8
Der Türgong ließ Eva aufschrecken. Hastig stand sie auf und ging mit unsicheren Schritten zur Haustür. Als sie sie öffnete, lächelte Wiebke sie an und breitete die Arme aus. »Da bin ich.«
»Wiebke … Ist dein Termin ausgefallen? Sagtest du nicht, du brauchst mindestens eine dreiviertel Stunde, bis du hier sein kannst. Ist es denn … Ach, ich bin ganz durcheinander.«
Das Lächeln in Wiebkes Gesicht veränderte sich nur leicht. »Eine Dreiviertelstunde, stimmt, und das ist jetzt genau …«, sie hob den Arm und warf einen Blick auf die sportliche weiße Uhr an ihrem Handgelenk, »… vierzig Minuten her. Ich habe mich extra für dich beeilt.«
Vierzig Minuten sollte ihr Telefonat her sein? Eva hätte geschworen, dass höchstens zehn Minuten verstrichen waren, seit sie den Telefonhörer weggelegt hatte. Sie musste tief in Gedanken versunken gewesen sein. Sie bemerkte Wiebkes fragenden Blick und machte einen Schritt zur Seite. »Bitte entschuldige, komm doch rein. Ich … ich habe nicht bemerkt, wie die Zeit vergangen ist.«
Wiebke winkte ab und ging an ihr vorbei. »Ach, das kenne ich, das passiert mir auch häufig, wenn ich beschäftigt bin.« Ohne auf Eva zu warten schlug sie den Weg zur Küche ein. Dort saßen sie sich bei ihren Besuchen meist an dem kleinen Tisch gegenüber, tranken Kaffee oder Cappuccino, unterhielten sich und lachten häufig. Das waren seltene Momente, die Eva liebte, weil sie sich dabei unbeschwert fühlte wie ein Teenager. Wiebke war der einzige Mensch, mit dem Eva herumalbern und von Herzen lachen konnte.
Als sie sich nun gemeinsam an den Tisch setzten und Wiebkes Blick dabei zuerst auf die aufgeschlagene Zeitung mit den handgeschriebenen Worten am Rand fiel, und sich dann fragend auf Eva richtete, war ihr allerdings nicht nach Lachen zumute.
»Ich weiß nicht, wer das dahin geschrieben hat«, sagte sie leise. »Das stand schon dort, als ich die Zeitung reingeholt habe.«
Wiebke zog das Blatt näher zu sich heran. »Ich habe den Artikel heute Morgen auch schon gelesen. Eine ganz furchtbare Sache. Aber was soll das bedeuten – wach endlich auf? Wer verkritzelt denn eine fremde Zeitung? Da hat sich doch jemand einen Scherz erlaubt. Der Zusteller vielleicht?«
Eva stand auf, ging zur Kaffeemaschine und nahm zwei frische Tassen von der Wärmplatte. »Das glaube ich nicht.« Sie zögerte einen Moment, dann gab sie sich einen Ruck. »Ich habe das geträumt, Wiebke, genau das. Und jetzt schreibt jemand so was in meine Zeitung und unterstreicht die Überschrift.«
Wiebkes Augen wurden groß. »Du hast geträumt, dass dir jemand etwas in die Zeitung schreibt?«
»Nein, ich habe geträumt, dass ich in einem Sarg liege und nicht raus kann. Du weißt schon, lebendig begraben. Und ich weiß nicht einmal, ob das alles tatsächlich nur ein Traum war, oder …«
Wiebke runzelte die Stirn. »Oder was?«
Eva drückte den Knopf an der Kaffeemaschine. »Gleich, erst muss ich dir etwas anderes sagen.« Als das Mahlwerk mit seiner geräuschvollen Arbeit fertig und auch die zweite Tasse mit frischem Kaffee gefüllt war, stellte Eva sie auf dem Tisch ab, setzte sich Wiebke gegenüber und sah sie an. »Diese Frau, die lebendig begraben worden ist, Inge Glöckner … sie ist … sie war meine Halbschwester.«
Wiebke riss die Augen auf. »Was? Deine … aber … ich wusste gar nicht, dass du eine Halbschwester hast. Und sie ist diese Frau? Gott, wie furchtbar. Ich weiß gar nicht, was ich sagen soll.«
»Schon gut. Wir hatten schon sehr lange keinen Kontakt mehr, unser Verhältnis war nie besonders gut. Sie ist für mich eher wie eine Fremde. Ich habe mich nur sehr erschrocken, als ich plötzlich ihren Namen in dem Artikel gelesen habe.«
Wiebke nickte. »Ich verstehe. Aber das ist doch trotzdem ganz furchtbar. Deine Halbschwester. Ich darf gar nicht darüber nachdenken. Wann hast du sie denn zum letzten Mal gesehen?«
