39

Hildegard Gerlings Schwester wohnte Am Kastell, einer gemütlich anmutenden Sackgasse unweit der Kaiserthermen in Trier. Menkhoff schätzte die Frau, die auf sein Klingeln hin geöffnet hatte, auf Ende fünfzig. In ihrem Blick lag eine Mischung aus Unsicherheit und Skepsis, die Menkhoff schon hundertfach gesehen hatte, wenn ihm eine Tür geöffnet wurde. Er stellte sich und seine Kollegin kurz vor, und Margot Bellmann bat sie freundlich herein und ging ihnen durch einen schmalen Flur voraus ins Wohnzimmer, das in einen geräumigen Wintergarten überging. Dort am Tisch saß Eva Rossbachs Haushälterin, vor ihr auf der pastellgelben Tischdecke stand eine Tasse, daneben lagen eine zusammengefaltete Zeitung und eine Brille. Menkhoff konnte Frauen in diesem Alter schwer schätzen, aber sie musste wohl um die sechzig sein. Die kurzen, rotbraun gefärbten Haare rahmten ihr rundliches Gesicht mit den geröteten Wangen ein. Sie war etwas korpulent, und doch sah man ihr an, dass sie sich viel bewegte und körperliche Arbeit gewohnt war. Menkhoff und Reithöfer begrüßten sie und setzten sich auf die Korbstühle, nachdem Margot Bellmann sie gebeten hatte, Platz zu nehmen. »Darf ich Ihnen eine Tasse Kaffe anbieten? Die wird Ihnen sicher guttun nach der Fahrt.«

Menkhoff nahm das Angebot gerne an, und auch Reithöfer neben ihm nickte der Frau dankbar lächelnd zu. Als sie den Raum verließ, fragte Menkhoff: »Gibt es auch einen Herrn Bellmann?«

Hildegard Gerling schüttelte den Kopf. »Nicht mehr, er ist letztes Jahr gestorben. Herzinfarkt. Können Sie mir sagen, wie Inge gestorben ist? Ich meine, wie hat man sie …«

Menkhoff sah zu Reithöfer, die seinen Blick verstand und die Erklärung übernahm. Dabei ging sie nicht zu sehr ins Detail, verschwieg aber auch keine wichtigen Einzelheiten. Als sie fertig war, tupfte sich Hildegard Gerling mit einem spitzenbesetzten Taschentuch die Tränen aus den Augen. »Mein Gott, wer ist nur zu so etwas Grausamem fähig?«

»Frau Gerling, Sie haben doch einen Schlüssel zu Eva Rossbachs Wohnung, nicht wahr?«

Die Frau sah Menkhoff verständnislos an. »Ja, natürlich, aber was hat das denn jetzt damit …«

»Wo bewahren Sie diesen Schlüssel normalerweise auf?«

»Na, an meinem Schlüsselbund, und der ist immer in meiner Handtasche.«

»Wie ist das an den Tagen, an denen Sie bei der Familie Wiebking sind, wo haben Sie da Ihre Handtasche mit dem Schlüsselbund?«

Man sah ihr an, dass sie immer weniger verstand, was die Fragen sollten. »Ich stelle sie auf ein Schränkchen neben der Garderobe.«

»Es könnte also jeder an Ihre Tasche, der sich im Haus der Wiebkings aufhält, richtig?«

»Ja, so gesehen schon, aber …«

»Eine andere Frage: Wer hat sich in den letzten Wochen dort aufgehalten, während Sie da waren? Bitte denken Sie genau nach, ich möchte auch die Namen der Gäste wissen, von jedem, der theoretisch an Ihre Tasche hätte herankommen können.«

»Ich verstehe nicht, was Sie wollen, ich … also gut, warten Sie …« Sie starrte an Menkhoff vorbei, bewegte ab und an die Lippen, nickte dazu, wie um sich selbst dafür zu loben, dass ihr ein weiterer Name eingefallen war. Schließlich blickte sie Menkhoff wieder an. »Also, da wäre das Ehepaar Wiebking natürlich, und Jörg. Zweimal in den letzten Wochen war vormittags eine Freundin von Frau Wiebking da, deren Name ich nicht kenne, und einmal die Nachbarin, Frau Fellner. An andere kann ich mich nicht erinnern.«

»Hm … war Jörg Wiebking öfter da?«

»Ja, natürlich, er ist fast jeden Tag da. Der Herr Ingenieur lässt sich seine Wäsche noch von seiner Mutter waschen, wissen Sie, und zum Essen kommt er auch öfter vorbei, vor allem am Wochenende.«

»Haben Sie den Schlüssel …«, setzte Reithöfer an, wurde aber von Hildegard Gerling unterbrochen.

