19
Eva fand einen Parkplatz nur wenige Meter von dem Haus in Poll entfernt, neben dessen Eingangstür ein Messingschild angebracht war.
Dr. med. Burghard Leienberg
Arzt, Neurologe, Facharzt für Psychiatrie & Psychotherapie
Darunter die Sprechzeiten.
Eva stellte den Motor ab und blieb noch einen Moment sitzen. Sie starrte gegen die Windschutzscheibe, ohne wahrzunehmen, was sich davor abspielte. Sie fühlte sich unendlich müde, schlapp und ausgelaugt. Sie war antriebslos und hatte das Bedürfnis, sich einfach nicht mehr zu bewegen, sitzen zu bleiben, wie sie gerade saß. Ob es damit zusammenhing, dass sie sich innerlich dagegen wehrte, diesen Termin wahrzunehmen? Aber wehrte sie sich denn wirklich dagegen? Sie war sich selbst nicht im Klaren darüber, wusste aber eines ganz sicher: Es musste etwas geschehen, damit diese furchtbaren Träume aufhörten. Oder sollte sie es besser Erlebnisse nennen? Wenn sie das noch mal erleben musste, wenn sie das nächste Mal in diesem Sarg eingeschlossen war, würde sie vielleicht tatsächlich und endgültig den Verstand verlieren. Irgendetwas stimmte mit ihr ja offensichtlich nicht. Schon immer. Ihr ganzes Leben lang hatte sie es geschafft, sich dagegen zu wehren, von irgendwelchen Psychokerlen untersucht und womöglich für verrückt erklärt zu werden. Sie war zurechtgekommen, auch wenn ihr hier und da die Erinnerung an ein paar Stunden des Tages fehlte. Aber nun, da die Erinnerung an diesen schrecklichen Sarg sich unauslöschlich in ihr Gedächtnis eingebrannt hatte, die Schmerzen, die Gefühle, die Angst, vor allem die Angst –, nun musste sie Hilfe finden. Es musste aufhören.
Sie gab sich einen Ruck, zwang sich dazu, die Tür zu öffnen und auszusteigen, zu dem Haus mit dem Messingschild zu gehen.
Die Haustür war offen, vor ihr lag ein Flur, in den von einem Oberlicht über der Tür Tageslicht hereinfiel. Auf der linken Seite führte eine Treppe nach oben, ein Schild an der Wand rechts neben der Tür wies darauf hin, dass die Praxis am Ende des Flurs lag. Sie folgte dem Schild und betrat einen kleinen Raum mit ein paar Stühlen darin, der offenbar das Wartezimmer war. Einen Empfang mit einer Sprechstundenhilfe gab es nicht. Eva hängte ihren Mantel an die Garderobe und saß dann allein in dem gemütlich eingerichteten Raum, bis sich nach ein paar Minuten die Tür öffnete und Dr. Leienberg sie begrüßte.
Er war ein großer, durchtrainierter Mann von mindestens eins fünfundachtzig. Eva schätzte ihn auf Anfang vierzig, und ihr fiel sofort seine freundliche Ausstrahlung auf. Eine randlose, schmale Brille verlieh seinem Gesicht einen akademischen Ausdruck, der durch die raspelkurz geschnittenen dunklen Haare noch unterstützt wurde. Seine sehnige Hand, die er ihr entgegenstreckte, war sehr gepflegt, die Nägel manikürt. »Guten Morgen Frau Rossbach, schön, dass Sie zu mir kommen. Aber bitte, kommen Sie doch herein.« Leienbergs Stimme bildete einen weichen Kontrast zu seinem Körper. Im Gegensatz dazu hatte er einen festen, aber nicht schmerzenden Händedruck. Er bat Eva in einen großen Raum, der offensichtlich sein Behandlungszimmer war, und sie hätte beinahe ein Lachen ausgestoßen, als sie links an der Wand tatsächlich die obligatorische Couch mit dem Stuhl schräg davor entdeckte. Den Bodenbelag bildete ein edel aussehendes Parkett, das in der Raummitte von einem großen orientalischen Teppich bedeckt wurde. Vor dem Fenster auf der gegenüberliegenden Seite stand ein großer Schreibtisch aus dunklem Holz, hinter dem der Psychiater nun Platz nahm. Eva blieb unschlüssig stehen, bis Leienberg lächelnd auf einen der Stühle vor seinem Schreibtisch deutete. Er wartete geduldig, bis sie saß. Eva betrachtete die etwa zwanzig Zentimeter hohe, gläserne Figur eines Golfspielers, die sich vor ihr auf dem Schreibtisch befand. Auf dem Marmorsockel, auf dem sie stand, war etwas eingraviert, was sie aber nicht lesen konnte.
