1808
Die geselligen Persönlichkeiten in Karlsbad hatten diesen Sommer für mich ein ganz ander Wesen; die Herzogin von Kurland, immer selbst anmutig, mit anmutiger Umgebung, Frau von der Recke, begleitet von Tiedge, und was sich daran anschloß, bildeten höchst erfreulich eine herkömmliche Mitte der dortigen Zustände. Man hatte sich so oft gesehen, an derselben Stelle, in denselben Verbindungen, man hatte sich in seiner Art und Weise immer als dieselbigen gefunden; es war, als hätte man viele Jahre miteinander gelebt, man vertraute einander, ohne sich eigentlich zu kennen.
Für mich machte die Familie Ziegesar einen andern, mehr entschiedenen, notwendigern Kreis. Ich kannte Eltern und Nachkommen bis in alle Verzweigungen, für den Vater hatte ich immer Hochachtung, ich darf wohl sagen Verehrung empfunden. Die unverwüstbar behagliche Tätigkeit der Mutter ließ in ihrer Umgebung niemand unbefriedigt; Kinder, bei meinem ersten Eintritt in Drakendorf noch nicht geboren, kamen mir stattlich und liebenswürdig herangewachsen hier entgegen; Bekannte und Verwandte schlossen sich an, einiger und zusammenstimmender wäre kein Zirkel zu finden. Frau von Seckendorf, geborne von Uechtritz, und Pauline Gotter waren nicht geringe Zierden dieses Verhältnisses. Alles suchte zu gefallen, und jedes gefiel sich mit dem andern, weil die Gesellschaft sich paarweise bildete und Scheelsucht und Mißhelligkeit zugleich ausschloß. Diese ungesuchten Verhältnisse brachten eine Lebensweise hervor, die bei bedeutendern Interessen eine Novelle nicht übel gekleidet hätte.
Bei einem in der Fremde mietweise geführten Haushalt erscheinen solche Zustände ganz natürlich, und bei gesellschaftlichen Wanderungen sind sie ganz unvermeidlich. Das Leben zwischen Karlsbad und Franzenbrunnen, im ganzen nach gemessener Vorschrift, im einzelnen immer zufällig veranlaßt, von der Klugheit der Älteren zuerst angeordnet, von Leidenschaftlichkeit der Jüngern am Ende doch geformt, machte auch die aus solchem Konflikt hervorgehenden Unbilden immer noch ergötzlich sowie in der Erinnerung höchst angenehm, weil doch zuletzt alles ausgeglichen und überwunden war.
Von jeher und noch mehr seit einigen Jahren überzeugt, daß die Zeitungen eigentlich nur da sind, um die Menge hinzuhalten und über den Augenblick zu verblenden, es sei nun, daß den Redakteur eine äußere Gewalt hindere, das Wahre zu sagen, oder daß ein innerer Parteisinn ihm ebendasselbe verbiete, las ich keine mehr: denn von den Hauptereignissen benachrichtigten mich neuigkeitslustige Freunde, und sonst hatte ich im Laufe dieser Zeit nichts zu suchen. Die »Allgemeine Zeitung« jedoch, durch Freundlichkeit des Herrn Cotta regelmäßig zugesendet, häufte sich bei mir an, und so fand ich durch die Ordnungsliebe eines Kanzleigenossen die Jahre 1806 und 1807 reinlich gebunden, eben als ich nach Karlsbad abreisen wollte. Ob ich nun gleich, der Erfahrung gemäß, wenig Bücher bei solchen Gelegenheiten mit mir nahm, indem man die mitgenommenen und vorhandenen nicht benutzt, wohl aber solche liest, die uns zufällig von Freunden mitgeteilt werden, so fand ich bequem und erfreulich, diese politische Bibliothek mit mir zu führen, und sie gab nicht allein mir unerwarteten Unterricht und Unterhaltung, sondern auch Freunde, welche diese Bände bei mir gewahr wurden, ersuchten mich abwechselnd darum, so daß ich sie am Ende gar nicht wieder zur Hand bringen konnte; und vielleicht zeigte dieses Blatt eben darin sein besonderes Verdienst, daß es mit kluger Retardation zwar hie und da zurückhielt, aber doch mit Gewissenhaftigkeit nach und nach mitzuteilen nicht versäumte, was dem sinnigen Beobachter Aufschluß geben sollte.
Indessen war die Lage des Augenblicks noch immer bänglich genug, so daß die verschiedenen Völkerschaften, welche an einem solchen Heilort zusammentreffen, gegeneinander eine gewisse Apprehension empfanden und deshalb sich auch alles politischen Gesprächs enthielten. Um so mehr aber mußte die Lektüre solcher Schriften als ein Surrogat desselben lebhaftes Bedürfnis werden.
Des regierenden Herzogs August von Gotha darf ich nicht vergessen, der sich als problematisch darzustellen und unter einer gewissen weichlichen Form angenehm und widerwärtig zu sein beliebte. Ich habe mich nicht über ihn zu beklagen, aber es war immer ängstlich, eine Einladung zu seiner Tafel anzunehmen, weil man nicht voraussehen konnte, welchen der Ehrengäste er schonungslos zu behandeln zufällig geneigt sein möchte.
Sodann will ich noch des Fürstbischofs von Breslau und eines geheimnisvollen Schweden, in der Badeliste von Reuterholm genannt, erwähnen. Ersterer war leidend, aber freundlich und zutunlich bei einer wahrhaft persönlichen Würde. Mit letzterem war die Unterhaltung immer bedeutend, aber weil man sein Geheimnis schonte und doch es zufällig zu berühren immer fürchten mußte, so kam man wenig mit ihm zusammen, da wir ihn nicht suchten und er uns vermied.
Kreishauptmann von Schiller zeigte sich wie immer, eher den Kurgästen ausweichend als sich ihnen anschließend, ein an seiner Stelle sehr notwendiges Betragen, da er bei vorkommenden polizeilichen Fällen alle nur, insofern sie recht oder unrecht hatten, betrachten konnte und kein anderes Verhältnis, welches persönlich so leicht günstig oder ungünstig stimmt, hier obwalten durfte.
Mit Bergrat von Herder setzte ich die herkömmlichen Gespräche fort, als wären wir nur eben vor kurzem geschieden, so auch mit Wilhelm von Schütz, welcher, wie sich bald bemerken ließ, auf seinem Wege gleichfalls treulich fortschreiten mochte.
Auch Bergrat Werner trat nach seiner Gewohnheit erst spät herzu. Seine Gegenwart belehrte jederzeit, man mochte ihn und seine Denkweise betrachten oder die Gegenstände, mit denen er sich abgab, durch ihn kennenlernen.
Ein längerer Aufenthalt in Franzenbrunnen läßt mich den problematischen Kammerberg bei Eger öfters besuchen. Ich sammle dessen Produkte, betrachte ihn genau, beschreibe und zeichne ihn. Ich finde mich veranlaßt, von der Reußischen Meinung, die ihn als pseudovulkanisch anspricht, abzugehen und ihn für vulkanisch zu erklären. In diesem Sinne schreib ich einen Aufsatz, welcher für sich selber sprechen mag; vollkommen möchte die Aufgabe dadurch wohl nicht gelöst und eine Rückkehr zu der Reußischen Auslegung gar wohl rätlich sein.
In Karlsbad war erfreulich zu sehen, daß die Joseph Müllerischen Sammlungen Gunst gewannen, ob gleich die immerfort bewegten Kriegsläufte alle eigentlich wissenschaftlichen Bemühungen mit Ungunst verfolgten. Doch war Müller gutes Mutes, trug häufige Steine zusammen, und an die neue Ordnung gewöhnt, wußte er sie so zierlich zurechtzuschlagen, daß bei Sammlungen größeren oder kleineren Formats alle Stücke von gleichem Maße sauber und instruktiv vor uns lagen. Denn weil aus den unter dem Hammer zersprungenen Steinen immer der passende oder bedeutende sich auswählen ließ und das Weggeworfene nicht von Werte war, so konnte er immer den Liebhaber aufs beste und treulichste versorgen. Aber zu bewegen war er nicht, seinen rohen Vorrat zu ordnen; die Sorge, sein Monopol zu verlieren, und Gewohnheit der Unordnung machten ihn allem guten Rat unzugänglich. Bei jeder frischen Sammlung fing er an, aus dem chaotischen Vorrat auszuklauben und nach der neuen Einrichtung auf Brettern, die durch schwache Brettchen in Vierecke geteilt waren und dadurch die Größe des Exemplars angaben, in der Nummerfolge die Steine zu verteilen und so die Casen des Brettes nach und nach auszufüllen. Ich besuchte ihn täglich auf dem Wege nach dem Neubrunnen zu einer immer erfreulichen, belehrenden Unterhaltung; denn ein solcher Naturkreis möge noch so beschränkt sein, es wird immer darin etwas Neues oder aus dem Alten etwas hervorstehend erscheinen.
Nach solchen vielleicht allzu trocken und materiell erscheinenden Gegenständen sollten mich erneuerte Verhältnisse mit wackern Künstlern auf eine eigne Weise anregen und beleben.