»Ach, Moment, ich habe noch jemanden vergessen. Herr Glöckner war auch einmal da, am späten Nachmittag, als Herr Wiebking gerade von der Arbeit nach Hause gekommen war.«

»Was?«, entfuhr es Menkhoff, und es klang für ihn selbst fast wie ein Bellen. »Oliver Glöckner? Der Mann von Evas Halbschwester Inge?«

»Ja, ich glaube, er heißt Oliver mit Vornamen.«

»Das ist ja ein Ding. Wann war das?«

Hildegard Gerling dachte angestrengt nach. »Das muss vorletzte Woche gewesen sein, aber an den genauen Tag kann ich mich wirklich nicht mehr erinnern.«

»War er denn öfter bei der Familie Wiebking zu Besuch?«

»Nein, ich habe ihn nur dieses eine Mal dort gesehen. Ich habe ihn ja überhaupt nur erkannt, weil ich ihn auf Inges Hochzeit kennengelernt habe.«

»Ah, Sie waren dort. Sagen Sie, wissen Sie zufällig, was der Grund von Herrn Glöckners Besuch war?«

Sie schürzte die Unterlippe und zuckte gleichzeitig mit den Schultern. »Nein. Ich bin bei der Familie Wiebking angestellt, ich schnüffle nicht hinter ihrem Besuch her.«

»Ja, das verstehen wir«, sagte Reithöfer, und Menkhoff fügte hinzu: »Wir werden Herrn Wiebking fragen, der wird es uns sicher sagen können.«

Hildegard Gerling machte eine besorgte Miene. »Hoffentlich bekomme ich dann keinen Ärger mit Herrn Wiebking, weil ich so geschwätzig war.«

»Keine Angst, Frau Gerling«, sagte Reithöfer beruhigend. »Wir werden ihm klarmachen, dass Sie gar nicht anders konnten, als uns unsere Fragen zu beantworten. Wir ermitteln schließlich in einem Mordfall.«

»Haben Sie den Schlüssel zu Frau Rossbachs Haus zu irgendeinem Zeitpunkt mal vermisst?«, fragte Menkhoff.

»Nein, natürlich nicht, ich achte gut auf Dinge, die mir anvertraut werden. Aber nun sagen Sie mir doch bitte mal, warum interessieren Sie sich für meinen Schlüssel zu Evas Haus? Und was hat das mit Inges Tod zu tun? Ich verstehe das alles nicht.«

Wieder sah Menkhoff seine Kollegin auffordernd an. »Würdest du bitte …«

Jutta Reithöfer skizzierte grob die Ereignisse der vergangenen Tage, und Hildegard Gerling hörte fassungslos zu. Als Reithöfer fertig war, nickte die Haushälterin mehrmals und atmete tief aus. »Ach, das ist alles so schrecklich. Aber wen wundert es? Dass diese Kinder nie ein normales Leben führen würden, war vorauszusehen, und dazu brauchte man keine hellseherischen Fähigkeiten. Arme Eva. Und arme Inge. Sie konnte doch auch nichts dafür.«

»Frau Gerling, könnten Sie bitte etwas genauer werden? Wer konnte für was nichts?« Menkhoff konnte seine Ungeduld nur schwer in Zaum halten.

Hildegard Gerling legte die Hände vor sich auf den Tisch und starrte darauf, während sie den Rand des Taschentuchs Stückchen für Stückchen durch ihre Finger wandern ließen. »Inge. Für ihre Kindheit und ihre Jugend. Dafür, dass sie von ihrer Mutter immer bevorzugt wurde. Und dafür, dass die beiden anderen so … so schlecht behandelt wurden.«

»Mit den beiden anderen meinen Sie Eva und Manuel?«, hakte Menkhoff nach.

Sie nickte, ohne dabei den Blick von ihren Händen zu nehmen. »Ja. Vielleicht hat sie die beiden so gequält, weil sie sich so ähnlich waren. Manuel hat Eva sehr ähnlich gesehen, wissen Sie. Die gleiche Haarfarbe, das gleiche Gesicht, obwohl sie verschiedene Mütter hatten.«

»Können Sie uns das bitte näher erklären? Was heißt das, sie wurden schlecht behandelt?« Reithöfer sah Frau Gerling erwartungsvoll an.

In dem Moment betrat Frau Bellmann den Raum, brachte auf einem Tablett eine Kanne, Tassen und ein Schälchen mit Gebäck herein und stellte alles vor ihnen ab. »So, bitte schön. Ich lasse Sie dann jetzt allein, damit Sie in Ruhe alles besprechen können.«

»Also noch mal, Frau Gerling«, griff Menkhoff den Gesprächsfaden wieder auf, als Frau Bellmann die Tür hinter sich geschlossen hatte. »Was meinen Sie damit, dass Eva und Manuel Rossbach schlecht behandelt wurden?«

»Ihre Mutter, also Inges Mutter … sie war eine eiskalte Frau, auch Inge gegenüber, aber Eva und Manuel haben richtig unter ihr gelitten. Sie hat sie sehr viel geschlagen. Nie, wenn ich dabei war, aber ich habe es den Kindern angesehen. Die vielen Verletzungen und blauen Flecken, geprellte und verstauchte Arme, die Rücken voller blauer Striemen, manchmal hatten sie so schlimme Verletzungen, dass sie dringend in ein Krankenhaus gemusst hätten, aber das kam natürlich nur in Frage, wenn es gar nicht anders ging.«

»Und was haben Sie getan?«, fragte Reithöfer, worauf Hildegard Gerling sie mit glänzenden Augen ansah.

