27

Als Menkhoff und Reithöfer das Gelände der Rossbach Maschinenbaubetriebe verließen, fiel eine Mischung aus Schnee und Regen aus dem bleigrauen Himmel und bildete einen schmierigen Film auf dem Asphalt. Das schmutzig wirkende Tageslicht begann sich zurückzuziehen, und die kurze Spätherbstdämmerung sorgte dafür, dass selbst das karge Pförtnerhäuschen mit seiner Beleuchtung wie eine wärmende Insel in dem düsteren Bild wirkte, durch das sie mit hochgeschlagenen Mantelkragen marschierten. Menkhoff hielt kurz beim Pförtner an und sagte: »Seien Sie doch bitte so nett und sagen Herrn Dr. Wiebking Bescheid, dass wir ein anderes Mal wiederkommen. Wir haben auf dem Weg zu ihm seinen Sohn getroffen und uns mit ihm unterhalten. Nun müssen wir leider wieder ins Präsidium. Danke.« Der Mann sah ihn irritiert an, griff dann aber doch zum Telefon.

Unterwegs spekulierten sie darüber, ob nun Oliver Glöckner oder eher Jörg Wiebking gelogen hatte und ob einer der beiden einen Vorteil von Inge Glöckners Tod haben könnte. Letztendlich hielten aber weder Reithöfer noch Menkhoff zu diesem Zeitpunkt einen von ihnen für tatverdächtig.

Im Präsidium ging Menkhoff in sein Büro und schloss die Tür hinter sich. Das kam selten vor, aber er hatte das dringende Bedürfnis, allein zu sein, um ungestört nachdenken zu können. Er zog den Mantel aus, warf ihn über eine Lehne und ließ sich auf seinen Bürostuhl fallen.

Dieser Wiebking junior war scharf auf die Stelle seines Vaters, die er aber auf regulärem Weg nicht bekommen würde. Aber wie weit würde er gehen, um sein Ziel zu erreichen? Und brachte ihn die Tatsache, dass Inge Glöckner tot war, seinem Ziel näher? Wohl kaum. Und Oliver Glöckner? War er der nichtskönnende Schönling, der eine reiche Frau geheiratet hatte, um das süße Leben zu genießen? Aber spielten all diese Überlegungen überhaupt eine Rolle? Beide waren sicher auf ihren Vorteil bedacht, und vielleicht wären sie sogar dazu fähig, einen Mord zu begehen, um ihre Ziele zu erreichen. Aber auf diese Art? Jemanden lebendig zu begraben, war kein Mord aus Habgier, sondern entweder eine rituelle Tat oder das Werk eines Psychopathen. Und nicht nur Inge Glöckner war auf diese grausame Weise ums Leben gekommen, auch Mirjam Walther war so gestorben.

Menkhoff fiel die Liste mit Inge Glöckners Bekannten ein. Er stand auf und ging hinüber in das Büro, das Julia Reithöfer sich im Moment noch mit einem jungen Kollegen teilte. Bald würde sie mit Menkhoff zusammen in einen Raum ziehen. Sie sah von ihrem Monitor auf, als er hereinkam. »Ist jemand mit der Liste unterwegs, die Glöckner erstellt hat?«

Sie nickte. »Ja, zwei Teams sind damit draußen.«

»Haben wir auch schon die Aufstellung über Freunde und Bekannte von Mirjam Walther?«

»Ich denke schon. Riedel und Borens waren bei den Eltern.«

»Ausgerechnet … Und? Weißt du schon was? Gibt es Überschneidungen?«

»Keine Ahnung. Ich glaube nicht, dass die beiden heute noch mal ins Präsidium kommen.«

Menkhoff sah auf die Uhr. Halb sechs. »Ja, das glaube ich allerdings auch nicht. Gut, danke.«

Wieder zurück in seinem Büro, lehnte er sich gegen die hohe Rückenlehne seines Stuhls, atmete tief durch und schloss die Augen. Er wollte über den Fall nachdenken, aber seine Gedanken entwickelten ein Eigenleben und verließen Wiebking, Glöckner und Co, rasten aus Köln heraus und waren im nächsten Moment in Aachen bei einem kleinen Mädchen. Seinem kleinen Mädchen. Das Gefühl des Vermissens überkam ihn so plötzlich und so stark, dass er aufstöhnte. Er beugte sich vor, stütze die Ellbogen auf dem Schreibtisch ab und verbarg das Gesicht in den Händen. Er sah Luisa vor sich, ein hübsches Mädchen mit rötlichen Haaren, das ihn mit ihren wasserblauen Augen anstrahlte und genau so aussah, wie seine Mutter in diesem Alter ausgesehen haben musste. Er sah ihr unbeschwertes Lachen, während sie gutgelaunt herumhüpfte. Dann wechselte das Bild zu einer verängstigten Luisa, die sich zitternd an ihn drängte, weil sie seinetwegen Schlimmes hatte erleben müssen. Auch diese Szene verblasste und machte Platz für eine dritte Luisa, die weinend und mit hängenden Schultern dastand, an der Hand ihrer Mutter, eine Luisa, die verloren wirkte und ihm mit unendlicher Traurigkeit nachsah, als er mit seinen wichtigsten Habseligkeiten auf dem Rücksitz und im Kofferraum Aachen verließ. Seine kleine Luisa …

