonders aber der damaligen bildenden Künstler, soviel Gutes zu sagen, so wünschte ich doch nicht mißverstanden zu werden, wie es leider gar oft geschieht, indem der Leser sich eher auf den Gegensatz wirft, als daß er zu einer billigen Ausgleichung sich geneigt fände. Ich ergreife daher eine dargebotene Gelegenheit, um beispielweise zu erklären, wie es eigentlich gemeint sei, und auf das ewig fortdauernde Leben des menschlichen Tuns und Handelns, unter dem Symbol der bildenden Kunst, hinzudeuten.
Ein junger Freund, Karl Ernst Schubarth, in seinem Hefte »Zur Beurteilung Goethes«, welches ich in jedem Sinne zu schätzen und dankbar anzuerkennen habe, sagt: »Ich bin nicht der Meinung wie die meisten Verehrer der Alten, unter die Goethe selbst gehört, daß in der Welt für eine hohe, vollendete Bildung der Menschheit nichts ähnlich Günstiges sich hervorgetan habe wie bei den Griechen.« Glücklicherweise können wir diese Differenz mit Schubarths eigenen Worten ins gleiche bringen, indem er spricht: »Von unserem Goethe aber sei es gesagt, daß ich Shakespeare ihm darum vorziehe, weil ich in Shakespeare einen solchen tüchtigen, sich selbst unbewußten Menschen gefunden zu haben glaube, der mit höchster Sicherheit, ohne alles Räsonieren, Reflektieren, Subtilisieren, Klassifizieren und Potenzieren den wahren und falschen Punkt der Menschheit überall so genau, mit so nie irrendem Griff und so natürlich hervorhebt, daß ich zwar am Schluß bei Goethe immer das nämliche Ziel erkenne, von vornherein aber stets mit dem Entgegengesetzten zuerst zu kämpfen, es zu überwinden und mich sorgfältig in acht zu nehmen habe, daß ich nicht für blanke Wahrheit hinnehme, was doch nur als entschiedener Irrtum abgelehnt werden soll.«
Hier trifft unser Freund den Nagel auf den Kopf, denn gerade da, wo er mich gegen Shakespeare im Nachteil findet, stehen wir im Nachteil gegen die Alten. Und was reden wir von den Alten? Ein jedes Talent, dessen Entwickelung von Zeit und Umständen nicht begünstigt wird, so daß es sich vielmehr erst durch vielfache Hindernisse durcharbeiten, von manchen Irrtümern sich losarbeiten muß, steht unendlich im Nachteil gegen ein gleichzeitiges, welches Gelegenheit findet, sich mit Leichtigkeit auszubilden und, was es vermag, ohne Widerstand auszuüben.
Bejahrten Personen fällt aus der Fülle der Erfahrung oft bei Gelegenheit ein, was eine Behauptung erläutern und bestärken könnte; deshalb sei folgende Anekdote zu erzählen vergönnt. Ein geübter Diplomat, der meine Bekanntschaft wünschte, sagte, nach dem er mich bei dem ersten Zusammentreffen nur überhin angesehen und gesprochen, zu seinen Freunden: »Voilà un homme qui a eu de grands chagrins!« Diese Worte gaben mir zu denken: der gewandte Gesichtsforscher hatte recht gesehen, aber das Phänomen bloß durch den Begriff von Duldung ausgedrückt, was er auch der Gegenwirkung hätte zuschreiben sollen. Ein aufmerksamer, gerader Deutscher hätte vielleicht gesagt: Das ist auch einer, der sich’s hat sauer werden lassen!
Wenn sich nun in unseren Gesichtszügen die Spur überstandenen Leidens, durchgeführter Tätigkeit nicht auslöschen läßt, so ist es kein Wunder, wenn alles, was von uns und unserem Bestreben übrigbleibt, dieselbe Spur trägt und dem aufmerksamen Beobachter auf ein Dasein hindeutet, das in einer glücklichsten Entfaltung sowie in der notgedrungensten Beschränkung sich gleich zu bleiben und, wo nicht immer die Würde, doch wenigstens die Hartnäckigkeit des menschlichen Wesens durchzuführen trachtete.
Lassen wir also Altes und Neues, Vergangenes und Gegenwärtiges fahren und sagen im allgemeinen: Jedes künstlerisch Hervorgebrachte versetzt uns in die Stimmung, in welcher sich der Verfasser befand. War sie heiter und leicht, so werden wir uns frei fühlen; war sie beschränkt, sorglich und bedenklich, so zieht sie uns gleichmäßig in die Enge.