Leienberg nahm einen Stift in die Hand, rollte ihn zwischen den Fingern hin und her und sah sie an.
»Eva – ich darf doch Eva sagen?« Er wartete keine Antwort ab, sondern sprach ohne Pause weiter. »Wiebke hat mir am Telefon nicht viel erzählt, außer, dass Sie sehr realistische Albträume haben. Ich werde Sie nachher bitten, mir mehr darüber zu erzählen, aber zuerst würde ich Sie gerne ein wenig kennenlernen. Wenn Sie gestatten, stelle ich Ihnen ein paar Fragen, und Sie antworten einfach spontan, was Ihnen dazu einfällt. Ich weiß, das ist nicht sehr angenehm, aber es ist wichtig zur Anamnese und zudem der einfachste Weg, ein paar grundsätzliche Dinge über Sie zu erfahren. Es dauert auch nicht lange, und danach werden wir uns dann ganz entspannt unterhalten, einverstanden?«
»Ja, einverstanden.«
Wieder schenkte er ihr sein warmes Lächeln, und Eva spürte, dass sie sich etwas entspannte.
»Gut, beginnen wir mit den Daten, die Wiebke mir genannt hat, und schauen, ob die stimmen. Ihr Name ist Eva Rossbach, geboren sind sie am 13. März 1975, Sie sind ledig und haben keine Kinder. Richtig?«
»Ja, das stimmt.«
Sein Blick veränderte sich, und seine Stimme wurde noch eine Spur leiser und sanfter. »Sie hatten eine Schwester, die Frau, über die ich in der Zeitung gelesen habe?«
Eva schluckte. »Ja, Inge. Sie ist ermordet worden. Aber sie war nur meine Halbschwester. Wir haben unterschiedliche Mütter.«
Leienberg sah ihr tief in die Augen, so tief, dass Eva den Blick senkte. »Die Unterscheidung scheint Ihnen wichtig zu sein. Können Sie mir mit ein paar Stichworten Ihr Verhältnis zu Inge schildern? Oder schmerzt es Sie zu sehr?«
»Nein, es schmerzt mich nicht«, erwiderte Eva leise und sah ihn wieder an. »Wir hatten gar kein Verhältnis. Wir hatten seit vielen Jahren keinen Kontakt mehr. Wir waren schon als Kinder sehr unterschiedlich, und wir wurden auch unterschiedlich behandelt.«
»Was meinen Sie damit?«
Eva zuckte mit den Schultern. »Sie war die Prinzessin. Sie wurde nicht bestraft, egal, was sie angestellt hatte. Und sie hatte es schnell heraus, alles so zu drehen, dass es aussah, als sei sie ein Engel. Sie war ein Aas. Je älter wir wurden, desto schlimmer war es, vor allem, als ich … als das bei mir begann.«
Leienberg legte den Kopf ein wenig schief. »Als was begann, Eva?«
Wieder senkte sie den Blick und betrachtete ihre Hände, die sie im Schoß gefaltet hatte, wie sie sich regelrecht ineinander verkrampften. Wie viel konnte sie diesem wildfremden Mann erzählen? Wie viel wollte sie ihm erzählen?
»Eva«, sagte Leienberg sanft nach einer Weile. »Im Leben eines jeden Einzelnen gibt es Dinge, die wir lieber für uns behalten möchten. Ausnahmslos. Weil wir uns ihrer schämen vielleicht, oder aus irgendwelchen anderen Gründen. Das ist vollkommen normal. Menschlich. Aber wenn die Erinnerung an diese Dinge oder das Wissen darum beginnen, uns Schwierigkeiten zu machen, können wir sie nicht länger totschweigen, sondern müssen sie beim Namen nennen, um ihnen ihren Schrecken und damit ihre Macht über uns zu nehmen, verstehen Sie?«
Eva schwieg weiter, den Blick auf ihre Hände gerichtet. Schließlich nickte sie und sagte: »Ja, ich verstehe das. Es fällt mir nur sehr schwer, weil … weil Sie vielleicht denken, ich wäre verrückt, wenn ich Ihnen davon erzähle, und …«
»Jemand, der fürchtet, für verrückt gehalten zu werden, ist es in den allerseltensten Fällen. Verrückte machen sich diese Gedanken nicht, denn sie halten sich in der Regel für ganz normal, meist sogar für schlauer als alle anderen.«
»Ich habe Erinnerungslücken. Immer wieder.« Sie sprach es ohne weitere Verzögerung aus und beobachtete Leienberg dabei genau, konnte aber lediglich so etwas wie Unverständnis in seinen Zügen entdecken.
