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Als sie aufwachte, konnte sie die Augen nicht öffnen. Reflexartig wollte sie die Hand heben, wollte spüren, was sie daran hinderte, zog dabei aber erst ihre andere Hand ein Stück weit mit, bevor die Bewegung in Brusthöhe mit einem Ruck gestoppt wurde. Nein, wollte sie ausstoßen, aber es wurde nur ein »Mmmm« daraus, denn auch ihren Mund konnte sie nicht öffnen. Etwas, das straff über ihren Lippen lag, machte jede Bewegung unmöglich. Panisch versuchte sie, die geknebelten Hände zur Seite zu bewegen, und stieß nach wenigen Zentimetern auf gepolsterten Widerstand. Die Erkenntnis kam im gleichen Moment und raubte ihr fast die Sinne: Sie lag wieder im Sarg, aber dieses Mal war es anders. Schlimmer. Ihre Hände waren gefesselt, Augen und Mund offenbar zugeklebt. War es jetzt so weit? Erfüllte sich jetzt, was auf ihrem Schlafzimmerspiegel gestanden hatte? Machte der, der ihr das antat, nun Ernst? Evas Atem ging schneller. Du musst ruhig bleiben, beschwor sie sich selbst. Du hast nur die Nase frei zum atmen, du wirst ersticken, wenn du jetzt durchdrehst. Sie konzentrierte sich auf ihren Atem, versuchte sich vorzustellen, wie der Sauerstoff in ihre Lunge strömte. Es dauerte eine Weile, dann konnte sie ihre Gedanken wieder einigermaßen kontrollieren.
Der Strick oder was auch immer es war, mit dem ihre Handgelenke zusammengebunden waren, war recht lang und erlaubte ihr, die Arme in einem Radius von etwa dreißig Zentimetern nach oben und zu den Seiten zu bewegen. Das andere Ende war offenbar irgendwo weiter unten in Höhe ihrer Beine festgemacht. Aber warum waren ihr in einem geschlossenen Sarg zusätzlich die Hände gefesselt worden? Sie hatte doch auch ohne diese Fesseln keine Chance, aus diesem Ding herauszukommen. Und dass ihre Augen zugeklebt waren und der Mund … Wollte derjenige, der das getan hatte dass sie wusste, dass es dieses Mal anders war? Dass er sie dieses Mal nicht mehr rausließ? Dass sie nun … sterben würde?
Evas Beine begannen sich zu bewegen, ohne dass sie etwas dagegen tun konnte. Etwas schnürte ihr die Kehle zu, ihr Atem ging wieder schneller, stoßweise. Sie versuchte krampfhaft, zusätzlich durch den Mund zu atmen, die Lippen wenigstens ein kleinstes Stück weit auseinanderzubekommen, aber es war vergebens. Ich werde ersticken! Sie musste … Sie … Ich muss an etwas anderes denken. Schnell …
Nachdenken … durch die Nase atmen, das reichte aus, sie würde nicht ersticken, nein … Was war mit Dr. Leienberg? Er musste doch gehört haben, wenn jemand sie aus ihrem Haus verschleppt hatte. Wenn die Tür des Gästezimmers offen war, konnte doch niemand sie dort vorbeigetragen haben, ohne dass er es bemerkte. Es sei denn … Nein, weg, weg, schlechte Gedanken, du musst nachdenken, Eva, über deine Situation, über den Sarg.
Warum hatte sie die Augen verbunden, warum war sie gefesselt? Wirklich nur, um dieses Mal einen Unterschied zu machen? Oder gab es einen anderen Grund? Welchen? Los, denk nach, Eva, welchen Grund könnte es geben … Halt! Was, wenn der Sarg dieses Mal vielleicht gar nicht verschlossen war? Das wäre doch die plausibelste Erklärung für die Fesseln. Vielleicht war ja … Vielleicht, vielleicht. Wenn der Sarg wirklich nicht verschlossen ist, dann ist es ganz egal, warum.