»Nichts. Und bevor Sie jetzt schlecht über mich denken, kann ich Ihnen sagen, ich habe in den letzten dreißig Jahren sehr oft darüber nachgedacht, ob ich etwas hätte ändern können. Das hätte ich nicht. Ich konnte doch nichts beweisen, weil ich nie gesehen habe, wie die beiden misshandelt wurden. Ich sah immer nur die Auswirkungen, und …«

»Jeder Polizeibeamte und jeder Arzt werden bei häufigerem Auftreten von gewissen Verletzungsarten bei Kindern sofort hellhörig. Man muss nicht zwingend dabei gewesen sein, wenn ein Kind misshandelt wurde, es genügt vollkommen, wenn man die Auswirkungen sieht, Frau Gerling. Sie hätten sich einfach nur an eine entsprechende Stelle wenden müssen.«

Sie sah Menkhoff mit einem Blick an, den er fast als mitleidig empfand. »Heute mag das so sein, Herr Menkhoff. Aber vor dreißig Jahren? Wenn ich als kleine Hausangestellte damals mit einem solchen Vorwurf gegen meinen Arbeitgeber und Eigentümer der Rossbach Maschinenbaubetriebe gekommen wäre, hätte ich nicht nur meine Anstellung verloren, sondern mich in Köln nirgendwo mehr sehen lassen können. Und es wäre trotzdem nichts passiert. Nein, jede Einmischung hätte bedeutet, dass ich sofort entlassen worden wäre. Und dann wären die beiden ganz allein gewesen. Verstehen Sie das? Solange ich mich ruhig verhalten habe, konnte ich mich zumindest heimlich ein wenig um die beiden kümmern.«

Menkhoff nickte etwas besänftigt. Er verstand sogar, was die Frau meinte. »Und wie war das mit Manuels Tod?«

»Ich erinnere mich gut an diesen Tag im Juli. Als ich morgens die Tür aufschloss, hockte Eva neben der Kommode im Flur auf dem Boden. Sie hatte auf mich gewartet und zog mich gleich in ihr Zimmer. Sie erzählte mir, dass sie nachts Manuels Schreie gehört hatte, und als sie am Morgen nach ihm sehen wollte, sei sein Bett leer gewesen. Eva sollte an diesem Tag zu Hause bleiben, weil ihre Stiefmutter Geburtstag hatte und etwas mit ihren beiden leiblichen Kindern unternehmen wollte.« Sie sah zu Jutta Reithöfer auf. »Wie kann man so etwas nur sagen, zu einem Kind?« Dann senkte sie den Blick wieder auf ihre Hände. »Jedenfalls hatte Eva große Angst um Manuel, weil er allein mit seiner Mutter und Inge unterwegs war.«

»Wusste denn Inge damals, was ihre Mutter ihren Geschwistern antat?«, wollte Menkhoff wissen.

»Ich weiß es nicht, sie war ja auch noch relativ klein, aber … na ja, ich denke schon, dass ihr bewusst war, was da um sie herum passierte. Eva ist jedenfalls davon überzeugt, dass Inge nicht nur alles wusste, sondern ihre Mutter mit falschen Anschuldigungen noch zusätzlich dazu angestachelt hat, Manuel und sie immer wieder zu misshandeln.«

»Wissen Sie, was mich wundert?«, warf Reithöfer ein. »Frau Rossbach hat uns gegenüber nie etwas von Misshandlungen erwähnt, auch nicht, als wir sie gefragt haben, wie sie sich mit Ihrer Stiefmutter verstanden hat.«

Hildegard Gerling nickte. »Ich weiß. Sie hat es auch mir gegenüber noch nie zugegeben. Es ging ihr immer nur um Manuel. Aber ich habe es gesehen. Sie hat manchmal schlimmer ausgesehen als ihr Bruder. Ich darf mir gar nicht vorstellen, was diese Frau dem Mädchen alles angetan hat. Und heute, als Erwachsene? Wundert sie das wirklich? Ich weiß nicht, ob man Lust hat jemandem zu erzählen, dass man als Kind körperlich schwer misshandelt wurde. Ich denke, sie hat es verdrängt und möchte einfach nicht daran erinnert werden. Sie schämt sich wohl dafür. Ebenso wie für ihre Theorie, was Manuel betrifft.«

»Von welcher Theorie sprechen Sie?« Reithöfer warf Menkhoff einen schnellen Blick zu.

Hildegard Gerling stockte einen Moment, dachte offensichtlich darüber nach, ob sie den Polizisten erzählen konnte, was sie wusste. Dann aber kam sie wohl zu dem Ergebnis, dass sie sowieso schon zu viel gesagt hatte, um jetzt noch einen Rückzieher zu machen, und entgegnete: »Evas Theorie, dass Manuel gar nicht tot ist.«

Der Sarg
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