Die Gegenwart Kaazens, des vorzüglichen Dresdener Landschaftsmalers, brachte mir viel Freude und Belehrung, besonders da er meisterhaft meine dilettantischen Skizzen sogleich in ein wohl erscheinendes Bild zu verwandeln wußte. Indem er dabei eine Aquarell- und Deckfarben leicht verbindende Manier gebrauchte, rief er auch mich aus meinem phantastischen Kritzeln zu einer reineren Behandlung. Und zum Belege, wie uns die Nähe des Meisters gleich einem Elemente hebt und trägt, bewahre ich noch aus jener Zeit einige Blätter, die, gleich Lichtpunkten, andeuten, daß man unter solchen Umständen etwas vermag, was vor- und nachher als unmöglich erschienen wäre.
Sodann hatte ich die angenehme Überraschung, von einem vieljährigen Freunde und Angeeigneten nach altem Herkommen mich leidenschaftlich angegangen zu sehen. Es war der gute, talentvolle Bury, der im Gefolg der Frau Erbprinzeß von Hessen-Kassel in und um Dresden zu Kunst- und Naturgenuß sich eine Zeitlang aufgehalten hatte und nun, beurlaubt, auf einige Tage hierherkam.
Ich schrieb ein Gedicht zu Ehren und Freuden die ser würdigen, auch mir gewogenen Dame, welches, in der Mitte eines großen Blattes kalligraphiert, mit dem bilderreichsten Rahmen eingefaßt werden sollte, die Gegenden darstellend, durch welche sie gereist, die Gegenstände, denen sie die meiste Aufmerksamkeit zugewendet, die ihr den meisten Genuß gewährt hatten. Eine ausführliche Skizze ward erfunden und gezeichnet und alles dergestalt mit Eifer vorbereitet, daß an glücklicher Ausführung nicht zu zweifeln war. Das Gedicht selbst findet sich unter den meinigen, jedoch nur mit den Anfangsbuchstaben bezeichnet, abgedruckt. Bei dieser Gelegenheit zeichnete Bury abermals mein Porträt in kleinem Format und Umriß, welches meine Familie als erfreuliches Denkmal jener Zeit in der Folge zu schätzen wußte. So bereicherte sich denn von seiten der bildenden Kunst dieser Sommeraufenthalt, welcher einen ganz andern Charakter als der vorige, doch aber auch einen werten und folgereichen angenommen hatte.
Nach meiner Rückkunft ward ich zu noch höherer Kunstbetrachtung aufgefordert. Die unschätzbaren Mionnetischen Pasten nach griechischen Münzen waren angekommen. Man sah in einen Abgrund der Vergangenheit und erstaunte über die herrlichsten Gebilde. Man bemühte sich, in diesem Reichtum zu einer wahren Schätzung zu gelangen, und fühlte voraus, daß man für viele Jahre Unterricht und Auferbauung daher zu erwarten habe. Geschnittene Steine von Bedeutung vermehrten meine Ringsammlung. Albrecht Dürers Federzeichnungen in Steindruck kamen wiederholt und vermehrt zu uns.
Runge, dessen zarte, fromme, liebenswürdige Bemühungen bei uns guten Eingang gefunden hatten, sendete mir die Originalzeichnungen seiner gedanken-und blumenreichen »Tageszeiten«, welche, obgleich so treu und sorgfältig in Kupfer ausgeführt, doch an natürlichem, unmittelbarem Ausdruck große Vorzüge bewiesen. Auch andere, meist halbvollendete Umrißzeichnungen von nicht geringerem Werte waren beigelegt. Alles wurde dankbar zurückgesandt, ob man gleich manches, wäre es ohne Indiskretion zu tun gewesen, gern bei unsern Sammlungen zum Andenken eines vorzüglichen Talents behalten hätte.
Auch wurden uns im Spätjahr eine Anzahl landschaftlicher Zeichnungen von Friedrich die angenehmste Betrachtung und Unterhaltung. Sein schönes Talent war bei uns gekannt und geschätzt, die Gedanken seiner Arbeiten zart, ja fromm, aber in einem strengern Kunstsinne nicht durchgängig zu billigen. Wie dem auch sei, manche schöne Zeugnisse seines Verdienstes sind bei uns einheimisch geworden. Am Schlusse des Jahrs besuchte uns der überall willkommene Kügelgen, er malte mein Porträt, und seine Persönlichkeit mußte notwendig auf den gebildet-geselli gen Kreis die zarteste Einwirkung ausüben.
Ein Ständchen, das mir die Sänger vor meiner Abreise nach Karlsbad brachten, versicherte mich damals ihrer Neigung und beharrlichen Fleißes auch während meiner Abwesenheit, und demgemäß fand ich auch bei meiner Wiederkehr alles in demselben Gange. Die musikalischen Privatübungen wurden fortgesetzt, und das gesellige Leben gewann dadurch einen höchst erfreulichen Anklang.
Gegen Ende des Jahrs ergaben sich beim Theater mancherlei Mißhelligkeiten, welche, zwar ohne den Gang der Vorstellungen zu unterbrechen, doch den Dezember verkümmerten. Nach mancherlei Diskussionen vereinigte man sich über eine neue Einrichtung, in Hoffnung, auch diese werde eine Zeitlang dauern können.
Des persönlich Erfreulichen begegnete mir in diesem Jahre manches: Unsern jungen Herrschaften ward Prinzeß Marie geboren, allen zur Freude und besonders auch mir, der ich einen neuen Zweig des fürstlichen Baumes, dem ich mein ganzes Leben gewidmet hatte, hervorsprossen sah.
Mein Sohn August zog rüstig und wohlgemut auf die Akademie Heidelberg, mein Segen, meine Sorgen und Hoffnungen folgten ihm dahin. An wichtige, vormals jenaische Freunde, Voß und Thibaut, von Jugend auf empfohlen, konnte er wie im elterlichen Hause betrachtet werden.
Bei der Durchreise durch Frankfurt begrüßte er seine gute Großmutter, noch eben zur rechten Zeit, da sie später, im September, uns leider entrissen ward. Auch gegen Ende des Jahrs ereignete sich der Tod eines jüngern Mannes, den wir jedoch mit Bedauern segneten. Fernow starb nach viel beschwerlichem Leiden; die Erweiterung der Halsarterie quälte ihn lange, bedrängte Tage und Nächte, bis er endlich eines Morgens, aufrecht sitzend, plötzlich, wie es bei solchen Übeln zu geschehen pflegt, entseelt gefunden ward.
Sein Verlust war groß für uns, denn die Quelle der italienischen Literatur, die sich seit Jagemanns Abscheiden kaum wieder hervorgetan hatte, versiegte zum zweiten Male; denn alles fremde Literarische muß gebracht, ja aufgedrungen werden, es muß wohlfeil, mit weniger Bemühung zu haben sein, wenn wir darnach greifen sollen, um es bequem zu genießen. So sehen wir im östlichen Deutschland das Italienische, im westlichen das Französische, im nördlichen das Englische wegen einer nachbarlichen oder sonstiger Einwirkung vorwalten.
Der im September erst in der Nähe versammelte, dann bis zu uns heranrückende Kongreß zu Erfurt ist von so großer Bedeutung, auch der Einfluß dieser Epoche auf meine Zustände so wichtig, daß eine besondere Darstellung dieser wenigen Tage wohl unternommen werden sollte.
1809
Dieses Jahr muß mir in der Erinnerung, schöner Resultate wegen, immer lieb und teuer bleiben; ich brachte solches ohne auswärtigen Aufenthalt teils in Weimar, teils in Jena zu, wodurch es mehr Einheit und Geschlossenheit gewann als andere, die, meist in der Hälfte durch eine Badereise zerschnitten, an mannigfaltiger Zerstreuung zu leiden hatten.
Was ich mir aber in Jena zu leisten vorgenommen, sollte eigentlich durch einen ganz ununterbrochenen Aufenthalt begünstigt sein; dieser war mir jedoch nicht gegönnt; unerwartete Kriegsläufte drangen zu und nötigten zu einem mehrmaligen Ortswechsel.
Die ferneren und näheren Kriegsbewegungen in Spanien und Österreich mußten schon jedermann in Furcht und Sorgen setzen. Der Abmarsch unserer Jäger den 14. März nach Tirol war traurig und bedenklich; gleich darauf zeigte sich Einquartierung; der Prinz von Pontecorvo als Anführer des sächsischen Armeekorps wendete sich nach der Grenze von Böhmen und zog von Weimar den 25. April nach Kranichfeld. Ich aber, längst und besonders schon seit den letzten Jahren gewohnt, mich von der Außenwelt völlig abzuschließen, meinen Geschäften nachzuhangen, Geistesproduktionen zu fördern, begab mich schon am 29. April nach Jena. Dort bearbeitete ich die »Geschichte der Farbenlehre«, holte das funfzehnte und sechzehnte Jahrhundert nach und schrieb die Geschichte meiner eigenen chromatischen Bekehrung und fortschreitender Studien, welche Arbeit ich am 24. Mai, vorläufig abgeschlossen, beiseite legte und sie auch nur erst gegen Ende des Jahrs wieder aufnahm, als Rungens »Farbenkugel« unsere chromatischen Betrachtungen aufs neue in Bewegung setzte.
In dieser Epoche führte ich die »Farbenlehre« bis zu Ende des achtzehnten Jahrhunderts, wie denn auch zu gleicher Zeit der Druck des zweiten Teils ununterbrochen fortging und die Aufmerksamkeit zunächst sich auf die Kontrovers mit Newton richtete. Bei allem diesem war Dr. Seebeck teilnehmend und hülfreich.
