48

Menkhoff hatte sich einen Stuhl herangezogen und saß Reithöfer nun so gegenüber, dass ihre Knie nur wenige Zentimeter voneinander entfernt waren. Er ließ sich von ihr eine Zusammenfassung darüber geben, was die Kollegen bisher herausgefunden hatten. Das war jedoch mehr als dürftig. Weder die Liste mit den Namen von Inge Glöckners Freunden und Bekannten hatte etwas zutage gebracht, das in irgendeiner Form beachtenswert gewesen wäre, noch die des zweiten Opfers, Mirjam Walther. Auch ein Abgleich der Listen hatte keinerlei Übereinstimmung ergeben. Noch immer fehlte jegliche Verbindung zwischen den beiden Frauen, so dass sie davon ausgehen mussten, dass zumindest das zweite Opfer zufällig ausgewählt worden war. Daran, dass der Täter Inge Glöckner ganz bewusst ausgesucht hatte, hatte Menkhoff seit dem Moment nicht mehr gezweifelt, in dem er von Eva Rossbachs Sarg-Geschichte gehört hatte.

Er informierte Reithöfer über das, was er über Manuel Rossbach erfahren hatte. »Stell dir das vor, da wird ein kleines, hilfloses Kind von perversen Erwachsenen gequält und fürchterlich misshandelt, immer und immer wieder, und die Ärzte im Krankenhaus flicken es zusammen und schicken es kommentarlos zurück. Und die Einzige, die der Kleine überhaupt hat, die auf seiner Seite steht, ist seine Schwester, die selbst noch ein Kind ist und mit ziemlicher Sicherheit ebenfalls misshandelt wird.« Menkhoff schüttelte den Kopf. »Ich kann nichts dagegen tun, Jutta, wenn ich so was höre, könnte ich ausrasten. Und ich habe keine Lust mehr, ständig so zu tun, als könnte mich das alles nicht schocken. Kannst du das verstehen?«

Sie dachte eine Weile nach, dann legte sie ihre Hand auf seine. Einem Reflex folgend wollte Menkhoff seine Hand zuerst zurückziehen, ließ sie dann aber doch liegen. Eine Sekunde später lehnte sich Reithöfer auch schon wieder zurück. Sie sahen sich an. »Bernd, wir kennen uns noch nicht so furchtbar lange, aber ich habe dich in dieser Zeit schätzen gelernt als einen sehr guten und gewissenhaften Polizeibeamten, aber auch als einen Menschen, auf den man sich verlassen kann. Mir ist vollkommen klar, was gerade in dir vorgeht. Du hast selbst eine kleine Tochter, die man quasi aus deiner Obhut gerissen hat, und wenn du so was wie das mit Manuel Rossbach hörst, dann hast du zwangsläufig das Gefühl, dein Kind nicht beschützen zu können in einer Welt, in der es Menschen gibt, die zu solchen Scheußlichkeiten fähig sind. Habe ich recht?«

»Ja, kann schon sein.«

»Ich kann das verstehen, und ich bin absolut sicher, es geht vielen Kollegen so, die Kinder haben.«

»Danke, Jutta.«

»Es gibt aber auch ein Aber, Bernd. Und das betrifft deine Veränderung in den letzten Tagen.«

Menkhoff hob die Hand. »Stopp, bitte. Ich fühle mich gerade so gut verstanden, können wir das nicht einfach so stehen lassen? Ohne Aber?« Er grinste, und bevor sie etwas entgegnen konnte, sagte er: »Schon gut. Ich weiß, es gibt ein Aber, und ich möchte auch gerne mit dir darüber reden, aber können wir das verschieben? Ich respektiere deine Meinung sehr, deswegen möchte ich sie auch hören, aber lass uns bitte damit warten, bis wir diesen Mist hier hinter uns haben, okay?«

Sie kniff die Augen zusammen. »Aber das Thema ist nicht vom Tisch, hörst du? Es gibt ein paar Dinge, die wirst du dir von mir anhören müssen.«

»Ja, versprochen. Aber jetzt müssen wir zusehen, dass wir Eva Rossbach finden und diesen Psychopathen zu fassen bekommen.«

»Gut.«

»Ich würde mich gerne mit dieser Immobilienmaklerin unterhalten. Sie ist ja angeblich Eva Rossbachs beste Freundin, vielleicht kann sie uns mehr über die Familienverhältnisse erzählen und über die Theorie, dass Manuel Rossbach noch lebt.«

»Mal ehrlich, Bernd, glaubst du, das könnte sein?«

»Nein, ich glaube es nicht. Warum sollte seine Mutter Manuels Tod nur vorgetäuscht haben? Da erscheint mir die Variante, dass sie ihn in einem ihrer Missbrauchsexzesse tatsächlich getötet hat und dann dieses Theater inszenierte, um sein Verschwinden zu erklären, schon weitaus glaubwürdiger. Auch wenn mir schleierhaft ist, warum damals diese Akte so schnell geschlossen wurde. Aber wo sollte er aufgewachsen sein, ohne offiziell zu existieren? Nein, ich glaube nicht, dass Manuel Rossbach noch lebt. Aber ich möchte mich trotzdem mal unterhalten mit dieser … Pfeiffer hieß sie, nicht wahr?«

