55

Menkhoff schlug gegen das Armaturenbrett. »Verdammt, ich habe keine Ahnung, wo wir suchen sollen. Wir können doch nicht wahllos jedes Waldstück in ganz Köln von Hundertschaften durchkämmen lassen!«

Reithöfer sah immer wieder kurz zu ihm herüber. »Wir haben noch keinen Hinweis erhalten.«

»Was?«

»Na den Hinweiszettel, den der Kerl uns die beiden Male zuvor geschickt hat, nachdem er eine Frau entführt und begraben hatte.«

»Ja, und beide Frauen waren tot, als wir sie nach dem Erhalt dieses Hinweises gefunden haben, schon vergessen?«

»Nein, habe ich nicht, aber das ist ja auch, was ich meine. Wir haben noch keine Nachricht von ihm bekommen, also ist die Chance recht hoch, dass sie noch lebt.«

»Fragt sich nur, wie lange noch. Außerdem – bei der Rossbach ist alles anders als bei den Frauen davor, von Anfang an. Diese Geschichte mit dem Sarg, mal liegt sie drin, dann lässt er sie wieder raus, dann dieses DIS-Dings, ihre multiple Persönlichkeit mit dieser Britta … Total verrückt. Nein, es ist einfach alles anders bei ihr. Deswegen glaube ich auch nicht daran, dass er uns einen Hinweis schicken wird.«

»Denkst du denn, er wird sie auch im Wald vergraben?«

»Hm … ich weiß es nicht. Aber allein, dass er für sie offensichtlich extra einen richtigen Sarg besorgt hat, mit Seide oder Satin ausgeschlagen, während er die anderen, auch Inge Glöckner, in eine roh gezimmerte Holzkiste gesteckt hat, zeigt doch, dass er mit Eva Rossbach etwas Besonderes vorhat. Aber wo hat er diesen Scheißsarg aufgestellt? Das ist die alles entscheidende Frage!«

»Wenn ich mir überlege, wie schwer so ein Sarg sein muss, dann wird er Probleme haben, ihn allein zu transportieren. Die Wahrscheinlichkeit ist also recht hoch, dass das Ding noch genau da steht, wo es die ganze Zeit über gestanden hat.«

Menkhoff überlegte kurz und nickte. »Ja, und das wird kaum in einem Wald sein. Frau Rossbachs Kleidung war sauber, wenn sie wieder zu Hause aufgewacht ist. Also wird der Sarg wohl in einem geschlossenen Raum stehen.«

Sie hatten den Parkplatz des Präsidiums erreicht, der um diese Uhrzeit fast vollkommen leer war, stiegen aus und gingen auf den Eingang zu. Nur wenige Fenster in dem großen, langgezogenen Gebäude waren noch erleuchtet. »Ja, davon können wir wohl ausgehen. Aber wo? Ein altes, verlassenes Gebäude vielleicht?«, spekulierte Reithöfer weiter.

»Hm …«, machte Menkhoff, als sie am Nachtpförtner vorbei zu den Aufzügen gingen. »Was mich die ganze Zeit schon beschäftigt, ist, dass ein Einzelner es auf sich nimmt, die Frau immer wieder hin und her zu schleppen, nur, um sie ein paar Minuten in diesen Sarg zu sperren. Es gibt keine Einbruchsspuren, er muss einen Schlüssel haben. Er kann also in der Rossbach-Villa ein-und ausgehen, wie er möchte. Und wenn es sich bei unserem Täter wirklich um Manuel Rossbach handelt, dann ist es eine Familiensache. Da wäre es doch am einfachsten, er hätte den Sarg irgendwo in ihrem gemeinsamen Elternhaus aufgestellt.«

Sie stiegen in den Aufzug ein. »Tja, hat er aber nicht, wie wir ja wissen.«

Sie kamen oben an und gingen auf Menkhoffs Büro zu. Die Tür zum Büro ihres Chefs stand offen, alles war dunkel. Sie wollten gerade Menkhoffs Büro betreten, als ein paar Meter weiter eine Tür aufgerissen wurde und Udo Riedel in den Flur trat. »Ah, da seid ihr ja, gibt’s was Neues?«