Um von poetischen Arbeiten nunmehr zu sprechen, so hatte ich von Ende Mais an »Die Wahlverwandtschaften«, deren erste Konzeption mich schon längst beschäftigte, nicht wieder aus dem Sinne gelassen. Niemand verkennt an diesem Roman eine tief leidenschaftliche Wunde, die im Heilen sich zu schließen scheut, ein Herz, das zu genesen fürchtet. Schon vor einigen Jahren war der Hauptgedanke gefaßt, nur die Ausführung erweiterte, vermannigfaltigte sich immerfort und drohte die Kunstgrenze zu überschreiten. Endlich nach so vielen Vorarbeiten bestätigte sich der Entschluß, man wolle den Druck beginnen, über manchen Zweifel hinausgehen, das eine festhalten, das andere endlich bestimmen.
In diesem raschen Vorschritt ward ich jedoch auf einmal gestört; denn indem man die Nachrichten des gewaltsamen Vordringens der Franzosen in Österreich mit Bangigkeit vernommen hatte, begann der König von Westfalen einen Zug gegen Böhmen, weshalb ich den 13. Juni nach Weimar zurückging. Die Nachrichten von dieser sonderbaren Expedition waren sehr ungewiß, als zwei dem Hauptquartier folgende diplomatische Freunde, von Reinhard und Wangenheim, mich unerwartet besuchten, einen unerklärlichen Rückzug rätselhaft ankündigend. Schon am 15. Juli kommt der König nach Weimar, der Rückzug scheint in Flucht auszuarten, und gleich am 20. ängstigt das umherstreifende Oelsische Korps uns und die Nachbarschaft. Aber auch dieses Gewitter zieht schnell in nordwestlicher Richtung vorüber, und ich säume nicht, am 23. Juli wieder nach Jena zu gehen.
Unmittelbar darauf werden »Die Wahlverwandtschaften« in die Druckerei gegeben, und indem diese fleißig fördert, so reinigt und ründet sich auch nach und nach die Handschrift, und der 3. Oktober befreit mich von dem Werke, ohne daß die Empfindung des Inhalts sich ganz hätte verlieren können.
In geselliger Unterhaltung wandte sich das Interesse fast ausschließlich gegen nordische und überhaupt romantische Vorzeit. Die nach dem Original aus dem Stegreif vorgetragene und immer besser gelingende Übersetzung der »Nibelungen« hielt durchaus die Aufmerksamkeit einer edeln Gesellschaft fest, die sich fortwährend mittwochs in meiner Wohnung versammelte. »Fierabras« und andere ähnliche Heldensagen und Gedichte, »König Rother«, »Tristan und Isolde« folgten und begünstigten einander; besonders aber wurde die Aufmerksamkeit auf »Wilkina-Saga« und sonstige nordische Verhältnisse und Produktionen gelenkt, als der wunderliche Fußreisende Runenantiquar Arendt bei uns einkehrte, durch persönliche Mitteilungen und Vorträge die Gesellschaft wo nicht für sich einnahm, doch sich ihr erträglich zu machen suchte. Dr. Majers nordische Sagen trugen das Ihrige bei, uns unter dem düstern Himmel wohlbehaglich zu erhalten; zugleich war nichts natürlicher, als daß man deutsche Sprachaltertümer hervorhob und immer mehr schätzen lernte, wozu Grimms Aufenthalt unter uns mitwirkte, indes ein gründlich grammatischer Ernst durch »Des Knaben Wunderhorn« lieblich aufgefrischt wurde.
Die Ausgabe meiner Werke bei Cotta forderte gleichfalls manchen Zeitaufwand; sie erschien und gab mir Gelegenheit, durch Versendung mancher Exemplare mich Gönnern und Freunden ins Gedächtnis zu rufen. Von derselben wird an einem andern Orte die Rede sein.
Was aber bei meinen diesjährigen Bemühungen am entschiedensten auf das Künftige hinwies, waren Vorarbeiten zu jenem bedeutenden Unternehmen einer Selbstbiographie, denn es mußte mit Sorgfalt und Umsicht verfahren werden, da es bedenklich schien, sich lange verflossener Jugendzeiten erinnern zu wollen. Doch ward endlich der Vorsatz dazu gefaßt mit dem Entschluß, gegen sich und andere aufrichtig zu sein und sich der Wahrheit möglichst zu nähern, insoweit die Erinnerung nur immer dazu behülflich sein wollte.
Meinen diesjährigen längern Aufenthalt in Jena forderte auch die neue Einrichtung, welche in Absicht des Hauptgeschäftes, das mir oblag, unlängst beliebt wurde. Unser gnädigster Herr nämlich hatte angeordnet, daß alle unmittelbaren Anstalten für Wissenschaft und Kunst unter eine Oberaufsicht versammelt, aus einer Kasse bestritten und in einem Sinne verhältnismäßig fortgeführt werden sollten. Höchstdieselben hatten das Zutrauen zu Geheimerat von Voigt und mir, daß wir diese Absichten treu und zweckmäßig erfüllen würden. Zu diesen Anstalten aber, welche, ohne mit ähnlichen Instituten verknüpft und in ältere Verhältnisse verflochten zu sein, bloß von dem Willen des Fürsten abhingen, indem er auch den Aufwand derselben aus eigenen Mitteln bestritt, gehörte in Weimar die Bibliothek und das Münzkabinett, ingleichen die freie Zeichenschule; in Jena die verschiedenen seit dem Regierungsantritt des Herzogs erst gegründeten und ohne Mitwirkung der übrigen höchsten Herren Erhalter der Akademie errichteten Museen und sonstigen wissenschaftlichen Einrichtungen. Bei nunmehrigem Verein aller dieser Institute, die bisher besondere Etats gehabt, hing es von den Vorgesetzten ab, zu ermessen, wo jedesmal nach Vorkommnis der Umstände Gelder verwendet und diesem und jenem Zweige nachgeholfen werden sollte, welches bei lebendiger Übersicht und vorurteilsfreien Gesinnungen um desto möglicher war, da der Fürst nicht sowohl Vorschläge zu dem, was geschehen sollte, verlangte, als vielmehr gern von dem, was geschehen war, berichtlich und persönlich Kenntnis nahm.
Da die gedachten jenaischen Anstalten, seit dreißig Jahren gegründet und fortgeführt, bei der französischen Invasion nur wenig gelitten hatten, so suchte man sie um desto mutiger vollkommen herzustellen und noch andere neu damit zu verbinden. Weil aber wegen Erweiterung beschränkter Lokalitäten und zweckmäßiger Umstellung des Vorhandenen alles dieses eine gewisse durchdringende individuelle Einsicht verlangte, so wurde die persönliche Gegenwart desjenigen, der zu entscheiden berechtigt war, um so mehr erfordert, als hier kein Plan sich denken ließ und nur eine die augenblicklichen Umstände benutzende Gewandtheit zum Ziele führen konnte.
Für Weimar dagegen machte sich eine Baulichkeit von Bedeutung nötig, ein Anbau nämlich an Herzogliche Bibliothek, wodurch sowohl Expeditionszimmer als andere Räume zu dem sich immer vermehrenden Vorrat an Büchern, Kupferstichen und andern Kunstsachen gewonnen wurden. Die wegen Ausbau des Schlosses anwesenden preußischen Architekten Gentz und Rabe waren beirätig, und so entstand ein so nützliches als erfreuliches, auch innerhalb wohlverziertes Gebäude.
Doch nicht für Räume und Sammlungen allein ward gesorgt; eine durch Sparsamkeit in gutem Zustand erhaltene Kasse erlaubte gerade zur rechten Zeit, einen jungen Naturforscher, den Professor Voigt, nach Frankreich zu senden, der, gut vorbereitet, in Paris und andern Orten seinen Aufenthalt sorgfältig zu nutzen wußte und in jedem Sinne wohl ausgestattet zurückkehrte.
Das Theater ging nach überstandenen leichten Stürmen ruhig seinen Gang. Bei dergleichen Erregungen ist niemals die Frage, wer etwas leisten, sondern wer einwirken und befehlen soll; sind die Mißverhältnisse ausgeglichen, so bleibt alles wie vorher und ist nicht besser, wo nicht schlimmer. Das Repertorium war wohl ausgestattet, und man wiederholte die Stücke, dergestalt daß das Publikum an sie gewöhnt blieb, ohne ihrer überdrüssig zu werden. Die neusten Erzeugnisse, »Antigone« von Rochlitz, Knebels Übersetzung von »Saul« des Alfieri, »Die Tochter Jephta« von Robert, wurden der Reihe nach gut aufgenommen. Werners bedeutendes Talent zu begünstigen, bereitete man eine Aufführung des »Vierundzwanzigsten Februars« mit großer Sorgfalt vor, indessen die gefälligen heiteren Stücke von Steigentesch sich im Publikum einschmeichelten.
Demoiselle Häßler als vielversprechende Sängerin, Moltke als höchst angenehmer Tenor traten zu unserer Bühne und nahmen teil an den Didaskalien, welche treulich und eifrig fortgesetzt wurden. Werner versuchte große und kleine Tragödien, ohne daß man hoffen konnte, sie für das Theater brauchbar zu sehen.