Sie hob die Hände, der Strick war lang genug, dass sie den Deckel erreichen konnte. Mit einem Ruck drückte sie dagegen, aber er rührte sich nicht. Noch dreimal versuchte sie es, viermal, dann ließ sie die Arme sinken.
Sie musste versuchen, irgendwie diese Stelle an ihren Beinen zu erreichen, wo der Strick befestigt war. Eva presste die Fersen so fest gegen den Holzboden des Sargs, wie es ging, spannte die Beinmuskeln an und hangelte sich mit den Fingern an dem Strick, mit dem ihre Handgelenke gefesselt waren, nach unten. Der Strick spannte sich immer mehr, bis es schließlich nicht mehr weiter ging. Von einem Knoten oder Ähnlichem war an dieser Stelle aber nichts zu spüren, sie musste es noch einmal versuchen. Als sie wieder die Beine ausstrecken wollte, stieß sie mit den Füßen an der unteren Wand an, und ihr war klar, dass sie auf diese Weise nicht weiterkommen würde. Also versuchte sie es noch einmal mit den Fingern und bog dabei den Oberkörper so weit zur Seite, wie es ging, aber es nutzte nichts, sie kam einfach nicht weit genug nach unten. Es war zum Verzweifeln. Es musste doch irgendeine Möglichkeit geben. Streng dich an, Eva, los. Gib dir einmal im Leben wirklich Mühe. Wieder verbog sie sich, drückte den Oberkörper zur Seite und gleichzeitig nach oben, streckte die Arme und die geknebelten Hände nach unten, spreizte die Finger und versuchte, begleitet von dumpfem Stöhnen, mit den Fingerspitzen die Stelle zu erreichen …
Es war zwecklos, sie schaffte es nicht. Unvermittelt wollte sie einen verzweifelten Schrei ausstoßen, aber auch dieses Mal verhinderte das Ding vor ihrem Mund, dass ihre Lippen sich öffneten, und so wurde lediglich ein langgezogenes »Mmmmmmmm« daraus. Und weil die Luft nicht entweichen konnte, die sie hervorpresste, entstand ein Druck, der sich anfühlte, als würde er jeden Moment ihren Kopf zerplatzen lassen. Eva verstummte. Atmete. Atmete. Sie spürte, wie etwas durch ihre Gliedmaßen zog, das sie zwingen wollte, sich zu bewegen, ein Drang, ein Zwang, dem sie sich nicht mehr lange würde widersetzen können. Bitte lass mich einschlafen und in meinem Bett wieder aufwachen … Jetzt … O bitte …
Mit wem sprach sie da? Von wem erwartete sie Hilfe? Von Gott etwa? Eva glaubte an keinen Gott. Nein, anders, sie hoffte, dass es keinen Gott gab, denn falls es ihn doch geben sollte, war er ein zynischer Bastard, der sich offenbar am Leid seines Spielzeugs Mensch ergötzte. Wie sonst wäre das, was ihr in diesem Moment widerfuhr, zu erklären? Oder Menschen wie ihre Stiefmutter. Wer, der auch nur einen kleinsten, göttlichen Funken in sich hatte, würde zulassen, was diese Frau ihrem kleinen Bruder Manuel angetan hatte? Nein, es durfte keinen Gott geben, wenn man erlebt hatte, was sie hatte erleben müssen.
Sie wünschte sich nichts sehnlicher, als endlich wieder aufzuwachen, zu Hause, in ihrem Bett. Jetzt. Hatte es schon einmal so lange gedauert, bis dieser Albtraum vorüber war? Aber es war ganz sicher längst kein Traum mehr, sondern furchtbare Realität.