»Ach, das ist mindestens schon fünfzehn Jahre her, wenn nicht länger. Sie hat mich zwar zu ihrer Hochzeit vor neun Jahren eingeladen, aber ich weiß, dass sie das nur auf Druck meines Vaters gemacht hat. Mich wollte sie sicher nicht an diesem Tag um sich haben. Ich bin nicht hingegangen.«
Wiebke legte eine Hand auf ihre, und Eva widerstand dem Impuls, den Arm zurückzuziehen. »Du hast mir bisher so gut wie nichts über deine Familie erzählt, und du wirst sicher deine Gründe dafür haben, aber … deine Halbschwester … ihr habt den gleichen Vater?«
»Ja.«
»Darf ich fragen, was mit deiner leiblichen Mutter ist?«
»Sie ist tot.« Eva sagte es ohne Zögern. »Ich habe sie nie kennengelernt, sie starb bei meiner Geburt.«
»Oh, das tut mir leid.«
»Ja, mir auch.«
»Und dein Vater hat dann wieder geheiratet.«
»Ja, und mit dieser Frau noch eine Tochter bekommen. Inge. Aber können wir bitte das Thema wechseln?«
»Ja, natürlich, entschuldige. Ich wollte dir wirklich nicht …« Wiebke war sichtlich verstört. »Ich bin ganz durcheinander. Aber du wolltest mir doch von diesem Traum erzählen. Und was hast du damit gemeint, du bist dir nicht sicher, ob es ein Traum war?«
Stockend begann Eva zu erzählen. Wiebke hörte ihr zu, ohne sie ein einziges Mal zu unterbrechen. Als Eva fertig war, sah Wiebke sie fassungslos an. »O Gott, Eva, das ist … ich verstehe das alles nicht, aber wenn du das so erlebt hast, und dann diese Nachricht auf der Zeitung, an dem Artikel über … vielleicht solltest du die Polizei verständigen?«
Eva schüttelte den Kopf. »Nein, die werden bestimmt sowieso bald wegen Inge zu mir kommen. Aber von diesem Traum werde ich ihnen nichts sagen. Das ist zu … verrückt. Und bitte, Wiebke, du darfst auch keinem Menschen davon erzählen, das musst du mir versprechen.«
»Ich werde mit niemandem darüber reden, Eva. Aber sag mal, die Verletzungen, die du danach hattest, die sind doch real! Wenn du ihnen die zeigst?«
»Aber das ist es ja gerade, was die Geschichte so komplett verrückt macht. Dass ich nicht wirklich in einem Sarg gelegen haben kann! Wie sollte das auch gehen? Aber dann sind da die Verletzungen. Hab ich mir die etwa selber zugefügt? Und jemand, der sich selbst verletzt, in Verbindung mit der Tatsache, dass er sich an manche Dinge nicht erinnern kann …«
Wiebke dachte einen Moment nach, dann nickte sie. »Ja, ich verstehe, was du meinst. Diese Sache ist auch wirklich seltsam.« Ihr Blick fiel wieder auf die Nachricht am Zeitungsrand. »Und du hast überhaupt keine Idee, wer das gewesen sein könnte? Vielleicht wollte sich ja doch jemand einen schlechten Scherz mit dir erlauben?«
»Nein, ich wüsste niemanden, dem ich so was zutrauen würde. Und woher sollte jemand von meinem Traum wissen? Das ist doch vollkommen verrückt. Nein, das ist kein Scherz.«
Wiebke starrte einen kurzen Moment auf die Tasse vor sich, dann sah sie Eva eindringlich an. »Es gibt da jemanden, an den du dich wenden könntest.«
»Wen meinst du?«
Wieder zögerte Wiebke. Sie senkte den Blick, und es schien fast, als würde sie überlegen, ob sie wirklich weiterreden sollte. Schließlich sah sie Eva an. »Ich habe einen Freund, der absolut vertrauenswürdig ist und sich mit solchen Dingen sehr gut auskennt.«
»Mit welchen Dingen?«
»Na ja, mit seltsamen Erlebnissen, für die man keine Erklärung hat, und auch …«
»Ein Esoteriker?«
»Nein, Eva, Burghard Leienberg ist kein Esoteriker, er ist Psychiater.«
Eine Weile sahen sie sich an, dann stand Eva auf: »Tut mir leid, aber ich habe noch einiges zu erledigen.«
Auch Wiebke erhob sich. »Eva, bitte, ich möchte doch nur helfen, und ich glaube wirklich, ein Gespräch mit …«
»Nein«, schnitt Eva ihr das Wort ab. Wiebke nickte und legte ihr noch einmal die Hand auf den Arm. Dann zog sie ihre Handtasche von der Stuhllehne und verließ die Küche.