»Ja, Wiebke Pfeiffer. Ich versuche gleich, sie zu erreichen, und höre nach, wo wir sie treffen können, ja?«

 

Eine Viertelstunde später waren sie auf dem Weg nach Marienburg, dem Stadtteil, in dem auch Eva Rossbachs Haus stand. Wiebke Pfeiffer war zu Hause und erwartete sie. Sie hatte sich laut Reithöfer nicht im Geringsten überrascht gezeigt, als sie hörte, wer am Telefon war, und hatte einen gutgelaunten Eindruck gemacht. Erst, als sie erfuhr, dass ihre Freundin seit dem Mittag verschwunden und Dr. Leienberg schwer verletzt worden war, hatte sich das geändert.

Von Eva Rossbachs Anwesen aus gesehen lag Wiebke Pfeiffers Haus auf der entgegengesetzten Seite des Stadtteils. Sowohl Grundstück als auch Haus waren um einiges kleiner als das Rossbach-Anwesen, aber Menkhoff kam nicht umhin festzustellen, dass man als Immobilienmaklerin in Köln offenbar ganz gut verdienen musste.

Die junge Frau trug Jeans und T-Shirt, die ihre tadellose Figur betonten, und sah ihnen ernst entgegen, als sie die Tür öffnete.

Im Vergleich zu Eva Rossbachs Einrichtung war die ihrer Freundin sehr modern. Die Farben Schwarz und Weiß waren allgegenwärtig und wurden hier und da von Accessoires in Knallfarben ergänzt. Die glänzende Fläche der großen weißen Kacheln, mit denen der Boden ausgelegt war, wurde unterbrochen durch zwei schwarze Teppiche, einer unter dem Couchtisch mit weißer Klavierlackoberfläche, der andere unter dem Esstisch aus Glas. Auf einem grauen Tischläufer stand eine knallrote Obstschale, und in diesem Stil ging es weiter. Menkhoff überlegte, dass er in einer solchen Atmosphäre nicht leben könnte, für seinen Geschmack wirkte das alles zu steril und ungemütlich, und daran änderte auch das verhältnismäßig sanfte Licht nichts, das eine dreiarmige Stehlampe an die Decke warf.

Sie setzten sich auf eine schwarze Couch, deren Oberfläche sich wie Samt anfühlte, und warteten, bis Wiebke Pfeiffer ihnen gegenüber Platz genommen hatte.

»Wie Ihnen meine Kollegin ja vorhin am Telefon schon gesagt hat, ist Frau Rossbach seit heute Mittag verschwunden«, begann Menkhoff. »Sie wurde aus der Praxis ihres Psychiaters entführt. Dr. Leienberg selbst liegt schwer verletzt im Krankenhaus, kann uns im Moment also auch nicht sagen, was vorgefallen ist.«

Wiebke Pfeiffer sah ihn entsetzt an: »O mein Gott. Burghard … Dr. Leienberg ist ein alter Freund von mir, müssen Sie wissen. Und ich habe ihn dazu überredet, Eva einen Termin zu geben.«

»Sie haben ihn überredet? Warum?«

»Nachdem Eva mir von diesen furchtbaren Träumen erzählt und mir dann auch noch ihre Verletzungen gezeigt hat, da habe ich ihr geraten, sich von Burghard Leienberg helfen zu lassen. Erst hat sie es abgelehnt, aber dann rief sie mich an und bat mich, sofort einen Termin für sie zu machen.«

Reithöfer sah von ihren Notizen auf. »Wissen Sie, woher der plötzliche Sinneswandel kam?«

»Nein, sie rief mich an und klang ziemlich aufgeregt. Sie sagte nur, ich solle schnellstmöglich einen Termin für sie machen, dann legte sie sofort wieder auf.«

»Hat Frau Rossbach mit Ihnen schon einmal über ihren Bruder Manuel gesprochen, der als Kind bei einem Unfall im Rhein ertrunken ist?«

Wiebke Pfeiffers Gesichtsausdruck veränderte sich schlagartig. Die Frage war ihr unangenehm, das spürte Menkhoff sofort. »Frau Pfeiffer, gibt es da etwas, das wir wissen sollten?«, hakte er nach.

»Nein, ich … Ich bin da in einer schwierigen Situation. Ich bin Evas einzige wirkliche Freundin, glaube ich, und … wenn sie mir etwas anvertraut und mich inständig darum bittet, nicht darüber zu reden, mit niemandem, dann … Ich weiß nicht, was ich jetzt tun soll, verstehen Sie?«

»Aber Sie wissen, dass Ihre Freundin verschwunden ist und wahrscheinlich in Lebensgefahr schwebt. Sollte das nicht ausreichen, Ihnen die Entscheidung leichtzumachen? Dahingehend, dass wir alles, und zwar restlos alles wissen müssen, um die Chance zu haben, Eva zu finden?«

»Ja, ich weiß, ja …«

»Frau Pfeiffer, geht es bei dem, was Frau Rossbach Ihnen im Vertrauen gesagt hat, darum, dass sie denkt, ihr Bruder sei noch am Leben?«, warf Reithöfer ein.