Menkhoff war überrascht. »Was tust du denn noch hier?«

»Der Chef sagte, dass dieser Psychiater wieder bei Bewusstsein ist und dass ihr dort seid. Ich wollte wissen, was dabei rausgekommen ist und ob wir heute noch was tun können.«

»Ich weiß es noch nicht, aber komm rein, wie werden sehen. Bist du der Einzige, der noch da ist?«

»Nein, da hinten im Büro sind noch Becker und Mirjam Arends.«

»Hol sie her, und sie sollen Stühle mitbringen.«

Menkhoff betrat sein Büro und schaltete das Licht an. Als er sich setzte, fiel ihm auf, dass sie schon lange nichts mehr gegessen hatten. »Was sagt dein Hunger?«, fragte er Reithöfer.

Sie winkte ab. »Den habe ich schon seit Stunden nicht mehr.«

Kurze Zeit später waren Riedel und die beiden jüngeren Kollegen da. Reithöfer übernahm es, alle auf den neuesten Stand zu bringen, wofür Menkhoff ihr dankbar war. Von den anderen gab es kaum Neuigkeiten.

»Was wir jetzt brauchen, ist die richtige Idee, wo dieser Mistkerl den Sarg versteckt haben könnte, der für Eva Rossbach gedacht ist, und zwar schnell.«

Sie spekulierten über verschiedene Gebiete in Köln, über leerstehende Gebäude und die Strecke, die ein Mann nachts mit einer bewusstlosen Frau zurücklegen konnte. Menkhoff hörte nur mit einem Ohr hin, seine Gedanken kreisten um die Frage, ob sie im Haus von Eva Rossbach etwas übersehen haben konnten.

»Wo bist du gerade?«, fragte Reithöfer ihn irgendwann.

»Ach, ich komme einfach nicht davon los, dass es das einzig wirklich Praktikable wäre, wenn dieser Sarg im Haus stehen würde.«

»Aber wo? Wir haben doch alles durchsucht.«

»Keine Ahnung.« Er stand auf und sah Reithöfer an. »Ich muss noch mal dahin.«

»Was? Jetzt? Was versprichst du dir denn davon?«

»Ich habe das Gefühl, ich hab irgendwas übersehen.« Er hatte tatsächlich eine Ahnung, dass da etwas war, eine vage Erinnerung an etwas trieb ganz dicht unter der Oberfläche seines Bewusstseins. Eine Erinnerung an etwas, das er gesehen oder gehört hatte. Jedenfalls war es wichtig.

»Ich komme mit«, sagte Riedel und erhob sich ebenfalls.

Menkhoff nickte. »Also gut. Jutta?« Sie warf ihm einen verständnislosen Blick zu. »Was ist das denn für eine Frage?«

Menkhoff grinste kurz und wandte sich dann an Becker und Arends. »Ihr haltet hier die Stellung, sollten wir Unterstützung benötigen, melden wir uns bei euch, und ihr organisiert alles, klar?« Er wartete keine Antwort ab, sondern griff seinen Mantel und verließ mit Reithöfer und Riedel zusammen das Büro.

Um kurz vor elf kamen sie an der Rossbach-Villa an, zwei Minuten später war die Tür geöffnet. Menkhoff zog seine Waffe, Reithöfer tat es ihm gleich. In der Diele wollte Menkhoff das Licht einschalten, doch als er den Schalter umlegte, tat sich nichts. Er drehte sich um und sagte zu Riedel, der hinter Reithöfer stand: »Sieht so aus, als ob jemand die Sicherung rausgedreht hätte. Wir brauchen Taschenlampen.«

Riedel nickte, verließ das Haus und kam kurz danach mit drei Stablampen zurück. Menkhoff schaltete sie ein und ließ den Lichtkegel durch den Flur wandern.

