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Sie hatten in einer kleinen Pizzeria in der Marzellenstraße gegessen, unweit von Menkhoffs Wohnung am Ursulakloster. Der Wirt kannte Menkhoff, er hatte schon oft dort bei einer Pasta gesessen und seinen Gedanken nachgehangen.
Nun parkte Reithöfer den Passat fast an der gleichen Stelle auf dem Betriebsparkplatz, an dem er auch am Vormittag schon gestanden hatte. Der Pförtner begnügte sich dieses Mal damit, ihnen die Besucherausweise durch den Schlitz in der Glasscheibe zu reichen. »Wir möchten dieses Mal bitte zu Herrn Jörg Wiebking«, erklärte Menkhoff, als der Mann gerade zum Telefon greifen wollte, woraufhin der mit der Schulter zuckte und die Nummer aus einer Liste auf seinem Schreibtisch heraussuchte. Dabei ließ er seinen Zeigefinger von oben nach unten über das Blatt wandern. Nachdem er die Nummer gefunden und sie angemeldet hatte, erklärte er ihnen, dass Jörg Wiebkings Büro auf halbem Weg zu dem seines Vaters lag, und dass sie das ganz einfach finden würden.
»Das ging ja schnell«, begrüßte der Ingenieur sie, nachdem sie von seiner Sekretärin angemeldet worden waren und sein Büro betraten. Es war etwas kleiner als das seines Vaters und moderner eingerichtet. Die vorherrschende Farbe war Schwarz. Die wuchtige Schreibtischplatte ruhte ebenso wie die beiden bequem aussehenden Lederstühle davor auf Chromgestellen. Bis auf einen breiten Computermonitor und einige Schreibutensilien war der Schreibtisch leer. Es sah aus, als sei der Besitzer gerade im Urlaub. Der hohe Chefsessel dahinter wirkte mit seinem samten aussehenden Leder edel und teuer. Ein riesiges Gemälde, das nur einen schwarzen Punkt von der Größe eines Fußballs auf einer blauen Fläche zeigte, beherrschte die Wand dahinter. Nicht zum ersten Mal fragte Menkhoff sich, welche Art von Kunstverständnis man haben musste, um so etwas schön zu finden. Rechts neben dem Schreibtisch standen an der Wand drei weitere der Lederstühle, allerdings ohne Armlehnen, und Jörg Wiebking bedeutete ihnen, darauf Platz zu nehmen. Er wartete, bis sie saßen, und ließ sich dann ihnen gegenüber nieder. »Ja, also, Sie hatten ja angekündigt, dass Sie noch mit mir sprechen wollten, aber wie schon gesagt, so schnell habe ich nicht mit Ihnen gerechnet.« Er warf einen Blick auf seine Armbanduhr. »Leider habe ich schon in zwanzig Minuten ein wichtiges Meeting, und ich muss mich noch …«
»Wir machen es kurz, Herr Wiebking«, unterbrach Menkhoff ihn. »Wir haben nur ein paar Fragen. Für den Moment. Beginnen wir doch damit, wann Sie Inge Glöckner zum letzten Mal gesehen haben. Sie sagten, das sei eine Zeitlang her. Wann genau war das?«
Wiebking schürzte die Lippen. »Ich glaube, vor drei Wochen etwa.«
»Oder vielleicht vorletzte Woche?«, fragte Reithöfer.
»Vorletzte Woche … ja, doch, stimmt, Sie haben recht. Es war vorletzte Woche. Wenn ich mir vorstelle, dass es das letzte Mal war, und dass sie jetzt … schreckliche Geschichte.«
»Ja, das finden wir auch. Was war der Grund für Ihr Treffen mit Frau Glöckner?«
»Der Grund? Ach, nur so. Wir kannten uns und haben uns ab und an gesehen. Wie man sich eben so trifft unter Bekannten. Ich war zufällig in der Nähe und habe Hallo gesagt. Wir haben ein Glas zusammen getrunken, ein wenig geplaudert, und das war’s.«
Menkhoff sah Reithöfer an, und zwar so demonstrativ, dass Wiebking es bemerken musste. Dann wandte er sich wieder an den Ingenieur. »Also eine rein private Bekanntschaft?«
»Ja. Mein Gott, genau wie Eva kenne ich Inge schon ewig. Nach ihrer Hochzeit haben wir uns zwar nicht mehr oft, aber doch hin und wieder noch gesehen. Ich kaufe ab und zu in ihrer Boutique ein.«
»Wie ist ihr Verhältnis zu Eva Rossbach?«
»Eva … sie ist genau genommen meine Chefin, auch, wenn mein Vater die Geschäfte führt. Und ich mag sie.«
»Weiß sie von Ihrer … Bekanntschaft mit Inge Glöckner?«
Die Frage war ihm unangenehm, das konnte Menkhoff deutlich an Wiebkings Gesicht ablesen.
