25

Mirjam Walther hatte in Heimersdorf in einer sehr ruhigen Seitenstraße eine kleine Souterrainwohnung im Haus ihrer Eltern bewohnt. Ihre Mutter und ihr Vater waren beide zu Hause, als Menkhoff und Reithöfer dort ankamen. Menkhoff überließ es seiner Kollegin, ihnen die traurige Nachricht zu überbringen. Frau Walther, eine mollige Frau Anfang fünfzig, brach völlig zusammen. Ihr Mann stützte sie bis ins Wohnzimmer, dort setzte er sie in einen Sessel und sank mit erstarrtem Gesicht auf die Lehne. Während Reithöfer sanft auf die Frau einredete, rief Menkhoff einen Arzt. Er sah ein, dass der Versuch zwecklos war, den beiden Fragen zu stellen, und beschränkte sich nur auf das Nötigste, als die Schockstarre bei Mirjams Vater sich nach einigen Minuten wieder etwas gelöst hatte. Mirjam war bei einem Versicherungsmakler angestellt, sie hatte derzeit keinen Freund gehabt, und es gab laut ihrem Vater niemanden, der sie nicht mochte.

Als der Arzt eintraf, ließen sie sich von Mirjams Vater ihre Wohnung zeigen und sahen sich ein wenig darin um. Er stand die ganze Zeit über hilflos daneben und starrte Löcher in die Wand. Nach einer Weile nickte Menkhoff Reithöfer zu und wandte sich an den Mann. »Wir werden uns jetzt verabschieden, können Ihnen weitere Fragen aber leider nicht ersparen. Kollegen von uns werden bald noch einmal bei Ihnen vorbeikommen. Denken Sie, Sie könnten eine Liste zusammenstellen mit allen Freunden und Bekannten Ihrer Tochter, die Ihnen einfallen?«

Der Mann sah Menkhoff an, als hätte er kein Wort von dem verstanden, was er gerade gehört hatte, doch dann nickte er.

»Gut«, sagte Menkhoff, »dann kümmern Sie sich jetzt um Ihre Frau. Der Arzt wird ihr ein Beruhigungsmittel gegeben haben.«

Als sie auf den Wagen zugingen, konnte Menkhoff nicht länger an sich halten: »Ich hasse das. Und ich hasse diese Schweine, die Schuld daran haben, dass es diese Situationen gibt. Und jetzt fahren wir zu Herrn Wiebking.«

Der Pförtner nickte ihnen zu, als sie vor ihm standen, und Menkhoff glaubte sogar, zum ersten Mal so etwas wie eine angedeutete Freundlichkeit in seinem Gesicht zu entdecken, als sie ihm sagten, dass sie zu Herrn Wiebking senior wollten. Er schob ihnen ohne Zögern zwei Besucherausweise durch die Öffnung und sagte: »Ich melde Sie an.« Sekunden später deutete er, den Hörer noch am Ohr, mit dem Kinn in die Richtung, in die sie gehen mussten. Das sollte wohl heißen, dass sie erwartet wurden. Menkhoff war geneigt, das als Sympathiebeweis zu interpretieren, und hatte fast sogar den Anflug eines schlechten Gewissens, weil er dem Mann nicht die Wahrheit gesagt hatte. Er wollte nicht zu dem alten Wiebking, sondern zu dessen Sohn, und hoffte, dass er in seinem Büro war. Menkhoff wollte ihn überraschen und ihm keine Zeit geben, sich zu überlegen, was sie wohl von ihm wollten.

Als sie an der Stelle ankamen, von der aus ein kurzer Gang direkt zu Jörg Wiebkings Büro führte, wurde die Tür gerade geöffnet, und eine gutaussehende blonde Frau kam heraus. Sie stockte, als sie Menkhoff und Reithöfer sah, und blieb dann vor der Tür stehen, die noch immer geöffnet war. Menkhoff registrierte den Besucherausweis, der vor ihrer Brust baumelte, sie war also offensichtlich keine Mitarbeiterin der Rossbach Maschinenbaubetriebe. Hinter ihr tauchte Jörg Wiebking auf, und auch er war sichtlich überrascht, Menkhoff und Reithöfer zu sehen. »Ach, die Herrschaften von der Polizei. Man hat Sie gar nicht angemeldet.«

Eben, dachte Menkhoff grimmig, deswegen schaust du jetzt auch so kariert. »Ja, wir wollten eigentlich zu Ihrem Vater«, erklärte er, »aber mir ist auf dem Weg gerade noch etwas eingefallen.« Sein Blick wanderte zu der blonden Frau. »Darf ich fragen, wer Sie sind?«