Nun bemerken wir bei einigem Nachdenken, daß hier eigentlich nur von der Behandlung die Rede sei; Stoff und Gehalt kommt nicht in Betracht. Schauen wir sodann diesem gemäß in der Kunstwelt frei umher, so gestehen wir, daß ein jedes Erzeugnis uns Freude macht, was dem Künstler mit Bequemlichkeit und Leichtigkeit gelungen. Welcher Liebhaber besitzt nicht mit Vergnügen eine wohlgeratne Zeichnung oder Radierung unseres Chodowiecki? Hier sehen wir eine solche Unmittelbarkeit an der uns bekannten Natur, daß nichts zu wünschen übrigbleibt. Nur darf er nicht aus seinem Kreise, nicht aus seinem Format herausgehen, wenn nicht alle seiner Individualität gegönnten Vorteile sollen verloren sein.
Wir wagen uns weiter und bekennen, daß Manieristen sogar, wenn sie es nur nicht allzuweit treiben, uns viel Vergnügen machen und daß wir ihre eigenhändigen Arbeiten sehr gern besitzen. Künstler, die man mit diesem Namen benennt, sind mit entschiedenem Talente geboren, allein sie fühlen bald, daß nach Verhältnis der Tage sowie der Schule, worein sie gekommen, nicht zu Federlesen Raum bleibt, sondern daß man sich entschließen und fertig werden müsse. Sie bilden sich daher eine Sprache, mit welcher sie, ohne weiteres Bedenken, die sichtbaren Zustände leicht und kühn behandeln und uns, mit mehr oder minderm Glück, allerlei Weltbilder vorspiegeln, wo durch denn manchmal ganze Nationen mehrere Dezennien hindurch angenehm unterhalten und getäuscht werden, bis zuletzt einer oder der andere wieder zur Natur und höheren Sinnesart zurückkehrt.
Daß es bei den Alten auch zuletzt auf eine solche Art von Manier hinauslief, sehen wir an den »Herkulanischen Altertümern«; allein die Vorbilder waren zu groß, zu frisch, wohlerhalten und gegenwärtig, als daß ihre Dutzendmaler sich hätten ganz ins Nichtige verlieren können.
Treten wir nun auf einen höhern und angenehmern Standpunkt und betrachten das einzige Talent Raffaels. Dieser, mit dem glücklichsten Naturell geboren, erwuchs in einer Zeit, wo man redlichste Bemühung, Aufmerksamkeit, Fleiß und Treue der Kunst widmete. Vorausgehende Meister führten den Jüngling bis an die Schwelle, und er brauchte nur den Fuß aufzuheben, um in den Tempel zu treten. Durch Peter Perugin zur sorgfältigsten Ausführung angehalten, entwickelt sich sein Genie an Leonard da Vinci und Michelangelo. Beide gelangten während eines langen Lebens, ungeachtet der höchsten Steigerung ihrer Talente, kaum zu dem eigentlichen Behagen des Kunstwirkens. Jener hatte sich, genau besehen, wirklich müde gedacht und sich allzusehr am Technischen abgearbeitet; dieser, anstatt uns zu dem, was wir ihm schon verdanken, noch Überschwengliches im Plastischen zu hinterlassen, quält sich die schönsten Jahre durch in Steinbrüchen nach Marmorblöcken und Bänken, so daß zuletzt von allen beabsichtigten Heroen des Alten und Neuen Testamentes der einzige Moses fertig wird, als ein Musterbild dessen, was hätte geschehen können und sollen. Raffael hingegen wirkt seine ganze Lebenszeit hindurch mit immer gleicher und größerer Leichtigkeit. Gemüts- und Tatkraft stehen bei ihm in so entschiedenem Gleichgewicht, daß man wohl behaupten darf, kein neuerer Künstler habe so rein und vollkommen gedacht als er und sich so klar ausgesprochen. Hier haben wir also wieder ein Talent, das uns aus der ersten Quelle das frischeste Wasser entgegensendet. Er gräzisiert nirgends, fühlt, denkt, handelt aber durchaus wie ein Grieche. Wir sehen hier das schönste Talent zu ebenso glücklicher Stunde entwickelt, als es unter ähnlichen Bedingungen und Umständen zu Perikles’ Zeit geschah.