»Ich glaube nicht, also, ich denke, sie weiß nichts davon. Die beiden haben sich nicht besonders verstanden, wie Ihnen ja bekannt ist, und wenn Eva davon wüsste, wäre sie mit Sicherheit sauer. Wie gesagt, ich habe Inge nur ab und zu gesehen, zu wenig, um mein freundschaftliches Verhältnis zu Eva damit zu belasten, verstehen Sie? Eva ist so … ich meine, sie war so besessen von ihrem Hass auf Inge, sie hätte das nicht verstanden und es mir übelgenommen. Das wollte ich nicht. Andererseits habe ich auch nicht eingesehen, warum ich keinen Kontakt zu Inge haben sollte, immerhin kannte ich sie genauso lange wie Eva. Ich wollte mich einfach Eva gegenüber nicht dafür rechtfertigen müssen.« Er machte eine Pause und schüttelte den Kopf. »Ich kann immer noch nicht glauben, dass Inge tot ist.«
»Ja. Was sagt Ihr Vater dazu?«
»Wozu?«
»Zu Ihrem Kontakt zu Inge Glöckner.«
Wiebking senkte den Blick. »Er weiß auch nichts davon.« Seine Stimme war bedeutend leiser geworden.
Reithöfer sah von ihren Notizen auf. »Sie wollten wahrscheinlich auch die Diskussion mit ihm vermeiden, nehme ich an.«
»Ehm, ja, das kann man so sagen. Mein Vater ist …« Er schien nach Worten zu suchen, und sie nicht zu finden. »Dominant?«, schlug Reithöfer vor, woraufhin er nickte. »Ja, er ist sehr dominant. Er ist Eva gegenüber zu einhundert Prozent loyal, und dazu gehört es für ihn offensichtlich auch, vollkommen unreflektiert die Menschen nicht zu mögen, die Eva Rossbach nicht mag.«
»Verstehe«, sagte Reithöfer. »Was halten Sie von Inge Glöckners Mann?«, schaltete sich Menkhoff wieder ein, woraufhin Wiebking den Mund verzog. »Ich mag ihn nicht, er ist ein Schnösel, der sich an Inge drangehängt hat, weil sie sehr vermögend ist. Er hat keinen Beruf, arbeitet nicht und lässt sich von ihr aushalten.«
»Das ist eine klare Meinung. Aber immerhin hat sie ihn geheiratet.«
»Ja, weil er ihr den Kopf verdreht hat mit seinem Aussehen und seinen schmierigen Komplimenten. Er hat sie mit Geschenken überhäuft und kam jeden Tag mit einer neuen Überraschung an. Inge hat sich davon blenden lassen und schließlich eingewilligt, ihn zu heiraten.«
»Hm … Was denken Sie, hat sie ihn geliebt? Und er sie?«
Wiebking stieß einen Zischlaut aus. »Er hat ihr Geld geliebt. Und was sie betrifft – ich denke, sie hat ihn bald nach der Hochzeit durchschaut. Von Liebe war da jedenfalls nichts mehr zu spüren. Im Gegenteil. So, wie die beiden miteinander umgegangen sind, kam mir das eher wie eine lästige Wohngemeinschaft vor.«
»Aber warum hat sich Frau Glöckner dann nicht scheiden lassen?«
»Ich weiß nicht, vielleicht, weil er sie vor ihrer Hochzeit dazu gebracht hatte, keinen Ehevertrag zu machen. Ich kenne mich mit dem Scheidungsrecht nicht so gut aus, aber ich nehme an, sie hätte ihm bei einer Scheidung viel Geld zahlen müssen. Ich kann mich irren, aber ich wette, nun erbt er alles. Er ist jetzt steinreich.«
»Das hört sich fast so an, als würden Sie ihm das missgönnen, Herr Wiebking.« Reithöfer sah ihn erwartungsvoll an.
»Ach, was heißt missgönnen. An dem Kerl ist einfach nichts echt. Er taugt nichts, und ich finde es eine Schande, dass die Hälfte all dessen, was mein Vater zusammen mit Kurt Rossbach in Jahrzehnten aufgebaut hat, nun in die Hände dieses Blenders fällt. Ich gebe ihm fünf Jahre, dann hat er alles durchgebracht.«
»Hm …«, machte Menkhoff. »Eine andere Frage: Ihr Vater ist nicht mehr der Jüngste. Wie wird es mit Frau Rossbachs Firma weitergehen, wenn er aufhört?«
Jörg Wiebking zögerte einen Moment. »Das weiß ich nicht. Noch erfreut sich mein Vater ja bester Gesundheit, und an ein Aufhören ist nicht zu denken. Er ist so in seiner Aufgabe gefangen, die Firma für Eva weiter zu leiten, dass er wahrscheinlich erst aufhören wird, wenn er nicht mehr in der Lage ist, selbständig in sein Büro zu kommen.«
»Haben Sie noch nie mit ihm über das Danach gesprochen?«
»Das ist für meinen Vater noch kein Thema.«
Die Tür wurde nach einem kurzen Klopfen einen Spalt weit geöffnet, und Wiebkings Sekretärin streckte den Kopf herein. »Entschuldigen Sie bitte die Störung, aber Sie müssen los.«
Er nickte. »Ja, ich weiß, danke«, woraufhin die Sekretärin sich wieder zurückzog.
»Gut, Herr Wiebking, dann halten wir Sie nicht weiter auf. Wir melden uns, wenn wir noch Fragen an Sie haben.«
Auf dem Weg zum Präsidium waren sich Menkhoff und Reithöfer einig, dass es sicher nicht das letzte Gespräch war, das sie mit Jörg Wiebking geführt hatten.