»Das ist Frau Pfeiffer«, antwortete Wiebking an ihrer Stelle, wofür er sich von ihr einen kurzen, fragenden Blick einhandelte. Dann zauberte sie ein herzliches Lächeln auf ihr Gesicht und gab erst Menkhoff und dann Reithöfer die Hand. »Ich bin Wiebke Pfeiffer, guten Tag. Bitte entschuldigen Sie, wenn ich etwas kurz angebunden bin, aber ich muss mich beeilen, ich habe gleich noch einen anderen Termin.«

Menkhoff trat ein Stück zur Seite und deutete mit der Hand an, sie solle vorbeigehen, was sie – immer noch lächelnd – auch tat. »Auf Wiedersehen«, sagte sie noch, dann verschwand sie um die Ecke.

»Tja, also, wenn Sie noch Fragen haben, kommen Sie rein, aber ich muss Ihnen gleich sagen, dass ich nur wenig Zeit habe.«

»Ja, wir haben schon gemerkt, dass Sie ein vielbeschäftigter Mann sind«, entgegnete Reithöfer und ging als Erste an ihm vorbei in das Büro. »Wir brauchen nicht lange.«

Als sie sich kurz danach gegenübersaßen, fragte Menkhoff: »Ist Wiebke Pfeiffer Ihre Lebensgefährtin?« Wiebking schüttelte lächelnd den Kopf. »Nein, nein, sie ist Immobilienmaklerin. Ich habe sie im letzten Jahr zufällig kennengelernt, als ich Eva zum Geburtstag gratuliert habe. Sie hat mir damals erzählt, was sie beruflich macht, und da ich eine neue Wohnung suche, dachte ich, ich frage sie, ob sie mir helfen kann.«

»Sie ist also eine Bekannte von Frau Rossbach?«

»Sie ist so ziemlich ihre einzige Freundin, wenn mich nicht alles täuscht. Aber Sie hatten Fragen an mich.« Er warf einen demonstrativen Blick auf seine Armbanduhr. »Es tut mir ja leid, aber ich muss bald los.«

»Es geht um Ihren letzten Besuch bei Inge Glöckner«, begann Reithöfer. »Sie haben uns gesagt, sie waren nur dort, um eine Tasse Kaffee mit ihr zu trinken, richtig?«

»Ehm, ja, richtig.«

»Ja. Was wir nicht verstehen: Warum erzählt uns Herr Glöckner dann, Sie seien dort gewesen, um seine Frau davon zu überzeugen, die Firma Ihrer Halbschwester zu kaufen und Sie dann als Geschäftsführer einzusetzen?«

Menkhoff beobachtete Jörg Wiebking genau, und es entging ihm nicht, dass er nervös wirkte. »Ach so, ja, das meinen Sie. Ja, es stimmt, was er sagt. Aber das war nicht der Grund meines Besuchs. Ich … also, das erwähnte ich nur so nebenbei. Es war so eine Idee von mir, es geht mir dabei ausschließlich um den Betrieb und die Arbeitsplätze. Eva kümmert sich doch sowieso nicht um die Firma, und wenn mein Vater irgendwann aufhört …«

»Die Arbeitsplätze, hm …« Menkhoff riss seinen Blick von dem Gemälde mit dem schwarzen Punkt auf blauer Fläche los und sah Wiebking an. Er hatte das untrügliche Gefühl, dass Wiebking junior ihn verschaukeln wollte. »Wird Ihr Vater Frau Rossbach nicht vorschlagen, Sie zu seinem Nachfolger zu machen?«, fasste er nach.

»Nein, … also, das heißt, ich glaube nicht.«

»Sie sind doch leitender Ingenieur, und Sie sind sein Sohn. Ihm ist also doch sicher daran gelegen, die Leitung der Firma in der Familie zu halten, oder nicht?«

»Ich weiß es nicht.«

»Denkt er vielleicht, Sie seien nicht dazu in der Lage?« Darauf erhielt Menkhoff keine Antwort.

»Nun gut, wie dem auch sei«, sagte Reithöfer nach einem Moment unangenehmer Stille und schlug die Beine übereinander. »Es stellt sich uns natürlich die Frage, warum Sie bei unserem letzten Gespräch nicht erwähnt haben, worüber Sie sich mit Inge Glöckner unterhalten haben«.