Und so muß man immer wiederholen: Das geborne Talent wird zur Produktion gefordert, es fordert dagegen aber auch eine natur- und kunstgemäße Entwickelung für sich; es kann sich seiner Vorzüge nicht begeben und kann sie ohne äußere Zeitbegünstigung nicht gemäß vollenden.
Man betrachte die Schule der Carracci. Hier lag Talent, Ernst, Fleiß und Konsequenz zum Grunde, hier war ein Element, in welchem sich schöne Talente natur- und kunstgemäß entwickeln konnten. Wir sehen ein ganzes Dutzend vorzüglicher Künstler von dort ausgehen, jeden in gleichem, allgemeinem Sinn sein besonderes Talent üben und bilden, so daß kaum nach der Zeit ähnliche wieder erscheinen konnten.
Sehen wir ferner die ungeheuren Schritte, welche der talentreiche Rubens in die Kunstwelt hineintut! Auch er ist kein Erdgeborner; man schaue die große Erbschaft, in die er eintritt, von den Urvätern des 14. und 15. Jahrhunderts durch alle die trefflichen des 16. hindurch, gegen dessen Ende er geboren wird.
Betrachtet man neben und nach ihm die Fülle niederländischer Meister des 17., deren große Fähigkeiten sich bald zu Hause, bald südlich, bald nördlich ausbilden, so wird man nicht leugnen können, daß die unglaubliche Sagazität, womit ihr Auge die Natur durchdrungen, und die Leichtigkeit, womit sie ihr eignes gesetzliches Behagen ausgedrückt, uns durchaus zu entzücken geeignet sei. Ja, insofern wir dergleichen besitzen, beschränken wir uns gern ganze Zeiten hindurch auf Betrachtung und Liebe solcher Erzeugnisse und verargen es Kunstfreunden keineswegs, die sich ganz allein im Besitz und Verehrung dieses Faches begnügen.
Und so könnten wir noch hundert Beispiele bringen, das, was wir aussprechen, zu bewahrheiten. Die Klarheit der Ansicht, die Heiterkeit der Aufnahme, die Leichtigkeit der Mitteilung, das ist es, was uns entzückt; und wenn wir nun behaupten, dieses alles finden wir in den echt griechischen Werken, und zwar geleistet am edelsten Stoff, am würdigsten Gehalt, mit sicherer und vollendeter Ausführung, so wird man uns verstehen, wenn wir immer von dort ausgehen und immer dort hinweisen. Jeder sei auf seine Art ein Grieche! Aber er sei’s.
Ebenso ist es mit dem schriftstellerischen Verdienste. Das Faßliche wird uns immer zuerst ergreifen und vollkommen befriedigen; ja wenn wir die Werke eines und desselben Dichters vornehmen, so finden wir manche, die auf eine gewisse peinliche Arbeit hindeuten, andere dagegen, weil das Talent dem Gehalt und der Form vollkommen gewachsen war, wie freie Naturerzeugnisse hervortreten. Und so ist unser wiederholtes, aufrichtiges Bekenntnis: daß keiner Zeit versagt sei, das schönste Talent hervorzubringen, daß aber nicht einer jeden gegeben ist, es vollkommen würdig zu entwickeln.
Und so führen wir noch zum Schlusse einen neueren Künstler vor, um zu zeigen, daß wir nicht eben gar zu hoch hinaus wollen, sondern auch mit bedingten Werken und Zuständen zufrieden sind. Sebastian Bourdon, ein dem siebzehnten Jahrhundert angehöriger Künstler, dessen Name wohl jedem Kunstliebhaber mehrmals um die Ohren gesummt, dessen Talent jedoch in seiner echten Individualität nicht immer verdiente Anerkennung genossen hat, liefert uns vier eigenhändig radierte Blätter, in welchen er den Verlauf der Flucht nach Ägypten vollständig vorführt.
Man muß zuvörderst den Gegenstand wohl gelten lassen, daß ein bedeutendes Kind aus uraltem Fürstenstamme, dem beschieden ist, künftig auf die Welt ungeheuern Einfluß zu haben, wodurch das Alte zerstört und ganz Erneutes dagegen herangeführt wird, daß ein solcher Knabe in den Armen der liebevollsten Mutter, unter Obhut des bedächtigsten Greises geflüchtet und mit göttlicher Hülfe gerettet werde. Die verschiedenen Momente dieser bedeutenden Handlung sind hundertmal vorgestellt, und manche hiernach entsprungene Kunstwerke reißen uns oft zur Bewunderung hin.
