35

Britta war so wütend, dass sie vor sich hin fluchte, während sie die Halle des Hauptbahnhofs in Richtung Dom durchquerte. Immer wieder blickte sie sich nach allen Seiten um, durchpflügte mit ihren Blicken die Menschenmassen, die mit Koffern, Taschen oder Tüten beladen aufeinander zuliefen, im letzten Moment auswichen, vor Geschäften stehen blieben oder hektisch noch schnell irgendwelche Dinge kauften, bevor sie zu den Bahnsteigen hetzten.

Britta befürchtete, verfolgt zu werden, und sie wusste, dass er daran schuld war, falls es stimmte. Als sie an einer Buchhandlung vorbeikam, in der ein ganzer Pulk Menschen sich aneinander vorbeiquetschte, bog sie ab und mischte sich unter die Leute. Als sie auf der anderen Seite der breiten Ladenfront wieder herauskam, ging sie ohne Zögern weiter zum Ausgang in Richtung Domplatz.

Draußen zog sie ihren Mantel enger und schlug den Kragen hoch. Es nieselte schon wieder. Dieses Schmuddelwetter ging ihr auf die Nerven. Während sie auf die Treppe zuging, die zur Domplatte hochführte, fragte sie sich, wo sie eigentlich hinwollte, stellte im gleichen Augenblick aber fest, dass es ihr egal war. Hauptsache, sie war erst mal unterwegs und niemand folgte ihr. Sie stieg die Stufen nach oben und blickte dabei auf den Dom, der wieder einmal zu großen Teilen eingerüstet war. Irgendwann bricht die Bude sowieso zusammen, dachte sie grimmig und musste bei dem Gedanken lächeln, wie groß der Jammer der Kölner wäre, wenn ihr geliebter Dom in Schutt und Asche liegen würde. Die Melodie des Bläck Föös Songs »Mer losse d’r Dom en Kölle« spukte ihr plötzlich im Kopf herum. Dämlicher Quatsch, dachte sie und konzentrierte sich wieder auf die wichtigen Dinge. Dieser Mistkerl versaute alles, und es würde wahrscheinlich nicht mehr lange dauern, bis er so weit war, dass er sich zu erkennen geben konnte. Dann war für sie alles vorbei. »Blödes Arschloch«, entfuhr es ihr, und sie erschrak, als direkt neben ihr jemand sagte: »Ich hoffe, du meinst nicht mich.«

Britta blieb stehen. Der Kerl, der das eben gesagt hatte, grinste sie breit an. Er war groß, sie schätzte ihn auf mindestens eins neunzig. Die dunkelbraunen, leicht gelockten Haare fielen ihm bis auf die breiten Schultern und bildeten einen auffälligen Kontrast zu den Augen, die von klarem Blau waren. Er trug eine abgewetzte schwarze Lederjacke und eine Motorradkutte darüber, auf deren Vorderseite unzählige Abzeichen aufgenäht waren. Sein Alter konnte sie nicht schätzen.

»Hi, wir kennen uns doch«, sagte er, noch immer grinsend.

Britta musterte ihn noch einmal von oben bis unten und erwiderte: »Ein dämlicherer Spruch ist dir nicht eingefallen, was?«

»Nein, wirklich, ich weiß genau, dass wir uns kennen. Ich hab ein super Gedächtnis für Gesichter, und dein Gesicht kenne ich, das ist sicher. Aber irgendwie … irgendwas ist anders.«

»Du kannst mir viel erzählen.« Sie ging weiter, aber der Kerl gab noch nicht auf.

»Hey, ich bin Dagger«, sagte er und lief neben ihr her. »Kommt dir das nicht bekannt vor? Deinen Namen hab ich vergessen, aber du siehst aus wie eine Tanja.«

»Ach, verpiss dich«, antwortete sie und starrte angestrengt in die andere Richtung.