»Erinnerungslücken? Heißt das, Sie wissen nicht mehr, was es war, das damals bei Ihnen begann?«
»Nein, ich meine, das ist es, was damals begann. Ich weiß manchmal nicht, was ich gerade getan habe. Oder wie ich irgendwohin gekommen bin. Oder ich möchte etwas tun, und dann ist eine gewisse Zeit vergangen, und ich überlege, warum ich nicht getan habe, was ich vorhatte. Verstehen Sie? Das war schon als Kind so. Ich habe das damals Inge erzählt, und sie hat das ausgenutzt, um mir alles unterzuschieben, was sie angestellt hat. Ich konnte meist nicht sicher sein, ob ich es nicht doch getan hatte, wessen sie mich beschuldigte. Ich konnte mich einfach nicht mehr daran erinnern. Sie hat mich für verrückt erklärt, und behauptet, dass mir ja alles zuzutrauen sei.«
»Und wie haben Ihre Eltern darauf reagiert?« Eva zögerte kurz, doch dann sprach sie weiter. »Mein Vater hat es ignoriert, so wie er meist die Dinge ignorierte, die er nicht sehen oder nicht wahrhaben wollte.«
»Und ihre Mutter?«
»Stiefmutter. Sie … ich weiß es nicht. Meine Erinnerung an sie ist auch sehr lückenhaft. Aber ich glaube, sie hat Inge alles geglaubt, was sie ihr erzählt hat. Sie war ihre leibliche Tochter.«
»Wenn ich das recht verstanden habe, lebt Ihre Stiefmutter auch nicht mehr. Wann ist sie gestorben und wie?«
»Ich war dreizehn, als sie starb.«
»Woran ist sie gestorben? Und wie alt war sie da?«
»Krebs. Sie hatte Brustkrebs. Als er entdeckt wurde, war es bereits zu spät, da war sie achtunddreißig.«
»Und Ihre Stiefschwester war damals wie alt?«
»Elf.«
Dr. Leienberg warf einen Blick auf den Block, der vor ihm lag, und auf dem er die ganze Zeit über Notizen gemacht hatte. »Hatten Sie damals ein starkes Verlustgefühl?«
Eva dachte einen langen Moment nach. »Ach, ich weiß es nicht.« Leienberg beugte sich ein Stück nach vorne. »Sie wissen es nicht?«
»Sie war eben nicht meine leibliche Mutter. Obwohl ich meine leibliche Mutter nie gekannt habe, habe ich sie immer vermisst. Mein ganzes Leben lang.«
»Das kann ich verstehen. Und wie war das Verhältnis zwischen Ihnen und Ihrem Vater?«
»Normal.«
»Was bedeutet normal? War er herzlich, streng, nachgiebig …?«
»Darüber möchte ich jetzt nicht sprechen. Eigentlich möchte ich gar nicht mehr sprechen. Ich bin mir auch nicht sicher, ob es gut war, hierher zu kommen.« Evas Bereitschaft, weiter mit Dr. Leienberg zu reden, schwand völlig. Er war doch nur ein typischer Psychofritze mit den typischen, klischeehaften Fragen. Wie war das Verhältnis zu Ihrer Mutter, wie das zu Ihrem Vater. Ah, da ist das Problem, macht zweihundert Euro, auf Wiedersehen. Sie wollte plötzlich nicht mehr dem Blick dieses Mannes ausgesetzt sein. »Ich muss gehen«, sagte sie und stand hastig auf. »Was bin ich Ihnen schuldig?«
Der Psychiater lehnte sich in seinem Sessel zurück, den Stift zwischen Daumen und Zeigefinger beider Hände, und sah sie freundlich an. »Noch nichts, wir haben ja noch nicht einmal begonnen. Setzen Sie sich doch bitte wieder, wir lassen diese Frage jetzt einfach außen vor, ja?«
»Nein, ich muss gehen. Ich … danke Ihnen für den Versuch, aber es ist wohl … Ich möchte jetzt gehen.«
Nun stand auch Leienberg auf. Er zog eine Visitenkarte aus einem metallenen Kästchen, ging um den Schreibtisch herum und hielt Eva die Karte hin. »Auf Wiedersehen. Bitte tun Sie mir den Gefallen und melden sich wieder. Und wann immer Ihnen danach ist, rufen Sie mich an. Vor allem, wenn Sie wieder diesen merkwürdigen Traum haben sollten, von dem ich nun leider noch nichts Näheres erfahren habe. Ich glaube, ich würde Ihnen helfen können, wenn Sie es mir erlauben.«
Sie nahm die Karte und sagte: »Ich weiß es nicht.« Dann wandte sie sich ab und verließ die Praxis.