Von den vier gemeldeten Blättern haben wir jedoch folgendes zu sagen, damit ein Liebhaber, der sie nicht selbst vor Augen schaut, einigermaßen unsern Beifall beurteilen möge. In diesen Bildern erscheint Joseph als die Hauptperson; vielleicht waren sie für eine Kapelle dieses Heiligen bestimmt.
I
Das Lokal mag für den Stall zu Bethlehem, unmittelbar nach dem Scheiden der drei frommen Magier, gehalten werden, denn in der Tiefe sieht man noch die beiden bewußten Tiere. Auf einem erhöhteren Hausraum ruht Joseph, anständig in Falten gehüllt, auf das Gepäck gebettet, wider den hohen Sattel gelehnt, worauf das heilige Kind, soeben erwachend, sich rührt. Die Mutter daneben ist in frommem Gebete begriffen. Mit diesem ruhigen Tagesanbruch kontrastiert ein höchst bewegter, gegen Joseph heranschwebender Engel, der mit beiden Händen nach einer Gegend hindeutet, die, mit Tempeln und Obelisken geschmückt, ein Traumbild Ägyptens hervorruft. Zimmermanns-Handwerkzeug liegt vernachlässigt am Boden.
II
Zwischen Ruinen hat sich die Familie nach einer starken Tagreise niedergelassen. Joseph, an das beladene, lastbare, aus einem Steintroge sich nährende Tier gelehnt, scheint einer augenblicklichen Ruhe stehend zu genießen; aber ein Engel fährt hinter ihm her, ergreift seinen Mantel und deutet nach dem Meere hin. Joseph, in die Höhe schauend und zugleich nach des Tieres Futter hindeutend, möchte noch kurze Frist für das müde Geschöpf erbitten. Die heilige Mutter, die sich mit dem Kind beschäftigte, schaut verwundert nach dem seltsamen Zwiegespräch herum: denn der Himmelsbote mag ihr unsichtbar sein.
III
Drückt eine eilende Wanderschaft vollkommen aus. Sie lassen eine große Bergstadt zur Rechten hinter sich. Knapp am Zaum führt Joseph das Tier einen Pfad hinab, welchen sich die Einbildungskraft um desto steiler denkt, weil wir davon gar nichts, vielmehr gleich unten hinter dem Vordergrunde das Meer sehen. Die Mutter, auf dem Sattel, weiß von keiner Gefahr, ihre Blicke sind völlig in das schlafende Kind versenkt. Sehr geistvoll ist die Eile der Wandernden dadurch angedeutet, daß sie schon das Bild größtenteils durchzogen haben und im Begriff sind, auf der linken Seite zu verschwinden.
IV
Ganz im Gegensatz des vorigen ruhen Joseph und Maria in der Mitte des Bildes auf dem Gemäuer eines Röhrbrunnens. Joseph, dahinter stehend und herübergelehnt, deutet auf ein im Vordergrund umgestürztes Götzenbild und scheint der heiligen Mutter dieses bedeutende Zeichen zu erklären. Sie, das Kind an der Brust, schaut ernst und horchend, ohne daß man wüßte, wonach sie blickt. Das entbürdete Tier schmaust hinterwärts an reich grünenden Zweigen. In der Ferne sehen wir die Obelisken wieder, auf die im Traume gedeutet war. Palmen in der Nähe überzeugen uns, daß wir in Ägypten schon angelangt sind.
Alles dieses hat der bildende Künstler in so engen Räumen mit leichten, aber glücklichen Zügen dargestellt. Durchdringendes, vollständiges Denken, geistreiches Leben, Auffassen des Unentbehrlichsten, Beseitigung alles Überflüssigen, glücklich flüchtige Behandlung im Ausführen, dies ist es, was wir an unsern Blättern rühmen, und mehr bedarf es nicht: denn wir finden hier so gut als irgendwo die Höhe der Kunst erreicht. Der Parnaß ist ein Montserrat, der viele Ansiedelungen in mancherlei Etagen erlaubt; ein jeder gehe hin, versuche sich, und er wird eine Stätte finden, es sei auf Gipfeln oder in Winkeln.