Die häuslichen musikalischen Unterhaltungen gewannen durch ernstere Einrichtungen immer mehr an Wert. Das Sängerchor unter Anleitung Eberweins leistete immer mehr. Donnerstag abends war Probe, nach der man meistens zu einem fröhlichen Mahl zusammenblieb; sonntags Aufführung vor großer guter Gesellschaft, begleitet von irgendeinem Frühstück. Diese durch den Sommer einigermaßen unterbrochenen Privatübungen wurden im Spätherbst sogleich wieder aufgenommen, indessen Theater und öffentliche Musik durch den antretenden Kapellmeister Müller belebt und geregelt wurden. Auch ist nicht zu vergessen, daß im Laufe des Jahrs Fräulein aus dem Winkel uns durch die mannigfaltigsten Talente zu ergötzen wußte.
Auch die bildende Kunst, die wir freilich immerfort auf das herzlichste pflegten, brachte uns dieses Jahr die schönsten Früchte.
In München wurden die Handzeichnungen Albrecht Dürers herausgegeben, und man durfte wohl sagen, daß man erst jetzt das Talent des so hoch verehrten Meisters erkenne. Aus der gewissenhaften Peinlichkeit, die sowohl seine Gemälde als Holzschnitte beschränkt, trat er heraus bei einem Werke, wo seine Arbeit nur ein Beiwesen bleiben, wo er mannigfaltig gegebene Räume verzieren sollte. Hier erschien sein herrliches Naturell völlig heiter und humoristisch; es war das schönste Geschenk des aufkeimenden Steindrucks.
Von der Malerei wurden wir auch gar freundlich teilnehmend heimgesucht. Kügelgen, der gute, im Umgang allen so werte Künstler, verweilte mehrere Wochen bei uns; er malte Wielands Porträt und meins nach der Person, Herders und Schillers nach der Überlieferung. Mensch und Maler waren eins in ihm, und daher werden jene Bilder immer einen doppelten Wert behalten.
Wie nun er durch Menschengestalt die Aufmerksamkeit sowohl auf seine Arbeit als auf die Gegenstände hinzog, so zeigte Kaaz mehrere landschaftliche Gemälde vor, teils nach der Natur eigens erfunden, teils den besten Vorgängern nachgebildet. Die Ausstellung sowohl hier als in Jena gab zu sinnig geselligen Vereinen den heitersten Anlaß und brachte auch solche Personen zusammen, die sich sonst weniger zu nähern pflegten.
Hirts Werk über die Baukunst forderte zu neuer Aufmerksamkeit und Teilnahme in diesem Fache; sodann nötigte er uns durch die Restaurationen des Tempels der Diana zu Ephesus, ingleichen des Salomonischen, ins Altertum zurück. Zu Geschichte und trümmerhafter Anschauung mußte die Einbildungskraft sich gesellen; wir nahmen lebhaft teil und wurden zu ähnlichen Versuchen aufgeregt.
Ein vorzügliches, für altertümliche Kunst höchst wichtiges Geschenk erteilte uns Herr Dr. Stieglitz, indem er Schwefelabgüsse seiner ansehnlichen Münzsammlung verehrte und sowohl dadurch als durch das beigefügte Verzeichnis den Forschungen in dem Felde altertümlicher Kunst nicht geringen Vorschub leistete.
Zugleich vermehrten sich unsere Münzfächer durch Medaillen des funfzehnten und sechzehnten Jahrhunderts. Betrachtungen darüber wurden zu Programmen der »Allgemeinen Jenaischen Literaturzeitung« be stimmt; der kunstreiche Schwerdgeburth, mit gewissenhafter Genauigkeit, stach dazu einige Umrißtafeln.
Zu allen diesen fügte sich noch eine Sammlung Köstritzer Ausgrabungen metallner Geräte von unbekannten Formen, denen ich viel Aufmerksamkeit schenkte. Ich forschte manches darüber in der ältern Geschichte, besonders jener Epoche, wo Heiden- und Christentum in Franken und Thüringen gegeneinander schwankten. Unter den Büchern, die ich damals aufschlug, waren mir die »Antiquitates Nordgavienses« besonders merkwürdig und veranlaßten eine genaue Betrachtung der Paganien, d.h. der heidnischen Gebräuche, welche durch die ersten fränkischen Konzilien verbannt wurden. Ich überzeugte mich aufs neue, daß unsere heidnischen Urväter zwar viele auf Naturahnungen sich beziehende düster-abergläubische Gewohnheiten, aber keine fratzenhaften Götzenbilder gehabt. Ein schriftlicher Aufsatz über diese Gegenstände ward von dem fürstlich Reußischen Besitzer freundlich aufgenommen und mir dagegen ein Exemplar der gefundenen rätselhaften Altertümer verehrt.
Auch eine Sammlung von eigenen Handschriften bedeutender Personen ward dieses Jahr durch Freundesgunst ansehnlich vermehrt, und so bestärkte sich der Glaube, daß die Handschrift auf den Charakter des Schreibenden und seine jedesmaligen Zustände entschieden hinweise, wenn man auch mehr durch Ah nung als durch klaren Begriff sich und andern davon Rechenschaft geben könne; wie es ja bei aller Physiognomik der Fall ist, welche bei ihrem echten Naturgrunde nur dadurch außer Kredit kam, daß man sie zu einer Wissenschaft machen wollte.
Von erwähne ich des gewaltsamen Sturms in der Nacht vom 30. auf den 31. Januar, welcher weit und breit wütete und auch mir einen empfindlichen Schaden brachte, indem er einen alten, ehrwürdigen Wacholderbaum in meinem Garten am Sterne niederwarf und so einen treuen Zeugen glücklicher Tage von meiner Seite riß. Dieser Baum, der einzige in der ganzen Gegend, wo der Wacholder fast nur als Gestrüppe vorkommt, hatte sich wahrscheinlich aus jenen Zeiten erhalten, wo hier noch keine Gartenkultur gewesen. Es hatten sich allerlei Fabeln von ihm verbreitet: ein ehemaliger Besitzer, ein Schulmann, sollte darunter begraben sein; zwischen ihm und dem alten Hause, in dessen Nähe er stand, wollte man gespensterhafte Mädchen, die den Platz reine kehrten, gesehen haben; genug, er gehörte zu dem abenteuerlichen Komplex jenes Aufenthalts, in welchem so manche Jahre meines Lebens hingeflossen und der mir und andern durch Neigung und Gewohnheit, durch Dichtung und Wahn so herzlich lieb geworden.
Den umgestürzten Baum ließ ich durch einen jungen Künstler zeichnen, wie er noch auf Herzoglicher Bibliothek zu sehen ist; die Unterschrift sagt von ihm folgendes:
»Oben gezeichneter Wacholderbaum stand in dem Garten des Herrn Geheimrats von Goethe am Stern. Die Höhe vom Boden bis dahin, wo er sich in zwei Äste teilte, war 12 hiesige Fuß, die ganze Höhe 43 Fuß. Unten an der Erde hielt er 17 Zoll im Durchmesser, da, wo er sich in die beiden Äste teilte, 15 Zoll. Jeder Ast 11 Zoll, und nachher fiel es ab, bis sich die Spitzen ganz zart verzweigten.
Von seinem äußerst hohen Alter wagt man nichts zu sagen. Der Stamm war inwendig vertrocknet, das Holz desselben mit horizontalen Rissen durchschnitten, wie man sie an den Kohlen zu sehen pflegt, von gelblicher Farbe und von Würmern zerfressen.
Der große Sturm, welcher in der Nacht vom 30. zum 31. Januar wütete im Jahr 1809, riß ihn um; ohne dieses außerordentliche Ereignis hätte er noch lange stehen können. Die Gipfel der Äste sowie die Enden der Zweige waren durchaus grün und lebendig.«
1810
Ein bedeutendes Jahr, abwechselnd an Tätigkeit, Genuß und Gewinn, so daß ich mich bei einem überreichen Ganzen in Verlegenheit fühle, wie ich die Teile gehörig ordnungsgemäß darstellen soll.
Vor allen Dingen verdient wohl das Wissenschaftliche einer nähern Erwähnung. Hier war der Anfang des Jahrs mühsam genug; man war mit dem Abdruck der »Farbenlehre« so weit vorgerückt, daß man den Abschluß vor Jubilate zu bewirken nicht für unmöglich hielt; ich schloß den polemischen Teil sowie die Geschichte des achtzehnten Jahrhunderts; die nach meinen sorgfältigen Zeichnungen gestochenen Tafeln wurden illuminiert, die Rekapitulation des Ganzen vollbracht, und man sah das letzte Blatt mit Vergnügen in die Druckerei wandern.
Dies geschah achtzehn Jahre nach dem Gewahrwerden eines uralten Irrtums, in Gefolg von unablässigen Bemühungen und dem endlich gefundenen Punkte, worum sich alles versammeln mußte. Die bisher getragene Last war so groß, daß ich den 16. Mai als glücklichen Befreiungstag ansah, an welchem ich mich in den Wagen setzte, um nach Böhmen zu fahren. Um die Wirkung war ich wenig bekümmert und tat wohl. Einer so vollkommenen Unteilnahme und abweisenden Unfreundlichkeit war ich aber doch nicht gewärtig; ich schweige davon und erwähne lieber, wieviel ich bei dieser und bei meinen übrigen wissenschaftlichen und literarischen Arbeiten einem mehrjährigen Hausgenossen, Reisegefährten, so gelehrten als gewandten und freundlichen Mitarbeiter, Dr. Friedrich Wilhelm Riemer, schuldig geworden.