»Jetzt müssten wir nur noch wissen, wonach genau wir suchen sollen«, sagte Reithöfer leise.

»Vielleicht gibt es ein Geheimzimmer?«, warf Riedel ein. »Mit so einem versteckten Zugang.«

Menkhoff erstarrte. Da war es wieder, dieses Gefühl, eine wichtige Information zu haben, zum Greifen nah, stärker noch als zuvor, er musste sich nur daran erinnern. Es musste etwas mit dem zu tun haben, was Riedel gerade gesagt hatte. Etwas, das … »Jutta, deine Notizen von den Gesprächen mit der Rossbach … ich brauche sie. Sofort.«

»Aber ich hab doch Berichte geschrieben, die hast du doch.«

Er schüttelte den Kopf. »Nein, ich brauche deine Originalnotizen, jetzt, hier, wo sind sie?«

»In meiner Tasche, und die liegt im Auto.«

»Geh sie holen, schnell.«

Reithöfer sah ihn verständnislos an, drehte sich dann aber um und verließ das Haus. Menkhoff und Riedel suchten unterdessen nach dem Sicherungskasten und wurden in der Diele fündig. Es waren tatsächlich für einzelne Räume im Haus die Sicherungsschalter umgelegt worden. Als Reithöfer zurückkam, hatten sie wieder Licht und konnten die Taschenlampen ausschalten.

Reithöfer hielt Menkhoff ihr Notizbuch entgegen. »Hier, da ist alles drin. Was suchst du?«

»Ich weiß es noch nicht«, antwortete er wahrheitsgemäß, steckte seine Waffe weg und begann darin zu blättern, bis er die ersten Notizen zu Eva Rossbach gefunden hatte. Er überflog die Zeilen, dachte hier und da kurz nach, kam an die Stelle, an der stand, dass Eva Rossbach ihren Vater als sehr ängstlichen Mensch bezeichnete, las weiter, stockte, … und sah mit einem Ruck auf. »Verdammte Scheiße, das ist es.« Als er nur verständnislose Blicke erntete, sah er Reithöfer an. »Erinnerst du dich, dass Frau Rossbach gesagt hat, ihr Vater sei ein regelrechter Angsthase gewesen?«

»Ja, ich erinnere mich.«

»Weißt du auch noch, was sie als Beispiel dafür genannt hat, wie ängstlich er war?«

Reithöfer biss sich auf die Unterlippe, dachte fieberhaft nach, und riss plötzlich die Augen auf. »O mein Gott. Sie sprach von einem versteckten Raum im Haus, den ihr Vater hatte bauen lassen, falls bei ihnen eingebrochen wurde und die Familie in Gefahr war.«

Menkhoffs Puls beschleunigte sich. »Genau. Irgendwo hier im Haus muss es einen Panikraum geben. Udo, geh raus ins Auto und besorg mir blitzschnell einen Experten für Panikräume am Telefon.«

»Hm, das könnte um diese Uhrzeit schwierig werden.«

»Das ist mir egal, dann hol eben einen vorm Fernseher weg. Auf geht’s.«

Riedel nickte und wandte sich ab. Menkhoff erinnerte sich an die Botschaft auf dem Spiegel. »Komm mit«, sagte er zu Reithöfer und ging auf direktem Weg ins Schlafzimmer. »Irgendwo muss es einen versteckten Zugang geben, einen Mechanismus, irgendwas.«

»Hier im Schlafzimmer?«

Menkhoff begann damit, die Wände abzutasten in der Hoffnung, einen Spalt zu finden, der auf eine versteckte Tür hindeutete. »Ja, ein Zugang vom Schlafzimmer aus wäre doch sinnvoll, weil Situationen, in denen man wirklich in den Raum fliehen müsste, doch wohl meist nachts entstehen, wenn man schon im Bett liegt.«

Das schien Reithöfer einzuleuchten, sie überprüfte den Kleiderschrank, indem sie die Türen öffnete und die Innenräume genau inspizierte. Nach einigen Minuten hatten sie alle möglichen Stellen mehrfach untersucht und gaben es im Schlafzimmer auf.