»Urworte. Orphisch«
Nachstehende fünf Stanzen sind schon im zweiten Heft der »Morphologie« abgedruckt, allein sie verdienen wohl einem größeren Publikum bekannt zu werden; auch haben Freunde gewünscht, daß zum Verständnis derselben einiges geschähe, damit dasjenige, was sich hier fast nur ahnen läßt, auch einem klaren Sinne gemäß und einer reinen Erkenntnis übergeben sei.
Was nun von älteren und neueren orphischen Lehren überliefert worden, hat man hier zusammenzudrängen, poetisch-kompendios, lakonisch vorzutragen gesucht. Diese wenigen Strophen enthalten viel Bedeutendes in einer Folge, die, wenn man sie erst kennt, dem Geiste die wichtigsten Betrachtungen erleichtert.
Δαιμον, Dämon
Wie an dem Tag, der dich der Welt verliehen,
Die Sonne stand zum Gruße der Planeten,
Bist alsobald und fort und fort gediehen
Nach dem Gesetz, wonach du angetreten.
So mußt du sein, dir kannst du nicht entfliehen,
So sagten schon Sibyllen, so Propheten;
Und keine Zeit und keine Macht zerstückelt
Geprägte Form, die lebend sich entwickelt.
Der Bezug der Überschrift auf die Strophe selbst bedarf einer Erläuterung. Der Dämon bedeutet hier die notwendige, bei der Geburt unmittelbar ausgesprochene, begrenzte Individualität der Person, das Charakteristische, wodurch sich der Einzelne von jedem andern bei noch so großer Ähnlichkeit unterscheidet. Diese Bestimmung schrieb man dem einwirkenden Gestirn zu, und es ließen sich die unendlich mannigfaltigen Bewegungen und Beziehungen der Himmelskörper unter sich selbst und zu der Erde gar schicklich mit den mannigfaltigen Abwechselungen der Geburten in Bezug stellen. Hiervon sollte nun auch das künftige Schicksal des Menschen ausgehen, und man möchte, jenes erste zugebend, gar wohl gestehen, daß angeborne Kraft und Eigenheit mehr als alles übrige des Menschen Schicksal bestimme.
Deshalb spricht diese Strophe die Unveränderlichkeit des Individuums mit wiederholter Beteuerung aus. Das noch so entschieden Einzelne kann als ein Endliches gar wohl zerstört, aber, solange sein Kern zusammenhält, nicht zersplittert noch zerstückelt werden, sogar durch Generationen hindurch.
Dieses feste, zähe, dieses nur aus sich selbst zu entwickelnde Wesen kommt freilich in mancherlei Beziehungen, wodurch sein erster und ursprünglicher Charakter in seinen Wirkungen gehemmt, in seinen Neigungen gehindert wird, und was hier nun eintritt, nennt unsere Philosophie
Τυχη, das Zufällige
Die strenge Grenze doch umgeht gefällig
Ein Wandelndes, das mit und um uns wandelt;
Nicht einsam bleibst du, bildest dich gesellig,
Und handelst wohl so, wie ein andrer handelt:
Im Leben ists bald hin-, bald widerfällig,
Es ist ein Tand und wird so durchgetandelt.
Schon hat sich still der Jahre Kreis geründet,
Die Lampe harrt der Flamme, die entzündet.
Zufällig ist es jedoch nicht, daß einer aus dieser oder jener Nation, Stamm oder Familie sein Herkommen ableite: denn die auf der Erde verbreiteten Nationen sind so wie ihre mannigfaltigen Verzweigungen als Individuen anzusehen, und die Tyche kann nur bei Vermischung und Durchkreuzung eingreifen. Wir sehen das wichtige Beispiel von hartnäckiger Persönlichkeit solcher Stämme an der Judenschaft; europäische Nationen, in andere Weltteile versetzt, legen ihren Charakter nicht ab, und nach mehreren hundert Jahren wird in Nordamerika der Engländer, der Franzose, der Deutsche gar wohl zu erkennen sein; zugleich aber auch werden sich bei Durchkreuzungen die Wirkungen der Tyche bemerklich machen, wie der Mestize an einer klarern Hautfarbe zu erkennen ist. Bei der Erziehung, wenn sie nicht öffentlich und nationell ist, behauptet Tyche ihre wandelbaren Rechte. Säugamme und Wärterin, Vater oder Vormund, Lehrer oder Aufseher, so wie alle die ersten Umgebungen an Gespielen, ländlicher oder städtischer Lokalität, alles bedingt die Eigentümlichkeit durch frühere Entwickelung, durch Zurückdrängen oder Beschleunigen; der Dämon freilich hält sich durch alles durch, und dieses ist denn die eigentliche Natur, der alte Adam und wie man es nennen mag, der, so oft auch ausgetrieben, immer wieder unbezwinglicher zurückkehrt.