Weil man aber, einmal des Mühens und Bemühens gewohnt, sich immer sehr gern und leicht neue Lasten auflegt, so entwickelte sich bei nochmaliger schematischer Übersicht der »Farbenlehre« der verwandte Gedanke: ob man nicht auch die Tonlehre unter ähnlicher Ansicht auffassen könnte, und so entsprang eine ausführliche Tabelle, wo in drei Kolumnen Subjekt, Objekt und Vermittelung aufgestellt worden.
Und wie keine unserer Gemütskräfte sich auf dem einmal eingeschlagenen Wege leicht irremachen läßt, es sei nun, daß man zum Wahren oder zum Falschen hinschreite, so wurde jene Vorstellungsart auf die ganze Physik angewandt: das Subjekt in genauer Erwägung seiner auffassenden und erkennenden Organe, das Objekt als ein allenfalls Erkennbares gegenüber, die Erscheinung, durch Versuche wiederholt und vermannigfaltigt, in der Mitte; wodurch denn eine ganz eigene Art von Forschung bereitet wurde.
Der Versuch, als Beweis irgendeines subjektiven Ausspruches, ward verworfen; es entstand, was man schon längst Anfrage an die Natur genannt hat. Und wie denn alles Erfinden als eine weise Antwort auf eine vernünftige Frage angesehen werden kann, so konnte man sich bei jedem Schritt überzeugen, daß man auf dem rechten Wege sei, indem man überall im einzelnen und ganzen nur Gewinne zur Seite sah.
Wie sehr ich aber auch durch glückliche Umgebung in diesem Fache festgehalten wurde, geht daraus hervor, daß Dr. Seebeck sowohl zu Hause als auswärts fast immer in meiner Nähe blieb. Professor Voigt kam aus Frankreich zurück und teilte gar manche schöne Erfahrung und Ansicht mit; die wissenschaftlichen Zustände in Paris wurden uns durch einen Deutschen nach unserer Sprach- und Denkweise nähergebracht, und wir bekannten mit Vergnügen, daß er seine Zeit sowohl für sich als für uns gut angewendet hatte.
Was für Musik im Theater sowohl in den ersten als letzten Monaten des Jahrs geschah, vermelde kürzlich: Die Übungen der freiwilligen Hauskapelle wurden regelmäßig fortgesetzt, donnerstags abends Probe vor einigen Freunden gehalten, sonntags früh Aufführung vor großer Gesellschaft. Ältere und jüngere Theatersänger, Choristen und Liebhaber nahmen teil; Eberwein dirigierte meisterhaft. Mehrstimmige Sachen von Zelter und andern italienischen Großen wurden ins Leben geführt und ihr Andenken gegründet, Vergnügen und Nutzen, Anwendung und Fortschreiten in eins verbunden.
Dadurch, daß die Probe von der Ausführung vollkommen getrennt blieb, ward das dilettantische Pfuschen völlig entfernt, das gewöhnlich erst im Augenblick der Aufführung noch probiert, ja bis den letzten Augenblick unausgemacht läßt, was denn eigentlich aufgeführt werden kann und soll.
Die Donnerstage waren kritisch und didaktisch, die Sonntage für jeden empfänglich und genußreich.
Gegen Ende des Jahrs konnten von dieser Gesellschaft öffentliche Unterhaltungen im Theater gegeben werden; man führte solche Musikstücke auf, welche zu hören das Publikum sonst keine Gelegenheit findet und woran jeder Gebildete sich wenigstens einmal im Leben sollte erquickt und erfreut haben. Als Beispiel nenne ich hier »Johanna Sebus«, komponiert von Zelter, die einen unauslöschlichen Eindruck in allen Gemütern zurückließ.
Ebenmäßig wurden mit den rezitierenden Schauspielern die Didaskalien fortgesetzt, mit den geübtesten nur bei neuen Stücken, mit den jüngeren bei frischer Besetzung älterer Rollen. Diese letzte Bemühung ist eigentlich der wichtigste Teil des Unterrichts, ganz allein durch solches Nachholen und Nacharbeiten wird ein ungestörtes Ensemble erhalten.
»Zaïre«, übersetzt von Peucer, bewies abermals die Fertigkeit unseres Personals im reinen Rezitieren und Deklamieren. Die erste Leseprobe war so vollkommen, daß ein gebildetes Publikum durchaus dabei hätte gegenwärtig sein können.
»Der vierundzwanzigste Februar« von Werner, an seinem Tage aufgeführt, war vollends ein Triumph vollkommener Darstellung. Das Schreckliche des Stoffs verschwand vor der Reinheit und Sicherheit der Ausführung; dem aufmerksamsten Kenner blieb nichts zu wünschen übrig.
Bewegte Plastik ward uns durch das ausgezeichnete Talent der Frau Hendel-Schütz vorgeführt; öffentliche ernste Darstellung, heitere, scherzhafte, ja komische Zimmerunterhaltung gewährte neue Kunstansichten und vielen Genuß.
Die Vorstellung der Oper »Achill« durch Brizzi in italienischer Sprache eröffnete gegen Ende des Jahrs ein neues Feld, und zu gleicher Zeit näherte sich unter den ernstesten und treusten Bemühungen, bei hochgesteigertem Talent des Schauspielers Wolff, »Der standhafte Prinz« der ersehnten Aufführung.
Bezüglich auf bildende Kunst ergab sich gleichfalls eine merkwürdige Epoche. Die Gebrüder Boisserée sandten mir durch den auf die Leipziger Messe reisenden Buchhändler Zimmer von Heidelberg ihre köstlichen ausgeführten Zeichnungen des Domgebäudes. Gern rief ich die Gefühle jener Jahre zurück, als der Straßburger Münster mir Bewunderung abnötigte und mich zu seltsamen, aber tiefempfundenen enthusiastischen Äußerungen veranlaßte. Nun ward das Studium jener älteren besonderen Baukunst abermals ernstlich und gründlich aufgeregt und dieser wichtige Gegenstand von den Weimarischen Kunstfreunden teilnehmend in Betrachtung gezogen.
Eine Anwandlung, landschaftliche Skizzen zu zeichnen, wies ich nicht ab; bei Spaziergängen im Frühling, besonders nahe bei Jena, faßt ich irgendeinen Gegenstand auf, der sich zum Bild qualifizieren wollte, und suchte ihn zu Hause alsdann zu Papier zu bringen. Gleichermaßen ward meine Einbildungskraft durch Erzählungen leicht erregt, so daß ich Gegenden, von denen im Gespräch die Rede war, alsobald zu entwerfen trachtete. Dieser wundersame Trieb erhielt sich lebhaft auf meiner ganzen Reise und verließ mich nur bei meiner Rückkehr, um nicht wieder hervorzutreten.
Auch fehlte es nicht im Laufe des Jahrs an Gelegenheit, festlichen Tagen manches Gedicht und manche Darstellung zu widmen. »Die romantische Poesie«, ein großer Redoutenaufzug, war dem 30. Januar gewidmet, zum 16. Februar wiederholt, wobei zugleich eine charakteristische Reihe russischer Völkerschaften sich anschloß, gleichfalls von Gedicht und Gesang begleitet. Die Gegenwart der Kaiserin von Osterreich Majestät in Karlsbad rief gleich angenehme Pflichten hervor, und manches andere kleinere Gedicht entwickelte sich im stillen.
Hackerts Biographie ward indessen ernstlich angegriffen, eine Arbeit, die viel Zeit und Mühe kostete, wobei uns das Andenken an den verewigten Freund zu Hülfe kommen mußte. Denn obgleich die vorliegenden Papiere von Bedeutung waren und genugsamen Gehalt lieferten, so blieb doch die verschiedenartige Form desselben schwer zu gewältigen und in irgendein kongruentes Ganzes zusammenzufügen.
Zerstreuungen der Reise, vorübergehende Teilnahme begegnender Freunde an kleineren Aufsätzen erinnerte mich an die mancherlei Einzelnheiten, die auf eine Verbindung warteten, um dem Publikum sich teils neu, teils zum zweiten Male wieder vorzustellen. Der Gedanke der »Wanderjahre«, der den »Lehrjahren« so natürlich folgte, bildete sich mehr und mehr aus und beschäftigte mich in einzelnen Stunden, die auf andere Weise nicht genutzt werden konnten.
Bezüglich auf die Rechte des Autors mußte man merkwürdig finden, daß Minister Portalis bei mir anfragte: ob es mit meiner Bewilligung geschehen könne, daß ein kölnischer Buchhändler »Die Wahlverwandtschaften« abdrucke. Ich antwortete dankbar in betreff meiner, verwies aber die Angelegenheit an den rechtmäßigen Verleger. So viel höher standen schon die Franzosen im Begriff von geistigem Besitz und gleichem Recht des Höhern und Niedern, wozu sich die guten Deutschen wohl so bald nicht erheben werden.
In Karlsbad betrachtete ich die Verwüstung, die der Sprudel angerichtet, mit großem Interesse. Aus den hinteren Fenstern des »Weißen Hirsches« zeichnete ich diesen seltsamen Zustand sorgfältig nach der Wirklichkeit und überließ mich der Erinnerung vieljähriger Betrachtungen und Folgerungen, deren ich hier nur kürzlich erwähnen darf.