Wiebking hob die Schulter. »Ich weiß nicht, ich habe einfach nicht daran gedacht, ich fand es wahrscheinlich nicht so wichtig.«

»So, Sie fanden es also nicht so wichtig uns zu sagen, dass Sie ein Mordopfer kurz vor dem Tod dazu überreden wollten, eine Firma zu kaufen und Sie als Geschäftsführer einzusetzen? Und dass dieses spätere Mordopfer das ablehnte?«

Wiebkings Körper straffte sich. »Moment mal, was wollen Sie damit sagen? Ich hab’s einfach vergessen, weil ich es nicht für wichtig hielt, okay? Und was heißt überhaupt, dass sie das ablehnte? Inge hat nicht abgelehnt, im Gegenteil. Sie fand den Gedanken sogar überaus interessant. Ich verbitte mir …«

»Sie behaupten, sie hat nicht abgelehnt?«, fuhr Menkhoff ihn an. »Dann stimmt es wahrscheinlich auch nicht, dass Sie sich anschließend noch mit Oliver Glöckner unterhalten und ihn eindringlich gebeten haben, er solle versuchen, seine Frau zu überreden. Das haben Sie wohl auch vergessen, oder was? Wie ist das, leiden Sie öfter unter partiellem Gedächtnisschwund? Dann kann ich allerdings verstehen, wenn Ihr Vater Sie nicht zu seinem Nachfolger machen möchte.«

Wiebking sah erst Menkhoff, dann Reithöfer ungläubig an. »Was? Ich soll Oliver Glöckner gebeten haben, Inge zu überreden? Aber das ist nicht wahr! Er war es, der mich angesprochen hat, als ich auf dem Weg nach draußen war. Er wollte wissen, worüber wir geredet haben. Ich weiß noch, dass ich mich wunderte, dass er mich das fragte und nicht seine Frau.«

»Aha, und? Haben Sie es ihm gesagt?«

»Ja, klar, warum denn nicht?«

»Gut, das werden wir noch klären. Bleibt immer noch die Frage, warum Sie uns nichts von dem Gespräch gesagt haben.«

Wiebking senkte den Kopf. »Es tut mir leid. Ich dachte … Ach, ich weiß gar nicht genau, was ich gedacht habe. Vielleicht hatte ich Angst, Sie bringen mich irgendwie mit dieser Geschichte in Verbindung, wenn Sie hören, weswegen ich bei Inge war.« Wiebking sah wieder zu Menkhoff auf, und sein Gesichtsausdruck heischte um Verständnis. »Es ging mir bei dieser Sache wirklich nur um das Wohl der Firma, das müssen Sie mir glauben.« Er machte eine Pause, und sowohl Menkhoff als auch Reithöfer ließen ihm Zeit, weil beide spürten, dass er noch nicht fertig war. »Ach, was soll’s«, sagte er schließlich leise. »Ich glaube, mein Vater begeht einen großen Fehler. Es stimmt, er wird mich wohl nicht als seinen Nachfolger vorschlagen.«

»Und jetzt mal ehrlich, Herr Wiebking, Sie kennen doch bestimmt den Grund dafür, oder?«, wollte Reithöfer wissen.

»Ja, ich kenne den Grund. Sehen Sie, es ist allerhöchste Zeit für Investitionen, der Betrieb muss dringend saniert werden, wenn wir konkurrenzfähig bleiben wollen. Wir brauchen neue, modernere Maschinen, die gesamte Organisationsstruktur muss modernen Gegebenheiten angepasst werden. Wir schleppen einen riesigen Verwaltungswasserkopf mit uns herum, und, und, und. Aber weder mein Vater noch Eva sehen das ein.«

»Haben Sie schon mit ihr darüber gesprochen?«

Er winkte ab. »Natürlich, ich solle das mit meinem Vater abstimmen, sie könne dazu nichts sagen. Tja, und mein Vater hat sich als seinen Nachfolger wohl jemanden ausgesucht, der genau so denkt wie er.«

»Und wer ist das?«

»Dr. Guido Löffler. Er hat sein Büro auf der anderen Seite des Flurs. Volkswirt, stockkonservativ und meinem Vater hörig.«

»Gut, Herr Wiebking.« Menkhoff erhob sich. »Übrigens – kennen Sie eine Mirjam Walther?«

Wiebking dachte einen Moment nach und schüttelte denn den Kopf. »Nein, wer ist das?«

»Sie wurde heute Morgen gefunden. In einem Sarg, wie Inge Glöckner.«

»Das ist ja schrecklich!«

»Ja, das ist es. Wo waren Sie übrigens letzte Nacht?«

Auch Wiebking stand nun auf und sah sichtlich fassungslos von Reithöfer zu Menkhoff. »Sie scheinen tatsächlich zu denken, ich hätte was damit zu tun, nicht wahr?«

»Ich denke, ich möchte wissen, wo Sie letzte Nacht waren.« Menkhoff sah Wiebking fest in die Augen, dann sagte Letzterer: »Also gut. Ich war bei Wiebke Pfeiffer.«

Der Sarg
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