In diesem Sinne einer notwendig aufgestellten Individualität hat man einem jeden Menschen seinen Dämon zugeschrieben, der ihm gelegentlich ins Ohr raunt, was denn eigentlich zu tun sei, und so wählte Sokrates den Giftbecher, weil ihm ziemte zu sterben.
Allein Tyche läßt nicht nach und wirkt besonders auf die Jugend immerfort, die sich mit ihren Neigungen, Spielen, Geselligkeiten und flüchtigem Wesen bald da-, bald dorthin wirft und nirgends Halt noch Befriedigung findet. Da entsteht denn mit dem wachsenden Tage eine ernstere Unruhe, eine gründlichere Sehnsucht; die Ankunft eines neuen Göttlichen wird erwartet.
Ερως, Liebe
Die bleibt nicht aus! – Er stürzt vom Himmel nieder,
Wohin er sich aus alter Öde schwang,
Er schwebt heran auf luftigem Gefieder
Um Stirn und Brust den Frühlingstag entlang,
Scheint jetzt zu fliehn, vom Fliehen kehrt er wieder:
Da wird ein Wohl im Weh, so süß und bang.
Gar manches Herz verschwebt im Allgemeinen,
Doch widmet sich das edelste dem Einen.
Hierunter ist alles begriffen, was man von der leisesten Neigung bis zur leidenschaftlichsten Raserei nur denken möchte; hier verbinden sich der individuelle Dämon und die verführende Tyche miteinander; der Mensch scheint nur sich zu gehorchen, sein eigenes Wollen walten zu lassen, seinem Triebe zu frönen, und doch sind es Zufälligkeiten, die sich unterschieben, Fremdartiges, was ihn von seinem Wege ablenkt; er glaubt zu erhaschen und wird gefangen, er glaubt gewonnen zu haben und ist schon verloren. Auch hier treibt Tyche wieder ihr Spiel, sie lockt den Verirrten zu neuen Labyrinthen, hier ist keine Grenze des Irrens: denn der Weg ist ein Irrtum. Nun kommen wir in Gefahr, uns in der Betrachtung zu verlieren, daß das, was auf das Besonderste angelegt schien, ins Allgemeine verschwebt und zerfließt. Daher will das rasche Eintreten der zwei letzten Zeilen uns einen entscheidenden Wink geben, wie man allein diesem Irrsal entkommen und davor lebenslängliche Sicherheit gewinnen möge.
Denn nun zeigt sich erst, wessen der Dämon fähig sei; er, der selbständige, selbstsüchtige, der mit unbedingtem Wollen in die Welt griff und nur mit Verdruß empfand, wenn Tyche da oder dort in den Weg trat, er fühlt nun, daß er nicht allein durch Natur bestimmt und gestempelt sei; jetzt wird er in seinem Innern gewahr, daß er sich selbst bestimmen könne, daß er den durchs Geschick ihm zugeführten Gegenstand nicht nur gewaltsam ergreifen, sondern auch sich aneignen und, was noch mehr ist, ein zweites Wesen eben wie sich selbst mit ewiger, unzerstörlicher Neigung umfassen könne.
Kaum war dieser Schritt getan, so ist durch freien Entschluß die Freiheit aufgegeben; zwei Seelen sollen sich in einen Leib, zwei Leiber in eine Seele schicken, und indem eine solche Übereinkunft sich einleitet, so tritt zu wechselseitiger liebevoller Nötigung noch eine dritte hinzu; Eltern und Kinder müssen sich abermals zu einem Ganzen bilden, groß ist die gemeinsame Zufriedenheit, aber größer das Bedürfnis. Der aus so viel Gliedern bestehende Körper krankt gemäß dem irdischen Geschick an irgendeinem Teile, und anstatt daß er sich im Ganzen freuen sollte, leidet er am Einzelnen, und dem ohngeachtet wird ein solches Verhältnis so wünschenswert als notwendig gefunden. Der Vorteil zieht einen jeden an, und man läßt sich gefallen, die Nachteile zu übernehmen. Familie reiht sich an Familie, Stamm an Stamm, eine Völkerschaft hat sich zusammengefunden und wird gewahr, daß auch dem Ganzen fromme, was der Einzelne beschloß, sie macht den Beschluß unwiderruflich durchs Gesetz; alles, was liebevolle Neigung freiwillig gewährte, wird nun Pflicht, welche tausend Pflichten entwickelt, und damit alles ja für Zeit und Ewigkeit abgeschlossen sei, läßt weder Staat noch Kirche noch Herkommen es an Zeremonien fehlen. Alle Teile sehen sich durch die bündigsten Kontrakte, durch die möglichsten Öffentlichkeiten vor, daß ja das Ganze in keinem kleinsten Teil durch Wankelmut und Willkür gefährdet werde.
