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Hauptkommissar Bernd Menkhoff warf die Fotos mit einem Seufzer auf seinen Schreibtisch und ließ sich gegen die Rückenlehne seines Bürostuhls fallen. Auch die Routine von fast dreißig Dienstjahren konnte nicht verhindern, dass er noch immer unter dem Einfluss dessen stand, was er wenige Stunden zuvor am Fundort der Frauenleiche gesehen hatte.

Der Körper der Frau hatte in gekrümmter Haltung in dem Sarg gelegen, einer aus ungehobelten Brettern gezimmerten, stabilen Holzkiste. Die Leiche war nackt, ihr Körper übersät mit Verletzungen, aus denen besonders an Ellbogen, Knien und Handgelenken kleine und größere Holzsplitter herausstanden.

Über Augen und Mund klebte jeweils ein breiter grauer Streifen Klebeband. Ihre Handgelenke waren mit einem Seil gefesselt, dessen langes Ende der Täter mit einer dicken Schraube, die durch das Holz gebohrt und auf der anderen Seite mit einer Mutter gesichert war, am Fußteil der Kiste festgemacht hatte. Das Seil ließ den Händen des Opfers gerade so viel Spielraum, dass die Frau den Deckel und die Seitenwände, nicht aber ihren Kopf berühren konnte.

Das raue Holz der Sargwände und des Deckels war mit dunklen Flecken durchsetzt, bei denen es sich wahrscheinlich um getrocknetes Blut handelte. An manchen Fingern fehlten die Fingerkuppen, an ihrer Stelle ragten die gelblichen Spitzen der Knochen aus den schwarzgeränderten Enden der Stümpfe hervor. An anderen standen die abgebrochenen Reste der Fingernägel schräg heraus. Die Frau hatte in dem verzweifelten Versuch, sich aus ihrem engen Gefängnis zu befreien, das Fleisch ihrer Fingerkuppen am Sargdeckel abgeschabt.

Menkhoff wurde vom Läuten des Telefons aus seinen Gedanken gerissen und griff nach dem Hörer. »Ja, Bernd, ich bin’s.« Die Stimme von Gerd Brosius, Erster Kriminalhauptkommissar und Leiter des KK11. »Komm bitte mal rüber.«

Als Menkhoff das Büro seines Chefs betrat, zeigte der auf den Stuhl schräg vor seinem Schreibtisch und wartete, bis Menkhoff saß. »Ich habe ja schon einiges gesehen, was irgendwelche durchgedrehten Psychopathen angestellt haben, aber das da …« Er deutete mit der Kinnspitze auf die Tatortfotos, die in einem Stapel vor ihm auf dem Tisch lagen, und schüttelte den Kopf. »Lebendig begraben. Es ist immer wieder unfassbar, wozu Menschen fähig sind. Die Presse wird sich auf diese Sache stürzen wie die Aasgeier.«

Menkhoff nickte. »Ja, ich weiß. Du kannst froh sein, dass du heute Morgen nicht da draußen warst, ich hätte auf den Anblick verzichten können.« Er beugte sich vor, ergriff das oberste Foto und betrachtete es. Dabei kam ihm kurz der Gedanke, dass er damit seinen letzten Satz quasi ad absurdum führte.

Es war eine Ganzkörperaufnahme der Frau, wie sie gefesselt in der Kiste lag. Gestochen scharf waren darauf ihre Verletzungen zu erkennen.

Menkhoff dachte daran, was die Frau durchgemacht haben musste, als sie bei vollem Bewusstsein in der geschlossenen Kiste gelegen und gehört hatte, wie Schaufel um Schaufel die Erde auf den Deckel geworfen wurde. Und erst die Obduktion würde zeigen, ob das alles war, was sie hatte durchleiden müssen, bevor sie erstickt war. Er legte das Foto zurück und suchte sich ein anderes aus dem Stapel. Es zeigte nicht die Frau, sondern den Zettel mit den Hinweisen, der bei der Polizei abgegeben worden war. Über der genauen Beschreibung der Stelle, an der sie die vergrabene Kiste mit der Frau darin schließlich gefunden hatten, stand ein Satz, der darauf hindeutete, dass sie es mit ziemlicher Sicherheit mit einem Psychopathen zu tun hatten:

Strafe ist die bittersüße Schwester der Gelehrsamkeit für schamlose Miststücke. Das Ende jedes Schmerzes beginnt mit seiner Akzeptanz.

»Diese Fotos dürfen auf keinen Fall rausgehen«, unterbrach Brosius erneut Menkhoffs Überlegungen. »Die Pressefritzen werden auch so schon einen Riesenwirbel veranstalten.« Er hielt einen Moment inne, als erwarte er eine Antwort. Als die nicht kam, sagte er mit deutlich leiserer Stimme: »Alles in Ordnung, Bernd?«

»Ja. Alles okay.«

»Auch in Aachen?«

Menkhoff sah seinen Vorgesetzten eine Weile an, dann nickte er. »Ja, da auch. Wie kommst du jetzt ausgerechnet darauf?«

Brosius trommelte mit den Fingerspitzen auf die Schreibtischplatte, wobei er Menkhoff eingehend musterte. »Weil ich wissen möchte, ob du die Ermittlungen leiten kannst.«

Menkhoffs Oberkörper straffte sich. »Natürlich kann ich das, was gibt’s denn da zu überlegen?« Sie sahen sich weiter schweigend an, bis Menkhoff sich schließlich entspannte. »Es ist wirklich alles okay, ich habe gestern Abend noch mit Theresa telefoniert. Sie hat mich angerufen und sich erkundigt, wie es mir geht. Wir haben uns gut unterhalten.« Er machte eine kurze Pause. »Besser als während der letzten Zeit, in der ich noch in Aachen gewohnt habe. Ich kann meine Tochter sehen, wann immer ich möchte, und ich merke an Louisas Verhalten, dass zu Hause kein böses Wort über mich fällt. Du siehst – alles in Ordnung.«

»Gut.« Brosius warf einen Blick auf seine Armbanduhr. »Wir sehen uns in zwanzig Minuten bei der Besprechung. Bereite dich vor, ich werde dir dort offiziell die Leitung des Falles übertragen. Und du weißt, dass das nicht allen Kollegen gefallen wird.«

Menkhoff nickte. Ihm war klar, auf wen sein Chef anspielte.

Der Sarg
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