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»Was war denn gerade mit dir los?«, fragte Reithöfer, als sie losgefahren war.
Menkhoff sah sie an. »Was los war? Ich kann diesen ganzen Mist nicht mehr hören, das war los. Geldgier, Affären, Intrigen, Lügen … Scheiße! Wir versuchen Mordfälle aufzuklären und zu verhindern, dass noch weitere Frauen qualvoll sterben müssen, und werden doch nur nach Strich und Faden verarscht. Und diese Typen tun dabei so, als wäre es die selbstverständlichste Sache der Welt, uns anzulügen, weil die Wahrheit gerade nicht so passt. Und wegen solcher Arschlöcher werde ich morgen meine Tochter nicht sehen können. Beim nächsten Streit mit Teresa wird sie dann genau das als Beweis dafür anführen, dass ich meiner Verantwortung als Vater nicht nachkomme. Und irgendwann bekommt sie das alleinige Sorgerecht, und ich sehe meine Tochter gar nicht mehr. Ich hab einfach keine Lust mehr auf diesen Dreck, Jutta.«
Sie schwiegen eine Weile, dann sagte sie: »Darf ich dich was fragen?«
»Na los.«
»Fällst du gerade in alte Verhaltensmuster zurück, Bernd? Du fluchst, wirst laut gegenüber Zeugen … Ist es das, warst du früher immer so?«
»Ach, ich weiß es nicht. Vielleicht. Ein Stück weit. Ich kann und möchte mich bei solchen Typen nicht mehr zusammenreißen müssen. Ich …« Er stockte und sah sie an, so lange, bis sie den Blick vom Verkehr losriss und auch ihn kurz ansah. »Ich höre auf, Jutta. Nach diesem Fall mache ich Schluss mit der aktiven Ermittlungsarbeit und lasse mich in den Innendienst versetzen. Wenn es geht, wieder in Aachen.«
Wieder ein schneller Blick von ihr. »Du im Innendienst? Bernd, du bist im Moment emotional sehr aufgeladen, was ich auch verstehen kann. Ich würde in einer solchen Situation aber keine Entscheidungen von solcher Tragweite treffen.«
»Diese Entscheidung habe ich nicht erst heute getroffen. Ich denke seit einiger Zeit schon darüber nach. Aber es stimmt schon, dieser Fall hat letztendlich den Ausschlag gegeben. Ich möchte nichts mehr mit Psychopathen und menschlichem Abschaum zu tun haben, mein Eimer für Seelenmüll ist voll, da passt einfach nichts mehr rein, verstehst du? Ich möchte in der Nähe meiner Tochter sein und an ihrem Leben teilhaben, nicht an dem von irgendwelchen Scheißkerlen, die nichts anderes als ihren eigenen Vorteil und ihre Geldgier im Kopf haben, selbst wenn um sie herum Menschen verrecken.«
»Aber das ist doch schon immer so gewesen. Es ist doch unser Job, die Gesellschaft, zu der auch deine Tochter gehört, vor diesen Kerlen zu schützen. Hast du daran schon mal gedacht? Dass du mit dazu beiträgst, dass dein Kind in einer halbwegs sicheren Umgebung aufwachsen kann?«
»Ich bin fertig damit, Jutta.« Er sagte es bewusst so bestimmt, in der Hoffnung, Reithöfer würde es aufgeben, mit ihm darüber zu diskutieren.
»Gut, lassen wir das jetzt mal so stehen. Aber tu mir einen Gefallen: Unternimm nichts, bis dieser Fall abgeschlossen ist, ja?«
»Falls wir ihn abschließen, Jutta.«
»Zweifelst du daran?«
Er zuckte mit den Schultern und sah demonstrativ nach vorne.
Im Präsidium angekommen, erkundigte Menkhoff sich als Erstes nach den Akten über den Tod von Manuel Rossbach, während Reithöfer nachhören wollte, wie die anderen vorankamen. Brosius hatte Beate Feldermann und Heiko Munsbach an die Unterlagen und Berichte gesetzt, zwei Oberkommissare Mitte dreißig.