»Okay, ich seh schon, keine Tanja. Schade, dass mein Namensgedächtnis nicht so super funktioniert wie das für Gesichter. Manuela vielleicht?«

Mittlerweile hatten sie die Mitte der Domplatte erreicht. Britta sah ein, dass sie den Kerl so nicht loswurde, und blieb abrupt stehen. »Welchen Teil von verpiss dich hast du nicht verstanden? Und was ist das überhaupt für ein dämlicher Name – Dagger? Denkst wohl, du bist was Besonderes, wie?«

»Klar bin ich was Besonderes. Und den Namen hab ich, weil ich ganz gut mit ’nem Messer umgehen kann. Und außerdem bin ich ein richtig netter Kerl. Komm mit mir was trinken, dann wirst du schon sehen. Mir wird bestimmt gleich einfallen, woher ich dich kenne.«

Er grinste immer noch breit, und Britta dachte darüber nach, dass es eigentlich egal war, wenn sie mit dem Kerl irgendwo was trank. Sie hatte eh nichts vor, und es konnte nicht schaden, wenn sie mal für ein paar Minuten nicht über die ganze Sache nachdachte. Außerdem war sie gespannt darauf, woher der Kerl sie angeblich kennen wollte. Sie sah sich noch einmal nach allen Seiten um, es schien ihr wirklich niemand zu folgen. »Na gut, Dagger«, sagte sie unfreundlich. Der brauchte sich gar nicht erst was einzubilden. »Aber wehe, du bist ein Arsch.«

Sie fanden einen Platz in einer Kneipe ganz in der Nähe, unweit des Domforums, wo die meisten Tische mit Paaren oder Familien besetzt waren, die zu Mittag aßen. Der Wirt, ein kleiner, untersetzter Mittfünfziger, musterte sie erst abschätzend, als sie im Eingangsbereich stehen blieben und sich nach einem freien Platz umsahen, winkte ihnen dann aber zu und zeigte auf einen freien Tisch in unmittelbarere Nähe des Tresens. »Kölsch?«, rief er, als sie sich setzten. Britta nickte, und Dagger gab dem Wirt ein Zeichen. Dann legte er wieder sein breites Grinsen auf. »Ist ja auch echt viel zu spät für Kaffee.«

»Dass du gleich Bescheid weißt, ich lass mich nicht anbaggern, klar?«, sagte Britta, als er sich ihr zuwandte, woraufhin Dagger die Hände hob. »Keine Angst, ich bagger dich nicht an.«

»Ach, und warum nicht? Bin ich dir vielleicht nicht gut genug, oder was?«

Dagger sah sie eine Weile an und schüttelte dann lachend den Kopf. »Du bist mir ja vielleicht mal ’ne Nummer. Woher zum Teufel kenn ich dich nur? Also, mein richtiger Name ist Frank Schmidt.« Er streckte ihr seine riesige Hand über den Tisch hinweg entgegen. »Nun sag schon, wie heißt du?«

»Britta«, antwortete sie knapp und ignorierte das Angebot eines Handschlags. »Ah, keine Manuela. Du redest wie eine Kölnerin. Verrat mir mal, wo du wohnst, vielleicht weiß ich dann, wieso du mir bekannt vorkommst.«

»Das geht dich nichts an«, sagte sie, während der Wirt sich hinter dem Tresen hervorschob und die Kölschgläser vor ihnen abstellte. »Nachher lungerst du noch vor meinem Fenster rum. Vergiss es.«

»Hey, ich lungere nicht vor Fenstern rum, aus dem Alter bin ich raus.«

Britta griff entnervt nach ihrem Glas und trank es in einem Zug leer. Dagger-Frank tat es ihr gleich und wischte sich mit dem Handrücken den Mund ab. »Was tust du so, Britta aus dem Niemandsland?«

Musste dieser Kerl eine Frage nach der anderen stellen? »Was bist du denn für einer? Willst meine Lebensgeschichte wissen, oder was?«

Das Grinsen in Daggers Gesicht verschwand zum ersten Mal, aber nur für einen Moment, dann war es wieder da. »Hey, ich hab dich eben da draußen gesehen, und mir war klar, dass ich dich kenne. Ich weiß echt nicht mehr, woher, aber ich dachte, dass du nett bist. Anders als die meisten aufgedonnerten Tanten, die hier auf ihren Stöckelschuhen rumtickeln. Na ja, und jetzt möchte ich ein bisschen mit dir quatschen um rauszufinden, ob das stimmt mit dem nett. Und warum du mir so bekannt vorkommst. Das ist alles.«