1811
Dieses Jahr zeichnet sich durch anhaltend äußere Tätigkeit besonders aus. »Das Leben Philipp Hackerts« ward abgedruckt und die vorliegenden Papiere nach jedesmaligem Bedürfnis sorgfältig redigiert. Durch diese Arbeit wurd ich nun abermals nach Süden gelockt; die Ereignisse, die ich jener Zeit in Hackerts Gegenwart oder doch in seiner Nähe erfahren hatte, wurden in der Einbildungskraft lebendig; ich hatte Ursache, mich zu fragen, warum ich dasjenige, was ich für einen andern tue, nicht für mich selbst zu leisten unternehme. Ich wandte mich daher noch vor Vollendung jenes Bandes an meine eigene frühste Lebensgeschichte; hier fand sich nun freilich, daß ich zu lange gezaudert hatte. Bei meiner Mutter Lebzeiten hätt ich das Werk unternehmen sollen, damals hätte ich selbst noch jenen Kinderszenen näher gestanden und wäre durch die hohe Kraft ihrer Erinnerungsgabe völlig dahin versetzt worden. Nun aber mußte ich diese entschwundenen Geister in mir selbst hervorrufen und manche Erinnerungsmittel gleich einem notwendigen Zauberapparat mühsam und kunstreich zusammenschaffen. Ich hatte die Entwicklung eines bedeutend gewordenen Kindes, wie sie sich unter gegebenen Umständen hervorgetan, aber doch wie sie im allgemeinen dem Menschenkenner und dessen Einsichten gemäß wäre, darzustellen.
In diesem Sinne nannt ich bescheiden genug ein solches mit sorgfältiger Treue behandeltes Werk »Wahrheit und Dichtung«, innigst überzeugt, daß der Mensch in der Gegenwart, ja vielmehr noch in der Erinnerung die Außenwelt nach seinen Eigenheiten bildend modele.
Dieses Geschäft, insofern ich durch geschichtliche Studien und sonstige Lokal- und Personenvergegenwärtigung viel Zeit aufzuwenden hatte, beschäftigte mich, wo ich ging und stand, zu Hause wie auswärts, dergestalt daß mein wirklicher Zustand den Charakter einer Nebensache annahm, ob ich gleich überall, wo ich durchs Leben hingefordert wurde, gleich wieder mit ganzer Kraft und vollem Sinne mich gegenwärtig erwies.
Für das Theater geschah sehr viel, wobei des trefflichen Wolff sich immer steigerndes Talent im besten Sinne hervortrat. »Der standhafte Prinz« ward mit allgemeinem Beifalle aufgeführt und so der Bühne eine ganz neue Provinz erobert. Auch erschien Wolff als Pygmalion, und seine Darstellung machte vergessen, wie unzuläßlich und unerfreulich dies Stück eigentlich sei.
Von Knebels übersetzter »Saul« Alfieris, »Die Tochter Jephta«, »Tasso« wurden wiederholt, »Romeo und Julie« fürs Theater bearbeitet, wobei sowohl Riemer als Wolff eifrig mitwirkten; und so ward auch für die nächste Folge Calderons »Leben ein Traum« vorbereitet.
Demoiselle Frank aus Mannheim erntete als Emmeline und Fanchon großen Beifall; Brizzi wiederholte seinen Besuch, die Vorstellung von »Achill« nahm wieder ihren glänzenden Gang. Die zweite große Oper, »Ginevra«, konnte sich jener nicht gleichstellen; auch hier bewahrheitete sich die alte Lehre, daß ein verfehlter Text der Musik und Darstellung insgeheim den Untergang vorbereite. Ein Bösewicht und Verräter nimmt sich am Ende überall schlecht aus, am schlechtesten auf dem Theater, wo der Verlauf seiner Niederträchtigkeiten abgesponnen und uns vor die Augen geführt wird.
Das neuerbaute Schauspielhaus zu Halle verlieh die sämtlichen Vorteile der Lauchstädter Bühne; die Einweihung desselben gab Gelegenheit zu einem Prolog, welchem freundliche Teilnahme zuteil ward.
Mit der Musik gelang es mir nicht so glücklich; was ich vor einem Jahre meine Hauskapelle zu nennen wagte, fühlte ich im Innersten bedroht. Niemand merkte einige Veränderung, aber es hatten sich gewisse Wahlverwandtschaften eingefunden, die mir sogleich gefährlich schienen, ohne daß ich ihren Einfluß hätte hindern können. Noch zu Anfang des Jahres ward nach herkömmlicher Weise verfahren, doch schon nicht mehr in so regelmäßiger wöchentlicher Folge. Noch trugen wir echte alte Sachen vor, mehrere neue Kanons von Ferrari belebten die Lust der Sänger und den Beifall der Zuhörer; ich aber hatte mich schon in diesen Verlust ergeben, und als bei meiner bevorstehenden Sommerreise zu Ende Aprils eine Pause eintreten mußte, so war schon mein Entschluß gefaßt, nie wieder zu beginnen; ich verlor dabei sehr viel und mußte deshalb ernstlich bedacht sein, mich anderwärts zu entschädigen.
Noch während dieser auferbaulichen Unterhaltung schrieb ich die Kantate »Rinaldo« für des Prinzen Friedrich von Gotha Durchlaucht; sie ward durch den verdienstvollen Kapellmeister Winter komponiert und gewährte, durch des Prinzen anmutige Tenorstimme vorgetragen, von Chören begleitet, einen schönen Genuß.
Was sich auf ältere bildende Kunst bezog, ward vorzüglich geachtet. Meyer bearbeitete unablässig die Kunstgeschichte, und alle deshalb gepflogenen Untersuchungen gaben Stoff zu belehrendem Gespräch.
Mionnetische Pasten altgriechischer Münzen hatten, als die würdigsten Dokumente jener Zeit, die entschiedensten Aussichten eröffnet.
Die Lust, sich Vergangenes zu vergegenwärtigen, wirkte fort, und wir suchten mit Hülfe eines guten Rechners den Rogus des Hephästion, besonders aber das ungeheure Amphitheater wieder herzustellen, in dessen Mitte er aufgeführt war und wozu die Mauer von Babylon Erde und Schutt hatte hergeben müssen wie zum Rogus die Ziegeln. Das ganze griechische Heer sah mit Bequemlichkeit der Feier zu.
Viele Jahrhunderte waren dagegen zu überschreiten, als Dr. Sulpiz Boisserée mit einer wichtigen Folge von Zeichnungen und Kupfern bei uns eintraf und unsere Kunstbetrachtungen ins Mittelalter hinlenkte. Hier verweilten wir so gern, weil eine wohlüberdachte Folge übereinstimmender Monumente vor uns lag, die uns in eine zwar düstere, aber durchaus ehren- und anteilwerte Zeit versetzte. Das lebhafte Interesse des Vorzeigenden, die gründliche Erkenntnis jener Zustände und Absichten, alles teilte sich mit, und man ließ sich, wie bei einer veränderten Theaterdekoration, abermals gern in Zeiten und Lokalitäten versetzen, zu denen man in der Wirklichkeit nicht wieder gelangen sollte.
Und so ward ein treuer Sinnes- und Herzensbund mit dem edlen Gaste geschlossen, der für die übrige Lebenszeit folgereich zu werden versprach.
Ferner hatte derselbe Federzeichnungen nach dem Gedichte »Die Nibelungen« von Cornelius mitgebracht, deren altertümlich tapferen Sinn, mit unglaublicher technischer Fertigkeit ausgesprochen, man höchlich bewundern mußte.
Als Nachklang jener früheren weimarischen Kunstausstellung, in Gefolg guter daraus sich herleitender Verhältnisse mit lebenden Künstlern ward gar manches eingesendet. Der verdienstvolle Nauwerck zu Ratzeburg schickte Zeichnungen und Gemälde; des allzu früh abgeschiedenen Landschaftsmalers Kaaz hinterlassene Zeichnungen wurden vorgelegt. Prinzeß Karoline von Mecklenburg, selbst einen schönen Sinn für landschaftliche Zeichnungen besitzend sowie anmutig ausführend, verschaffte sich von beiden eine Auswahl.
So wurden wir auch mit einem hoffnungsvollen Talente eines jung abgeschiedenen Mannes namens Wehle zum erstenmal bekannt, dessen Verlassenschaft Baron Schönberg-Rothschönberg käuflich an sich gebracht hatte. Sowohl in Skizzen als ausgeführten Blättern nach der Natur offenbarte sich ein glücklich künstlerischer Blick in die Welt, und das Interesse an diesen Blättern war durch fremdartige, seltsamliche Lokalität erhöht. Er war bis Tiflis vorgedrungen und hatte Fernes so wie Nahes mit charakteristischer Leichtigkeit dem Papier anvertraut.
Vor der Naturbetrachtung war man einigermaßen auf der Hut; doch studierte ich zwischendurch die Geschichte der Physik, um das Herankommen dieser höchsten Wissenschaft mir möglichst zu vergegenwärtigen: denn ganz allein durch Aufklärung der Vergangenheit läßt sich die Gegenwart begreifen. Eine Wissenschaft ist, wie jede menschliche Anstalt und Einrichtung, eine ungeheure Kontignation von Wahrem und Falschem, von Freiwilligem und Notwendigem, von Gesundem und Krankhaftem; alles, was wir tagtäglich gewahr werden, dürfen wir am Ende doch nur als Symptome ansehen, die, wenn wir uns wahrhaft ausbilden wollen, auf ihre physiologischen und pathologischen Prinzipe zurückzuführen sind.