»Das Wohnzimmer können wir wohl erst mal außer Acht lassen. Interessant wäre noch …« Er stockte, weil Riedel ihnen auf dem Flur kopfschüttelnd entgegenkam. »Tut mir leid, aber ich kann niemanden erreichen. Ich habe im Präsidium angerufen, Becker versucht es weiter.«

»Also gut, und wir versuchen unser Glück mal im Keller. Schau du dir in der Zeit das Gästezimmer und die Garage an. Ich habe das Gefühl, wir müssen uns beeilen. Jutta, nimm bitte die Taschenlampen mit.«

Das untere Ende der Kellertreppe mündete in einen kurzen Flur, von dessen Seitenwänden jeweils eine Tür abging und am Ende eine weitere. Ohne Zögern drückte Menkhoff die Klinke der rechten Tür herunter. Sie war nicht verschlossen und führte in einen kleinen Heizungsraum, der deutlich älter war als der Flur und in dem es kein Licht gab. Die gewölbte Decke war aus Bruchsteinen gemauert, und im Schein der Taschenlampen konnten sie sehen, dass die Wände, die diesen Teil von einem ursprünglich größeren Gewölbekeller abtrennten, erst nachträglich eingezogen worden waren. Nach einigen Minuten genauer und erfolgloser Untersuchung verließen sie den Raum und öffneten die Tür am Ende des Flurs. Der Raum, der sich dunkel vor ihnen auftat, da es auch hier keine Lichtquelle gab, war um ein Vielfaches größer als der Heizungskeller. Als Menkhoff den Schein der Taschenlampe wandern ließ, stellte er fest, dass er offensichtlich kaum genutzt wurde. Die gewölbten Decken waren ebenso wie Teile der Wände mit verstaubten Spinnennetzen verhangen. An den Wänden entlang stapelten sich Kisten, Kartons und irgendwelcher Plunder, ebenfalls mit einer dicken Staubschicht überzogen.

»Ich wette, hier ist es«, sagte Menkhoff aus einer inneren Überzeugung heraus, die er sich selbst nicht erklären konnte.

Sie gingen weiter in den Raum hinein, er hielt sich links, Reithöfer wandte sich zur rechten Seite. Langsam schritten sie die Wände ab, leuchteten jeden Zentimeter aus, blieben hier und da stehen, sahen genauer hin, tasteten über staubige Gegenstände, gingen weiter. Als Menkhoff fast die gegenüberliegende Wand erreicht hatte, tastete der Kegel seiner Taschenlampe sich an einem alt, aber stabil aussehenden Regal entlang. Einmachgläser waren dort aufgereiht, blind vom Staub, im Fach darüber alte, teils verrostete Farbdosen, auch sie mit einer dichten Staubschicht überzogen, darüber, in Brusthöhe, einige Werkzeuge, vergammelt, verstaubt, eine Lücke, … Menkhoff spürte ein stechendes Kribbeln unter der Kopfhaut. Eine Lücke, und auf dem Regalboden Spuren im Staub, so, als sei dort vor Kurzem etwas herausgenommen worden.

»Jutta, hier«, sagte Menkhoff, und er hatte seine Stimme automatisch zu einem Flüstern gesenkt. Sie kam zu ihm herüber, und er zeigte ihr, was er meinte. Ohne ein weiteres Wort hob er die Hand und fasste in die Lücke, tastete über die Steine der Wand, spürte, dass an einer Stelle ein Stein etwas nachgab, und drückte dagegen.

Eine Sekunde später glitt ein Teil der Stirnwand zur Seite und gab den Blick frei in einen von einer Neonröhre erleuchteten Raum mit grauen Betonwänden, und in der Mitte dieses Raums stand … ein Sarg.

Der Sarg
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