29

Eva stand vor dem Spiegel und starrte auf die Nachricht, unfähig, die Hand zu heben, in der sie die Sprühflasche mit dem Glasreiniger hielt. Sie hatte den irrsinnigen Gedanken, der Verfasser würde es merken, wenn sie seine Botschaft zerstörte, und sie dafür bestrafen. Ein Gefühl der Beklemmung hatte von ihr Besitz ergriffen, ein Gefühl, das sich jeden Augenblick zu einer Panik steigern würde, wenn sie nichts unternahm. Sie zwang sich aus ihrer Starre und überzog die Botschaft mit mehreren schnellen Sprühstößen. Der Glasreiniger rann schaumig langsam am Spiegel herab, den Lippenstiftbuchstaben konnte er nichts anhaben.

Hastig griff sie nach dem Lappen, den sie bereitgelegt hatte, und wischte einmal quer über die Nachricht. Der Bann der Worte war gebrochen. Hektisch wischte sie weiter, kreuz und quer über den Spiegel, sprühte die Stelle wieder und wieder mit Glasreiniger ein, wischte und wischte.

Nach einigen Minuten war keine Spur mehr von der ursprünglichen Nachricht zu sehen, und auch Evas Kopie war verschwunden. Sie trat einen Schritt zurück, betrachtete ihr Werk. Viel besser ging es ihr jedoch nicht.

 

Dr. Leienberg kam nach rund eineinhalb Stunden zurück und hatte eine Ledertasche dabei. Er erkundigte sich, wie es Eva ging, und sie erzählte ihm von ihrer Reinigungsaktion und dass sie ansonsten nur dagesessen und über die letzten Tage nachgedacht hatte. Sie zeigte ihm das geräumige Gästezimmer, das gleich am Eingang zwischen Garage und Diele lag und einen direkten Zugang zum Gästebad hatte. Nachdem Leienberg seine Sachen dort deponiert hatte, kam er ins Wohnzimmer, wo Eva auf ihn wartete. Sie hatte einen Saint Estephe Bordeaux und eine Flasche Wasser auf den Tisch gestellt, die entsprechenden Gläser standen zwischen den Flaschen. »Möchten Sie jetzt vielleicht etwas trinken?«

»Ja, jetzt gerne«, sagte er und nahm ihr gegenüber Platz, während Eva den Rotwein öffnete. »Ich habe mir noch mal Gedanken gemacht und …«, setzte er an, doch Eva unterbrach ihn. »Bitte, Dr. Leienberg, sagen Sie mir nicht wieder, dass ich die Polizei informieren soll!« Eva schenkte den Wein ein und stellte die Flasche auf einen hölzernen Untersetzer auf den Tisch. Dann griff sie die Wasserflasche und füllte auch die Wassergläser.

»Nein, das hatte ich nicht vor. Es geht vielmehr um Ihren Traum. Sagen Sie, leiden Sie unter Platzangst?«

Eva stieß ein kurzes, bitteres Lachen aus. »Ja, zumindest in einem Sarg.« Mit zittrigen Fingern griff sie sich ihr Weinglas und trank einen Schluck. Als sie es wieder absetzte, wurde ihr bewusst, dass sie ihrem Gast nicht zugeprostet hatte. »Entschuldigen Sie«, sagte sie und deutete auf das Glas, woraufhin auch Leienberg einen Schluck nahm. »Erzählen Sie mir davon.«

Evas Blick war auf das Glas mit dem Wein darin gerichtet, der in dem gedämpften, weichen Licht, in das die Stehlampe neben der Couch diesen Teil des Zimmers tauchte, fast schwarz aussah. »Sie können sich nicht vorstellen, wie es ist, in völliger Dunkelheit aufzuwachen und nicht zu wissen, wo man ist. Ich habe keine Worte dafür. Innerhalb weniger Sekunden hatte ich solche Angst, dass ich fast verrückt geworden bin. Dann habe ich angefangen alles abzutasten, und obwohl meine Hände auf allen Seiten schon nach wenigen Zentimetern auf Widerstand stießen, hat es einige Zeit gedauert, bis ich verstanden hatte, dass ich in einem Sarg lag.« Sie stockte. Dieser furchtbare Moment war plötzlich wieder so präsent, als wäre er gerade erst Minuten her. Eva zog die Beine an und verschränkte die Arme in ihrem Schoß. »Ich hatte noch nie solche Panik und solche Angst.« Ihre Stimme klang brüchig.