Auf Leienberg brauchte sie nicht zu zählen, er hatte nicht verhindern können, dass jemand ihr das erneut antat. Wahrscheinlich schlief er entspannt und hatte nichts bemerkt. Wenn jemand sich ins Haus geschlichen und sie im Schlaf betäubt hatte …
Der Druck auf ihre Augen wurde schmerzhaft. Wenn sie nur diese Fesseln los wäre! Da wurde ihr bewusst, dass es ihr in den letzten Minuten gelungen war, sich abzulenken. Aber im gleichen Moment war es auch schon vorbei mit der Ablenkung, und dieses Gefühl, dieser Zwang, sich bewegen zu müssen, kehrte mit aller Macht zurück. Erst hoben und senkten sich ihre Knie, wobei ihre nackten Fersen sich geräuschvoll über die Unterlage schoben. Dann begannen ihre zusammengebundenen Hände, sich kreisförmig zu bewegen. Eva registrierte es, doch es war, als würde sich nicht ihr eigener, sondern ein fremder Körper bewegen, auf den sie keinen Einfluss hatte. Immer schneller fuhren ihre Hände hin und her, immer ruckartiger und hektischer wurden die Bewegungen, immer öfter stießen ihre nach oben schnellenden Knie gegen den Sargdeckel.
Ich muss damit aufhören, ich … Sie konnte es einfach nicht steuern, ihr Kopf drehte sich nach links, nach rechts, hob sich. Sie schlug mit der Stirn an, und schließlich verlor sie komplett die Kontrolle, versank in einem Chaos aus wilden Bewegungen, die immer wieder abrupt und schmerzhaft an den Wänden und dem Deckel des Sargs endeten, bis sie schließlich in einem schwarzen Strudel versank.
Als sie wieder zu sich kam, war das erste Gefühl, dessen sie sich noch im Dämmerzustand zwischen Schlaf und Wirklichkeit bewusst wurde, die Erleichterung darüber, dass es vorbei war. Sie wollte die Augen öffnen und … sie konnte es wieder nicht. Sie hob die Hände und stieß gegen Holz. Nein. Das kann nicht … das darf nicht sein. Sie lag nicht in ihrem Bett. Weder ihre Augen noch ihr Mund ließen sich öffnen, die Hände waren gefesselt.
Es gab keinen Zweifel, sie befand sich noch immer in dem Sarg. Und sie würde bald sterben. Diese Erkenntnis raubte ihr mit einem Schlag alle Kraft. Sie spürte ihre Arme nicht mehr, konnte nicht einschätzen, wie ihre Beine lagen, war durchdrungen von einem Gefühl der Körperlosigkeit. War das das Sterben? Hatte sie diesen Körper schon verlassen, den sie nicht mehr fühlen konnte, der gefesselt war? Was würde jetzt kommen? Würde es weh tun oder war es einfach nur wie Einschlafen? Es war ihr egal. Eva hatte das Gefühl, die geschlossenen Augen noch einmal zu schließen, sie ließ sich fallen, ihr Bewusstsein zog sich immer mehr zurück, verschwamm …
Sie riss die Augen auf, ihr Oberkörper schnellte hoch, japsend sog sie Luft ein, es war, als sei sie ganz kurz vor dem Ertrinken aus einem kalten See aufgetaucht. Sie saß in ihrem Bett, und ihre Gedanken, ihr ganzes Sein war beherrscht von dem Einzigen, das zu denken sie fähig war: Ich lebe und ich bin zu Hause.
Es brauchte einige Zeit, bis sie ihre Umgebung wahrnahm, und mit pochendem Herzen registrierte sie, dass draußen wohl gerade die spätherbstliche Morgendämmerung begonnen hatte. Es musste also etwa halb acht am Morgen sein.