»Könnt ihr mir was zu dem Tod des Jungen sagen?«, fragte Menkhoff ohne Umschweife, als er das Büro der beiden betrat. »Habt ihr was entdeckt, das euch seltsam erscheint?«
Beate Feldermann sah ihn an und sagte spitz: »Guten Tag, Herr Hauptkommissar.«
Menkhoff winkte ab. »Ja, ja, schon gut, ich weiß. Also?«
»Die Mutter hat ausgesagt, sie sei mit den beiden Kindern nicht weit vom Ufer entfernt gepaddelt«, erklärte Munsbach. »Sie hat angeblich nicht mitbekommen, dass der Junge die Schwimmweste geöffnet hat. Er sei dann herumgeturnt und plötzlich ins Wasser gefallen. Dabei hat er die Weste ganz verloren und ist ertrunken. Sie konnte nicht hinterherspringen, weil sie ihre kleine Tochter wegen der offenbar recht starken Strömung nicht allein im Boot lassen konnte.« Er schob einen Stapel Unterlagen zur Seite und breitete einige Fotos aus, die die Stelle zeigten, an der der Unfall passiert war.
»Da stellt sich mir die Frage, warum eine Frau mit zwei kleinen Kindern an einer Stelle im Rhein herumpaddelt, an der selbst sie als Erwachsene kräftig rudern muss, um nicht abgetrieben zu werden.«
»Diese Frage haben sich offenbar auch die Kollegen damals gestellt, denn der Fall wurde erst nach eingehenden Untersuchungen als Unfall gewertet und abgeschlossen.«
»Ach, gab es damals Zweifel an der Aussage der Frau?«
Beate Feldermann hielt ihm eine Akte entgegen. »Schau dir das mal an. Die Patientenakte des Jungen aus dem Krankenhaus. Die ist dicker als bei den meisten Siebzigjährigen.«
Menkhoff klappte den orangefarbenen Deckel der Akte auf und überflog die erste Seite, einen Bericht über die ambulante Behandlung des Jungen. Schon nach wenigen Worten schüttelte er den Kopf und las laut vor: »Distale Fraktur des Radius, Colles-Fraktur, Smith-Fraktur – geschlossen …« Er ließ die Akte sinken, sah Feldermann an und fragte: »Was soll ich damit?«, woraufhin sie sich auf dem Tisch umsah, nach ein paar losen Blättern griff und sie ihm reichte. »Sorry, hier ist die Zusammenfassung für Normalsterbliche, die die Kollegen damals angefertigt haben. Ich hab vergessen, sie wieder abzuheften.«
Menkhoff legte die Akte zur Seite und nahm ihr die Blätter aus der Hand. Schon nach wenigen Zeilen war ihm übel, und als er weiterlas, spürte er eine unbändige Wut in sich aufsteigen. Wie war so etwas möglich gewesen, ohne dass jemand etwas dagegen unternommen hatte? Der Junge war schon vom Babyalter an Dauergast in der Notaufnahme und der chirurgischen Ambulanz gewesen. Meist war die Haushälterin mit ihm da gewesen, seltener die Mutter. Der Vater offensichtlich nie. Menkhoff fielen die Worte der Haushälterin ein, dass das Kind nur ins Krankenhaus gebracht worden war, wenn es gar nicht mehr anders ging. Manuel hatte unzählige Arm-und Rippenbrüche gehabt, außerdem immer wieder Platzwunden, Hämatome am ganzen Körper, Abschürfungen, Schnittwunden, Streifen aufgerissener Haut am Rücken … Sogar Brandwunden im Genitalbereich, die eindeutig von Zigaretten stammten, waren darunter. Die angegebenen Ursachen lasen sich für Menkhoff wie Grimms Märchen. Der Junge hatte sich angeblich gestoßen, war Treppen heruntergestürzt, hatte mit Messern gespielt, war auf Bäume geklettert und heruntergefallen und hatte sogar eine brennende Kippe seines Vaters geklaut, sich nackt ausgezogen und damit gespielt, wobei die Glut abgefallen und sich in seinen Penis eingebrannt hatte.