Αναγκη, Nötigung
Da ists denn wieder, wie die Sterne wollten:
Bedingung und Gesetz; und aller Wille
Ist nur ein Wollen, weil wir eben sollten,
Und vor dem Willen schweigt die Willkür stille;
Das Liebste wird vom Herzen weggescholten,
Dem harten Muß bequemt sich Will und Grille.
So sind wir scheinfrei denn, nach manchen Jahren
Nur enger dran, als wir am Anfang waren.
Keiner Anmerkungen bedarf wohl diese Strophe weiter; niemand ist, dem nicht Erfahrung genugsame Noten zu einem solchen Text darreichte, niemand, der sich nicht peinlich gezwängt fühlte, wenn er nur erinnerungsweise sich solche Zustände hervorruft, gar mancher, der verzweifeln möchte, wenn ihn die Gegenwart also gefangenhält. Wie froh eilen wir daher zu den letzten Zeilen, zu denen jedes feine Gemüt sich gern den Kommentar sittlich und religios zu bilden übernehmen wird.
Ελπις, Hoffnung
Doch solcher Grenze, solcher ehrnen Mauer
Höchst widerwärtge Pforte wird entriegelt,
Sie stehe nur mit alter Felsendauer!
Ein Wesen regt sich leicht und ungezügelt:
Aus Wolkendecke, Nebel, Regenschauer
Erhebt sie uns, mit ihr, durch sie beflügelt,
Ihr kennt sie wohl, sie schwärmt durch alle Zonen –
Ein Flügelschlag – und hinter uns Äonen!
[Nachtrag]
Meiner aufmerksamen kritischen Freunde willen bemerke nur mit wenigem: daß in der ersten Strophe der orphischen Worte ich einiges verändert habe, welchen Varianten ich Beifall wünsche.
»Ballade«
Betrachtung und Auslegung
Die Ballade hat etwas Mysterioses, ohne mystisch zu sein; diese letzte Eigenschaft eines Gedichts liegt im Stoff, jene in der Behandlung. Das Geheimnisvolle der Ballade entspringt aus der Vortragsweise. Der Sänger nämlich hat seinen prägnanten Gegenstand, seine Figuren, deren Taten und Bewegung so tief im Sinne, daß er nicht weiß, wie er ihn ans Tageslicht fördern will. Er bedient sich daher aller drei Grundarten der Poesie, um zunächst auszudrücken, was die Einbildungskraft erregen, den Geist beschäftigen soll; er kann lyrisch, episch, dramatisch beginnen und, nach Belieben die Formen wechselnd, fortfahren, zum Ende hineilen oder es weit hinausschieben. Der Refrain, das Wiederkehren ebendesselben Schlußklanges, gibt dieser Dichtart den entschiedenen lyrischen Charakter.
Hat man sich mit ihr vollkommen befreundet, wie es bei uns Deutschen wohl der Fall ist, so sind die Balladen aller Völker verständlich, weil die Geister in gewissen Zeitaltern, entweder kontemporan oder sukzessiv, bei gleichem Geschäft immer gleichartig verfahren. Übrigens ließe sich an einer Auswahl solcher Gedichte die ganze Poetik gar wohl vortragen, weil hier die Elemente noch nicht getrennt, sondern wie in einem lebendigen Ur-Ei zusammen sind, das nur bebrütet werden darf, um als herrlichstes Phänomen auf Goldflügeln in die Lüfte zu steigen.
Zu solchen Betrachtungen gab mir die »Ballade« des vorigen Heftes Gelegenheit; sie ist zwar keineswegs mysterios, allein ich konnte doch beim Vortrag öfters bemerken, daß selbst geistreich-gewandte Personen nicht gleich zum erstenmal ganz zur Anschauung der dargestellten Handlung gelangten. Da ich nun aber nichts daran ändern kann, um ihr mehr Klarheit zu geben, so gedenk ich ihr durch prosaische Darstellung zu Hülfe zu kommen.
