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Eva hatte das Gefühl, in das Gesicht einer Fremden zu blicken, als sie ihr Spiegelbild betrachtete. Die Erleichterung darüber, dass sich dieser fürchterliche Traum nicht wiederholt hatte, war vom Erschrecken über ihr Aussehen überschattet worden. Ihre Augen schienen sich nicht ganz öffnen zu wollen, sie blickten ihr stumpf aus tiefen, dunklen Höhlen entgegen. Die Haut wirkte fahl und schlaff, und als sie mit den Fingerspitzen über ihre Wangen strich, bemerkte sie, dass sie zitterten.
Eva war schon öfter morgens vollkommen abgekämpft aufgewacht, obwohl sie acht oder neun Stunden geschlafen hatte. Aber selten hatte sie sich so ausgelaugt gefühlt und so übermüdet ausgesehen.
Sie zog sich aus und ging unter die Dusche. Die Wassertemperatur stellte sie so heiß ein, dass sie es gerade eben noch aushielt. Das Brennen auf der Haut tat ihr gut und weckte ihre Lebensgeister ein wenig.
Nachdem sie sich angezogen und die kurzen braunen Haare getrocknet hatte, machte sie sich die dritte Tasse Kaffee für diesen Morgen und stellte sie auf dem Küchentisch ab. Sie ging zur Haustür, um die Zeitung aus dem Briefkasten zu holen, und dachte darüber nach, ob sie Wiebke anrufen sollte. Es war kurz vor acht, um diese Zeit war Wiebke normalerweise schon unterwegs. Sie arbeitete als Immobilienmaklerin und hatte die ersten Besichtigungstermine meist schon früh morgens.
Es gab nicht viele Menschen, die Eva in ihrer Nähe ertragen konnte. Sie mied Gesellschaften und Partys, wo es ging, und lebte sehr zurückgezogen. Wiebke war die Einzige, die sie als ihre Freundin bezeichnete, obwohl sie sich nur sporadisch sahen. Sie hatten sich erst zwei Jahre zuvor auf einem Reiterhof kennengelernt, doch aus einem unerfindlichen Grund hatte Eva vom ersten Moment an das Gefühl gehabt, dieser blonden Frau mit dem natürlichen Lächeln vertrauen zu können. Es lag eine Wärme in Wiebkes blauen Augen, die schwer zu erklären war.
Auch Wiebke wusste längst nicht alles von ihr, aber Eva hatte ihr doch schon mehr von sich anvertraut als sonst jemandem. Sie hatte ihr schon recht früh von ihrer Vergesslichkeit erzählt, dass es vorkam, dass sie einfach nicht mehr wusste, warum sie irgendwohin gegangen oder wie sie dorthin gekommen war. Oder dass sie etwas tun wollte und ihr erst viel später auffiel, dass sie es nicht getan hatte, ohne dass sie den Grund dafür kannte. Vielleicht war es ein Test gewesen in der Gewissheit, dass sich ihre neue Bekannte schnell wieder von ihr abwenden würde, doch Wiebke hatte stattdessen nachgefragt und ihr versichert, dass sie sie weder für verrückt noch für eine Lügnerin hielt. Natürlich hatte Wiebke ihr geraten, zu einem Arzt zu gehen, doch nachdem Eva ihr deutlich gemacht hatte, dass das nicht in Frage kam, hatte sie das akzeptiert. Wiebke würde sie von diesem Traum erzählen können und von den seltsamen Verletzungen, ohne befürchten zu müssen, dass sie sie gleich zu einem Psychiater schicken würde. Ja, es würde ihr guttun, mit ihr zu sprechen, und vielleicht hatte sie ja sogar eine Erklärung für das alles? Vielleicht gab es etwas, das so naheliegend war, dass Eva selbst einfach nicht darauf kam?
Zurück in der Küche, legte sie die noch immer zusammengefaltete Zeitung auf dem Tisch ab und suchte eines der mobilen Telefone, die stets überall in der Wohnung verteilt lagen. Sie fand eines der Geräte auf der Ablage neben dem Kühlschrank und erreichte ihre Freundin auf der Fahrt zu ihrem ersten Termin, der etwa eine halbe Stunde dauern würde. Danach, so erklärte Wiebke, hatte sie eineinhalb Stunden bis zur nächsten Besichtigung, Zeit genug, um auf eine Tasse Kaffee bei Eva in Marienburg vorbeizukommen.