»Nett ist die kleine Schwester vom Arschloch. Ich bin nicht nett. Und ich will auch nicht nett sein, klar?«

»Glasklar«, bestätigte Dagger und nickte dem Wirt zu, der mit zwei frisch gezapften Kölsch neben ihrem Tisch auftauchte. Er wartete, bis der Mann sich wieder abwandte, dann legte er die Unterarme auf den Tisch und sah Britta in die Augen. »Was is’n mit dir los, nicht-nette Britta? Wer hat dich so stinksauer gemacht? Ich doch nicht, oder?«

»Bist du ’n Rocker?«, fragte sie, ohne auch nur daran zu denken, auf seine Frage einzugehen.

Dagger lachte. »Ich bin in ’nem Motorradclub, falls du das meinst.«

»Aha. Und du bist verheiratet und baggerst fremde Frauen an.« Britta deutete mit dem Kinn zu seiner Hand, an deren Ringfinger ein schmaler, goldener Ehering glänzte. Wie kurz zuvor verschwand das Lächeln für einen Moment aus Daggers Gesicht, um Sekunden später wieder zurückzukehren, dieses Mal vielleicht etwas verhaltener. »Ich war super glücklich verheiratet und ich habe nie fremde Frauen angebaggert.« Sogar Britta fiel auf, dass seine Stimme einen anderen Klang bekommen hatte, sie war weicher geworden. »Conny ist vor fünf Jahren gestorben, Flugzeugabsturz in Frankreich. Hat ’nen Schaden an der Maschine gehabt, das Ding, und peng.«

»Ah«, machte Britta. »Tja.«

»Bist du verheiratet?«

»Pff … Sehe ich vielleicht so bescheuert aus?«

»Du siehst sauer aus. Warum?«

»Das geht dich nichts an. Ich frage dich ja auch nicht allen möglichen Scheiß.«

»Och, kein Problem. Was willst’n von mir wissen?«

»Nichts.«

»Ich sag dir trotzdem was. Ich bin von Beruf Konditor. Und meine Spezialität sind Torten. Und ganz besonders Hochzeitstorten.«

Britta war tatsächlich überrascht. Auch wenn es ihr eigentlich ziemlich egal war, was dieser Dagger beruflich machte, damit hatte sie nicht gerechnet. »Du verscheißerst mich.«

»Nee, tu ich nicht. Ich mach garantiert die besten Torten weit und breit. Ich hab ’nen riesigen Kundenstamm.«

»Ich geh jetzt.«

»Hey, warum?« Der Kerl lächelte schon wieder. Britta fragte sich, was das für ein dämlicher Rocker war, der Torten backte und tausend Fragen stellte und ohne Unterbrechung grinste oder lachte. Sie verdrehte die Augen. »Kannst du auch was anderes als Fragen stellen, Mann?«

»Klar, ich kann prima zuhören, ist aber schwierig, wenn du nichts sagst.«

Britta sah zu Dagger herüber und wollte sofort wieder wegsehen, als er ihren Blick erwiderte, aber sie schaffte es nicht. Irgendwas an diesem Kerl war seltsam. Plötzlich hob er die Hand und streckte sie ihr wieder entgegen. »Sollen wir’s noch mal versuchen? Hallo, ich bin Frank, aber meine Kumpels nennen mich Dagger.«

Britta zögerte noch einen Moment, doch dann bemerkte sie erstaunt, wie sich ihre rechte Hand hob und in die Pranke dieses Kerls legte. »Britta«, mehr konnte sie nicht sagen, doch es genügte offenbar, sein Grinsen noch breiter zu machen. »Freut mich, Britta«, sagte er. »Noch ’n Kölsch?«

»Mach mal.« Auch wenn Britta es nicht für möglich gehalten hätte, sein Grinsen wurde noch breiter. »Willst du wissen, warum ich dich angequatscht hab, Britta?«

