16

Eva stand am Küchenfenster und starrte gegen das Glas. Es war, als würde ihr Blick von der Scheibe reflektiert und ins Nichts umgelenkt, sie nahm nichts von den Dingen draußen in ihrem Garten wahr. Sie hatte versucht, den bisherigen Tag Revue passieren zu lassen, aber mit Erschrecken festgestellt, dass sie es nicht konnte. Ihre Sinne waren wie vernebelt, so als hätte sie starke Medikamente genommen. Da waren nur Bruchstücke – Wiebkes Besuch, dieser furchtbare Traum, das scheinbar nahtlose Erwachen im Wohnzimmer auf der Couch … Ach, und dann war da noch der Besuch der beiden Polizeibeamten, Menkhoff und … der Name der Polizistin fiel ihr nicht mehr ein, sie hatte ihn vergessen. Vergessen. Das schien eines der Hauptmerkmale ihres momentanen Lebens zu sein. Das Telefon läutete. Eva fragte sich, was es ihr bedeutete, dass Inge nicht mehr da war. Ermordet. Lebendig begraben. Während sie davon träumte, auch lebendig begraben zu … Das Telefon. Es läutete noch immer. Wer konnte das sein? Wahrscheinlich Wiebke, genau – sie hatte Wiebke ja gebeten, einen Termin für sie bei ihrem Freund, dem Psychiater, zu machen. Aber was wollte sie überhaupt dort? Das Telefon läutete weiter, und endlich schaffte Eva es, sich vom Fenster loszureißen und den Hörer in die Hand zu nehmen, der neben ihr auf der Arbeitsplatte lag.

Aber es war nicht Wiebkes Stimme, die ihr in geschliffener Art ihr Beileid zum Tod ihrer Halbschwester ausdrückte, sondern die von Hubert Wiebking. »Ja«, sagte Eva. »Danke, Hubert, Das ist sehr aufmerksam. Aber du weißt ja, dass wir uns nicht sehr nahestanden.«

»Ja, Eva. Du wirst nicht um sie trauern, und ich kann dich verstehen. Auch wenn ich der Meinung bin, dass Inge nichts für die Dinge kann, die geschehen sind, wie du ja weißt. Aber ich verstehe dich trotzdem und stehe zu dir. Das ist es, was ich dir hauptsächlich mitteilen wollte. Mach dir bitte keine Vorwürfe, wenn du nicht um sie trauern kannst. Das ist menschlich. Und sei dir gewiss, dass ich dich verstehe.«

»Danke.«

»Ruf mich an, wenn du jemanden brauchst, ja?«

»Ja, Hubert, ich danke dir.«

Sie beendete das Gespräch und legte den Hörer auf die Arbeitsplatte zurück. Mach dir keine Vorwürfe, wenn du nicht um sie trauern kannst, hatte Hubert gesagt. Sie horchte in sich hinein, suchte nach ihren Gefühlen bei dem Gedanken, dass Inge nicht mehr lebte. Sie fand nichts. Keine Trauer, keine Genugtuung, einfach nichts. War sie deshalb verachtenswert? Müsste sie nicht um ihre Halbschwester trauern, ganz egal, was gewesen war? Immerhin hatten sie den gleichen Vater. Eva stieß ein kurzes, humorloses Lachen aus. Es klang in ihren eigenen Ohren wie das entfernte Bellen eines Hundes. Ihr Vater, Gründer der Rossbach Maschinenbaubetriebe, Herr über vierhundert Angestellte und angesehener Kölner Bürger, der sich in den höchsten Kreisen bewegt hatte, bei dem Politiker und sonstige Größen ein und aus gegangen waren.

Wieder klingelte das Telefon, und dieses Mal nahm sie das Gespräch direkt an. Es war Wiebke. »Ich habe einen Termin bei Burghard für dich, Eva.«

»Ich … Ich weiß nicht, Wiebke, ich denke, das war vielleicht ein wenig vorschnell von mir. Eigentlich brauche …«

»Eva, ich habe den Termin jetzt für dich gemacht, und ich bitte dich inständig, wenigstens einmal mit ihm zu sprechen und ihm von dieser Sache mit deinem Traum zu erzählen. Wenn du dich nicht wohl fühlst, dann gehst du einfach wieder, und ich werde dich nie mehr bedrängen. Aber bitte tu mir den Gefallen, und geh morgen früh dahin, ja?«

»Was? Morgen früh schon? Aber warum denn …«

»Weil ich gebettelt habe«, fiel ihre Freundin ihr erneut ins Wort. »Ich habe Burghard gesagt, es ist wichtig, und er hat herumtelefoniert und ein paar andere Termine umgelegt, damit du morgen gleich als Erste zu ihm kommen kannst. Deswegen hat es auch ein bisschen gedauert.«

Evas Gedanken rasten. Ein Psychiater. Für sie. »Also gut«, sagte sie schließlich und wunderte sich darüber. »Wann soll ich da sein?«

»Gleich um acht. Soll ich mitkommen?«

Ja, bitte, schrie eine Stimme in ihr. »Nein, schon gut«, sagte sie im gleichen Moment. »Ich bin ja schließlich eine erwachsene Frau. Auch, wenn ich mich manchmal vielleicht nicht so benehme.«

»Sehr gut, ich bin wirklich froh, dass du dich dazu entschlossen hast. Du wirst sehen, Burghard ist ein sehr einfühlsamer Mensch, der verdammt gut zuhören kann. Sei einfach offen zu ihm und erzähl ihm alles. Das kannst du. Du weißt, er hat Schweigepflicht und …«

»Ich weiß das, Wiebke«, schnitt Eva nun ihrerseits ihrer Freundin das Wort ab. »Ich werde hingehen, aber ich weiß noch nicht, wie viel ich ihm erzählen kann. Vielleicht gehe ich nach fünf Minuten wieder. Dann darfst du mir nicht böse sein, ja?«

»Versprochen. Aber ich bin ziemlich sicher, dass du nicht gleich wieder gehen wirst.«

»Gut, ich danke dir, Wiebke.«

»Hab ich gern gemacht, Eva. Und ich weiß, es wird dir bald wieder bessergehen, du wirst sehen.«

»Danke.«

»Hast du was zu schreiben? Dann gebe ich dir noch schnell die Adresse von Burghards Praxis.«

Zwei Minuten später legte Eva auf. Die Praxis des Psychiaters lag in Poll, gleich auf der anderen Rheinseite. Sie würde am nächsten Morgen hinfahren und dann weitersehen. Bei dem Gedanken, einem wildfremden Menschen etwas derart Intimes wie diese furchtbare Sache mit dem Sarg zu erzählen, wurde ihr flau im Magen. Aber vielleicht musste sie gar nicht so sehr ins Detail gehen. Vielleicht genügte es ja, wenn sie ihm sagte, dass sie Albträume hatte und anschließend nicht mehr sicher war, dass es sich wirklich um Träume handelte. Vielleicht.

Der Sarg
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