Eva verspürte Erleichterung, als sie das Telefon wieder weglegte. Es war zwar unwahrscheinlich, dass Wiebke tatsächlich eine Erklärung für das alles fand, aber allein die Aussicht, ihr davon erzählen zu können und nicht mehr ganz allein dazustehen mit dieser seltsamen und beängstigenden Erfahrung, ließ Eva hoffen, dass sie sich danach besser fühlen würde. Sie setzte sich an den Tisch, nahm einen Schluck des nicht mehr ganz heißen Kaffees und schlug die Zeitung auf. Die Überschrift sprang sie sofort in großen Lettern an, und alle Aussicht auf Erleichterung war mit einem Schlag wie weggewischt.
GRAUSIGER FUND: FRAU LEBENDIG BEGRABEN
Und darunter, etwas kleiner:
Polizei bekommt anonymen Hinweis auf Grab im Gremberger Wäldchen.
Eine Frau? Lebendig begraben? Ausgerechnet nachdem sie, Eva, diesen Traum gehabt hatte? Aber schlimmer noch als die Überschrift war etwas anderes: Jemand hatte die fetten Buchstaben mehrfach mit einem roten Filzstift unterstrichen und daneben auf den Rand der Zeitung mit krakeliger Schrift gekritzelt:
Wach endlich auf!
Als würde sie ein Eigenleben führen, hob sich Evas freie Hand und legte sich mit einer unendlich langsamen Bewegung auf ihren Mund, während ihr Blick wie gebannt an den drei handgeschriebenen Worten hing. Ihre Gedanken überschlugen sich. Wer hatte das in ihre Zeitung gekritzelt, und was sollte es bedeuten? Aufwachen? Woraus sollte sie aufwachen? Aus einem Traum vielleicht? Lebendig begraben … das war doch ihr Albtraum gewesen. Aber wie konnte jemand überhaupt davon wissen? Und wieso hatte sie diesen Traum ausgerechnet jetzt, kurz bevor tatsächlich jemand … Was, wenn es am Ende gar kein Traum gewesen war? »O mein Gott«, flüsterte sie gegen die Hand. Dann stand sie ruckartig auf, ging in der Küche auf und ab. Sie bemerkte, dass sie dabei unentwegt ihre Hände rieb und die Finger ineinander verschränkte und wieder löste. Sie war vollkommen durcheinander.
Hatte sie vielleicht so etwas wie hellseherische Fähigkeiten? Nein, das war natürlich Blödsinn, obwohl … Der Traum war ihr so real erschienen, vielleicht war sie wie ein Medium in eine Art Trance gefallen und hatte das erlebt, was kurz danach diese Frau … Sie machte drei große Schritte zum Tisch, setzte sich wieder und rückte die Zeitung so zurecht, dass sie den Artikel lesen konnte. »O Gott, o Gott …«
In der dritten Zeile stieß Eva auf den Namen der Frau.
Den Blick starr auf die beiden Wörter gerichtet, hatte sie das Gefühl, ihr Herz bliebe einfach stehen.
Lange verblasste Erinnerungen tauchten auf, wechselten sich in einem verstörenden Durcheinander mit Bildern von dem Sarg aus ihrem Traum ab, mit Gesichtern, die sie schon lange nicht mehr gesehen hatte.
Endlich schaffte es Eva, ihre Augen von dem Namen loszureißen. Sie hob den Kopf und starrte gegen die pastellgelbe Küchenwand. Dieser Name. Wie konnte das nur sein, ausgerechnet sie.
Inge war im Gremberger Wäldchen gefunden worden, hatte in dem Artikel gestanden. Das lag auf der anderen Rheinseite, einige Kilometer von ihrem Haus hier in Marienburg entfernt. Aber es war Köln. Mitten in ihrer Heimatstadt hatte jemand Inge bei lebendigem Leib begraben, so dass sie qualvoll erstickt war. Inge … Eva beugte sich wieder über die Zeitung, aber sie konnte nicht weiterlesen. Die Erinnerungen überrannten sie. An Inge, an das Gefühl, in einem Sarg eingesperrt zu sein. Zu furchtbar war der Gedanke, dass sie genau das geträumt hatte, was ausgerechnet Inge tatsächlich zugestoßen war. Wie war das nur möglich?