Ich enthielt mich persönlich von Versuchen aller Art, aber ein indianisches Weißfeuer auf dem Landgrafenberg, von Professor Döbereiner abgebrannt, gab durch Erleuchtung des Tales, besonders der gegenüberliegenden Berge, eine höchst überraschende Erscheinung.
Nach diesem aufblickenden Lichtglanze durfte sich der herrliche, langverweilende Komet wohl auch noch sehen lassen, unsere Augen entzücken und unsern innern Sinn in das Weltall hinausfordern.
Mein diesjähriger Aufenthalt in Karlsbad nahm einen ganz eigenen Charakter an; die Lust des Haftens an der Natur, des Zeichnens und Nachbildens hatte mich ganz und gar verlassen; nichts der Art wollte weiter gelingen, und so war ich auch des Durchstöberns und Durchklopfens der allzu bekannten Felsmassen völlig müde. Müller, in hohen Jahren, war nicht mehr anregend, und so sah ich denn auch die Bemühungen, dem Sprudel seinen alten Weg wieder zu weisen, mit Gleichgültigkeit, getröstet durch die Bemerkung, daß man zwar althergebrachten Vorurteilen zu schmeicheln, aber doch einem ähnlichen Übel zuvorzukommen trachtete.
In Gesellschaft von lebenslustigen Freunden und Freundinnen übergab ich mich einer tagverzehrenden Zerstreuung. Die herkömmlichen Promenaden zu Fuß und Wagen gaben Raum genug, sich nach allen Seiten zu bewegen; die näheren sowohl als die entfernten Lustorte wurden besucht, zu welchen sich noch ein neuer auf eine fast lächerliche Weise gesellt hatte. In Weheditz, einem Dorfe über der Eger gegen Dalwitz gelegen, hatte sich ein Bauer, der als Fuhrmann bis Ungarn frachtete, auf dem Rückwege mit jungen, geistig wohlschmeckenden Weinen beladen und in Hof und Haus eine kleine Wirtschaft errichtet. Bei dem niedrigen Stande des Papiergeldes, fast wie zehn gegen eins, trank man eine anmutige Flasche Ungarwein für den Betrag von wenig Silbergroschen. Die Neuheit, das Seltsame, ja die Unbequemlichkeit des Aufenthalts fügten zur Wohlfeilheit einen gewissen Reiz; man zog hinaus, man lachte, spottete über sich und andere und hatte immer mehr des einschmeichelnden Weins genossen, als billig war. Man trug sich über eine solche Wallfahrt mit folgender Anekdote: Drei bejahrte Männer gingen nach Weheditz zum Weine:
Obrist Otto, alt . . . 87 Jahr
Steinschneider Müller . . . 84 Jahr
Ein Erfurter . . . 82 Jahr
253 Jahr
Sie zechten wacker, und nur der letzte zeigte bei Nachhausegehen einige Spuren von Bespitzung; die beiden andern griffen dem Jüngeren unter die Arme und brachten ihn glücklich zurück in seine Wohnung.
Einen solchen allgemeinen Leichtsinn begünstigte jener niedere Stand des Papiers. Ein ergangenes Patent hatte alle Welt verwirrt gemacht, die vorhandenen Zettel hatten allen Wert verloren, man erwartete die neuen sogenannten Antizipationsscheine. Die Verkäufer und Empfänger konnten dem sinkenden Papierwert nicht genug nachrücken, den Käufern und Ausgebenden geriet es auch nicht zum Vorteil: sie verschleuderten Groschen und wurden so allmählich ihre Taler los. Der Zustand war von der Art, daß er auch den Besonnensten zur Verrücktheit hinriß.
Doch ist der Tag so lang, daß er sich ohne nützliche Beschäftigung nicht hinbringen läßt, und so setzte ich mit Riemers Beistand unter fortwährendem Besprechen die Arbeit an der Biographie fort, das Nächste ausführend, das Fernere schematisierend. Auch waren zum fortgesetzten Lesen und Betrachten die kleineren Schriften Plutarchs jederzeit bei der Hand, wie es denn auch an mancherlei Erfahrung und Belehrung in einem so großen Zusammenfluß von bedeutenden Menschen, die in geschäftsloser Freiheit sich gern von dem, was ihnen lieb und wert ist, unterhalten, keineswegs fehlen konnte.
Von Personen, die dieses Jahr in Weimar eingesprochen find ich folgende bemerkt: Engelhardt, Architekt von Kassel, auf seiner Durchreise nach Italien. Man wollte behaupten, ich habe ihn in früherer Zeit als Musterbild seines Kunstgenossen in den »Wahlverwandtschaften« im Auge gehabt. Der so geschickte als gefällige Raabe hielt sich einige Zeit bei uns auf, malte mein Bildnis in Öl auf Kupfer. Ritter O’Hara, ein trefflicher Gesellschafter, guter Wirt und Ehrenmann, wählte Weimar für einige Zeit zu seinem Wohnort. Die Geschichten seiner vieljährigen Irrfahrten, die er mit einigem Scherz über sich selbst zu würzen verstand, verbreiteten über seine Tafel einen angenehmen vertraulichen Ton. Daß seine Köchin die trefflichsten Beefsteaks zu bereiten wußte, auch daß er mit dem echtesten Mokkakaffee seine Gastmahle schloß, ward ihm nicht zum geringen Verdienst angerechnet.
Lefebvre, französischer Legationssekretär, von Kassel kommend, durch Baron Reinhard angemeldet, regte im lebhaften Gespräch französische Rede, Poesie und Geschichte wieder auf, zu angenehmster Unterhaltung. Professor Thiersch ging, gute Eindrücke zurücklassend und hoffentlich mitnehmend, bei uns vorüber. Das Ehepaar von Arnim hielt sich eine Zeitlang bei uns auf; ein altes Vertrauen hatte sich sogleich eingefunden; aber eben durch solche freie, unbedingte Mitteilungen erschien erst die Differenz, in die sich ehemalige Übereinstimmung aufgelöst hatte. Wir schieden in Hoffnung einer künftigen glücklichern Annäherung.
Von wichtigen Büchern, deren Einfluß bleibend war, las ich Sainte-Croix, »Examen des historiens d’Alexandre«, Heerens »Ideen über die Geschichte des Handels«, Degérando, »Histoire de la philosophie«; sie verlangten sämtlich, daß man seine Umsicht innerhalb der vergangenen Zeiten auszudehnen und zu erweitern sich entschließe.
Jacobi, »Von den göttlichen Dingen«, machte mir nicht wohl; wie konnte mir das Buch eines so herzlich geliebten Freundes willkommen sein, worin ich die These durchgeführt sehen sollte: die Natur verberge Gott. Müßte, bei meiner reinen, tiefen, angebornen und geübten Anschauungsweise, die mich Gott in der Natur, die Natur in Gott zu sehen unverbrüchlich gelehrt hatte, so daß diese Vorstellungsart den Grund meiner ganzen Existenz machte, mußte nicht ein so seltsamer, einseitigbeschränkter Ausspruch mich dem Geiste nach von dem edelsten Manne, dessen Herz ich verehrend liebte, für ewig entfernen? Doch ich hing meinem schmerzlichen Verdrusse nicht nach, ich rettete mich vielmehr zu meinem alten Asyl und fand in Spinozas »Ethik« auf mehrere Wochen meine tägliche Unterhaltung, und da sich indes meine Bildung gesteigert hatte, ward ich im schon Bekannten gar manches, das sich neu und anders hervortat, auch ganz eigen frisch auf mich einwirkte, zu meiner Verwunderung gewahr.
Uwarows Projekt einer Asiatischen Akademie lockte mich in jene Regionen, wohin ich auf längere Zeit zu wandern ohnedem geneigt war. Hebels abermalige »Alemannische Gedichte« gaben mir den angenehmen Eindruck, den wir bei Annäherung von Stammverwandten immer empfinden. Nicht so von Hagens »Heldenbuch«; hier hatte sich eine alles verwandelnde Zeit dazwischen gelegt. Ebenso brachte mir Büschings »Armer Heinrich«, ein an und für sich betrachtet höchst schätzenswertes Gedicht, physisch-ästhetischen Schmerz. Den Ekel gegen einen aussätzigen Herrn, für den sich das wackerste Mädchen aufopfert, wird man schwerlich los; wie denn durchaus ein Jahrhundert, wo die widerwärtigste Krankheit in einem fort Motive zu leidenschaftlichen Liebes- und Rittertaten reichen muß, uns mit Abscheu erfüllt. Die dort einem Heroismus zum Grunde liegende schreckliche Krankheit wirkt wenigstens auf mich so gewaltsam, daß ich mich vom bloßen Berühren eines solchen Buchs schon angesteckt glaube.
Durch einen besondern Zufall kam mir sodann ein Werk zur Hand, von welchem man dagegen eine unsittliche Ansteckung hätte befürchten können; weil man sich aber vor geistigen Einwirkungen aus einem gewissen frevelhaften Dünkel immer sicherer hält als vor körperlichen, so las ich die Bändchen mit Vergnügen und Eile, da sie mir nicht lange vergönnt waren: Es sind die »Novelle galanti« von Verrocchio; sie stehen denen des Abbate Casti an poetischem und rhetorischem Wert ziemlich nahe, nur ist Casti künstlerisch mehr zusammengenommen und beherrscht seinen Stoff meisterhafter. Auf Erinnerung eines Freundes schloß ich die »Novelle del Bandello« unmittelbar an. Die Abenteuer des Ritter Grieux und Manon Lescaut wurden als nahe verwandt herbeigerufen; doch muß ich mir zuletzt das Zeugnis geben, daß ich nach allem diesem endlich zum »Landprediger von Wakefield« mit unschuldigem Behagen zurückkehrte.