Dr. Leienberg fiel ihr ein. Der Psychiater hatte ihr versichert, er würde seine Zimmertür offen lassen. Er schlief wahrscheinlich noch, und Eva fragte sich erneut, wie es jemand geschafft hatte, sie aus ihrem Haus zu entführen, ohne dass Leienberg etwas davon bemerkt hatte. Hatte er seine Tür aus Versehen doch geschlossen? Oder hatte er so fest geschlafen, dass er nichts mitbekommen hatte? Eva schob die Beine aus dem Bett und achtete dabei nicht auf ihre schmerzenden Knie. Sie musste nach Leienberg sehen. Sie schlüpfte in ihren Morgenmantel und verließ das Schlafzimmer. Einen Moment lang blieb sie im Flur stehen und lauschte. Im Haus war es absolut ruhig, Dr. Leienberg war also offenbar noch nicht aufgestanden. Sie tastete nach dem Lichtschalter und bemerkte erst jetzt, dass ihre Hand höllisch schmerzte. Sie warf einen Blick auf ihre Hände und hätte beinahe aufgeschrien. Die Haut war an mehreren Stellen abgeschürft, die Handgelenke wiesen rote Striemen auf. Von dem Strick, mit dem ich gefesselt war … Die Erkenntnis überraschte sie nicht. Der Sarg war kein Traum, das war ihr mittlerweile vollkommen klar. Barfuß ging sie durch den Flur zur Diele. Noch bevor sie das Gästezimmer erreicht hatte, sah Eva, dass die Tür geschlossen war. Also doch, dachte sie und war enttäuscht, weil der Psychiater ihr am Abend zuvor noch mehrfach versichert hatte, sie offen zu lassen, damit er hören konnte, wenn sie etwas brauchte.
Sie klopfte vorsichtig an und wartete auf eine Reaktion. Als die nicht kam, versuchte sie es ein weiteres Mal, beherzter, fordernder. Als daraufhin wieder nichts geschah, nahm Eva allen Mut zusammen, drückte die Klinke herunter und öffnete vorsichtig die Tür. Ein eigenartig süßlicher Geruch kam ihr entgegen. Sie machte einen Schritt ins Zimmer, und blieb erschrocken stehen.
Dr. Leienberg lag im Bett, auf dem Bauch. Seine Hände waren hinter dem Rücken gefesselt, die Beine angewinkelt, so dass die ebenfalls gefesselten Füße nach oben standen. Fuß- und Handgelenke waren mit einem Stück Seil verbunden, das von dort weiter nach oben lief und als Schlinge um Leienbergs Hals endete. Das machte es ihm unmöglich sich zu rühren, geschweige denn aufzustehen. Sein Mund und seine Augen waren mit breitem Klebeband verschlossen.
»O Gott«, stieß Eva hervor und war mit schnellen Schritten bei ihm. Leienberg bewegte sich, er war also bei Bewusstsein. Mit fahrigen Bewegungen löste Eva das Klebeband erst von den Augen, dann vom Mund. Als sie es abzog, atmete er stöhnend durch, dann sah er sie blinzelnd mit geröteten Augen an. »Danke, ich habe schon fast keine Luft mehr bekommen«, sagte er stockend. »Der Kerl hat mich wohl im Schlaf überrascht … Und mich offenbar betäubt, mit Äther, so wie es hier riecht. Als ich dann wieder zu mir kam, lag ich so da. Ich weiß nicht, wie lange das her ist … Ist mit Ihnen alles in Ordnung?«
»Das erzähle ich ihnen gleich«, sagte Eva. »Erst mache ich Sie mal los.« Als sie an den Handgelenken anfing, wunderte sie sich, wie leicht sich die Knoten lösen ließen. Das Gleiche an den Füßen. »Die Knoten sitzen nicht sehr fest.«
»Das mussten sie auch nicht«, erwiderte Leienberg, setzte sich langsam auf und befreite sich von der letzten Schlinge.
»Sie waren so angebracht, dass sie sich bei jeder Bewegung zuziehen, vor allem am Hals. Aber ist mit Ihnen wirklich alles in Ordnung?«
Eva schüttelte den Kopf und setzte sich neben Leienberg aufs Bett. Dann erzählte sie ihm, was ihr in der Nacht widerfahren war.