»Kommt jetzt wieder die Ich-kenn-dich-Nummer?«

»Klar, und ich werde auch noch rausfinden, woher ich dich kenne. So was macht mich nämlich total fertig, und wenn mich was fertig macht, dann bin ich hartnäckig. Nein, echt jetzt, ich weiß ja, dass du mir nicht glaubst. Und deswegen muss ich ja erst recht darauf kommen, wo ich dir schon mal begegnet bin. Damit du nicht mehr denkst, ich wär blöd oder so was. Aber das war nicht der einzige Grund, warum ich dich angesprochen hab. Ich hab auch gleich gesehen, dass du anders bist.«

»Ach. Und wie? Steht bei mir ANDERS auf der Stirn?«

»Quatsch, man sieht’s einfach. Du machst auf mich den Eindruck, als ob dir ziemlich egal ist, was andere Leute so von dir denken. Das find ich gut. Und ich hab deine Wut gesehen und wollte wissen, wieso du so wütend bist. Und? Verrätst du’s mir jetzt?«

»Tzzz … Meine Wut gesehen. Na und? Willst du wissen, was mich wütend macht, ja? Ich sag’s dir: Das Scheißleben macht mich wütend. Sauwütend. Weil es uns jeden Tag verarscht. Jetzt zufrieden? Dagger?«

»Hm … Zumindest was, das ich kapieren kann. Mich macht das Leben auch manchmal wütend.«

»Ach ja?«

»Klar, ich bin dann immer froh, wenn ich jemanden hab, dem ich von der Wut erzählen kann. Hilft mir immer.«

»Ich brauche niemanden.«

»Denkst du. Hey, man braucht immer jemanden. Allein sein ist Mist, lass dir das vom alten Dagger gesagt sein.«

»Blödsinn. Ich sage dir, ich brauche niemanden.«

Daggers Augen waren weiterhin auf sie gerichtet, aber es schien, als schaue er durch sie hindurch und sei mit seinen Gedanken weit weg.

»Ey, was ist los?«

»Ach, ich hab gerade noch mal darüber nachgedacht, woher ich dich kenne. Das macht mich echt fertig, so was. Ich weiß genau, ich bin dir schon mal begegnet.«

Britta winkte ab. »Ja, ja, ja. Es wird langweilig. Lass dir mal was Neues einfallen.«

»Ich frage mich ja immer noch, warum du so sauer bist. Ich hab noch nie ’ne Frau getroffen, die so wütend war wie du.«

»Ach, ich dachte, du hättest mich schon mal getroffen. War wohl doch nichts, oder wie?«

Dagger ließ die flache Hand auf den Tisch fallen. »Das ist es ja, was mich so kirre macht, Mensch. Ich weiß, ich hab dich schon mal getroffen, aber da warst du anders.«

Britta stand auf. »Blödsinn. Ich gehe jetzt.«

»Schade. Kein Kölsch mehr?«

»Nein, ich gehe.«

»Sehen wir uns wieder?«

Britta hob möglichst gleichgültig die Schultern. »Keine Ahnung.«

Dagger rieb sich die Hand an der Seite der Jeans ab und streckte sie ihr entgegen. »Dann vielleicht bis bald mal, Britta.«

Dieses Mal gab sie ihm die Hand. »Mal sehen.«

»Hm … Schätze, nach deiner Telefonnummer brauche ich nicht zu fragen?«

»Vergiss es.«

»Hey, wie wäre es, wenn wir uns heute Abend wieder genau hier an der gleichen Stelle treffen? Auf ein, zwei Kölsch? Ich muss doch noch rausfinden, wo wir uns schon mal begegnet sind. Unbedingt. Komm, sag ja, okay?«

Sie sagte nichts, sondern wandte sich ab. Kurz bevor sie den Ausgang erreicht hatte, rief Dagger ihr hinterher: »Ich bin heute Abend hier und warte!«

Britta verließ die Kneipe, ohne sich noch einmal nach ihm umzusehen.

Der Sarg
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