»Gab es früher schon einmal eine Situation, in der Sie irgendwo eingesperrt waren? In einem Fahrstuhl zum Beispiel?«

»Nein.« Noch während sie es sagte, tauchte ein schreckliches Bild vor ihr auf, eine Szene, vor vielen, vielen Jahren. Ein kleiner Junge, der von einer Frau mit bewegungsloser, wie erstarrter Miene hinter sich hergezogen wird. Er ist nackt, sein Körper überzogen mit blauen Flecken. Er hat sich auf den Boden geworfen, versucht sich in wahnsinniger, stummer Angst mit panisch weit aufgerissenen Augen gegen den erbarmungslosen Griff der Frau zu stemmen, sich irgendwo festzuhalten, doch er ist zu schwach. Als sie die Kellertreppe erreichen, erlahmt seine Gegenwehr, und nach einer Sekunde gespenstischer Stille beginnt er zu wimmern und zu betteln. »Bitte, Mami, nicht, bitte, bitte …« Eva hat sich neben dem Garderobenschrank versteckt. Sie ballt eine Hand zur Faust und presst sie sich auf den Mund, sie beißt auf die Knöchel, um nicht laut schreien zu müssen. Sie kennt die kleine Klappe unten im Keller. Und sie weiß, es wird dauern, bis sie ihren kleinen Bruder wiedersieht. »Nein, ich noch nie«, flüstert sie.

Leienberg hob eine Braue. »Hat es eine bestimmte Bedeutung, wenn Sie sagen: Ich noch nie?«

Eva hob den Kopf, sie sah den Psychiater nur verschwommen und wischte sich mit dem Handrücken über die Augen. »Ich … Mein kleiner Bruder ist als Kind manchmal … Er … Er wurde manchmal bestraft. Körperlich. Und eingesperrt.«

»Ihr Bruder?«, fragte Leienberg hörbar überrascht. »Ich wusste bisher nicht, dass Sie einen Bruder haben.«

»Hatten.«

»Wie?«

»Ich hatte einen Bruder.«

»Oh, entschuldigen Sie bitte. Er ist tot?«

Noch immer blitzte diese Szene vor Eva auf. Sie versuchte, an etwas anderes zu denken, sie musste an etwas anderes denken.

»Eva?«

»Meine Stiefmutter sagte, er sei bei einer Bootsfahrt ertrunken, da war er sechs. Können wir bitte von etwas anderem reden?«

Leienberg sah sie fragend an. »Was heißt das, Ihre Stiefmutter sagte, er sei ertrunken? Können Sie …«

»Bitte, ich … ich kann nicht, ich möchte jetzt über etwas anderes reden.«

»Ich verstehe, dass Ihnen das weh tut, Eva, aber vielleicht haben wir hier einen Schlüssel gefunden, eine mögliche Erklärung. Wir sollten uns darüber unterhalten, wirklich.«

Eva griff nach ihrem Weinglas, trank es mit zwei großen Schlucken leer und stellte es wieder ab. »Können wir das bitte in Ihrer Praxis machen? Bei unserem nächsten Termin? Ja?«

Leienberg war enttäuscht, das sah sie ihm an, aber er erwiderte: »Sicher, ganz wie Sie möchten.«

Eine Weile saßen sie sich schweigend gegenüber, dann goss Eva in beide Gläser Wein nach, um ihre Gedanken von der Vergangenheit loszureißen.