1812
Die Familie Kobler eröffnete mit höchst anmutigen Balletten das Jahr. »Romeo und Julie«, sodann »Turandot« werden wiederholt, die Aufführung von »Leben ein Traum« vorbereitet. Die zu würdiger Darstellung solcher Stücke erforderlichen Anstrengungen gaben neue Gelegenheit zum tiefer eindringenden Studium und der ganzen Behandlung einen frischen Schwung. Ein junger Schauspieler trat hinzu, namens Durand, mit allen Vorzügen, die man im allgemeinen an einem jungen sogenannten Liebhaber wünschen kann, nur vermißte man an ihm ein gewisses inneres Feuer oder auch nur jene Art von Enthusiasmus, der ihn aus sich selbst herausgetrieben, womit er sich dem Publikum aufgedrungen hätte, daß es ihn fühlen und anerkennen mußte. Man hoffte jedoch, daß er dies Bedürfnis bald selbst empfinden werde.
Theodor Körner war als Theaterdichter hervorgetreten, dessen »Toni«, »Zriny« und »Rosamunde« als Nachklänge einer kurz vergangenen Epoche von den Schauspielern leicht aufgefaßt und wiedergegeben und ebenso, dem Publikum sinn- und artverwandt, von ihm günstig aufgenommen wurden. Zu höheren Zwecken ward »Die große Zenobia« von Calderon studiert und »Der wunderbare Magus« durch Griesens Übersetzung uns angenähert.
Wolff und Riemer machten einen Plan zu Aufführung des »Faust«, wodurch der Dichter verleitet ward, mit diesem Gegenstand sich abermals zu beschäftigen, manche Zwischenszenen zu bedenken, ja sogar Dekorationen und sonstiges Erfordernis zu entwerfen. Jene genannten, immer tätigen Freunde entwarfen gleichfalls den Versuch einer neuen Redaktion des »Egmont« mit Wiederherstellung der Herzogin von Parma, die sie nicht entbehren wollten. Die Anwesenheit der Madame Schönberger veranlaßte die erfreulichsten Darstellungen. Iffland schloß das Jahr auf das erwünschteste, indem er mehrmals auftrat; vom 20. Dezember an sehen wir folgende Vorstellungen: »Clementine«, »Selbstbeherrschung«, »Der Jude«, »Künstlers Erdenwallen«, »Don Ranudo« und »Der arme Poet«, »Der Kaufmann von Venedig«, »Der gutherzige Polterer«.
Neben ihm traten von unserm wohlbestellten Theater folgende Schauspieler auf, deren Gemeinschaft er seiner hohen Kunst nicht unwürdig fand. Es scheint uns der Sache gemäß, ihre Namen hier aufzuführen; die Herren: Durand, Deny, Graff, Genast, Haide, Lortzing, Malcolmi, Oels, Unzelmann, Wolff; sodann die Damen: Beck, Eberwein, Engels, Lortzing, Wolff.
Der Biographie zweiter Band wurde gearbeitet und abgeschlossen, auch der dritte Band eingeleitet, im ganzen entworfen, im einzelnen ausgeführt. In Gefolg der Darstellung Mosaischer Geschichte im ersten Bande nahm ich den »Irrgang der Kinder Israel durch die Wüste« aus alten Papieren wieder vor, die Arbeit selbst aber wurde zu andern Zwecken zurückgelegt.
Drei Gedichte für kaiserliche Majestäten, im Namen der Karlsbader Bürger, gaben mir eine ehrenvoll-angenehme Gelegenheit, zu versuchen, ob noch einiger poetischer Geist in mir walte.
In der bildenden Kunst ereignete sich manches Günstige: Die Nachricht von dem Fund auf Ägina eröffnete der Kunstgeschichte neue Aussichten, an welchen wir uns mit Freund Meyer, der in seinen Bemühungen immer vorwärtsging, erbauten und ergötzten.
Der Gedanke, aus vorliegenden alten Münzen das Andenken verlorner Kunstwerke zu ergänzen, war zu reizend und hatte einen dergestalt soliden Grund, daß man nach dem Aufsatz über Myrons Kuh in dergleichen Betrachtungen fortfuhr, den Olympischen Jupiter, die Polykletische Juno und manches andere würdige Bild auf diese Weise wiederherzustellen trachtete.
Ein kleiner Zentaur von Silber, etwa spannenlang und bewundernswürdig gearbeitet, rief eine lebhafte Streitigkeit hervor, ob er antik oder modern sei. Die Weimarischen Kunstfreunde, überzeugt, daß in solchen Dingen niemals an Übereinstimmung und Entscheidung zu denken sei, bewunderten ihn, belehrten sich daran und traten zu derjenigen Partei, die ihn für alt und aus den ersten Kaiserzeiten hielt.
Ich akquirierte eine nicht gar ellenhohe altflorentinische Kopie des sitzenden Moses von Michelangelo, in Bronze gegossen und im einzelnen durch Grabstichel und andere ziselierende Instrumente fleißigst vollendet: ein schönes Denkmal sorgfältiger, beinahe gleichzeitiger Nachbildung eines höchst geschätzten Kunstwerkes jener Epoche und ein Beispiel, wie man dem kleinen Bilde, welches natürlich die Großheit des Originals nicht darstellen konnte, durch eine gewisse Ausführlichkeit im einzelnen einen eigentümlichen Wert zu geben wußte.
Die Naturwissenschaft erfreute sich manchen Gewinnes; Ramdohr, »Von den Verdauungswerkzeugen der Insekten«, bestätigte unsere Denkweise über die allmähliche Steigerung organischer Wesen. Übrigens aber wandte sich die Aufmerksamkeit mehr gegen allgemeine Naturforschung.
Dr. Seebeck, der chromatischen Angelegenheit immerfort mit gewohntem Fleiße folgend, bemühte sich um den zweiten Newtonischen Versuch, den ich in meiner Polemik nur soviel als nötig berührt hatte; er bearbeitete ihn in meiner Gegenwart, und es ergaben sich wichtige Resultate, wie jene Lehre, sobald man anstatt der anfänglichen Prismen zu Linsen übergeht, in eine fast unauflösliche Verfitzung verwickelt werde.
Zu allgemeiner Betrachtung und Erhebung des Geistes eigneten sich die Schriften des Jordanus Brunus von Nola; aber freilich das gediegene Gold und Silber aus der Masse jener so ungleich begabten Erzgänge auszuscheiden und unter den Hammer zu bringen erfordert fast mehr, als menschliche Kräfte vermögen, und ein jeder, dem ein ähnlicher Trieb eingeboren ist, tut besser, sich unmittelbar an die Natur zu wenden, als sich mit den Gangarten, vielleicht mit Schlackenhalden vergangener Jahrhunderte herumzumühen.
In Karlsbad fand man sich wieder zu herkömmlichen geologischen Betrachtungen genötigt. Die Erweiterung des Raumes um den Neubrunnen, ein kühnes, vielleicht in früherer Zeit nicht denkbares Vornehmen, bestärkte in den bisherigen Vorstellungen; ein merkwürdiges Gestein ward daselbst gewonnen, starkes Wasser der Tepl und heftiges Aufbrausen der heißen Quellen trafen zusammen, Umstände, welche auf die Hypothese hinzudeuten schienen: diese große Naturwirkung sei als ein ungeheures galvanisches Experiment anzusehen.
Von Teplitz aus besuchte man Dr. Stolz in Aussig und belehrte sich an dessen trefflichen Kenntnissen und Sammlungen. Fossile Knochen in Böhmen waren auch zur Sprache gekommen.
Nach Hause zurückgekehrt, verweilte man zuerst in Jena, um den dortigen Museen im Augenblick einer eintretenden günstigen Epoche eine freudige Aufmerksamkeit zu widmen. Ihro Kaiserliche Hoheit die Frau Erbprinzeß bestimmten eine ansehnliche Summe zu diesem Zwecke, und Mechanikus Körner verfertigte eine Luftpumpe für das physikalische Kabinett. Sonstige Instrumente und andere Anschaffungen dorthin werden gleichfalls eingeleitet und, um des Raumes mehr zu gewinnen, die oberen Zimmer im jenaischen Schloß für die Aufnahme eines Teils der Museen eingerichtet. Von Trebra verehrte merkwürdige Granitübergangsplatten als Dokumente früherer geognostischer Wanderungen auf dem Harze; sein Werk »Vom Innern der Gebirge« wird aufs neue vorgenommen und dabei ältere und jüngere Vorstellungsarten besprochen.
Sogenannte Schwefelquellen in Berka an der Ilm, oberhalb Weimar gelegen, die Austrocknung des Teichs, worin sie sich manchmal zeigten, und Benutzung derselben zum Heilbade gab Gelegenheit, geognostische und chemische Betrachtungen hervorzurufen. Hiebei zeigte sich Professor Döbereiner auf das lebhafteste teilnehmend und einwirkend.