Menkhoff ließ die Hände sinken und griff zum Telefon. Es dauerte eine Weile, dann hob Teresa ab. »Ja, Teresa, ich bin’s, Bernd. Entschuldige bitte, wenn ich dich störe, aber … kann ich mit Luisa sprechen, bitte?«

»Bernd … Das geht jetzt schlecht. Sie … sie ist oben, in der Badewanne.«

»Kann ich sie trotzdem sprechen? Bitte? Wirklich nur kurz. Ich vermisse sie so sehr.«

Teresa antwortete erst nach kurzem Zögern. »Also gut, ich bringe ihr das Telefon ins Bad.« Menkhoff konnte im Hintergrund ihre Schritte hören. »Bernd, ich möchte nicht, dass du einfach so zwischendurch anrufst. Jedenfalls im Moment. Sie ist jedes Mal so traurig, wenn sie mit dir gesprochen hat.«

»Ja, ich weiß. Das hängt damit zusammen, dass ihr Vater so weit weg ist von ihr. Sie müsste ja nicht traurig …«

»Bernd, nicht«, unterbrach sie ihn. »Es ist für alle Beteiligten im Moment das Beste, so, wie es jetzt ist. Ich gehe jetzt ins Bad.« Er hörte sie mit Luisa sprechen, und er hörte den Freudenschrei seiner Tochter, als Teresa ihr sagte, wer am Telefon war.

»Papaaa«, jauchzte sie in den Hörer. »Toll, dass du mich anrufst. Juhuu.«

»Hallo, mein Schatz, ich dachte mir, ich höre mal, wie es dir geht.«

»Mir geht es ganz gut. Aber es wäre noch viel mehr große Klasse, wenn du da wärst.«

»Ja, ich weiß. Du fehlst mir auch ganz schrecklich. Aber am kommenden Wochenende werden wir uns ja wiedersehen, in zwei Tagen schon, das ist doch toll, oder?« Er hatte ein komisches Gefühl, als er das sagte.

»Ja, ich freu mich schon ganz doll. Wann kommst du?«

»Wahrscheinlich am Samstagvormittag. Das bespreche ich aber noch mit deiner Mama.«

»Ich war gestern in Rechnen als Erste fertig von der ganzen Klasse, und Frau Palzem hat mich früher gehen lassen zur Belohnung.«

»Hey, das ist ja toll. Dann kannst du wahrscheinlich auch schon schneller rechnen als ich.«

»Ja, bestimmt. Wir können ja um die Wette rechnen, wenn du mich abholen kommst.«

»Ja, mein Engel, das machen wir. Ich freue mich sehr auf dich.«

»Ich auch. Mama sagt, ich soll jetzt auflegen.«

»Ja, ist gut. Ich hab dich ganz, ganz lieb.«

»Ich dich auch. Tschühüüüs.«

»Tschüs, mein Schatz.«

Menkhoff behielt den Hörer in der Hand, konnte den Blick nicht davon abwenden. Es war fast, als hielte er damit seine Tochter noch ein bisschen länger nah bei sich. Er zuckte zusammen, als sich eine Hand auf seine Schulter legte. Reithöfer stand hinter ihm und sah ihn besorgt an. Er hatte sie weder klopfen noch hereinkommen gehört.

»Alles in Ordnung?«, fragte sie.

»Ja, doch, ich war in Gedanken.«

»Der Fall?«

»Nein, ich … ich habe gerade mit meiner Tochter telefoniert.«

Sie ging um den Schreibtisch herum und blieb davor stehen. »Oh, aber das ist doch schön.«

»Nein, Jutta, es ist nicht schön, wenn man seine kleine Tochter nur alle zwei Wochen sehen darf und freundlich darum betteln muss, mit ihr telefonieren zu dürfen, wenn man zwischendurch das Gefühl hat, man hält es nicht mehr ohne sie aus.«

Reithöfer machte ein betretenes Gesicht. »Ja, entschuldige, das habe ich nicht bedacht.« Sie ließ sich auf den Stuhl vor seinem Schreibtisch sinken. »Bernd, erzählst du mir, was in Aachen passiert ist? Warum du nicht mehr bei deiner Familie bist?«

Eine Weile sahen sie sich in die Augen, und ohne sich selbst erklären zu können, warum es so war, hatte Menkhoff in diesem Moment das Gefühl, es wäre richtig, mit seiner Kollegin darüber zu reden. Außer dem Aachener Polizeipsychologen hatte er noch niemandem die ganze Geschichte erzählt. Er nickte und dachte eine Weile darüber nach, wie er anfangen sollte. Dann erzählte er von zwei Fällen in Aachen, die fünfzehn Jahre auseinanderlagen und die beide mit verschwundenen Kindern zu tun hatten. Fälle, die sich ganz entscheidend auf sein Leben ausgewirkt hatten. Er erzählte von seinem Aachener Partner Alexander Seifert und von seiner Liebe zu einer außergewöhnlichen Frau. Und er erzählte ihr von einem Psychiater namens Joachim Lichner und über das Wesen.

Der Sarg
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