Vers 1. Zwei Knaben, in einem alten waldumgebenen Ritterschloß, ergreifen die Gelegenheit, da der Vater auf der Wolfsjagd, die Mutter im Gebet begriffen ist, einen Sänger in die einsame Halle hereinzulassen.
Vers 2. Der alte Barde beginnt unmittelbar seinen geschichtlichen Gesang. Ein Graf, im Augenblick, da Feinde sein Schloß einnehmen, entflieht, nachdem er seine Schätze vergraben, ein Töchterchen in den Mantel gewickelt mit forttragend.
Vers 3. Er geht in die Welt unter der Form eines hülfsbedürftigen Sängers. Das Kind, eine schätzbare Bürde, wächst heran.
Vers 4. Das Hinschwinden der Jahre wird durch Entfärben und Zerstieben des Mantels angedeutet; auch ist die Tochter schön und groß geworden, eines solchen Schirmes bedürfte sie nicht mehr.
Vers 5. Ein fürstlicher Ritter kommt vorbei, anstatt der edel-schönen Hand ein Almosen zu reichen, ergreift er sie werbend, der Vater gesteht die Tochter zu.
Vers 6. Getraut, scheidet sie ungern vom Vater; er zieht einsam umher. Nun aber fällt der Sänger aus seiner Rolle, er ist es selbst; er spricht in der ersten Person, wie er in Gedanken Tochter und Enkel segne.
Vers 7. Er segnet die Kinder, und wir argwöhnen, er sei nicht allein der Graf, dessen der Gesang erwähnte, sondern dies seien seine Enkel, die Fürstin seine Tochter, der fürstliche Jäger sein Schwiegersohn. Wir hoffen das Beste; aber bald werden wir in Schrecken gesetzt. Der stolze, hochfahrende, heftige Vater kommt zurück; entrüstet, daß ein Bettler sich ins Haus geschlichen, gebietet er, denselben ins Verlies zu werfen. Die Kinder sind verschüchtert, die herbeieilende Mutter legt ein freundliches Vorwort ein.
Vers 8. Die Knechte getrauen sich nicht, den würdigen Greis anzurühren; Mutter und Kinder bitten, der Fürst verbeißt nur augenblicklich seinen Zorn. (Dies würde auf dem Theater ein glückliches Bild machen.) Aber ein längst verhaltener Grimm bricht los; im Gefühl seiner alten ritterlichen Herkunft hat es den Stolzen heimlich gereut, die Tochter eines Bettlers geehlicht zu haben.
Vers 9. Schmählich verachtende Vorwürfe gegen Frau und Kinder brechen los.
Vers 10. Der Greis, der in seiner Würde unangetastet stehengeblieben, eröffnet den Mund und erklärt sich als Vater und Großvater, auch als ehemaliger Herr der Burg; das Geschlecht des gegenwärtigen Besitzers hat ihn vertrieben.
Vers 11. Die nähern Umstände klären sich auf; eine gewaltsame Regierungsveränderung hatte den rechtmäßigen König, dem der Graf anhing, vertrieben und so auch seine Getreuen, die nun bei wiederhergestellter Dynastie zurückkehrten. Der Alte legitimiert sich dadurch als Hausbesitzer, daß er die Stelle der vergrabenen Schätze anzudeuten weiß, verkündigt übrigens eine allgemeine Amnestie sowohl im Reiche als im Hause, und alles nimmt ein erfreuliches Ende.
Ich wünsche den Lesern und Sängern das Gedicht durch diese Erklärung genießbarer gemacht zu haben und bemerke noch, daß eine vor vielen Jahren mich anmutende altenglische Ballade, die ein Kundiger jener Literatur vielleicht bald nachweist, diese Darstellung veranlaßt habe. Der Gegenstand war mir sehr lieb geworden, auf den Grad, daß ich ihn auch zur Oper ausarbeitete, welche, wenn schon der entworfene Plan teilweise ausgeführt war, doch, wie so manches andere, hinter mir liegenblieb. Vielleicht ergreift ein Jüngerer diesen Gegenstand, hebt die lyrischen und dramatischen Punkte hervor und drängt die epischen in den Hintergrund. Bei lebhafter, geistreicher Ausführung von seiten des Dichters und Komponisten dürfte sich ein solches Theaterstück wohl gute Aufnahme versprechen.