Wiekbe Pfeiffer sah sie ungläubig an. »Sie wissen davon?«

»Ja, von Frau Rossbachs Haushälterin.«

»Ah, Hildegard, ja, sie kennt Eva schon ihr ganzes Leben lang. Dann wissen Sie auch, dass Eva befürchtet, ihr Bruder könnte etwas mit dieser furchtbaren Sache zu tun haben?«

»Nein, wir haben es uns zwar gedacht, aber gesagt hat das so niemand.«

»Würden Sie uns bitte alles erzählen, was Sie darüber wissen?«, bat Menkhoff.

»Ja, also … Wenn Sie das mit ihrem Bruder sowieso schon wissen, dann verrate ich Ihnen kein Geheimnis mehr.« Sie stockte. »Ach, entschuldigen Sie, ich bin ganz durcheinander, ich habe Ihnen ja noch gar nichts angeboten. Möchten Sie ein Wasser? Oder vielleicht einen Saft?«

Menkhoff hatte tatsächlich einen trockenen Hals. »Ja, ein Wasser wäre prima, danke.«

Als sie mit einer Wasserkaraffe und Gläsern zurückkam, sagte Menkhoff: »Da fällt mir ein, was macht die Suche nach der Wohnung für Herrn Wiebking?«

Sie stellte die Gläser vor ihnen ab und füllte sie mit Wasser. »Ich war noch nicht sehr erfolgreich, er hat ganz konkrete Vorstellungen, das wird etwas dauern. Aber Sie sind nicht der Erste, der sich heute nach ihm erkundigt. Sein Vater hat hier angerufen und nach ihm gefragt. Er sagte, er sei heute Nachmittag einfach nicht in der Firma erschienen, und niemand wisse, wo er sei.«

»Hm … Seltsam. Sein Vater und Sie kennen sich?«

»Ja, durch Eva, und er hat wohl mitbekommen, dass ich für Jörg eine Wohnung suche.«

»Ah, verstehe. Ist Herr Wiebking bekannt dafür, dass er einfach so nicht an seinem Arbeitsplatz erscheint?«

»Das weiß ich nicht. Wir kennen uns doch kaum, bis auf … na ja, Sie wissen schon.«

»Also gut, Herr Wiebking wird sicher wieder auftauchen. Dann erzählen Sie doch jetzt bitte von Eva Rossbachs Bruder.«

Wiebke Pfeiffer trank einen Schluck Wasser, dann sagte sie: »Eva hat mir anvertraut, dass sie sicher ist, dass ihre Stiefmutter den Unfall damals nur vorgetäuscht hat. Ich habe sie natürlich gefragt, wie sie darauf kommt, und sie erzählte mir, dass sie schon immer das Gefühl gehabt hat, dass ihr Bruder noch lebt. Ich habe ihr dann gesagt, dass ein solches Gefühl sicher nicht ungewöhnlich ist, wenn man als Kind einen Bruder verliert, und dass ich denke, dass das vielleicht etwas damit zu tun hat, dass man so einen schlimmen Verlust einfach nicht wahrhaben will. Na ja, daraufhin sagte sie mir, dass es aber mittlerweile mehr als nur ein Gefühl sei. Und dass sie einige Wochen zuvor einen unfrankierten Umschlag ohne Absender mit einem handgeschriebenen Brief darin in ihrem Briefkasten gefunden hat. In diesem Brief stand, dass sie erraten soll, wer der Verfasser ist. Und dass sie dafür weit zurück in die Vergangenheit gehen muss. Bis in die Kindheit. Und dass sie dabei über die Grenzen des Logischen hinausgehen soll, denn mit der Existenz des Verfassers würde niemand rechnen. Ja, und dann stand da noch eine Warnung. Es würde nicht mehr lange dauern, dann würde er allen zeigen, dass er existiere und was man ihm angetan habe, er würde Gleiches mit Gleichem vergelten, und dass er dabei auf sie keine Rücksicht nehmen könne.«

Menkhoff wartete, dass sie weitersprach. Als sie es nicht tat, sagte er schließlich: »Das hört sich alles sehr eigenartig an, das gebe ich zu, aber dieser Brief könnte von irgendeinem Spinner geschrieben worden sein, den sie vielleicht tatsächlich noch aus ihrer Jungendzeit kennt.«

Wiebke Pfeiffer nickte. »Ja, das könnte er. Aber es gibt da noch etwas.« Sie trank wieder einen Schluck, stellte das Glas ab und starrte es an. Die Sekunden verrannen, und die Pause, die entstand, wurde schnell unerträglich.

»Ja?«, sagte Menkhoff auffordernd.

»Eva hat mir erzählt, dass ihr Bruder schon einen Tag vor diesem angeblichen Unfall verschwunden war.« Wieder hielt sie einen Moment inne. »Sie hat gesehen, dass er nicht im Auto war, als ihre Stiefmutter mit Inge zum Paddeln an den Rhein gefahren ist.«

Der Sarg
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