»Hat Ihr Vater auch schon in diesem Haus gelebt?«, wechselte Leienberg schließlich das Thema.

»Ja, das ist sozusagen mein Elternhaus. Es ist die einzige Immobilie, die mein Vater mir vermacht hat. Alle anderen Häuser hat Inge geerbt.«

»Ah, verstehe. Und wo wohnt Ihre Haushaltshilfe? Hat sie hier im Haus gewohnt, als sie noch bei Ihrem Vater war?«

»Hildegard? Nein, sie hat schon immer eine kleine Wohnung in Rodenkirchen gehabt.«

»Hm … Auch nicht gerade eine günstige Wohngegend. Wenn Sie doch bei Ihrem Vater gearbeitet hat, wäre es da nicht naheliegend gewesen, hier nach Marienburg zu ziehen?«

Eva zuckte mit den Schultern. »Nein, ich glaube, das hat Hildegard nie in Erwägung gezogen. Wenn sie nur für mich arbeiten würde, hätte ich nichts dagegen, wenn sie hier wohnen würde. Aber sie ist nur in Teilzeit bei mir, nur drei Tage in der Woche. Die restliche Zeit arbeitet sie für Hubert Wiebking.«

»Hubert Wiebking?«

»Ja, er hat seit der Gründung der Firma für meinen Vater gearbeitet und leitet den Betrieb jetzt als Geschäftsführer.«

Leienberg schien nachzudenken, und nach eine Weile, in denen beide schwiegen, fragte Eva: »Haben Sie eigentlich Hunger? Wir haben hier in der Nähe einen sehr guten Japaner, der nach Hause liefert, ich könnte uns etwas bestellen.«

Leienberg schien aus seinen Gedanken gerissen, er sah sie erst verständnislos an, als hätte er nicht verstanden, was sie gesagt hatte, doch dann nickte er und erwiderte: »Ja, warum nicht, das ist eine gute Idee. Für mich etwas mit Hühnchen, bitte.«

 

Bis das Essen geliefert wurde, machte Leienberg noch einige Versuche, mehr über Evas Vergangenheit zu erfahren, aber sie blockte ab. Sie wollte an diesem Abend nicht mehr darüber sprechen und dieses Thema auf ihre nächste Sitzung in seiner Praxis verschieben. Auch alles, was mit den Träumen zu tun hatte, vermied sie bewusst, zu groß war ihre Angst, direkt wieder einem Albtraum ausgesetzt zu sein, wenn sie sich vor dem Schlafengehen damit beschäftigte. Leienberg zeigte auch dafür Verständnis, und so verlegten sie sich auf allgemeine Themen. Während des Essens erzählte er ihr, was bei seinen eigenen Kochversuchen schon alles schiefgegangen war. Eva ließ sich dankbar ablenken. Gegen elf hatten sie eine zweite Flasche Wein geleert, und Eva war so müde, dass ihr die Augen zufielen.

»Wenn heute Nacht etwas sein sollte, ganz egal was, wenn Sie wieder aus einem Traum aufwachen sollten oder Angst haben – rufen Sie einfach, ja? Ich lasse die Tür offen, damit ich Sie hören kann, in Ordnung?«

»Ja, in Ordnung.« Eva wollte schon gehen, stockte dann aber und sagte: »Danke, dass Sie das für mich tun.«

Ein Lächeln zog sich über sein Gesicht und zeichnete eine Reihe kleiner, sympathischer Fältchen neben seine Augen. »Keine Ursache. Es war ein schöner Abend mit Ihnen. Gute Nacht, und schlafen Sie gut.«

»Gute Nacht.«

Zwanzig Minuten später lag Eva im Bett und wurde sich bewusst, wie gut es sich anfühlte, jemanden nur wenige Meter entfernt zu wissen. Dann schlief sie ein.

Der Sarg
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