Menkhoff ließ die Blätter sinken und sagte: »Was ist das für eine gottverdammte Scheiße? Warum zum Teufel hat damals niemand etwas dagegen unternommen? Wieso hat das Krankenhaus nicht sofort das Jugendamt eingeschaltet und Anzeige wegen Kindesmissbrauchs erstattet?« Er war laut geworden, das merkte er selbst, aber es war ihm egal. Er knallte die Blätter auf den Tisch. »Da kann man doch dran fühlen. Kippe geklaut, nackt ausgezogen und sich den Penis verbrannt. Ein Dreijähriger? Waren das denn damals alles Vollidioten?«
Eine Weile herrschte betretenes Schweigen, dann sagte jemand in Menkhoffs Rücken. »Das war vor dreißig Jahren, Bernd. Das kannst du mit heute nicht mehr vergleichen.«
Menkhoff drehte sich zu seinem Chef um, der im Türrahmen stand. »Ach, hat es vor dreißig Jahren also niemanden interessiert, wenn Kinder massiv misshandelt wurden, oder wie?«
Brosius kam näher und lehnte sich neben Menkhoff an die Kante des Schreibtischs. »Doch, aber damals wäre es im Traum niemandem eingefallen, Anzeige gegen eine der einflussreichsten Familien Kölns zu erstatten. Zumindest niemandem, der seinen Job behalten und in Köln wohnen bleiben wollte.«
»Mal davon abgesehen, was ich davon halte – war Rossbachs Einfluss damals schon so groß?«
»Nun, seine Firma wuchs rasant, er wurde schnell zu einem bedeutenden Arbeitgeber und hatte es verstanden, innerhalb kürzester Zeit seine Verbindungen bis in die höchsten politischen Ämter auszubauen.«
»Das ist doch Oberscheiße«, kommentierte Menkhoff und registrierte, dass Brosius eine Braue hochzog, was ihn aber nicht weiter interessierte. »Das heißt, wir haben da eine Frau, die ihren kleinen Sohn immer wieder aufs massivste misshandelt, was jeder weiß. Aber keiner unternimmt etwas dagegen, weil es Unannehmlichkeiten nach sich ziehen könnte. Und dann, ganz plötzlich, paddelt diese Frau mit dem Kleinen auf dem Rhein herum, was ihr vorher noch nie in den Sinn gekommen ist, und sorgt auch dafür, dass die Einzige, die sich um Manuel sorgt, nämlich seine große Schwester Eva, nicht dabei ist. Er öffnet dann selbst die Schwimmweste ohne dass sie es merkt, – was mich nebenbei bemerkt daran erinnert, wie er als Dreijähriger die Zigarette seines Vaters klaut und sich damit selbst verbrennt. Und als die Schwimmweste dann offen ist, fällt der Kleine ins Wasser und ertrinkt, ohne dass seine Leiche je gefunden wird. Der Fall wird als Unfall deklariert, und fertig.«
Brosius nickte, die beiden jüngeren Kollegen saßen wie erstarrt da und sahen ihn an.
»Wisst ihr, was das ist? Das ist gequirlte Kacke.« Menkhoff wandte sich ab, ging die paar Schritte bis zur Tür. Als Brosius ihm hinterherrief, drehte er sich wieder um und kam zurück, allerdings ohne seinem Chef die Chance zu geben, etwas zu sagen. »Ich kann jetzt zumindest verstehen, warum Eva Rossbach so seltsam ist. Es würde mich sehr wundern, wenn diese Frau nur ihren Sohn so misshandelt hat, vor allem, wenn man bedenkt, dass Eva nicht mal ihr leibliches Kind, sondern nur ihre Stieftochter war. Und ich kann auch mehr als verstehen, dass sie daran zweifelt, dass ihr kleiner Bruder tatsächlich durch einen Unfall ertrunken ist.«
»Und was sagst du zu ihrer Theorie, dass er noch lebt?«
»Keine Ahnung, aber unmöglich ist in dieser Familie nichts.«